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JOHANNES VOLKELT
Der moderne Optimismus
und Pessimismus


"Gerade weil der Mensch durch seine vermehrten und komplizierten Bedürfnisse viel mehr als das Tier auf die Außenwelt angewiesen und in ihre Fäden hineingeflochten ist, gerade darum ist es ihm gegeben, sich zum Herrn und Besieger der Natur und der niederen Geisteswelt, kurz der Endlichkeit emporzuschwingen und sie so wahrhaft geistigen, also bleibenden, dauernden Zwecken dienstbar zu machen. Das Tier, das durch seinen viel einfacheren Organismus in viel einfacherer, primitiverer Weise von der Natur abhängig ist,  erfährt  und  erlebt  die Natur und die Endlichkeit überhaupt nicht, dringt nicht in sie  ein  und kann sie also auch nicht unterwerfen."

"Das Andere, das Negative, der Widerspruch, die Entzweiung gehört zur Natur des Geistes. In dieser Entzweiung liegt die Möglichkeit des  Schmerzes.  Der Schmerz ist daher nicht von außen an den Geist gekommen, wie man sich einbildete, wenn man die Frage aufwarf, auf welche Weise der Schmerz in die Welt gekommen ist. Ebensowenig wie der Schmerz kommt das  Böse  von außen an den Geist; es ist im Gegenteil nichts anderes, als der sich auf die Spitze seiner Einzelheit stellende Geist."

I. Kapitel

Optimismus und Pessimismus
in ihren Hauptgestalten


A. Einleitendes: Leibniz

1. Ebenso schroff wie SCHOPENHAUER dem Optimismus, steht LEIBNIZ dem Pessimismus gegenüber; SCHOPENHAUER scheint oft das Glück, LEIBNIZ das Übel zu ignorieren. Wenn SCHOPENHAUER zum wiederholten Mal das Glück als durchaus negativ, ja als Chimäre bezeichnet, so ist das Gegenstück hierzu auf LEIBNIZ'scher Seite der Ausspruch, daß die Übel, im Vergleich zum Guten, das in der Welt existiert, "un presque-néant" [fast ein Nichts - wp] seien. Zwischen diesen Extremen des Optimismus und Pessimismus stehen zwei Weltanschauungen, von denen die eine im tiefsten Grund optimistisch, dennoch dem Pessimismus in vollem Umfang Rechnung trägt und ihn als wesentliches, wenn auch untergeordnetes Moment bestehen läßt, während die andere, in ihrer Wurzel pessimistisch, doch auch dem Optimismus eine hervorragende Stelle in ihrem Weltsystem einräumt. Daß wir mit letzterer Weltanschauung die Philosophie HARTMANNs meinen, wird jeder auch nur oberflächliche Kenner dieser Philosophie sofort begreiflich finden; hingegen dürfte es Manchem zunächst sonderbar vorkommen, das HEGEL'sche System mit seinem "Alles, was wirklich ist, ist vernünftig" nicht als extremsten, sondern als einen  den Pessimismus in sich schließenden  Optimismus bezeichnet zu hören. Indessen wird sich, wie wir hoffen, das Auffallende dieser Behauptung bei näherer Betrachtung verlieren.

Der Schmerz tritt uns in der Welt in tausend Gestalten, in nimmer müder Abwechslung entgegen. Dem Einen bohrt er sich mit schneidiger Schärfe ins Herz; einem Andern lagert er sich mit dumpfer Wucht über sein Gemüt. Bald starrt er uns aus den verzerrten Mienen des vom Unglück Gehetzten, mit der Welt Zerfallenen entgegen; bald verbirgt er sich hinter den schlaffen Zügen des Blasierten; ja selbst hinter Lächeln und Scherzen lauert oft der grimmigste, nagendste Schmerz. Vom Kind an, dem die Wegnahme seines Spielzeugs Tränen abpreßt, bis zu den Schlachtfeldern, wo die Leiber von Tausenden zerfetzt und jämmerlich verstümmelt werden, gibt es eine unerschöpfliche Stufenleiter von Schmerzen und Qualen. Der Schmerz schlägt seine Wohnung ebenso gern im Herzen der leichtfertigen Dirne auf, welche die gräßliche Öde ihres Gemüts und den hinter der faulen Lust lauernden Katzenjammer durch einen rasenden Tanz vergebens hinwegzutäuschen sucht, wie in der Pariser Matrazengruft, wo der leiblich und geistig zu Tode gemarterte Dichter sein entsetzliches Hohngelächter aufschlägt. Wer Schmerz und Jammer sehen will, hat die reichste Auswahl: das unruhevolle Treiben der nach Gold und Glanz dürstenden Börsenhelden birgt Schmerz und Unlust in seiner innersten Seele; und wer von diesem Tummelplatz des Reichtums seinen Blick in die Hütten der Armut, in die Fabriken und Bergwerke wirft und hier die bleichen, abgehärmten oder verwilderten Gesichter sieht, muß sich von der ungeheuren Masse des Elends derartig überschüttet fühlen, daß es ihm lange Zeit an Mut gebricht, die Schönheit und Weisheit in dieser Welt zu preisen. Ja, wäre es ein Wunder, wenn er mit dem Koheleth [Prediger - wp] alles unter der Sonne voll Jammers und Grämens fände und die Toten mehr als die Lebenden, noch glücklicher aber als beide jene preisen würde, die noch nicht sind und des Bösen, das unter der Sonne geschieht, nicht inne werden? Wäre es ein Wunder, wenn er mit der Faust das Dasein für eine Last, jeden Tag für beweinenswert erklären, und den ringenden Menschen, wie HAMERLING es ausspricht, erst dann eine Befreiung "vom Kampf, von den Lasten der Irrsal, von der Lockung des Irrscheins" in Aussicht stellen würde,
    Bis sie ruhn, wo dem Urlicht
    Sich gattet die Urnacht,
    In der Stille des Allseins
    Auf ewig erlöst?
Klingt es da nicht wie ein Hohn auf die leidende, stöhnende Menschheit, wenn LEIBNIZ verlangt, man möge die Aufmerksamkeit von den Leiden der Welt abwenden; es werde viel Nützlicheres erzielt, wenn man sie auf die bei weitem überwiegenden Güter der Welt hinlenke? (in ERDMANNs Ausgabe, Seite 508) LEIBNIZ hätte doch einmal, wenn er von Zahnweh gequält wurde, sich durch erbauliche Betrachtungen über die vorzügliche Einrichtung des menschlichen Körpers darüber hinweghelfen sollen. Und glaubte den LEIBNIZ, daß der Leiden weniger werden, wenn man die Augen gegen sie verschließt?

2. LEIBNIZ macht es sich ziemlich leicht mit dem apriorischen Nachweis, daß die vorhandene Welt die beste unter allen möglichen ist. Es gilt LEIBNIZ als feststehend, daß in Gott unendliche Macht, unendliche Weisheit und unendliche Güte miteinander verbunden sind. Ein solcher Gott mußte freilich unter den in seinem Verstand vorhandenen möglichen Welten die beste auswählen und konnte nur dieser Dasein verleihen. Die Welt, in der wir leben, muß daher trotz aller Leiden und Sünden als die beste angesehen werden; LEIBNIZ leugnet ausdrücklich, daß sie durch Hinwegnahme der Übel und des Bösen besser würde. Im Gegenteil würde sie durch Tilgung auch des geringsten Übels aufhören  diese  Welt zu sein, welche von Gott vor allen übrigen des Daseins gewürdigt wurde; sie wäre also nicht mehr die beste (Seite 506). - Es ist also, da diese Weltensichtung in Gottes Verstand vorging, auch die Ursache der Übel, die mit der besten Welt eingestandenermaßen verknüpft sind, in Gottes Verstand oder in die "région des vérités éternelles" [Gebiet der ewigen Wahrheiten - wp] hineinverlegt. Für die Weisheit Gottes waren unumgängliche Gründe vorhanden, daß die beste Welt mit den Schranken der Endlichkeit behaftet sei. Schon in ihrem idealen Zustand, als sie noch im göttlichen Verstand verweilten, trugen die Kreaturen der besten Welt eine  ursprüngliche Unvollkommenheit  in sich. Diese "imperfection originale" [ursprüngliche Unvollkommenheit" ist das eigentlich metaphysische Übel, woraus erst weiter das moralische Übel oder das Böse, und wieder als eine Folge von diesm das physische Übel hervorgeht (Seite 510). Da also das Böse und das Übel in der metaphysischen Unvollkommenheit der Kreatur wurzeln (Seite 550) und in der Zusammensetzung dieser besten Welt eingehüllt liegen (Seite 551), so sollte man meinen, daß LEIBNIZ Übel und Sünde als durchaus notwendig, als etwas energisch Positives ansehen werde; man sollte glauben, er werde ungescheut aussprechen, daß das Gute sich nur durch die Schmerzen der Sünde hindurch realisieren, nur durch das Sich-heraus-Arbeiten aus dem Zwiespalt des Bösen entstehen, und überhaupt Befriedigung und Glück nur das Resultat von schmerzvollen Dissonanzen sein kann. Wenn auch der ganze LEIBNIZ'sche Beweis auf höchst schwachen Füßen ruht, indem er für jeden, der den allmächtigen, allweisen, allgütigen Gott nicht annimmt, in Nichts zusammensinkt, so hätte dann LEIBNIZ dennoch die wichtige Wahrheit erkannt, daß das Böse der  eigene Weg des Guten,  der Schmerz der  eigene Weg des Glücks  ist.

LEIBNIZ ist weit davon entfernt, diese Konsequenzen zu ziehen. Statt zu dem Resultat zu kommen, daß das Übel durch die Menge des vorhandenen Guten  wesentlich bestimmt  wird und, infolge der allgemein verbreiteten  imperfection originale,  überall entweder in das Gute hineinragt, oder doch die Voraussetzung desselben bildet, gibt er sich Mühe, das Übel auf eine möglichst geringe Menge zu reduzieren. Seinem Gegner BAYLE, der auf die Gefängnisse und Hospitäer hinweist und in der Geschichte Nichts als eine Sammlung von Unglück und Verbrechen sieht, entgegnet wer, daß er dies für eine Übertreibung hält, daß das Leben der Menschen unvergleichlich mehr Gutes als Übles aufweist (Seite 548). Würden wir den Gottesstaat vollkommen kennen, so würden wir ehen, daß überall Glück und Tugend herrschen, daß, im Vergleich mit dem Guten, Unglück und Sünde beinahe gleich Nichts sind (Seite 539). Um das Übel sich nur ja vom Hals zu schaffen, nimmt LEIBNIZ zu offenbaren Phantastereien seine Zuflucht: er bildet sich ein, daß die übrigen Weltkörper von lauter glücklichen Geschöpfen bevölkert sind, ja daß der unermeßliche Raum, der jenseits der Weltkörper liegt, mit Glück und Ruhm erfüllt ist (Seite 509). Auf diese Weise erhellt es sich freilich mit mathematischer Gewißheit, daß das Übel, da es nur auf unserer winzigen Erde zuhause ist, ein "preque-néant" ist.

Im erwähnten apriorischen Beweis des LEIBNIZ lag auch nicht im Mindesten angedeutet, wodurch das Übel und die Sünde das Gute in der Welt erhöhen; man mußte sich dort mit dem Vertrauen, daß in Gottes Weisheit für diese Steigerung des Guten durch sein Gegenteil unumgängliche Vernunftgründe wohl vorliegen müssen, zufrieden geben. Nun kommt es darauf an, die Möglichkeit dieser Steigerung sachlich darzutun. Hierbei zeigt es sich nun recht deutlich, daß LEIBNIZ das Übel als etwas nur Akzentielles, Nebensächliches behandelt.

Er weist nicht nach, wie, infolge des allen Wesen notwendig anhaftenden metaphysischen Übels, das Gute und das Glück ihren Weg durch das Böse und den Schmerz hindurchnehmen müssen; sondern er sagt nur, daß  "öfters"  durch ein Übel ein Gut hervorgerufen wird, welches ohne das Übel nicht erfolgt wäre (Seite 507 und 576); oder daß es  "Fälle gibt",  wo eine kleine Unordnung notwendig ist, um in dem Ganzen die größte Ordnung zu erzeugen (Seite 547). Es ist also nicht das Wesen des Guten, wodurch das Übel als notwendig gefordert wird, sondern es sind nur eigentümliche Umstände, die diesen Umweg notwendig machen; wobei es freilich unerklärt bleibt, warum Gottes Allmacht und Weisheit auch in disen speziellen Fällen nicht ohne Übel fertig wurde. Wären freilich das moralische und das physische Übel, wie es konsequenterweise sein sollte, etwas Notwendiges, so wäre dieser Einwurf hinfällig, weil Gott dann eben dieser  sachlichen  Notwendigkeit unterläge. Allein LEIBNIZ erklärt ausdrücklich, daß das moralische und das physische Übel  nicht notwendig  sind, sondern im göttlichen Verstand bloß ihre  Möglichkeit  liegt (Seite 510). Eben darum gebraucht er auch die Wendung, daß das Böse kein direktes Objekt des göttlichen Willens ist, sondern Gott es nur  erlaubt  habt (Seite 510 und 551). Dieser schwächliche, zwischen Befehlen und Verbieten vage hin- und herschwankende Ausdruck des "Erlaubens" drückt recht deutlich die Verlegenheit aus, in der sich LEIBNIZ befand. Es sollte damit einerseits etwas von der Notwendigkeit des Bösen gerettet werden. In Wahrheit aber wird dadurch Gott zu einem kurzsichtigen Menschen herabgewürdigt, der vom Bösen keinerlei sonderlichen Schaden, aber auch keinen besonderen Nutzen erwartet und es daher passieren läßt.

Ebenso wie die Notwendigkeit, nimmt LEIBNIZ dem Übel auch allen positiven Gehalt. Es streift wirklich an einen gewissen optimistischen Dusel, das Übel als einen bloßen Mangel, als etwas nur Negatives zu erklären, das in einer sogenannten  causa deficiens  [nicht hinreichende Ursache - wp] seinen Grund hat, und ihm positive Realität und tätige Macht nur "par concomitance" [durch Zusammenwirken - wp] oder "par accident" [per Zufall - wp] zuzugestehen (Seiten 510, 549, 550). Das Übel erscheint so in den Händen Gottes fast nur wie ein Mittel, die Schönheit der Welt zu erhöhen; die Fehler im Einzelnen wendet Gottes wunderbare Kunst dahin, daß sie die Schönheit seiner großen Welt nur noch mehr offenbaren (Seite 548). Der ganze ächzende Jammer der Menschheit, ihr tumultuöses Rennen und Jagen scheint allein darum da zu sein, um das ästhetische Vergnügen des Weltregenten zu erhöhen. Wie die Farben durch Schatten gehoben werden, oder wie die Harmonie durch eine wohl angebrachte Dissonanz umso bedeutungsvoller hervortritt, so findet auch die Weisheit Gottes durch die Mißgestalten der Welt umso mehr Bewunderung (Seite 507). Schließlich werden wir zu bloßen Spielzeugen Gottes; es macht Gott Freude, uns von seinem Geschenk, dem freien Willen, wie kleine Götter einen uneingeschränkten Gebrauch machen zu sehen und uns dann, wenn wir unsere Freiheit falsch angewendet haben, hart zu strafen (Seite 548). Gott hat also dem Menschen die Möglichkeit des Irrens und Sündigens, und also mittelbar des Leidens und Elends, zu seinem Plaisir gegeben.


B. Hegel

1. Wenn wir sagten, daß das HEGEL'sche  System  den Pessimismus, insofern er berechtigt ist, vollkommen in sich schließt, so ist damit ausgesprochen, daß es kein äußerlicher Kompromiß ist, den dasselbe mit dem Pessimismus eingeht, sondern daß es in seinem innersten Charakter liegt, dem Schmerz und Leiden eine wesentliche, unersetzbare Rolle in der Welt einzuräumen und die ganze Schwere und Wucht des Schmerzes, seine schneidige, zerreißende Kraft als ein wesentliches Moment der Weltentwicklung anzuerkennen. Denn die Vernunft, die nach dieser Weltanschauung die Substanz der Welt und zugleich die Tätigkeit ist, welche diese Substanz verarbeitet, wickelt sich nicht glatt und kampflos ab, sie legt keinen durchaus friedlichen und ungetrübt glücklichen Weg zurück; vielmehr steckt ihr der Pfahl des  Widerspruchs  im Fleisch, und nur durch immer härtere, grellere Widersprüche hindurch vermag sie ihre Vorwärtsbewegung zu vollziehen. Indem die HEGEL'sche Philosophie den Widerspruch, die immanente Negation zum integrierenden Teil der Vernunft erhebt und ihn so mit der positivsten Realität ausrüstet, hat sie zugleich das pessimistische Moment aufgenommen. Weil aber der Widerspruch, und zwar umso schneidiger und tiefer er ist, desto mehr, den Drang zur Versöhnung in sich trägt und diesem Drang unwiderstehlich folgen muß, weil also der Kampf notwendig zur Versöhnung führt, ist die HEGEL'sche Philosophie kein einseitiger pessimismus, sondern hebt sich in ihr der Pessimismus zum Optimismus auf. Der Widerspruch ist der  eigene  Weg, den die Einheit nehmen mß, um sich zu realisieren; im Schmerz und in der Entzweiung selbst ist schon die Befriedigung und Versöhnung tätig; der Zustand der höchsten Zerrissenheit ist zugleich die Geburtsstunde einer neuen, gediegen glücklichen Zeit.

Indem wir nun die Bedeutung, die HEGEL dem Schmerz in der Welt beimißt, etwas weiter ins Einzelne verfolgen wollen, haben wir es natürlich nur mit der Welt des Bewußtseins zu tun; denn erst im Bewußtsein offenbart sich der Widerspruch als Schmerz. - Das Entstehen des Bewußtseins ist wesentlich an die Endlichkeit geknüpft; würde die Unendlichkeit nie aus sich heraustreten und sich nie durch die Endlichkeit beschränken, so würde auch niemals das Phänomen des Bewußtseins hervorbrechen. Die Endlichkeit der Dinge aber besteht darin, "den Keim des Vergehens als ihr Insichsein zu haben". "Die Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes." Die Endlichkeit ist die "ansich fixierte Negation." Das Endliche ist das Verweigern, sich zu seinem Affirmativen, dem Unendlichen, hinbringen zu lassen und so seinen Widerspruch zu versöhnen. "Die Bestimmung der endlichen Dinge ist keine weitere als ihr  Ende."  Diese  "Trauer der Endlichkeit"  (Logik I, Seite 137f) wird sich daher auch dem Bewußtsein fühlbar machen, nicht nur insofern es sich selbst als endliches weiß, sondern auch indem es die Welt der endlichen Dinge, die Natur und Geschichte mit ihrem rastlosen Entstehen und Vergehen, mit dem Dahinstürzen aller Erscheinungen in den bodenlosen Abgrund der Vergangenheit betrachtet. Freilich ist der Widerspruch der Endlichkeit nicht das Letzte, und also auch ihre Trauer nicht versöhnungslos; dennoch aber muß, da die Endlichkeit eine unumgängliche Kategorie der Vernunft ist, auch die Trauer der Endlichkeit als ebenso unumgänglich und daher relativ berechtigt anerkannt werden. HEGEL nennt die Endlichkeit die "hartnäckigste Kategorie des Verstandes"; und sicherlich, wer sich in die Widersprüche und Trauer der Vergänglichkeit mit aller Macht hineingesponnen hat, kann sich leicht, wie wir dies z. B. an dem Dichter LENAU sehen, in den versöhnungslosen Schmerzen dieser Kategorie verzehren und aufreiben. Aber auch in das Gemüt derer, die die Kraft besitzen, den Widerspruch der Endlichkeit auszuhalten und zu versöhnen, also die endlichen Dinge "sub specie aeternitatis" [im Licht der Unendlichkeit - wp] zu betrachten, wird in gar manchen Stunden die Endlichkeit und Vergänglichkeit der Dinge ihre trüben Schatten werfen.

Es ist nach HEGEL die notwendige Bewegung des Begriffs, sich in die Endlichkeit, in ihre äußerlichen, zufälligen Verwicklungen und tausendfältigen Verschlingungen zu verlieren. Innerhalb dieser Endlichkeit bleibt der Begriff  als solcher  ein nur innerlicher, indem er nur den  allgemeinen  Fortgang der Natur bestimmt, ihre Einzelheiten aber freiläßt. Diese Notwendigkeit des Begriffs, sich an sein äußerstes Extrem, an das Nebeneinander und die in ihm wirkenden mechanischen Gesetze zu entäußern, sich also selbst "schwach" und "ohnmächtig" zu machen, bringt in der Natur jene Unvollkommenheiten, Vermengungen und Verkümmerungen hervor. Indem nun das Individuum in diese Endlichkeit hineingestellt ist und sich in ihrem Bereich darleben soll, fühlt es nicht allein jene aus der  Betrachtung  der Endlichkeit entspringende Trauer, sondern es findet sich auch in all seinem  Tun  und  Handeln,  in all seinen  Bewegungen  und  Unternehmungen  durch die Schranken der Endlichkeit gehemmt, durch die Zufälligkeit der wechselnden Umgebung und die aneinander prallenden Widersprüche der endlichen Interessen bedroht. Dieses Los hat der Mensch mit dem Tier gemein. HEGEL deutet das hier Gesagte an, wenn er sagt: "Diese Schwäche des Begriffs in der Natur überhaupt unterwirft die Bildung der Individuen äußerlichen Zufälligkeiten; das entwickelte Tier, und der Mensch am meisten, ist Monstrositäten ausgesetzt . . . Die Umgebung der äußerlichen Zufälligkeit enthält fast nur Fremdartiges; sie übt eine fortdauernde Gewaltsamkeit und Drohung von Gefahren auf sein (des Tieres) Gefühl aus, das ein unsicheres, angstvolles, unglückliches ist" (Enzyklopädie II, Seite 652). Zwar erhebt sich der Mensch über die nur endlichen Interessen durch die Hingebung an allgemeine, über das bloß Endliche hinausragende Bestrebungen; Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Kunst, Religion, Wissenschaft bilden die Stufenleiter, an der der Mensch zur Unendlichkeit emporklimmt. Allein diese Erhebung aus der Endlichkeit ist keine Abstraktion von derselben, keine Flucht aus ihren Banden; vielmehr muß der Mensch, wenn er in der Endlichkeit das Unendliche finden will, in die Endlichkeit eingehen, sie in allen ihren Verschlingungen durchkosten, innerhalb ihrer arbeiten und sie zu bewältigen suchen. Gerade weil der Mensch durch seine vermehrten und komplizierten Bedürfnisse viel mehr als das Tier auf die Außenwelt angewiesen und in ihre Fäden hineingeflochten ist, gerade darum ist es ihm gegeben, sich zum Herrn und Besieger der Natur und der niederen Geisteswelt, kurz der Endlichkeit emporzuschwingen und sie so wahrhaft geistigen, also bleibenden, dauernden Zwecken dienstbar zu machen. Das Tier, das durch seinen viel einfacheren Organismus in viel einfacherer, primitiverer Weise von der Natur abhängig ist,  erfährt  und  erlebt  die Natur und die Endlichkeit überhaupt nicht, dringt nicht in sie  ein  und kann sie also auch nicht unterwerfen. So hängt es also mit der höheren Bestimmung des Menschen zusammen, daß er die Hindernisse, Gefahren und Widerwärtigkeiten der Endlichkeit in viel mannigfaltigerer, reicherer, intensiverer Weise empfindet als das Tier, wenn sie ihn auch nicht so häufig wie das Tier mit mörderischen Zähnen, sondern viel öfter in Glacéhandschuhen anfassen.

2. Das Bewußtsein nimmt seinen Anfang mit dem Gefühl des Mangels, mit dem Schmerz. Das allererste, noch ganz unentwickelte Bewußtsein eines lebendigen Organismus, also das Gefühl der Selbstgewißheit, das Selbstgefühl entspringt dadurch, daß sich das lebendige Wesen durch die Äußerlichkeit der unorganischen Natur gehemmt, beschränkt,  negiert  fühlt. Nur durch das Gefühl des  Mangels  und den  Trieb,  ihne aufzuheben, wird das lebende Wesen seiner selbst gewiß. Die Kraft der Negation, des Schmerzes also ist es, woduch das Bewußtsein entsteht. Der in der unorganischen Natur  auseinander gegangene Widerspruch hat sich im Lebendigen wieder  in sich zusammen gefaßt und zu einer absoluten Spitze zugeschärft; dies meint HEGEL, wenn der "die Dialektik der absoluten Entgegensetzung" als die Seele der Lebendigkeit bezeichnet (Enzyklopädie II, § 359). Das Lebendige bildet eine in sich zurückgehende, zweckmäßig organisierte Totalität; trotz dieses Insichseins aber ist es von der Außenwelt abhängig, von ihr beschränkt und gegen sie gespannt. Durch diesen Widerspruch des Lebendigen in sich selbst, der sich als Gefühl des Mangels, als Schmerz äußert, bricht das Bewußtsein hervor. Das Lebendige trägt diesen Widerspruch von Haus aus in sich (Logik II, Seite 69), und kann ihn daher auch in seinen höheren Formen, also auf den verschiedenen Bewußtseinsstufen, niemals los werden. HEGEL drückt diese Wesentlichkeit des Schmerzes, diese Hoheit des menschlichen Geistes ausmachende Natur desselben an den verschiedensten Stellen und in den verschiedensten Formen aus. Er nennt den Schmerz den Verlauf der Endlichkeit und sieht in Schmerz, Kampf und Sieg Momente in der Natur des Geistes, die in seiner Fortbestimmung zur Freiheit nicht fehlen dürfen (Religionsphilosophie I, Seite 418); weswegen er dann auch das aus den Widersprüchen des Geistes entspringende Elend als Zucht der Welt bezeichnet (Philosophie der Geschichte, Seite 389). Die Vertiefung und Versöhnung, das immer gediegenere Sich-selbs-Erfassen des Geistes hat Schmerz und Zerrissenheit, Auflehnung aller Seiten des Geistes gegeneinander, zur unumgänglichen Voraussetzung. Schweiß und Arbeit, Schmerz und Kampf gelten HEGEL zwar als Folgen der Endlichkeit, aber zugleich als Garantie für die Hoheit des Menschen (Religionsphilosophie II, Seite 75); der aus den innersten Tiefen der Seele schreiende Schmerz ist ewiges Moment des Geistes. Am Deutlichsten spricht sich HEGEL aus, wenn er sagt: "Das Andere, das Negative, der Widerspruch, die Entzweiung gehört zur Natur des Geistes. In dieser Entzweiung liegt die Möglichkeit des  Schmerzes.  Der Schmerz ist daher nicht von außen an den Geist gekommen, wie man sich einbildete, wenn man die Frage aufwarf, auf welche Weise der Schmerz in die Welt gekommen ist. Ebensowenig wie der Schmerz kommt das  Böse  von außen an den Geist; es ist im Gegenteil nichts anderes, als der sich auf die Spitze seiner Einzelheit stellende Geist. Selbst in dieser seiner höchsten Entzweiung, in diesem Sichlosreißen von der Wurzel seiner ansichseienden sittlichen Natur, in diesem vollsten Widerspruch mit sich selbst, bleibt daher der Geist doch mit sich identisch und daher frei . . . Der Geist hat die Kraft, sich im Widerspruch, folglich im Schmerz - sowohl über das Böse, wie über das Üble - zu erhalten" (Enzyklopädie III, Seite 25f).

Vor allem ist es der Gegensatz der sinnlichen, natürlichen, und der geisitigen, vernünftigen Seite des Menschen, und der damit zusammenhängende zwischen Unbewußtem und Bewußtsein im Menschen, woraus die Schmerzen, Dissonanzen und Qualen des Menschenherzens entspringen. Das Gemeine, Gebrechliche und Schmutzige der Menschennatur und ihre Hoheit, Schönheit und Idealität; ebenso das duftig Zart, naiv Unbewußte und auf der anderen Seite das verstandesmäßig Nüchterne, zerfasernd Prosaische bilden die Extreme zweier Gegensätze, die sich mannigfaltig ineinander verschlingen, in sich zerreißen, sich auf die Spitze treiben, zerstören, einander verlachen, verhöhnen und ruhelos gegeneinander empören. GRABBE läßt seinen Theodor von Gothlan treffend sagen:
    .... Der Mensch
    Trägt Adler im Haupte
    Und steckt mit den Füßen im Kot!
Unter diesen Gesichtspunkt fallen schon jene noch in sich einfachen Schmerzen, die aus dem Kampf der Vernunft mit den sinnlichen Begierden, Neigungen und Leidenschaften hervorgehen und, solange der Sieg des vernünftigen, sittlichen Prinzips nicht fest und dauerhaft geworden ist, den Menschen fortwährend quälen. Hierher gehört ferner jene Trauer und Wehmut, die der zum Denken erwachende Geist des Jünglings über das Entschwinden des märchenhaften, treuherzigen Kinderglaubens empfindet; und ebenso die niederdrückenden Schmerzen der Enttäuschung, die der zum Mann emporreifende Geist erfährt, wenn er immer mehr inne wird, daß seine Ideale, die aus jugendlicher Begeisterung und hoffnungsreicher, die Bedingungen der Wirklichkeit überfliegender Schwärmerei, aus einer ins Unbestimmte gehenden Menschenliebe und einem offenherzigen Vertrauen auf die Ausschlag gebende Macht der edlen Gefühle in der Menschenbrust, hervorquollen, an der unbarmherzig harten, eckigen, poesielosen Realität dieser Welt einen unüberwindlichen Widerstand finden. Am Verwickeltsten aber zeigen sich die Kämpfe jener Gegensätze in den Dissonanzen der modernen Bildung, die einerseits den Bruch mit der Natürlichkeit, mit der einfachen, unbewußten Unmittelbarkeit des geistigen Lebens vollzogen hat, der es aber andererseits noch lange nicht gelungen ist, jene Entzweiung durch die  ideengetragene, lebensvolle Vernunft  in eine höhere Einheit von Natur und Geist überzuführen. Der abstrakte, prosaische, ideenlose, eogistisch ausplündernde Verstand mit seiner Halbheit und schwächlich schlauen Berechnung hat, im Gegensatz zum Mittelalter, wo die Unnatur aus der Natur in ein fahles  Jenseits  flüchtete,  innerhalb der Natur selbst  sein Reich der Unnatur und des Scheins errichtet und so in die Wirklichkeit einen unendlich harten Widerspruch hineingepflanzt. Die Härte desselben zeigt sich in tausend widerspruchsvollen, sich oft bis zu ekelhaften Auswüchsen steigernden Erscheinungen unserer Zeit: in ihrer oft barbarischen Roheit, die sich unter dem Gewand einer raffinierten Verfeinerung birgt; in der entsetzlichen Ausbeutung der Menschen untereinander, die sich unter der Maske der Freiheit in ungeniertester Weise breit macht; in dem, um mit FEUERBACH zu reden, komfortablen, rennomistischen, koketten, illusorischen modernen Christentum, das im Grunde längst kein Christentum mehr ist; in der fanatischen Verteidigung der Unantastbarkeit und Heiligkeit des Privateigentums, während es doch, in der Form des Kapitals, faktisch längst zu etwas Flüssigem, Beweglichem, ja von der allerbeweglichsten und unheiligsten Macht, dem Zufall, Abhängigen geworden ist usw. Die Schmerzensschreie der Idealisten und die quälende Blasiertheit unserer  jeunesse dorée  [goldenen Jugend - wp], die Klagen der nach Emanzipation dürstenden Frauen und die Hilferufe des Proletariats: alle diese Schmerzen haben in der bis jetzt noch versöhnungslosen Dialektik jener oben erwähnten Gegensätze ihren letzten Grund.

Schließlich wollen wir noch erwähnen, daß auch das  Böse  als solches in einem jener Gegensätze wurzelt. Schon im Zustand der Natürlichkeit, also in jenem Zustand, wo man den Menschen gemeinhin noch als unschuldig bezeichnet, ist der Geist, eben weil er  Geist  ist, von seinem Ansichsein  abgefallen.  "Der Mensch, der seinen Leidenschaften und Trieben folgt, der in der Begierde steht, dem seine natürliche Unmittelbarkeit das Gesetz ist", ist von seinem ursprünglich  geistigen  Wesen verschieden. In seiner Natürlichkeit ist also unmittelbar die Einseitigkeit, die Entzweiung gesetzt; und HEGEL kann darum im Gegensatz zu ROUSSEAU und anderen sagen: "Das ist der höhere Standpunkt, daß der Mensch  von Natur böse  ist, und zwar darum böse ist, weil er ein Natürliches ist" (Religionsphilosophie II, Seite 259f). Durch das Bewußtsein und Erkennen tritt das Bösesein allerdins in ein ganz anderes Stadium. Erst durch das Bewußtsein ist jene Trennung und Entzweiung  für mich  vorhanden, womit die Entzweigung sich zugleich zugeschärft hat, da das Bewußtsein selbst in einem Akt der  Trennung  besteht. Nun erst  weiß  ich mich als von meinem Kern, dem vernünftigen Willen, losgerissen, als vom Allgemeinen getrennt, als auf die Spitze der höchsten Vereinzelung gestellt. In dieser Trennung, sagt HEGEL, "hat das Böse seinen Sitz, hier ist die Quelle des Übels, aber auch der Punkt, wo die Versöhnung ihre letzte Quelle hat. Es ist das Krankmachen, und die Quelle der Gesundheit" (Religionsphilosophie II, Seite 264f). Damit aber das Bedürfnis der allgemeinen, absoluten Versöhnung im Menschen hervorbricht, muß jener Gegensatz und Zwiespalt den ganzen Menschen druchdrungen und sich bis zu jener umfassenden Allgemeinheit und Unendlichkeit gesteigert haben, daß es im Menschen nichts gibt, was außerhalb jenes Gegensatzes fällt. Hat der Mensch dieses Bewußtsein von seiner tiefsten Entzweiung, so ist dies der  "unendliche Schmerz über sich selbst"  (Religionsphilosophie II, Seite 270f). Die abstrakte Tiefe des Gegensatzes bringt das unendliche Leiden der Seele, und damit eine Versöhnung hervor, die ebenso vollkommen ist (ebd. Seite 275). Wir sehen also, wie HEGEL die aus der sittlichen Entwicklung des Menschen entspringenden Schmerzen und Leiden in ihrem Umfang und ihrer ganzen Tiefe würdigt, freilich immer so, daß er sie als den Weg, den die Versöhnung sich selbst bereitet, auffaßt und ihnen so den absolut pessimistischen Charakter nimmt.

3. Bemerken wollen wir noch, daß nach HEGEL'scher Anschauung die Summe des Schmerzes in der Welt notwendig wechseln muß. Und zwar wird sich dieser Wechsel nach zwei Rücksichten vollziehen. Da der Weltgeist, je mehr er sich in sich vertieft und zur Freiheit emporringt, desto gewaltigere, schärfere Widersprüche in sich erzeugt, so müssen auch die Schmerzen mit dem Fortschritt des Weltgeistes tiefer, schneidiger werden und Herz und Geist immer mehr zerklüften und aufwühlen. Die himmelschreienden Dissonanzen der modernen Welt waren dem antiken Geist völlig fremd. Doch könnte bei diesem Wachstum der Leidenssumme das  Verhältnis  derselben zur jedesmaligen Summe des Glücks so ziemlich dasselbe bleiben, weil, wenigstens ganz allgemein betrachtet, mit der Steigerung des Schmerzes auch die aus derselben resultierende Befriedigung gediegener, reichhaltiger werden und unserem Geist ein viel tiefer in sich versenktes, seiner selbst viel bewußteres Glück gewähren muß. Innerhalb dieses fortschreitenden Wachstums der Schmerzenssumme tritt aber ein Wechsel von mehr und von weniger unglücklichen Perioden ein. Nachdem eine weltgeschichtliche Gestalt ihre Blüte gefeiert hat, zersetzt und löst sie sich allmählich auf; aus dem scheinbar so sicher in sich ruhenden Organismus einer Kulturgestaltung entwickeln sich neue Gegensätze, die miteinander ringen, schroffe Einseitigkeiten, gährende, alle Bande sprengende Elemente. Der Periode des Glücks folgt eine Periode der allgemeinen Zersetzung, der feindseligsten Bekämpfung der Gegensätze, von denen ein jeder die neue Zeit herbeiführen zu können ment, kurz des überwiegenden Unglücks. Freilich lassen sich diese Perioden nicht genau abgrenzen, weil auch schon während der schönsten Blüte sich im Stillen die zersetzenden, weiter treibenden Elemente vorbereiten und zu ihrem zerstörenden, weiter treibendenn Element vorbereiten und zu ihrem zerstörenden Kampf rüsten. Wer erfahren will, wie tief und meisterhaft HEGEL solche in sich zerrissene, schmerzvoll aufstöhnende Kulturgestaltungen aufgefaßt hat, möge unter anderem seine Schilderung des dem Sieg des Christentums vorangehenden Zustandes der römischen Welt (Religionsphilosophie II, Seite 271f, 298f und besonders Philosophie der Geschichte, Seite 387f), oder in seiner "Phänomenologie" den Abschnitt (Seite 364 - 451) lesen, welcher den sich entfremdeten Geist behandelt.

4. Nach allem Bisherigen wäre nichts verfehlter, als die HEGEL'sche Philosophie eines seichten, alles, was ihr unter die Hände kommt, mit Vertrauensseligkeit für gut und schöne erklärenden Optimismus zu bezichtigen. Zwar erklärt sie alles Wirkliche für vernünftig, allein sie gibt dem Schmerz und dem Leiden ihren Ursprung in der Vernunft selbt; sie sucht den Schmerz nicht hinwegzulächeln und fortzulügen, vielmehr faßt sie ihn als die eigentlich treibende Macht der Vernunft auf und pflanzt ihn so unausrottbar in das Herz der Welt. HEGEL ist es mit der furchtbaren Realität des Schmerzes vollkommen Ernst. Wer noch daran zweifeln wollte, der höre, was HEGEL in seiner Einleutung zur "Philosophie der Geschichte", Seite 26f, über das Schauspiel der Weltgeschichte sagt.
    "Wenn wir dieses Schauspiel der Leidenschaften betrachten und die Folgen ihrer Gewalttätigkeit, des Unverstandes erblicken, der sich nicht nur zu ihnen, sondern selbst auch, und sogar vornehmlich zu dem, was gute Absichten, rechtliche Zwecke sind, gesellt, wenn wir daraus das Übel, das Böse, den Untergang der blühendsten Reiche, die der Menschengeist hervorgebracht hat, sehen: so können wir nur mit Trauer über diese Vergänglichkeit überhaupt erfüllt werden, und indem dieses Untergehen nicht nur ein Werk der Natur, sondern des Willens der Menschen ist, mit einer moralischen Betrübnis, mit einer Empörung des guten Geistes, wenn ein solcher in uns ist, über ein solches Schauspiel enden. Man kann jene Erfolge ohne rednerische Übertreibung, bloß mit einer richtigen Zusammenstellung des Unglücks, den das Herrlichste an Völkern und Staatengestaltungen, wie an Privattugendenn erlitten hat, zu dem furchtbarsten Gemälde erheben, und ebenso damit die Empfindung zur tiefsten, ratlosesten Trauer steigern, welcher kein versöhnendes Resultat das Gegengewicht hält."
Freilich tadelt es HEGEL, "sich in den leeren, unfruchtbaren Erhabenheiten jenes negativen Resultats trübselig zu gefallen" und bei der Betrachtung der Weltgeschichte als einer bloßen Schlachtbank für Individuen und Völker stehen zu bleiben; vielmehr geht er von hier aus zu dem höheren Standpunkt über, von welchem aus jener Kampf und Schmerz als das Mittel erscheint, wodurch die Vernunft ihre absoluten Zwecke realisiert.


C. Wurzel des Pessimismus. Schopenhauer

1. Gemeinhin wird derjenige als Pessimist bezeichnet, der die Summe der Unlust auf dieser Welt für größer hält als die Summe der Lust. Diese Definition trifft weder die  Wurzel  des Pessimismus, noch auch ist sie  tatsächlich  zutreffend. Was zunächst das Letztere betrifft, so ist zwar zuzugeben, daß jeder Pessimist das von jener Definition Ausgesprochene aus vollem Herzen unterschreiben wird; allein es ist gar nicht unmöglich, daß jemand, der das Leiden auf der Welt überwiegen sieht, dennoch auf den Namen eines Optimisten Anspruch erhebt. Auf HEGEL'schem Standpunkt nämlich folgt zwar den Widersprüchen und Entzweiungen der Vernunft die höhere, versöhnte Einheit, allein es fragt sich, ob die Widersprüche, um sich auseinanderzulegen, zuzuschärfen, zu zerstören und so auf den Punkt zu bringen, wo die Versöhnung eintreten muß, nicht einer  viel längeren Zeit  bedürfen, als der darauf folgenden Periode des Ausgleichs und der Harmonie, aus welcher sich doch bald wieder neue Gegensätze herausbilden, zugemessen ist. Aber selbst zugegeben, daß nach dieser Richtung hin kein Überwiegen des Schmerzes zu befürchten wäre, so ist es doch weiter von vornherein gar nicht undenkbar, daß die  objektiv  vorhandene Versöhnung nicht mit solcher Entschiedenheit, Stärke und Dauer in das  Bewußtsein  tritt als die objektive Entzweigung und Zerrissenheit, mit anderen Worten, daß die Intensität und Dauer des Bewußtseinsreflexes von Seiten des objektiv vorhandenen Widerspruchs größer ist als jene von Seiten der versöhnten Einheit. Sollte sich also ergeben (was wir hier noch nicht ausmachen wollen), daß der Schmerz viel intensiver und dauernder in das Bewußtsein tritt als das Glück, so würde der HEGEL'sche Optimismus, ohne dadurch in einen Widerspruch mit sich zu geraten, behaupten müssen, daß es mehr Schmerz auf der Welt gibt als Glück. Der Schmerz bliebe nach wie vor die von der Vernunft sich selbst auferlegte "Zucht", und mithin der Optimismus in voller Geltung.

Mit dem Vorstehenden ist eigentlich auch schon gesagt, warum jene Definition, selbst wenn sie tatsächlich richtig wäre, doch nicht die Wurzel des Pessimismus trifft. Der Pessimismus ist eine Weltanschauung, und muß als solche auf ein  objektives  Prinzip gegründet sein. Lust und Unlust aber als solche sind völlig  subjektiv,  und will man sie zur Feststellung des Pessimismus benützen, so wird man sie nur bei ihrer  quantitativen  Seite des Mehr oder Weniger anfassen können. Die Begründung des Pessimismus beruth dann auf einem arithmetischen Rechenexempel, bei dessen Ausführung außerdem, da es sich dabei um ganz subjektive Größen handelt, die subjektive Willkür, persönliche Ansichten und Neigungen, Temperamentsunterschiede usw. mehr oder weniger hineinspielen werden. -

Welches das objektive Prinzip des Pessimismus sein muß, ergibt sich auf die einfachste Weise aus dem Prinzip des HEGEL'schen Optimismus, von welchem wir ja nachgewiesen haben, daß er den Pessimismus als integrierendes Moment in sich schließt. Wir brauchen bloß das pessimistische Moment, also den noch nicht versöhnten Widerspruch, zu isolieren und ihn zum ausschließlichen Weltprinzip zu erheben. Die Wurzel des Pessimismus ist demnach der  versöhnungslose, unaufgehobene Widerspruch, das Selbstentzweitsein ohne eine sich durch die Zweiheit hindurch fortsetzende und sie zu einer abschließenden Versöhnung führende Einheit, also der absolute, vernunftlose, an sich selbst Genüge findende, nie zur Ruhe eingehende, sondern sich ziellos immer neu durch die Welt fortzeugende Widerspruch.  Eine unmittelbare Folge dieses Prinzips ist es, daß der Schmerz, als der Bewußtseinsreflex des allgewaltigen Widerspruchs, dem Glück keine Realität lassen kann, sondern alle Realität allein für sich in Anspruch nehmen muß, weswegen dann das Glück als bloße Jllusion und Chimäre erscheint. - Wir haben nun zu sehen, in welchen Gestaltungen dieses Fundamentalprinzip des Pessimismus bei SCHOPENHAUER, HARTMANN und BAHNSEN erscheint.

2. SCHOPENHAUER schildert das Leiden der Welt in der ergreifendsten, packendsten Weise. Ist der Gegenstand ansich schonvoll des tiefsten Ernstes, so wird dieser noch gesteigert durch die einfache Großheit der Darstellung, durch das architektonische Gefüge der meisterhaften Perioden. Durch die erhabene Ruhe der Darstellung weht ein tiefes, nicht gefällig sich selbst bespiegelndes, sondern ernst gemeintes Mitleid mit dem Jammer der Welt. Nur zuweilen tönt ein tiefes, schmerzvolles Aufstöhnen dazwischen über die unerträgliche Last dieses Lebens, das sich ihm darstellt, als "nur augenblickliches Behagen, flüchtiger, durch Mangel bedingter Genuß, vieles und langes Leiden, beständiger Kampf, bellum omnium [Krieg aller gegen alle - wp], Jedes ein Jäger und Jedes gejagt, Gedränge, Mangel, Not und Angst, Geschrei und Geheul" (W. a. W. u V. II, Seite 405. SCHOPENHAUER vermag sich angesichts dieser sich übereinander auftürmenden Schmerzen des tiefsten Schauers nicht zu erwehren. Wie tief er den Jammer der Welt erschaut und sich in das Gefühl desselben hineingelebt hat, beweist sich dadurch, daß er ihn nicht in bloßen Phrasen schildert, vielmehr sind es die mannigfachsten, von konkretester Anschauung gesättigten Bilder, unter denen sich ihm das Leiden der Menschheit darstellt.

Nicht alle Darstellungen, die SCHOPENHAUER von der tiefsten Wurzel seines Pessimismus gibt, sind gleich wissenschaftlich und korrekt. Wenn er z. B. sagt, daß das menschliche Dasein den Charakter einer  Schuld  hat, die bei der Zeugung kontrahiert wurde und durch den Tod abgezahlt wird (W. a. W. u. V. II, Seite 663); oder daß die schwere  Sünde der Welt  es ist, welche das viele und große Leiden der Welt herbeiführt (Parerga II, Seite 323), so sind dies  mythische  Ausdrücke für den Pessimismus. Der transzendente blinde Wille wird hierbei als eine  Person  gedacht, der ein Sollen, ein Sittengebot gegenübersteht, und die, wiewohl sie ebensogut ihm hätte gehorchen können, sich dagegen aufgelehnt hat. Daß diese Welt ihre Jammerexistenz erlangt hat, wird damit zu einem zufälligen Geschehen; wie dies dann auch SCHOPENHAUER ausdrückt, wenn er sagt, daß man unser Leben als "eine unnützerweise störende Episode in der seligen Ruhe des Nichts" auffassen könne (Parergar II, Seite 321).

Den letzten Grund seines Pessimismus enthüllt SCHOPENHAUER, wenn er die Frage nach dem Ziel und Zweck des Willens so beantwortet, daß der Wille "eines  letzten Ziels und Zwecks ganz entbehrt",  daß er aber, trotz dieser absoluten Ziellosigkeit, fortwährendes Streben, also  unaufhörliches Zielsetzen  ist (W. a. W. u. V. I, Seite 364). Der Weltwille ist mit dem ungeheuren Widerspruch belastet, einerseits  Abwesenheit allen Ziels  zu seinem Wesen zu haben, und andererseits dennoch in jedem einzelnen Akt  zweckvoll  zu sein (W. a. W. u. V. Seite 195f). Wie wir schon im 2. Teil (Kap. 1, 3) nachgewiesen haben, ist es durchaus unlogisch und widervernünftig, innerhalb der  allgemeinen  Zwecklosigkeit  einzelne  Zwecke fortwährend entstehen zu lassen. Der Zweck ist nur durch Vernunft möglich; wie aber soll Vernunft aus dem Element der Zwecklosigkeit, der totalen Unvernunft, hervorgehen? So also basiert SCHOPENHAUERs Pessimismus in der Tat auf einem unversöhnlichen, widervernünftigen, nichtsdestoweniger aber für real erklärten Widerspruch. SCHOPENHAUER freilich spricht dies nirgends in einer solchen Allgemeinheit aus, wie den überhaupt die logische Zuspitzung irgendeiner Frage seiner ganzen Denkweise fern liegt. Außerdem hätte  in dieser  Frage die scharfe logische Formulierung ergeben, daß er eigentlich die  negative Seite der Hegel'schen Dialektik  zu seinem Hauptprinzip gemacht hat; alles aber, was nur irgendwie nach Dialektik aussieht, läuft seinem denkenden Bewußtsein stracks zuwider und kann in demselben zu keiner Geltung kommen.

Jeder unausgeglichene Widerspruch stellt sich so dar, daß er fortwährend über sich selbst hinausweist. Ein Zweck, der nur dazu da ist, um die Zwecklosigkeit zu realisieren, hat in sich selbst keinen Halt, er ist da, um sich sofort als solchen zu negieren und einem andern, ebenso nichtigen, ebensowenig zur Befriedigung beitragenden Zweck Platz zu machen. Von hier aus läßt sich der SCHOPENHAUER'sche Pessimismus dahin aussprechen, daß der Wille seine innere Selbstentzweiung ins Unendliche fortpflanzt (W. a. W. u. V. I, Seite 364); daß er ein endloses Streben ohne Ziel und ohne Rast ist, gänzlich vergleichbar einem unlöschbaren Durst (I, 367); daß in dieser Welt "keine Stabilität, kein dauernder Zustand möglich, sondern alles in rastlosem Wirbel und Wechsel begriffen ist, alles eilt, fliegt und sich auf dem Seil, durch stetes Schreiten und Bewegen, aufrecht erhält" (Parerga II, Seite 304).

3. Ist also dies ins Endlose sich fortwälzende Entstehen und Vergehen der Zwecke, ohne jedes Zurückbiegen in sich, ohne jedes Abschließen, der Kern der Welt, so ist natürlich jede einzelne Erscheinung in diesem Fluß, also auch jedes Menschenleben, gehaltlos und nichtig. In den verschiedenen Menschenleben kommt nichts Neues, kein Fortschritt zum Vorschein. Bei jeder Geburt wird "die Uhr des Menschenlebens aufs Neue aufgezogen, um jetzt ihr schon zahllose Male abgespieltes Leierstück abermals zu wiederholen, Satz für Satz und Takt für Takt, mit unbedeutenden Variationen" (W. a. W. u. V. I, Seite 379). Auf SCHOPENHAUER'schem Standpunkt muß es anmaßend und lächerlich erscheinen, von einer notwendigen Stelle zu reden, die ein bestimmtes Individuum in der Welt ausfüllt. Bei der allgemeinen Zwecklosigkeit sind die Zwecke des Individuums keine  qualitative  Bereicherung des durch die übrigen Individuen Bezweckten, sondern eine bloß  quantitative  Vermehrung. Die Weisheit des  Koheleth,  daß nichts Neues unter der Sonne geschieht, und all diese Eitelkeit dennoch voll Jammers ist, kommt auf SCHOPENHAUER'schem Standpunkt wieder zur Geltung. Wunderschöne sagt SCHOPENHAUER: "Jedes Individuum, jedes Menschengesicht und dessen Lebenslauf ist nur ein kurzer Traum mehr des unendlichen Naturgeistes, des beharrlichen Willens zum Leben, ist nur ein flüchtiges Gebilde mehr, das er spielend hinzeichnet auf sein unendliches Blatt, Raum und Zeit, und eine gegen diese verschwindend kleine Weile bestehen läßt, dann auslöscht, neuen Platz zu machen. Dennoch, und hier liegt die bedenkliche Seite des Lebens, muß jedes dieser flüchtigen Gebilde, dieser schalen Einfälle, vom ganzen Willen zum Leben, in all seiner Heftigkeit, mit vielen und tiefen Schmerzen und zuletzt mit einem lange gefürchteten, endlich eintretenden bitteren Tod bezahlt werden" (W. a. W. u. V. I, Seite 379f).

Die Zwecklosigkeit und Nichtigkeit der Welt findet ihren sprechendsten Ausdruck in der  Zeit.  Die Zeit und ihre Vergänglichkeit ist die Form, unter welcher dem Willen zum Leben die  Nichtigkeit  seines Strebens sich offenbart. Die Wirklichkeit kommt nur in der Gegenwart zum Ausdruck; diese ist aber immer nur einen Augenblick; im nächsten Augenblicke gehört sie schon der unwirklichen Vergangenheit an. "Die Zeit ist das, vermög dessen alles jeden Augenblick unter unseren Händen zu Nichts wird; wodurch es allen wahren Wert verliert" (Parerga II, Seite 303f).

4. Aus diesen objektiven Grundlagen des Pessimismus ergibt sich das Überwiegen des Schmerzes in der Welt auf höchst einfache Weise. Der Weltwille ist zweckloses, endloses Streben. "Alles Streben aber entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustand, ist also  Leiden,  solange es nicht befriedigt ist." Das befriedigte Streben allerdings ist Glück; allein "keine Befriedigung ist dauern, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens." Solange das Streben dauert, solange währt das Leiden: "kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maß und Ziel des Leidens (W. a. W. u. V. I, Seite 365). Das Leiden ist vornehmlich ein zwiefaches:  Schmerz und Langeweile.  Dem Schmerz fällt das Streben schon darum anheim, weil es aus Bedürftigkeit entspringt. Hat dagegen das Streben keinen bestimmten Gegenstand des Wollens, so entsteht, weil das Streben keinen bestimmten Gegenstand des Wollens, so entsteht, weil das Streben als solches unvertilgbar ist, furchtbare Leere und Langeweile. "Zwischen Schmerz und Langeweile wird jedes Menschenleben hin- und hergeworfen" (I, Seite 371); sie sind des Lebens letzte Bestandteile (I, Seite 368). "Der Wunsch ist seiner Natur nach Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einen neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfnis wieder ein: wo nicht, so folgt Öde, Leere, Langeweile, gegen welche der Kampf ebenso quälend ist, wie gegen die Not" (I, 370). - Zu diesen beiden aus dem Innern des Menschen stammenden Leiden kommt nun noch ein drittes, das aus seinem Verhältnis zur Außenwelt herrührt. Es sind dies die tausend Zufälle und Feinde, die ihm auflauern und ihn nie zur Sicherheit kommen lassen (I, 368). - Am meisten aber ist von all diesen Leiden der Mensch heimgesucht. Denn sie entspringen aus der Natur des Wilens; der Mensch aber ist des Willens höchste Objektivation. Auch das Leiden wird bei ihm daher in höchster Potenz anzutreffend sein. Der Mensch ist "konkretes Wollen und Bedürfen durch und durch, ein Concrement [Ablagerung - wp] von tausend Bedürfnissen" (I, 368).


D. Hartmann

1. Wir haben gesehen, daß die Wendungen, welche SCHOPENHAUER zur Bezeichnung der Grundlage seines Pessimismus gebraucht, sich alle auf den unausgleichbaren Widerspruch der sich  zweckmäßig realisierenden Zwecklosigkeit  zurückzuführen lassen. Zugleich haben wir bemerkt, daß SCHOPENHAUER es sich nicht zum Bewußtsein gebracht hat, daß dies sein Grundprinzip nichts anderes als die negative Seite der HEGEL'schen Dialektik ist. Ehe der Pessimismus bei BAHNSEN dazu kommt, dieses Bewußtsein über sich selbst zu gewinnen, tritt eine andere äußerst interessante Gestaltung desselben auf. Jenen bei SCHOPENHAUER mehr erst implizit vorhandenen Widerspruch erkennt HARTMANN in seiner widerspruchsvollen Natur; da ihm nun der Widerspruch durchweg als Zeichen der Unwahrheit gilt, und er andererseits doch am Pessimismus festhält, so nimmt er eine  Zerlegung  jenes pessimistischen festhält, so nimmt er eine  Zerlegung  jenes pessimistischen Widerspruchs in seine beiden Seiten vor: in die Zwecklosigkeit, also die blinde Unvernunft, und in die Zweckmäßigkeit oder die allweise Vernunft. Die isoliert herausgehobene  negative  Seite der HEGEL'schen Dialektik stellt zwar das Unvernünftige dar; allein das Unvernünftige kann nur als  Gegensatz zur Vernunft  vorgestellt werden; nur indem die Vernunft ganz unvermittelt in die Unvernunft hineingestellt und zum Erzeugnis derselben gemacht wird, tritt die Unvernunft bestimmt und scharf heraus. Ohne Rücksicht auf die Vernunft vermögen wir uns die Unvernunft gar nicht zu denken. So kommt es, daß bei der Zerlegung des in der Unvernunft enthaltenen Widerspruchs die eine Seite sich als Vernunft herausstellen muß. Doch wird die auf solche Weise gleichsam frei gewordene Vernunft der frei gewordenen Unvernunft untergeordnet bleiben, ganz ebenso wie dies im gebundenen Zustand beider bei SCHOPENHAUER der Fall war. Durch die Zerlegung des pessimistischen Widerspruchs in seine beiden Seiten entsthet also bei HARTMANN eine Anschauung, welche zwei Weltfaktoren: die Unvernunft oder den SCHOPENHAUER'schen blinden Willen, und die Vernunft oder HEGEL's absolute Idee anerkennt, und also einerseits pessimistisch, andererseits optimistisch ist. Doch behält der Pessimismus die Oberhand, da die logische Idee aus sich heraus absolut gar nichts zu leisten vermag und ihr positives Wirken sich allein darauf beschränkt, das vom unvernünftigen Prinzip Verpfuschte ins Nichts zurückzuführen, wobei außerdem absolut keine Garantie dafür vorhanden ist, daß der Wille nicht im nächsten Augenblick wieder das unvernünftige Dasein hervorruft und sich so beträgt, als ob die Vernunft ihn das vorige Mal ganz unangetastet gelassen hätte.(1) Der bei HARTMANN in seine beiden Seiten auseinandergetretene pessimistische Grundwiderspruch hat aber darum nicht aufgehört, ein Widerspruch zu sein. Vernunft und Unvernunft, in einem absoluten Sinn genommen, sind nun eben einmal unversöhnbar. Nur dann würde sich daher kein Widerspruch aus ihnen ergeben, wenn sie beide sich gleichgültig auf der Seite liegen ließen und in gar keine Berührung miteinander kämen. Dies ist indessen bei HARTMANN in zweifacher Hinsicht nicht der Fall: erstens kommt der reale Weltprozeß nur dadurch zustande, daß der Wille die logische Idee an sich reißt und sich bis an sein Zurücksinken ins Nichts unlöslich mit ihr verknüpft; und zweitens erkennt HARTMANN eine den beiden Attributen: Unvernunft und Vernunft, zugrunde liegende einheitliche Substanz an. So ist also auch dann, wenn keine Welt existiert, und Unvernunft und Vernunft ruhig nebeneinander daliegen, in einem tieferen Grund ihre wesentliche Einheit gesetzt. Die zahlreichen, höchst komplizierten Widersprüche, die sich aus der Ineinanderschlingung des pessimistischen und optimistischen Weltfaktors ergeben, haben wir hier nicht nötig auseinanderzulegen. Das 2. Kapitel im 2. Teil enthält in den Abschnitten B, C, D und E eine höchst ausführliche Darstellung jener Widersprüche und ihrer Zersetzung, und somit die fundamentale Widerlegung des HARTMANN'schen Pessimismus. Allein nicht nur durch die Verknüpfung und Ineinssetzung beider Prinzipien erzeugen sich Widersprüche; auch schon in seinem isolierten Bestehen ist jedes der beiden ein sich aufhebender Widerspruch, wie wir dies im Abschnitt A desselben 2. Kapitels nachgewiesen haben. Hier wollen wir nur wiederholend erwähnen, wie sich der Widerspruch auf der pessimistischen Seite, also in einem isolierten unvernünftigen Willen, zum Ausdruck bringt. Der Wille ist Urquell aller Realität, er ist Existenzsetzend, er ergreift die Initiative zur Existenz; und dennoch kommt er von sich aus nicht zur Realität, sondern erhält diese erst durch die Beziehung auf sein Gegenteil, die logische Idee, indem er sich mit ihr erfüllt. Gibt es seinen härteren Widerspruch als den, daß das unvernünftige Prinzip, wiewohl es Ursache aller Realität ist, seine Realität erst vom vernünftigen Prinzip erhält? So bestätigt sich also unsere Ansicht, daß das pessimistische Prinzip im tiefsten Grund der für real erklärte unaufgehobene Widerspruch ist; selbst hier trifft dies zu, wo doch die bewußte Absicht darauf gerichtet war, das Unvernünftige von jedem Widerspruch rein darzustellen.

2. HARTMANN hat durch die Zuweisung des gesamten  Weltinhalts  an die logische, allweise Idee den Pessimismus dem modernen Zeitbewußtsein unstreitig näher gebracht. Dies ist von der Überzeugung einer stetig fortschreitenden Entwicklung des Menschengeistes, eines den Weltprozeß vorwärts treibenden immanenten Zieles durchdrungen. SCHOPENHAUER hingegen hält es für einen rohen platten Realismus, in der Weltgeschichte ein sich planmäßig entwickelndes Ganzes zu sehen. Die Geschichte gilt ihm schon darum für lügenhaft, weil "sie von lauter Individuen und einzelnen Vorgängen redend, vorgibt, allemal etwas anderes zu erzählen; während sie, vom Anfang bis zum Ende, stets nur dasselbe wiederholt, unter anderem Namen und in einem andern Gewand" (W. a. W. u. V. II, Seite 506). "Die Kapitel der Völkergeschichte sind im Grunde nur durch die Namen und Jahreszahlen verschieden: der eigentlich wesentliche Inhalt ist überall derselbe" (II, 503). Diese Theorie mit ihrem "alles schon dagewesen" kann sich unmöglich mit der modernen Überzeugung vom unaufhaltsamen Fortschritt der Welt verständigen. Ein herrvorragender Vertreter des modernen Geistes, GUTZKOW, sagt in seinem  Nero: 
    Wir schaffen etwas, der Zukunft Schweigen
    Wird sich nicht füllen nur mit Erinnerung;
     Nicht das Alte wird wieder jung,
    Das Junge muß zum ersten Mal sich zeigen! 
Von diesem Fortschrittsgeist ist das HARTMANN'sche System vollständig durchdrungen. Die logische Idee führt mit eiserner Notwendigkeit die Welt von Stufe zu Stufe weiter; die Steigerung des Bewußtseins und mit derselben die Umgestaltung aller Gebiete des menschlichen Lebens geht unaufhaltsam vorwärts. HARTMANN hat selbst in seinem Hauptwerk eine Philosophie der Geschichte in den allgemeinsten Umrissen zu geben versucht. So hat der HARTMANN'sche Pessimismus allerdings durch das Hereinziehen des optimistischen Elementes eine Versöhnung mit dem modernen Zeitbewußtsein angebahnt. Die Welt HARTMANNs ist keine so vollkommene Hölle, wie die SCHOPENHAUER'sche Welt: aber gerade weil in dieser Hölle auch das gute Prinzip Macht hat, mit all seiner Macht aber doch zu keinem  positiven, aufbauenden,  ja nicht einmal zu einem  dauernd  negativen, die Unvernunft  für immer  vernichtenden Sieg gelangen kann, wird die Höllennatur dieser Welt nur umso empfindlicher. Der Philosoph des Unbewußten hört den Herzschlag der Weltgeschichte, sieht ihre Errungenschaften und Fortschritte, er weiß, daß in der Geschichte selbst  der  Geist, der das Böse will, doch das Gute schafft: und doch sind diese Fortschritte nur dazu da, um den Jammer dieser Welt auf das Äußerste zu steigern und schließlich durch die Einsicht in diesen Jammer und durch den vollständigen Ekel am Dasein die radikale Verneinung allen Daseins herbeizuführen. Von dieser Seite betrachtet, liegt in dem in den Pessimismus hineingezogenen Optimismus nur eine Steigerung des ersteren. (1)

3. Indem der HARTMANN'sche Pessimismus in Welt und Menschheit eine zur Erlösung fortschreitende Entwicklung erblickt, ist seinem Geist der Quietismus direkt zuwider. HARTMANN widerspricht der geläufigen Anschauung, daß der Quietismus die unvermeidliche Konsequenz des Pessimismus ist. "Der Pessimismus als solcher kann nur für jene Mollusken[Weichtier - wp]seelen Grund zum Quietismus sein, die aus gänzlicher Schlaffheit und Unfähigkeit, sich zu irgendeiner Energie zu ermannen, lieber die Hände in den Schoß legen und den Schmerz über sich ergehen lassen, als daß sie in der ihnen deutlich gezeigten Weise Hand anlegen, um sich allmählich von diesem Schmerz zu befreien" (Philosophischen Abhandlungen, Seite 75). HARTMANNs Pessimismus ist nämlich von dem Glauben an eine "allweise Vorsehung, die den Weltentwicklungsprozeß zum Ziel einer Gesamterlösung führt", beseelt. Diese Aussicht kann aber nur durch die angestrengteste Tätigkeit der Bewußtseinsindividuen realisiert werden; denn vor allem kommt es auf die Steigerung des Bewußtseins an, weil nur hierdurch die Einsicht in die Eitelkeit der sogenannten Güter der Welt erreicht ist und so der Entschluß gefaßt werden kann, dieser Welt den von HARTMANN beschriebenen (Philosophie des Unbewußten, Seite 749 - 755) jünsten Tag zu bereiten. Würde sich die Möglichkeit einer Gesamterlösung vom HARTMANN'schen Standpunkt aus wirklich in einfacher, klarer Weise ergeben, so würden wir nicht anstehen zuzugeben, daß der Pessimismus ein starkes, anstachelndes Motiv zu energischer Tätigkeit enthält. Allein ganz im Gegenteil wird jeder, der sich die durch bewußte, verabredete Willensanstrengung der Majorität der Menschen herbeizuführende Zurückschleuderung der Welt in das Nichts auch nur in ganz dunklen Umrissen vorstellig machen will, geradeso wie HARTMANN selbst, in derart abenteuerliche, ganz unwahrscheinliche Idee geraden, daß seine Zuversicht auf die Welterlösung arg erschüttert werden muß. Und doch muß der Pessimist, wenn er sich in die schmerzvolle Weltarbeit stürzen soll, diese Zuversicht nicht nur im Allgemeinen besitzen, sondern er will sie sich auch in bestimmter Weise als realisierbar denken können. Schon die allererste Bedingung für die Möglichkeit des Weltuntergangs, daß nämlich in den zur Weltvernichtung entschlossenen Menschen der bei weitem größte Teil des vorhandenen Weltwillens konzentriert sei, ist so unwahrscheinlich wie nur möglich. Welchen Maßstab legt dann HARTMANN an die Stärke der Äußerungen des Weltwillens, wenn er behauptet, daß der in den Paar Millionen Menschenköpfen sich manifestierende Wille zur Weltvernichtung bei weitem größer sein kann als die Summe des Willens, der in der unorganischen Materie, in den Pflanzen und Tieren dieser Erde, ferner in den unzähligen Weltkörpern und den auf ihnen etwa vorhandenen, noch  lebensbejahend  gestimmten Geschöpfen wirkt? Eine solche Rechnung, die ohne weiteres annimmt, daß sich in einem Menschengehirn Millionenmal mehr Wille manifestiert als in einem ebenso großen Quantum unorganischer oder niedriger organisierten Materie, gehört dem Bereich der allerluftigsten Phantasie an.

Doch da HARTMANN seine Andeutungen über den Weltuntergang rein problematisch nennt, und hier immer die Ausflucht übrig bleibt, daß in einer so fernen Zeit Bedingungen geschaffen werden können, von denen wir jetzt keine Ahnung haben, so wollen wir auf diese Einwürfe kein großes Gewicht legen. Dagegen stellt sich dem Entschluß des Pessimisten, rastlos zu arbeiten und sich dem Zweck der Gesamterlösung zu opfern, ein viel größerer Übelstand entgegen. Ist der Pessimist auch von einem Glauben an die endliche Weltvernichtung durchdrungen, so weiß er doch, daß mit der diesmaligen Weltvernichtung auch nicht das Geringste gegen die Möglichkeit einer noch unzählige Male vor sich gehenden Erhebung des Willens aus dem Nichts geschehen sei. Weit entfernt davon, eine Beseitiugn des Schmerzes  für immer  zu sein, gibt der Weltuntergang der Möglichkeit Raum, daß im nächsten Moment sich ganz derselbe jammervolle Weltprozeß von Neuem abzuspielen beginnt. Wenn überhaupt irgendetwas, dann ist dieser Gedanke geeignet, die Tatkraft des Pessimisten vollständig zu lähmen.

HARTMANN hält nicht nur die rastloseste Arbeit für die wahrhafte Konsequenz des Pessimismus, sondern er erblickt in diesem auch  "die tiefste und wirksamste Basis der Sittlichkeit".  Indem der Pessimismus den Nachweis der Eitelkeit allen individuellen Glückseligkeitsstrebens liefert, bricht er kräftigen als irgendeine andere Erkenntnis den Egoismus und macht der solidarischen Hingebung an das Ganze die Bahn frei (Philos. Abh., Seite 77). Doch verhält es sich mit dieser die Selbstsucht brechenden Seite des Pessimismus nicht so einfach als es scheint. Zuerst wir, wie wir weiterhin sehen werden, die  individuelle Glückseligkeit  für das höchste Ziel erklärt (Phil. d. Unb., Seite 626) und von diesem Standpunkt der  krassesten Selbstsucht  die empirische Begründung des Pessimismus unternomen. Der Maßstab der individuellen Glückseligkeit wird an die Welt gelegt; und da sie den Fordernungen dieses Maßstabs nicht entspricht, muß sie sich den verurteilenden, ihre Existenz für unvernünftig erklärenden Spruch HARTMANNs gefallen lassen. Das in seiner eigenen Glückseligkeit das Allerhöchste nicht befriedigt, über sie das Verdammungsurteil aus. Was wäre konsequenter, als daß sich das Subjekt mit dumpfer Resignation von der Welt abwendet oder, noch besser, unbekümmert um die Welt, sich selbst mordet? Hier aber tritt in den HARTMANN'schen Pessimismus das entgegengesetzte Prinzip ein, das den allgemeinen Weltzweck über das individuelle Glück, das Objektive über das Subjektive setzt und die völlige Verleugnung des Egoismus fordert. Hätte HARTMANN gleich da, wo er den Pessimismus empirisch zu begründen unternimmt, dieses Prinzip angewandt, so wäre er gar nicht zu dem Schluß gekommen, daß das Überwiegen des Schmerzes auch schon auf die Unvernunft der Welt hinweist, wie wir im folgenden Kapitel ausführlich zeigen werden. Der Pessimismus HARTMANNs macht also hier mit einem Prinzip  Staat,  das, gleich von Anfang an angewendet, ihn selbst unmöglich gemacht hätte.

4. Es sei uns hier eine kleine Abschweifung über BYRONs  Kain  gestattet, in welchem das Thema des Pessimismus mit einer in die Welttiefen kühn hineingreifenden Dichterkraft, mit genialer Intuition, die von den Weltgeheimnissen den Schleier zieht, ja den Schauplatz in sie hineinverlegt, behandelt ist. Die interessantesten Anklänge an HEGEL, SCHOPENHAUER und HARTMANN finden sich in diesem philosophischen "Mysterium". In den erhabensten Zügen tritt uns jener Zwiespalt im Menschen entgegen, welcher besteht  einerseits  zwischen der den menschen auf sich selbst stellenden, ihn unüberwindbar machenden Vernunft, dem, wie bei HEGEL, das Unsterbliche im Menschen bildenden Denken und Erkennen, dem ihm innewohnenden Durst nach Wahrheit, die ihrem Wesen nach nur gut sein kann, und  andererseits  dem knechtischen Stoff, den schmutzigsten, erbärmlichsten Bedürfnissen, der Nichtigkeit und dem unaufhaltsam sich steigernden Elend der Menschheit. Der unermeßliche Schmerz der Vergänglichkeit wird uns in wahrhaft erschütternder, kolossaler Weise im zweiten Akt zur Anschauung gebracht, wo  Kain  von  Luzifer  in das Todesreich, die Trümmerstätte früherer viel herrlicherer Welten, die mit unvergleichlich höheren, vernünftigeren Wesen bevölkert waren, hinabgeführt wird und hier erfahren muß, daß seine geliebte Erde nichts ist als ein entartetes Gemenge aus den Trümmern jener viel schöneren, der Zerrüttung anheim gefallenen Welten. Wer hört nicht SCHOPENHAUER, wenn  Kain  sagt, daß Nichts als ein eingeborener Hang, ein lästiger, doch unbesiegliher Instinkt zum Leben, ihm den Tod verhaßt macht, oder wenn er  Adam  flucht, der, mit dem eigenen Jammer nicht zufrieden, Kinder zeuge und so Gram, Martern und Verzweiflung auf alle kommenden Geschlechter veerbt, und dann zu  Adam  seiner Schwester und Frau, gewendet, ausruft:
    Und ich soll Vater sein von solchen Wesen!
    All deine Lieb' und Schönheit - meine Liebe
    Und Wonne - der entzückte Augenblick,
    Die Stunden heitrer Ruhe - alles, was wir
    An unsern Kindern, aneinander lieben,
    Führt endlich sie und uns durch viele Jahre
    Der Sünd' und Not - oder durch wenige,
    Die aber doch auch voll von Kummer sind,
    Durchblitzt vom Silberblick kurzer Lust,
    Dem Tod, dem unbekannten, zu.
Der Zwiespalt zwischen dem Durst nach unendlicher Erkenntnis und der tausendfachen Angst um Tod und Leben aber wird zurückgeführt auf den ursprünglichen Gegensatz und Kampf der  zwei Weltkräfte.  Hier gibt es zahlreiche Anklänge an die beiden Weltprinzipien HARTMANNs. Das Prinzip der Vernunft, der Erkenntnis, der Wahrheit wird repräsentiert von LUZIFER, der alle Schuld an den Übeln dieser Welt weit von sich weist. Im ewigen Kampf mit diesem geistigen Prinzip, das den erkennenden Geist zum Mittelpunkt, zum Beherrscher der Welt erheben will, steht JEHOVAH, der sich vor dem Erkennen fürchtet, der, ganz so wie der blinde Wille HARTMANNs, unselig, ruhelos, von einem unermeßlichen Durst nach Existenz geplagt ist, darum Sonnenbälle auf Sonnenbälle schleudert, doch aber nichts als Abbilder seines Elends erzeugt und, trotz seines unermüdlichen Schaffens, sich doch einsam und ungesättigt auf seinem riesigen, öden Thron fühlt.

In diese Welt des Kampfes, aus dem vorläufig JEHOVAH als Sieger hervorgegangen, ist nun der Mensch hineingestellt. Machtlos, gegen seine Herrschaft mit Erfolg anzukämpfen, hat er doch von dem zweiten Prinzip, der Vernunft, soviel in sich, um JEHOVAHs Tyrannei zu erkennen und sich gegen sie zu empören. Trotz seines Unterliegens hat LUZIFER noch soviel Macht in der Welt, daß es auch unter den Menschen Seelen gibt
    . . . keck genug zu brauchen
    Ihre Unsterblichkeit, keck genug zu schauen
    Ins ew'ge Antlitz dem allmächtigen
    Tyrannen, ihm zu sagen, daß sein Übel
    Nicht gut ist.
Doch da nun einmal dieser Tyrann Sieger ist und sein Wille, eben  weil  es sein Wille ist, auch gilt, so kann diese Empörung den kühnen, ins Unendliche strebenden, von der Einsicht in die Nichtigkeit dieser Welt erfüllten Geistern nur zum Verderben ausschlagen.


E. Bahnsen. Widerlegung des
pessimistischen Grundprinzips

1. Während dem Pessimismus SCHOPENHAUERs die negative Seite der HEGEL'schen Dialektik nur implizit und unbewußt zugrunde lag; während ferner bei HARTMANN durch das Auseinandernehmen der Seiten jenes versöhnungslosen Widerspruchs eine feindselige Haltung gegen die HEGEL'sche Dialektik stattfindet: spricht JULIUS BAHNSEN (in seiner Schrift: Zur Philosophie der Geschichte, Berlin 1872) "das in realem Widerspruch wider sich selber Gekehrte" (18), die "direkt sich in sich widersprechende Realdialektik" (27), das "Ineinander des sich Widerstrebenden" (34) ausdrücklich und mit vollem Bewußtsein als die Grundwurzel seines Pessimismus aus. BAHNSEN akzeptiert das Dialektische an HEGEL; der reale Weltprozeß scheint ihm durch und durch dialektischer Natur zu sein. Allein sofort setzt er hinzu, daß das Logische seinen Bereich nur innerhalb des subjektiven Denkens hat (Seite 2). Die den Weltkern bildende "Realdialektik" ist also im Grunde antilogischer Natur; die Versöhnung der Widersprüche ist aus ihr entfernt und nur das fortwährende dialektische Sichselbstnegieren, die sich schließlich in eine absolute Zwecklosigkeit umsetzende Zweckmäßigkeit (Seite 2) übrig geblieben. Und wie die  nachfolgende  Versöhnung der Widersprüche negiert wird, so ist auch die ihnen vorangehende Einheit im Grund eine Jllusion. "Das zeitliche und räumliche Sichzersplittern des All-Einen ist denkbar nur als das erscheinende Resultat jenes  von Ewigkeit her vorhanden gewesenen Selbstentzweitsein,  als Diremtion [Absonderung - wp] eines  in sich  gespaltenen und zwiespältigen Wesens" (49). Die Individuen erscheinen so als  disjecta membra  [versprengte Glieder - wp] eines schon immer zertrümmerten Gottes; ähnlich wie es bei GRABBE der übergigantische Faust über der Leiche  Donna Annas  ausspricht:
    In diesen Tränen, die ich weine, spür'
    Ich es: es gab einst einen  Gott,  der ward
     Zerschlagen - Wir sind seine Stücke  - Sprache
    Und Wehmut - Lieb' und Religion und Schmerz
    Sind  Träume  nur von ihm.
BAHNSENs Pessimismus kann nicht mehr übergipfelt werden. Das Logische ist aus dem Kern und Wesen der Welt total verbannt: das dialektisch Wirkliche ist zugleich das logisch Unmögliche, das Undenkbare (Seite 53). So fällt bei BAHNSEN die Möglichkeit einer allgemeinen Welterlösung fort, wie sie uns HARTMANN, der dem blinden Willen das Logische als ebenbürtige Streitmacht entgegenstellen konnte, mit Zuversicht verkündet. Ebenso aber ist die SCHOPENHAUER'sche Einzelerlösung hier unmöglich, da in ihr das  Erkennen  zum Quietiv des Willens wird, also der auch von SCHOPENHAUER so energisch bekämpfte Primat des Erkennens über den Willen versteckterweise wieder eingeführt wird. BAHNSEN leugnet alle Erlösungsmöglichkeit. Der Wille zerrt in ewiger Selbstentzweiung zu endloser Qual an sich selber (14); ist irgendeinmal die Fülle der Kräfte und die Möglichkeit neuer Kombinationen erschöpft, so muß das in sich zurückgekehrte Spiel  a novo et ab ovo  [das Neue vom Ei weg - wp] wieder von vorn beginnen (64); "das Grab jeder Weltperiode, die sich in sich selber ausgelebt hat, wird gerade so sicher die Brutstätte eines neuen Kalpa [Weltzeitalters - wp] sein, wie jeder nicht einbalsamierte Kadaver das wimmelnde Heim des Verwesungsgewürms" (84). HARTMANN glaubt "an einen endlichen Sieg der heller und heller hervorstrahlenden Vernunft über die zu überwindende Unvernunft des blinden Wollens" (Phil. d. Unbe., Seite 743). Dagegen ist auf BAHNSEN'schem Standpunkt die Welt, um mit HARTMANN zu reden, "absolut trostlos, eine Hölle ohne Ausweg, und dumpfe Resignation die einzige Philosophie."

2. Indem aber BAHNSEN das non plus ultra im Pessimismus geleistet hat, hat er ihn zugleich auf den Punkt gebracht, wo er sich selbst ad absurdum führt und innerlich auflöst. Diese dialektische Selbstauflösung des BAHNSEN'schen Pessimismus habe ich in den philosophischen Monatsheften (Zu Bahnsens "Philosophie der Geschichte", eine kritische Besprechung, Bd. 8, 6. Heft, Seite 282 - 296) zu geben gesucht. Hier sei nur auf einige Hauptpunkte hingewiesen. Sobald man die Selbstentzweiung, den versöhnungslosen Widerspruch, nicht nur gedankenlos ausspricht, sondern wirklich zu  denken  versucht, wird er Einem unter den Händen zu etwas Logischem, zu einem Moment der Vernunft. Das Kämpfen und Sichzerspalten in der Welt ist bei BAHNSEN durchaus  gesetzlich;  er spricht vom  Urgesetz  des Weltprozesses (34) und versteht darunter den  allgemeinen  und  allseitigen  Wesenswiderspruch im Willen (30), der das Ganze der Welt durchzieht und sich in den unzähligen Spezialwidersprüchen so offenbart, daß sie sich mit ihm durchaus  in Einklang  befinden (27). Es ist also nicht absolute Regellosigkeit und chaotische Willkür, sondern das  Gesetz des Widerspruchs selber,  wonach das Umschlagen der Gegensätze stattfindet. Innere Notwendigkeit, Gesetzmäßigkeit aber ist  eo ipso  schon das formal Logische, abstrakt Vernünftige. In der Selbstentzweiung, wie sie BAHNSEN auffaßt, liegt also zunächst wenigstens  formale Vernunft.  Wenn BAHNSEN ein regelmäßig wiederkehrendes Geschehen  ohne  logischen Einklang behauptet (36), so möchten wir wissen, wie dieser  unlogische  Einklang im Unterschied vom logischen aussehen soll: für die wenigstens nach der  formalen  Seite hin  nicht  antilogische Willensnatur legt BAHNSEN auch dadurch Zeugnis ab, daß er die Realdialektik das Zauberwort des  Weltverständnisses  nennt (27) und von einem  gedanklichen  Grundwesen der Realdialektik spricht (29). Wie soll das Widersinnige, logisch Unmögliche je unserem Verständnis adäquat werden können? Wie soll es möglich sein, daß das Antilogische je in unser logisch organisiertes Denken auch nur eintrete?

Ist aber das  Formelle  am Willenswiderspruch logischer Natur, so ist damit notwendig auch dies gesetzt, daß der  Inhalt  des Willens logisch und vernünftig ist. Es ist zwar sehr wohl möglich, daß irgendein verrückter Sonderling einen durchaus unsinnigen Gedanken sein ganzes Leben lang mit erstaunlicher Konsequenz durchführt; allein hieraus folgt nimmermehr, daß auch im Weltwillen sich das  inhaltlich  Unlogische formell logisch durchsetzen kann. Der gewaltige Unterschied liegt darin, daß jener Narr die formelle Vernünftigtkeit  außer und neben  dem unsinnigen Inhalt seines Gedankens besitzt, daß sie ihm vermöge der allergemeinsten Organisation des menschlichen Verstandes, die ihrerseits ihre objektive Grundlage in den fundamentalen Weltprinzipen, also in etwas vom Individuum ganz Unabhängigem, hat, zukommt. Hier kann demnach der sinnlose Inhalt sehr wohl von der Macht des ganz anderswo und viel tiefer gründenden formellen Gesetzes beherrscht werden. Dagegen könnte sich dem inhaltlich antilogischen Weltprinzip, als dem  schlechthin Ersten,  so ein außer ihm schon vorhandenes formell vernünftiges Prinzip nicht darbieten; das inhaltlich Widersinnige im Weltwillen müßte vielmehr aus sich selbst die formelle Vernünftigkeit erzeugen. Dies aber heißt: dem Unlogischen etwas Unmögliches zumuten. Auf dem Boden des Antilogischen kann nur Zufall, Willkür, Laune herrschen. Ein durch und durch antilogischer Wille könnte seinen Inhalt nicht festhalten; er müßte sich in den wunderlichsten Sprüngen, in den tollsten Kapriolen und Purzelbäumen, in ganz unbeschreiblichen Metamorphosen ergehen. Doch auch dieses tolle, trunkene Umhertaumeln könnte sich in dem auf den Weltthron erhobenen Antilogischen nicht erhalten. Schon weil die  Tendenz  zu diesem wüsten Spiel in ihm läge, müßte es haltlos und nirgends einen festen Punkt findend in sich zusammenbrechen und verschwinden. Wer sich daher nicht der Einbildung, daß, um mit HEINE zu reden, die ganze betrunkene Welt sich um die rote Weltgeistnase dreht, hingeben will, dem bleibt nur übrig, den sich entzweienden Weltwillen als formell wie inhaltlich logisch zu denken. So führt sich also der Pessimismus, auf seine Spitze getrieben, von selbst in einen optimistischen Panlogismus über.

3. Dieser Übergang stellt sich nach einer anderen Seite so dar, daß die Selbstentzweiung, wenn sie ernstlich gedacht wird, notwendig als aus der Einheit entspringend und sich zur Einheit aufhebend gedacht werden muß. Schon darin, daß BAHNSEN den Widerspruch zum  Gesetz  erklärt, liegt die Notwendigkeit, die Extreme des Widerspruchs als notwendig aufeinander bezogen, als wesentlich in ursprünglicher Einheit befindlich zu denken. Wenn BAHNSEN vom einem  Selbst entzweitsein des Willenswesens, von einem  in sich  gespaltenen Willen, vom  Selbst widerspruch des Daseins, vom  Ineinander  des sich Widerstrebenden spricht, so  fühlt  er die dem Widerspruch  zugrunde liegende Identität.  In diesem Selbstentzweitsein liegt aber auch die Notwendigkeit, sich zur Einheit wieder aufzuheben. Die Einheit muß sich auch im Widerspruch  erhalten  und ihn schließlich  überwinden.  Denn würde sich im Widerspruch nicht die reale Einheit erhalten, so würde der Widerspruch gar kein realer sein, es lägen dann die als widersprechend gedachten Seiten ganz berührungslos und fern voneinander, und es käme unter ihnen zu gar keiner befeindung, also zu keinem realen Widerspruch. Aber nicht bloß  erhalten  muß sich die reale Einheit im Widerspruch, sondern auch als das  Stärkere,  als das die Entzweiung  Überwiegende  in ihm bewähren. Wäre dies nicht der Fall, so würden die sich widersprechenden Seiten sich nicht an und ineinander halten können; die Einheit würde zerreißen und die widersprechenden Extreme lose auseinanderfallen und atomistisch zerstieben. So ist also der BAHNSEN'sche Pessimismus, auch von dieser Seite aus betrachtet, durch sein eigenes Prinzip genötigt, in den HEGEL'schen Optimismus überzugehen. Da sich bei BAHNSEN das eigentliche pessimistische Grundprinzip am Reinsten herausgestellt findet, so ist die Widerlegung des BAHNSEN'schen Grundprinzips eine Widerlegung des  Pessimismus überhaupt. 
LITERATUR: Johannes Volkelt, Das Unbewußte und der Pessimismus, Studien zur modernen Geistesbewegung, Berlin 1873
    Anmerkungen
    1) Vgl. meinen Aufsatz "Die Entwicklung des modernen Pessimismus" in der Wochenschrift "Im neuen Reich", 1872, Nr. 25, Seite 953