ra-2M. MarquardEduard von HartmannAgnes Taubert    
 
FREDERICK ANTHONY HARTSEN
Die Moral des Pessimismus
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"Ein gewöhnlicher Fehler der Moralphilosophen, der eine klare Einsicht in den Gegenstand ungemein erschwert, ist die Neigung, sich in das Gebiet der Allgemeinheiten zu verlieren. Ich meine, um mit Abstraktionen und Kollektiva wie  Tugend, das Gute  und dgl. zu spielen, kurz, sich von der wirklichen Welt zu lösen. So redet man z. B. von einer  Liebe zur Tugend,  vergessend, daß man wohl ein lebendes Wesen oder höchstens eine konkrete Handlung, nicht aber ein abstraktes Ding, wie die Tugend, lieben kann."

Vorrede

Das Erscheinen dieser Schrift bedarf einer Rechtfertigung oder wenigstens einer Erklärung. Die Freunde des "Ne sutor ultra crepidam" [Schuster bleib bei deinem Leisten! - wp] werden dem Chemiker die Befugnis absprechen, in der Moralwissenschaft das Wort führen. Dazu kommt, daß ein sonst wohlwollender Kritiker uns durch Kritik unserer "Anfänge der Lebensweisheit" in den Ruf gebracht hat, uns zur Lehre "Gewalt geht über Recht" (im bösen Sinne) zu bekennen und demnach über sämtliche Moral den Stab zu brechen.

Gegen den ersten Punkt bemerken wir, daß es ein Gebiet gibt, welches für  alle  Wissenschaften (Chemie, Philosophie etc.) dasselbe ist, nämlich das Gebiet des  Logischen.  Dieses ist es nun eben, auf welchem wir die Moral des Pessimismus prüfen wollen. Der Entscheidung über solche Fragen, welche ein eingehendes Studium der speziellen Moralwissenschaft erfordern, halten wir uns freilich fern.

Was nun die Anklage jenes wohlwollenden Kritikers anbelangt, so findet sich die Widerlegung derselben im genannten Büchlein selbst, für jeden der sich die Mühe geben will, es aufmerksam zu lesen. "Macht ist Recht", das haben wir allerdings gesagt. In der Tat, alle  Pflicht  für ein Wesen setzt voraus, daß es, diesem Wesen gegenüber, eine höhere Macht gibt, welche ihm die Pflicht auferlegt.  Recht  eines Wesens, als Gegenstück zur Pflicht, setzt also voraus, daß dieses Wesen ein solches Prinzip vertritt, welches irgendeine Macht auf seiner Seite hat oder einmal haben wird. Gott hat keine Pflichten und ein Mensch, der ganz allein in einer Welt (ohne Gott, Mitmenschen und Tiere) lebte, würde auch keine haben. Und Gott gegenüber haben wir keine Rechte.

Es gibt aber Stufen der Macht und  absolut mächtig  ist kein Mensch. Daher auch der mächtigste Fürst noch Pflichten hat und die Lehre, "Gewalt geht über Recht" (d. h. die Lehre, daß jeder nur morden, stehlen und verleumden darf, wenn er Gelegenheit dazu findet) aus unserem Prinzip gar nicht folgt. In unserer "Lebensweisheit" sprechen wir uns klar genug darüber aus.

Wir halten uns demnach befugt, der Moral des Pessimismus zu widersprechen; und betrachten das sogar als eine heilige Pflicht, unserem wissenschaftlichen Vaterland gegenüber.

Die aphoristische Form unseres Büchleins wolle der Leser gütigst entschuldigen. Die Zeit drängt und wir haben noch manches zu sagen, ehe wir uns von dieser schönhäßliche Welt verabschieden.

Cannes, im März 1874



Von allen stacheligen Fächern der Wissenschaft ist die Moralwissenschaft ungezweifelt die stacheligste. Ist es im allgemeinen schon gefährlich, von der Ansicht eines Menschen, besonders von der Ansicht einer  Menschenmasse  abzuweichen, am allergefährlichsten ist dies auf dem Gebiet der Moral. Wer in irgendeiner geläufigen Meinung, in Sachen der Mathematik, Botanik oder Geschichte abweicht, wird mit den Ehrentiteln "Dummkopf" oder "Narr" davonkommen. Sogar in der Religion kann in unseren Tagen der Ketzer unter den Flügeln der "Toleranz" und der "Gewissensfreiheit" Schutz finden. Aber, wage es einmal,  in der Moral  eine abweichende Meinung zu haben oder etwas Neues zu bringen! Nicht zu den Narren, den Unwissenden, den Ketzern wird man die rechnen. Du bist ganz einfach ein unsittlicher Mensch, eine Gefahr für die Gesellschaft,  einer,  den man vom Verkehr der Gesellschaft ausschließen soll, ein  Bösewicht,  ein ... ja, wollten wir alles sagen, wir würden in das Wörterbuch der starken, der unparlamentarischen Ausdrücke geraten.

Jeder hält diejenigen, welche in der Moral von ihm abweichen, für Bösewichte, vergessend, daß er selbst in ihren Augen vielleicht ein ebenso schlimmer Bösewicht ist als sie es in seinen Augen sind und daß er an ihrer Stelle jeden, der dächte wie er selbst jetzt denkt, selbst Bösewicht nennen würde.

Und doch, auch in der Moral ist es unmöglich, es jedem nach dem Sinn zu machen. Verschiedenheit der Ansichten ist auch hier unvermeidlich. Eine "innere Stimme", die "mit untrüglicher Gewißheit"  jedem  verkünden würde, was gut, was böse ist, existiert nun einmal nicht. Man soll dies nicht so verstehen, als ob wir  jedem  eine solche Stimme absprechen wollen oder behaupten, daß das Gewissen (der moralische Sinn) eine Frucht der Erziehung sei. Nichts liegt uns ferner, als VIRCHOW beizustimmen, wenn er in seiner letzten Vorlesung für Naturforscher es "ein großes Wort" nennt, daß das Gewissen kein angeborenes Gut sei. Dies ist freilich zu allgemein.  Manchen Menschen  ist der moralische Sinn gewiß angeboren, ebensogut wie der Schönheitssinn. Ja, es mag gefragt werden, ob das Gewissen, wo es nicht angeboren ist, sich je durch Erziehung beibringen ließe. Eine auswendig gelernte Moral ist ja noch kein Gewissen, ebensowenig, als ein auswendig gelernter Generalbass Sinn für Musik wäre. Wie dem auch sei: daß es eine objektive Moral gibt, ist gewiß; aber daß sie nicht am Weg wächst, daß man trotz der ehrlichsten Absichten dieselbe verfehlen kann, ist weniger gewiß.

Es gibt also die Verschiedenheit der Ansichten in der Moral. Wer irgendeine Ansicht über dieselbe hat, macht sich Feinde, sehr bittere Feinde und noch schlimmer geht es vielleicht dem, der  keine  Ansicht über Moral hat.

Kurz, es gehört ein gewisser Mut dazu, soll ein Mensch, der nicht ganz unabhängig ist - und welcher Mensch ist ganz unabhängig? - es wagen, mit seiner eigenen Ansicht über Fragen, die sich auf Moral beziehen, hervorzutreten.

Diesen Mut wissen wir zu schätzen, auch in unseren Gegnern. Und wenn wir uns erlauben, Herrn TAUBERTs [es handelt sich um eine Frau! - wp] Betrachtungen über die Tugend zu bekämpfen, so wünschen wir ihm gerecht zu sein. Wir wünschen zu bedenken, daß auch in der Moral, wenigstens wo es sich um das Formelle handelt, zwei Denker auf einem Punkt diametral entgegengesetzte Meinungen haben können, ohne aufzuhören, beide ehrliche Menschen zu sein, schon darum, weil nicht selten ein Mensch besser ist, als seine Grundsätze!



Herr ERNEST RENAN hat einmal die Forderung gestellt, aus dem Titel der Pariser "Academie des sciences morales et politiques" das Wort  morales  zu streiche; denn (so folgerte er) die Moral sei keine Wissenschaft, es werden in derselben keine Entdeckungen gemacht. (1)

Uns scheint es gleich als eine Inkonsequenz, von politischen Wissenschaften zu reden, wenn man keine Moralwissenschaft anerkennt. Denn, welche Grundlage werden die politischen Wissenschaften haben, außer der Rechtswissenschaft? Rechtswissenschaft ist ja nun offenbar ein Zweig der Moral.

RENAN hätte also, auf seinem Standpunkt, der ganzen Akademie, von welcher soeben die Rede war, das Recht des Daseins absprechen sollen.

Wir bestreiten jedoch seine ganze Ansicht über die Moral. Allerdings ist es RENAN nicht eingefallen, den Wert der  Moralität  in Abrede zu stellen. Mit seiner Verwerfung des Ausdrucks "sciences morales" will er offenbar nur dies sagen: daß die Moral ein für allemal etwas festgestelltes, unveränderliches sei und daß es demnach auf diesem Gebiet für die wissenschaftliche Forschung nichts zu tun gebe. Eben das aber widerstreitet den Tatsachen.

Angenommen, die Hauptregeln der Moral seien ein für allemal gegeben (in den zehn Geboten z. B.), so gibt doch ihre  Anwendung  in besonderen Fällen Veranlassung zu manchem Problem, welches die Wissenschaft zu lösen hat.

Das ist aber noch nicht alles. Die ersten Menschen haben wahrscheinlich die Hauptregeln der Moral auf instinktivem Weg gefunden. Der Gesetzgeber, z. B. der dem altjüdischen Volk das Essen von Schweinefleisch verbot, gab sich vielleicht keine Rechenschaft vom Grund dieses Verbots. Wir können jedoch kaum umhin, darin eine hygienische Maßregel zu sehen und mildern demgemäß das Verbot. Anderes Beispiel. Den Juden war es verboten, am Sabbath zu arbeiten oder für sich arbeiten zu lassen. Als Grund wurde angegeben, daß Gott in 6 Tagen die Welt erschaffen und am 7. ausgeruht habe. Nun erhält sich aber die Sitte eines Ruhetages auch bei solchen Völkern, die sich Gott nicht als ein Wesen vorstellen, welches ermüden und ausruhen würde. Es ist also wahrscheinlich, daß auch das Gebot der Sabbath-Feier einen tieferen und zwar hygienischen Grund habe, daß nämlich die physiologische Einrichtung des Organismus der meisten Menschen eine regelmäßig wiederkehrende Periode der Ruhe und Zerstreuung fordert (Periode, deren Dauer zu derjenigen der Zwischenperiode wie 1 - 7 steht), ebenso wie durchschnittlich nach einer gewissen Zeit des Wachens eine gewisse Zeit des Schlafes nötig wird.

Noch ein Beispiel gibt uns das Gebot der Todesstrafe in den älteren Gesetzbücher MOSE. Hier tritt dasselbe offenbar als eine Form der Rache auf. In unseren Tagen betrachten wir dasselbe, sowie die Rache überhaupt, als ein Mittel, um die gesellschaftliche Ordnung aufrecht zu erhalten.

Die ersten Menschen empfanden die Gesetze der Moral, als "Gebote Gottes" oder "der Götter". Und sollte nun etwas Wahres liegen in dem Satz, daß ein ursprünglicher Instinkt nie irre führt, so ist dies jedenfalls nur wahr mit Bezug auf die besonderen Umstände, für welche der Instinkt ursprünglich angelegt ist. Werden die Verhältnisse eines Wesens mehr verwickelt, so kann es geschehen, daß sein ursprünglicher Instinkt ihn zu verderblichen Handlungen, wenigstens zur Einseitigkeit, Halbheit, Übereilung und dgl. führt, es sei denn, daß der Instinkt sich den neuen Verhältnissen anpasse. So würden in unserer heutigen Gesellschaft die Wegwerfung des Schweinefleisches, die Aufrechterhaltung der Todesstrafe für jeden Mord und das starre Durchführen des Nichtarbeitens am Sonntag den Untergang der Gesellschaft herbeiführen. Daher suchen wir die Zwecke, welche jene Sitten zum Gegenstand hatten, durch andere Mittel, z. B. Prüfung des Fleisches, gute Gefängnisse, eine Stellvertretung von Beamten und dgl. zu beschränken.

Dieses Anpassen nun ist nur möglich mittels Überlegung, einer Überlegung, welche vielleicht unbewußt sein kann, vielleicht auch notwendig mehr oder weniger bewußt ist.

Eine erste Bedingung nun, um in den verwickelten Verhältnissen, in welchen die Menschheit der Jetztzeit sich befindet, für die Moral das Richtige zu treffen, ist, daß wir die wahre Bedeutung, den Nutzen der moralischen Regeln einsehen lernen, daß wir die Antwort finden auf die Frage:  wozu  diese Regeln da seien? welchen Grund Gott haben könne, nicht  jedem  jedes zu erlauben? Und dabei könnte es sich gar wohl etwa zeigen, daß einige Regeln der Moral  nicht  für alle Zeiten dieselben seien, daß  in unseren Verhältnissen  von den alten Regeln einige wegfallen, andere Regeln neu hinzugefügt werden müssen.

Wer z. B. die wirkliche Bedeutung der Rache anerkannt hat, fordert, wo es nur möglich ist, die Ersetzung der Todesstrafe durch Verbesserungsanstalten. Wer die Unreinheit des Schweinefleisches im richtigen Sinn gefaßt hat, gebietet nicht unbedingte Enthaltung in dieser Hinsicht, sondern erlaubt es, jedoch nur unter der Bedingung der polizeilichen Prüfung desselben. Und diese Bedingung beschränkt er nicht nur auf Schweinefleisch, sondern er dehnt sie auch auf andere Fleischarten aus. Kurz, wie haben hier das Beispiel einer Moralregel, welche durch die Wissenschaft zugleich eingeschränkt und erweitert wird. Wer endlich die Bedeutung der Sonntagsfeier erkannt hat, begreift, daß es auf den Tag (Samstag, Sonntag usw.) nicht ankommt, vorausgesetzt, daß das richtige Verhältnis der Ruhezeit zur Arbeitszeit (etwa 1 : 7) festgehalten werde. Er hält also am Sonntag gewisse Beamte zur Arbeit an, denen er dafür einen anderen Tag freigibt usw. usw.

Die Wissenschaft der Moral  für eine gewisse Zeit  ist der Ausdruck desjenigen, was auf den moralischen Sinn der zu dieser Zeit lebenden Mehrzahl der Menschen den Eindruck des Wohlgefallens macht. Wie nun dieser Sinn nicht etwas Starres, Unabänderliches ist, ebenso wenig ist dies die Moralwissenschaft. Und sollte ein Teil derselben als einmal Feststehendes, auf immer Errungenes zu betrachten sein, es bleibt hier immer noch übrig zum Erringen, vielleicht auch hier und da zum Berichtigen.

Es findet in dieser Hinsicht, sozusagen, ein Kristallisationsprozeß statt. Aus dem moralischen Sinn kristallisieren sich die Maximen der Moral allmählich heraus. Immer bleibt aber in der Mutterlauge manches zurück, das nur allmählich zum Kristallisieren zu bringen ist. Und unter den älteren Kristallen gibt es welche, die in ihrer Bildung Störungen erfahren haben (etwa durch Unreinheiten in der Mutterlauge) und die daher zu berichtigen sind.

Was wir "moralischen Sinn" nennen, ist vielleicht nichts anderes, als ein halbbewußtes, unklares Wissen dessen, was  nützlich  ist, nützlich nämlich mit Bezug auf die Erhaltung der Weltordnung, so daß die Moral, zur völligen Klarheit gebracht und von fremder Beimischung entkleidet, am Ende nichts weiter als eine reine Sozialwissenschaft wäre.

Wem es nun gelingt, zuerst die soziale Bedeutung einer Eigentümlichkeit, einer Forderung des moralischen Sinnes einzusehen, der hat eine  Entdeckung  in der Moralwissenschaft gemacht. Und wer aus dieser Einsicht neue Schlüsse mit Bezug auf richtigen Ausdruck, Anwendung, Berichtigung (Änderung, Beschränkung, Erweiterung) irgendeiner Forderung der Moralwissenschaft zieht, der macht auch eine Entdeckung.

Kurz, Moral ist eine Wissenschaft, es werden Entdeckungen darin gemacht und jeder Versuch, dieselbe weiterzubilden, ist schätzbar.

Besonders schätzbar ist ein solcher Versuch, wenn er in so anziehende Form gehüllt ist, wie derjenige, welchen Dr. TAUBERT in seiner lesenswerten Broschüre: "Der Pessimismus und seine Gegner" vor unseren Augen macht.

Die Schrift von TAUBERT gibt manches zu denken und liefert zu Betrachtungen über Fragen, das Gebiet der Moral betreffend, eine ausgezeichnete Veranlassung. Haben wir gegen den Standpunkt des Verfassers schwere Bedenken, so verhindert uns diese nicht, anzuerkennen, daß seine Schrift zur Förderung der moralischen Erkenntnis nützlich ist. Auch ein Irrtum kann ja, sei es indirekt, seinen Nutzen haben, vorausgesetzt nämlich, daß er dazu beiträgt, die Wahrheit ans Licht treten zu lassen. -

Wir haben also gegen den Standpunkt TAUBERTs schwere Bedenken. Zuerst gehört unser Verfasser zu denen, nach welchen  der Charakter des Unangenehmen  für die Tugend eigentümlich und eine Hauptforderung sei.

"Erst auf den Trümmern alles individuellen Eudämonismus erhebt sich die echte Sittlichkeit!" (Der Pessimismus und seine Gegner, Seite 81). Das Wort "Eudämonismus" (wie Egoismus, Jesuitismus und dgl.) gehört nun zu jener Klasse von unbestimmten Schultermen, welche leicht zu Schimpfworten werden, sehr nützlich, wenn es sich darum handelt, die Leidenschaften anzufachen, nicht aber, wenn es um klare Wissenschaft zu tun ist.

So viel aber ist gewiß, daß TAUBERTs "Eudämonismus" hier soviel als "Glück" sagen will. Also, erst auf den Trümmern des individuellen Glücks erhebe sich nach TAUBERT die echte Sittlichkeit. Diese Ansicht zu prüfen, haben wir uns jetzt zur Aufgabe gestellt. Sollen wir aber unsere Aufgabe richtig erfüllen, so ist es eine erste Bedingung, daß wir mit genau bestimmten Größen wägen und messen.

Ein gewöhnlicher Fehler der Moralphilosophen, der eine klare Einsicht in den Gegenstand ungemein erschwert, ist die Neigung, sich in das Gebiet der Allgemeinheiten zu verlieren. Ich meine, um mit Abstraktionen und Kollektiva wie "Tugend", "das Gute" und dgl. zu spielen, kurz, sich von der wirklichen Welt zu lösen. So redet man z. B. von einer  Liebe zur Tugend,  vergessend, daß man wohl ein lebendes Wesen oder höchstens eine konkrete Handlung, nicht aber ein abstraktes Ding, wie die Tugend, lieben kann. Man schirmt sich mit dem Ausdruck "das Gute tun um seiner selbst willen", als ob das Gute ein "selbst" hätte. Man befiehlt uns, "das Gute zu tun, weil es gut ist", ohne sich klar darüber zu sein, was "gut sein" eigentlich sagen will, vergessend, daß der Name "gut" oder "schlecht" hier gleichgültig ist. Manche pflegen die Menschen in zwei scharf getrennte Klassen, "Gute und Böse" (Böcke und Schafe) einzuteilen, vergessend, daß fast niemand unbedingt gut oder unbedingt böse ist, daß, wer in irgendeiner Beziehung zu der einen Klasse gehört, in anderen Beziehungen zu anderen Klasse gehören kann usw.

Wer hier klar sehen will, soll nie das Konkrete aus den Augen verlieren und sich fortwährend konkrete Fälle vergegenwärtigen.

Das Wort "Tugend" ist zugleich ein Begriffsausdruck und ein Kollektivausdruck. Zuerst gibt es keine Tugend außerhalb der tugendhaften Wesen (Gott, Menschen usw.) Unter der Tugend eines Wesens nun versteht man die Vereinigung seiner Tugenden, wie Wohlwollen, Gerechtigkeit, Treue, Ehrlichkeit, Keuschheit usw., also eine Gesamtheit. Und  die Tugend  im Allgemeinen heißt der Begriff aus solchen Gesamtheiten, d. h. der Gedanke alles desjenigen, was ihnen gemeinschaftlich ist.

Tugend existiert nur als verkörpert in  besonderen Tugenden.  Was ist aber  eine  Tugend? Antwort: eine Seeleneigenschaft. Was für eine Seeleneigenschaft? Antwort: eine Seeleneigenschaft und zwar eine solche, die zu Handlungen veranlassen kann, also eine  Begierde  oder wenigstens eine  Empfänglichkeit zum Begehren.  Aber jede Empfänglichkeit zur Begierde ist noch keine Tugend. Nur dann wird sie es sein, wenn sie Empfänglichkeit zu einer  guten  Begierde ist. Was ist aber eine gute Begierde? Der Wert einer Begierde wird offenbar bestimmt durch ihren  Gegenstand.  Also, eine gute Begierde ist eine Begierde zu etwas Gutem. Und eine Tugend ist die Empfänglichkeit, um unter gewissen Umständen eine gute Begierde zu haben.

Die Tugend eines Wesens ist also die Summe aller seiner Empfänglichkeiten zu guten Begierden. Und tugendhaft kan man denjenigen nennen, bei dem die guten Begierden über die schlechten herrschend sind.

Diesen Allgemeinheiten kann jeder beistimmen, gleichgültig, wie er das "Gute" definiert, sei es als dasjenige, was Gott behagt, oder als dasjenige, was dem Gefühl irgendeines Menschen oder einer Menschenklasse, (z. B. der Mehrzahl der künftigen Menschen) gefällig ist, bzw. sein wird.

Aus dieser Definition geht nun hervor, daß Tugend und Glück verschiedene Dinge sind, die weder notwendig zusammengehen, noch notwendig getrennt sind.

Eine Begierde ansich (gute oder schlechte) veranlaßt weder unbedingt Glück, noch unbedingt Unglück dem der sie hat. Alles hängt davon ab, ob  Befriedigung  der Begierde zur rechten Zeit, in gehörigem Maße und ohne eine zu große Anstrengung seitens des Begehrenden, eintritt.

Dies hat TAUBERT alles übersehen, nicht nur, wenn er die Tugend als ein Unglück schildert, sondern auch, wenn er ihr doch eine beglückende Macht zuschreibt. Er ist nämlich weit davon entfernt, daß er sich in seiner pessimistischen Ansicht der Tugend immer gleich bleiben würde.

Seite 80 lesen wir: "Das  Einzige,  was die Tugend gibt, ist innerer Frieden und Ruhe im Gegensatz zu jenen Kämpfen und mancherlei Schmerzen, welche dem unsittlichen Menschen nicht erspart bleiben. Das aber können wir nicht Glückseligkeit nennen, wenn es auch sehr wohl als innerer Lohn der Tugend bezeichnet werden kann."

Man sieht, daß hier der Tugend nicht alle beglückende Macht abgesprochen wird. Denn Friede und Ruhe, obgleich TAUBERT sie nicht Glückseligkeit nennt, sind wahrhaftig nicht zu verschmähen!

Aber eben das möchten wir bestreiten, daß dem Tugendhaften Kämpfe erspart bleiben. Zu kämpfen wird er haben, ebensogut als der Unsittliche, sobald er sich in äußeren Umständen befindet, die ihm die Befriedigung seiner guten Begierden beeinträchtigen, z. B. in einer Umgebung, die seine Tugend nicht zu würdigen weiß, dieselbe vielleicht sogar als Laster betrachtet und ihr mit Verfolgung entgegentritt.

Daß der Tugendhafte immer glücklicher sei, behaupten wir nicht. Auch ihn kann Glück und Unglück treffen, ebensogut wie den Unsittlichen. In einer wohlgeordneten Gesellschaft mag der Tugendhafte besser auskommen, in einer schlecht organisierten Welt dürfte der Unsittliche in mancher Hinsicht gewisse Vorteile haben.

Auch mit Bezug auf die Ruhe dürfte der Tugendhafte vor dem Unsittlichen nicht notwendig viel voraus haben. Es gibt ja tugendhafte Menschen, die nervös und gejagt sind, dagegen gibt es Schurken, die sich in ihren Lastern ganz heimisch fühlen und mit süßer Behaglichkeit den Nächsten ausbeuten.

Kurz, Ruhe und Behaglichkeit sind nicht notwendig mit Tugend verknüpft.

Wir machen in dieser Hinsicht dem Pessimismus sogar noch größere Zugeständnisse, als der Vertreter TAUBERT selbst es tut. Aber, was wir bestreiten, ist die Behauptung, daß Unglück von der Tugend untrennlich sei und daß sich die Tugend nur auf den Trümmern des individuellen Glücks erhebe. Ob Tugend Glück oder Unglück bringt, hängt von Nebenumständen ab.

Der Hauptfehler TAUBERTs liegt hierin, daß er Tugend mit  Aufopferung  verwechselt.

- - - "Die Opfer, die der Mensch an Glück zu bringen hat, stehen in genauem Verhältnis zum Maß seiner Sittlichkeit und hören darum nicht auf, als reale Unlust empfunden zu werden."

Also, nur der wäre sittlich, der Opfer an Glück bringt. Wer eine edle Handlung tut, weil es ihm so beliebt, weil er die gegenteilige gemeine Handlung verabscheut, der sei nicht sittlich.

Ebenso bei PROSPER DESPINE. Dieser geht ebenso weit, daß er es sogar  egoistische  nennt,  aus Liebe  das Gute zu tun. wenn eine Mutter ihr krankes Kind mit Ausdauer pflegt,  weil sie dasselbe liebt,  so wäre das keine Sittlichkeit, sondern Egoismus! Sittlich sei es nur dann, wenn die Mutter aus "Pflichtgefühl" das Kind verpflege. Was unter Pflichtgefühl zu verstehen sei, gibt DESPINE sonst nicht näher an.

Als eine andere Autorität für dieselbe Meinung können wir IMMANUEL HERMANN FICHTE nennen. Weiter zurückgehend finden wir dieselbe schon bei KANT, gegen den sie seitens des edlen SCHILLER ein bekanntes Distichon hervorrief.

Es fehlt aber viel daran, daß KANT der Urheber derselben gewesen sei. (Selbstverstümmler usw.)

Eine erste Bedingung, um in philosophischen Fragen ins Reine zu kommen, ist diese, genau den Sinn der Wörter, deren man sich bedient, festzustellen. Will man sich solcher Wörter bedienen, deren Sinn nicht genau bestimmt ist, so soll man jedenfalls den Leser in den Stand setzen, sie zurückzuführen auf solche Wörter, deren Sinn  jedem  gleich einleuchtet. Also, was heißt Aufopferung an Glück?

Bestimmen wir genau, was Aufopferung an Glück ist. Ein Opfer an Glück bringt ein Wesen (bzw. Mensch) dann, wenn er irgendeine Begierde, um ein Glück zu genießen oder um ein Unglück zu vermeiden, in sich unbefriedigt läßt oder ihr sogar zuwider handelt und zwar nicht gezwungen durch äußere Einflüsse, sondern durch die Macht seines eigenen Willens, d. h. durch den Einfluß einer stärkeren Begierde. Bestimmter ausgedrückt können wir sagen: Aufopferung an Glück findet bei einem Wesen statt, so oft bei ihm eine Begierde durch eine stärkere Begierde niedergekämpft und am Streben nach Befriedigung verhindert wird. Hierbei nun entsteht ein  Unlustgefühl  und dieses Unlustgefühl bildet die Aufopferung. Die Lebhaftigkeit des Unlustgefühls hängt ab:
    1. von der Reizbarkeit desjenigen, in welchem er Streit der Begierden stattfindet;

    2. vom Verhältnis an Stärke zwischen den kämpfenden Begierden.
Je schwächer die eine Begierde, desto leichter ist für die andere der Sieg, desto schmerzloser caeteris paribus [unter vergleichbaren Umständen - wp] die Aufopferung und vice versa [umgekehrt - wp]. Vielleicht kann man auch sagen, daß die Unlust, caeteris paribus, mit der Gesamtsumme an Intensität der kämpfenden Begierden zunimmt, mit anderen Worten, daß der Kampf zwischen zwei starken Begierden mehr Unlust gibt, als der Streit zwischen zwei schwachen Begierden. Eine Begierde nun, der es gelungen ist, eine andere niederzukämpfen und allein das Feld zu behalten, wird ein  "Wille"  genannt.

Die  Natur  der kämpfenden Begierden, ob gut oder schlecht, ist hier gleichgültig zur Frage, ob Aufopferung stattfindet oder nicht. Wenn ich mit dem Kopf gegen die Mauer rennen würde, dann wäre das Aufopferung, ebenso gut, als wenn ich eine ganze Nacht am Lager eines Kranken zubrächte. Und wenn ein Räuber Tage und Nächte lang in Nässe und Kälte auf der Lauer liegt, damit ihm sein Opfer nicht entgehe, so wird da allerdings ein Opfer an Glück gebracht.

Aufopferung also setzt zwei kämpfende Begierden voraus. Tugend aber ist nicht notwendig eine Begierde, sondern schon die  Empfänglichkeit  zu einer Begierde kann Tugend sein. Ob eine solche Empfänglichkeit sich in Tat oder auch nur in Begierde äußert, hängt von Nebenumständen ab, Umständen, die von der Tugend unabhängig sind. So viel wird doch ja Herr Dr. TAUBERT uns zugeben, daß das Wesen der Tugend eine  Gesinnung  ist. Oder ist ein tapferer Soldat nur tapfer im Krieg und wird er ein Feigling, sobald Friede geschlossen ist? Nein! ein tapferer Mensch ist tapfer und sollte er sein ganzes Leben nie gerufen werden, seine Tapferkeit an den Tag zu legen. Ein Patriot bleibt tugendhaft aus dem Gesichtspunkt der Vaterlandsliebe, wenngleich er vielleicht durch Schwäche oder Kränklichkeit verhindert werde, für das Vaterland die Waffen zu führen oder demselben auf andere Weise zu dienen. Ein gutherziger Mensch würde gutherzig bleiben und lebte er einsam auf einer Insel, wo er sogar keine Tiere fände, an welchen er sein Wohlwollen betätigen könnte usw.

Es ist allerdings wahr, daß für den äußeren Beobachter die Tugend nur merkbar und somit nur meßbar wird, wenn sie sich durch Handlung oder wenigstens als Begierde kundgibt. Um die Tugendhaftigkeit eines Menschen zu beurteilen, müssen wir warten, bis sie auf die Probe gestellt ist. Soweit kann man freilich sagen, daß ein Verhältnis zwischen Tugend und Aufopferung besteht.

Jedoch auch hier muß eine Einschränkung gemacht werden. Es ist gar nichts  Tugend Eigentümliches,  daß sie zur Aufopferung befähigt.  Jede  Empfänglichkeit zum Begehren tut es ebenso. Die Begierde, welche bei der Aufopferung den Sieg davon trägt, braucht ja nicht notwendig  eine gute  zu sein. Das Motiv, für welches jemand ein Glück aufopfert, ist nicht notwendig ein gutes. Für die schlechtesten Motive, für Befriedigung der niedrigsten Leidenschaften werden ja Opfer, große Opfer gebracht. Wo ist aber da die Tugend?

Will man es etwa Tugend nennen, wenn jemand Geld, Gesundheit, Zukunft, alles aufs Spiel setzt, um seine Rachsucht oder seine Wollust zu sättigen?

Insofern also sind Aufopferung und Tugend verschiedene Dinge,  als es Aufopferung ohne Tugend gibt. 

Gibt es aber Aufopferung ohne Tugend, so gibt es auch  Tugend ohne Aufopferung.  Daß die Aufopferung kein Maß für die Tugend ist, geht aus unseren Definitionen klar hervor. Aufopferung setzt ja demnach immer  zwei Faktoren  (Begierden) voraus. Eine Tugend nun, wie wir gesehen haben, ist höchstens einer dieser Faktoren. Aufopferung also kann das Maß einer Tugend nicht sein. Denn der Grad eines Verhältnisses hängt von dessen beiden Faktoren, nicht von einem derselben ab. So kann bei demselben Grad der Aufopferung der eine Faktor sehr groß und sehr klein sein, je nachdem der andere Faktor klein oder groß ist. Zum Beispiel. Im eisigen Winter geht der Arme an einem Holzstoß vorbei, der ihm nicht angehört. Einige Büschel würden genügen, ihm und den Seinigen einen erträglichen Abend zu verschaffen. Dennoch nimmt er sie nicht, denn ein ehrlicher Armer ist er. Es kostet ihm aber viel. Da kommt der Sommer. Derselbe Arme geht denselben Weg. Der Holzstapel ist noch da. Diesmal geht jedoch der Mann gleichgültig an ihm vorbei. Die Begierde, zu stehlen, kommt nicht einmal bei ihm auf. Werden wir nun sagen, daß der Mann im Sommer weniger ehrlich ist, als im Winter? Nein! seine Ehrlichkeit ist dieselbe, nur daß sie im Sommer keinem Widerstand begegnet.

Es gibt also Tugend ohne Aufopferung. Diese wird nämlich da sein, sobald der untugendhafte Faktor des Verhältnisses von Begierden, auf welchem die Aufopferung beruth, zu  Null  herabsinkt.

Sie wird also bestehen nicht nur, wenn die Tugend keine Gelegenheit findet, sich in Handlungen zu äußern, sondern auch, wenn die Tugend eine solche findet,  vorausgesetzt,  daß sich neben der guten Begierde keine schlechten Begierden (keine Verführungen) finden und also die Tugend von dieser Seite auf keinen Widerstand stößt. Und eben der Mensch, bei dem dies der Fall ist, ist uns am liebsten. Denn wann kann die Tugend sich in voller Kraft bewähren? Sicherlich nicht dann, wenn sie einen Teil dieser Kraft verbrauchen muß, um schlechte Begierden zu überwinden, sondern eben dann, wenn sie geradezu und ungestört auf ihr Ziel losgehen kann.
LITERATUR - Frederick Anthony Hartsen, Die Moral des Pessimismus [nach Veranlassung von Dr. Tauberts Schrift "Der Pessimismus und seine Gegner"], Nordhausen 1874
    Anmerkungen
    1) Paris, Par VICTOR HUGO. Article "L'Institut", par E. RENAN.