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ARTHUR SCHOPENHAUER
(1788-1860)
Über das Fundament der Moral

"Allein dieser Ausdruck Würde des Menschen, einmal von Kant ausgesprochen, wurde nachher das Schiboleth aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen oder wenigstens doch irgendetwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponierenden Ausdruck Würde des Menschen versteckten, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen Würde angetan sehen und demnach damit zufrieden gestellt sein würde."

"Jeder Wert ist die Schätzung einer Sache im Vergleich mit einer anderen, also ein Vergleichsbegriff, mithin relativ und diese Relativität macht eben das Wesen des Begriffs Wert aus. Ein unvergleichbarer, unbedingter, absoluter Wert, dergleichen die Würde sein soll, ist demnach, wie so vieles in der Philosophie, die mit Worten gestellte Aufgabe zu einem Gedanken, der sich gar nicht denken läßt, so wenig wie die höchste Zahl oder der größte Raum."


Bekanntlich hat KANT den obersten Grundsatz seiner Ethik noch in einem zweiten, ganz anderen Ausdruck aufgestellt, in welchem er nicht, wie im ersten, bloß indirekt, als Anweisung wie er zu suchen sei, sondern direkt ausgesprochen wird. Zu diesem bahnt er sich den Weg von Seite 63 an und zwar durch höchst seltsame, geschrobene, ja verschrobene Definitionen der Begriffe Zweck und Mittel, welche sich doch viel einfacher und richtiger so definieren lassen: Zweck ist das direkte Motiv eines Willensaktes, Mittel das indirekte. Er aber schleicht durch seine wunderlichen Definitionen zu dem Satz: "Der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, exististiert als Zweck an sich selbst." - Allein ich muß geradezu sagen, daß "als Zweck an sich selbst existieren" ein Ungedanke, eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich selbst - wp] ist. Zweck sein, bedeutet gewollt werden. Jeder Zweck ist es nur in Beziehung auf einen Willen, dessen Zweck, d. h., wie gesagt, dessen direktes Motiv er ist. Nur in dieser Relation hat der Begriff Zweck einen Sinn und verliert diesen, sobald er aus ihr herausgerissen wird. Diese ihm wesentliche Relation schließt aber notwendig alles "An sich" aus. "Zweck an sich" ist gerade wie "Freund an sich" - Feind an sich, - Oheim an sich, - Nord oder Ost an sich, - Oben oder Unten an sich und dgl. mehr. Im Grunde aber hat es mit dem "Zweck an sich" dieselbe Bewandtnis wie mit dem "absoluten Soll": beiden liegt heimlich, sogar unbewußt, derselbe Gedanke als Bedingung zugrunde: der theologische.

Nicht besser steht es mit dem  "absoluten Wert",  der solchem angeblichen, aber undenkbaren  Zweck an sich  zukommen soll. Denn auch diesen muß ich, ohne Gnade, als contradictio in adjecto stempeln. Jeder  Wert  ist eine Vergleichsgröße und er steht sogar in doppelter Relation: denn erstens ist er  relativ,  indem er  für  jemanden ist, und zweitens ist er  komparativ,  indem er im Vergleich mit etwas anderem, wonach er geschätzt wird, ist. Aus diesen zwei Relationen hinausgesetzt, verliert der Begriff  Wert  allen Sinn und Bedeutung. Dies ist zu klar, als daß es noch einer weiteren Auseinandersetzung bedürfte.

Wie nun jene zwei Definitionen die Logik beleidigen, so beleidigt die echte Moral der Satz (Seite 65), daß die vernunftlosen Wesen (also die Tiere)  Sachen  wären und daher auch bloß als  Mittel,  die nicht zugleich  Zweck  sind, behandelt werden dürften. In Übereinstimmung hiermit wird, in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre", § 16, ausdrücklich gesagt: "Der Mensch kann keine Pflicht gegen irgendein Wesen haben, als bloß gegen den Menschen"; und dann heißt es § 17: "Die grausame Behandlung der Tiere ist der Pflicht des Menschen  gegen sich selbst  entgegen; weil sie das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abstumpft, wodurch eine der Moralität im Verhältnis  zu  anderen Menschen sehr diensame, natürliche Anlage geschwächt wird."

Also bloß zur Übung soll man mit Tieren Mitleid haben und sie sind gleichsam das pathologische Phantom zur Übung des Mitleids mit Menschen. Ich finde, mit dem ganzen nicht-islamisierten (d. h. nicht-judaisierten) Asien, solche Sätze empörend und abscheulich. Zugleich zeigt sich hier abermals, wie gänzlich diese philosophische Moral, die, wie oben dargelegt, nur eine verkleidete theologische ist, eigentlich von der biblischen abhängt. Weil nämlich (wovon weiterhin) die christliche Moral die Tiere nicht berücksichtigt; so sind diese sofort auch in der philosophischen Moral vogelfrei, sind bloße "Sachen", bloße  Mittel  zu beliebigen Zwecken, als etwa zu Vivisektionen, Parforcejagden, Stierkämpfen, Wettrennen, zu Tode peitschen vor dem unbeweglichen Steinkarren und dgl. - Pfui! über eine solche Parias-, Tschandalas- und Mlekhas-Moral, - die das ewige Wesen verkennt, welches in allem, was Leben hat, da ist und aus allen Augen, die das Sonnenlicht sehen, mit unergründlicher Bedeutsamkeit hervorleuchtet. Aber jene Moral kennt und berücksichtigt allein die eigene werte Spezies, deren Merkmal  Vernunft  ihr die Bedingung ist, unter welcher ein Wesen Gegenstand moralischer Berücksichtigung sein kann.

Auf so holprigem Wege, ja, per fas et nefas [mit erlaubten und unerlaubten Mitteln - wp], gelangt dann KANT zum zweiten Ausdruck des Grundprinzips seiner Ethik: "Handle so, daß Du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest." Auf sehr künstliche Weise und durch einen weiten Umweg ist hiermit gesagt: "Berücksichtige nicht Dich allein, sondern auch die andern:" und dieses wiederum ist eine Umschreibung des Satzes "Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris" [Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. - wp], welcher, wie gesagt, selbst wieder nur die Prämissen enthält zu der Konklusion, die der letzte wahre Zielpunkt aller Moral und allen Moralisierens ist: "Neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva": welcher Satz, wie alles Schöne, sich nackt am besten ausnimmt. - Nur sind in jene zweite Moralformel KANTs die angeblichen Selbstpflichten, absichtlich und schwerfällig genug, mit hineingezogen. Über diese habe ich mich oben erklärt.

Einzuwenden wäre übrigens gegen jene Formel, daß der hinzurichtende Verbrecher und zwar mit Fug und Recht, allein als Mittel und nicht als Zweck behandelt wird, nämlich als unerläßliches Mittel, dem Gesetz, durch seine Erfüllung, die Kraft abzuschrecken zu erhalten, als worin dessen Zweck besteht.

Wenn nun gleich diese zweite Formel KANTs weder für die  Begründung  der Moral etwas leistet, noch auch für den adäquaten und unmittelbaren Ausdruck ihrer Vorschriften - oberstes Prinzip - gelten kann; so hat sie andererseits das Verdienst, ein feines psychologisch-moralisches Apercu [geistreiche Bemerkung - wp]
zu enthalten, indem sie den  Egoismus  durch ein höchst charakteristisches Merkmal bezeichnet, welches wohl verdient, hier näher entwickelt zu werden. Dieser  Egoismus  nämlich, von dem wir alle strotzen und welchen als unsere partie honteuse [Schambereich - wp] zu verstecken, wir die  Höflichkeit  erfunden haben, guckt aus allen ihm übergeworfenen Schleiern meistens dadurch hervor, daß wir in jedem, der uns vorkommt, wie instinktmäßig, zunächst nur ein mögliches  Mittel  zu irgendeinem unserer stets zahlreichen  Zwecke  zu suchen. Bei jeder neuen Bekanntschaft ist meistens unser erster Gedanke, ob der Mann uns nicht zu irgendetwas nützlich werden könnte: wenn er dies nun  nicht  kann; so ist er den Meisten, sobald sie sich hiervon überzeugt haben, auch selbst  nichts.  In jedem andern ein mögliches Mittel zu unseren Zwecken, also ein Werkzeug zu suchen, liegt beinahe schon in der Natur des menschlichen Blicks: ob nun aber etwa das Werkzeug beim Gebrauch mehr oder weniger zu  leiden  haben werde, ist ein Gedanke, der viel später und oft gar nicht nachkommt. Daß wir diese Sinnesart bei andern voraussetzen, zeigt sich an mancherlei, z. B. daran, daß wenn wir von jemandem Auskunft oder Rat verlangen, wir alles Vertrauen zu seinen Aussagen verlieren, sobald wir entdecken, daß er irgendein, wenn auch nur kleines oder entferntes  Interesse  bei der Sache haben könnte. Denn da setzen wir sogleich voraus, er werde uns zum Mittel seiner Zwecke machen und seinen Rat daher nicht seiner  Einsicht,  sondern seiner  Absicht  gemäß erteilen; selbst wenn jene auch noch so groß und diese noch so klein sein sollte. Denn wir wissen nur zu wohl, daß eine Kubiklinie Absicht mehr wiegt, als eine Kubikrute Einsicht. Andererseits wird in einem solchen Fall, bei unserer Frage: "Was soll ich tun?" dem andern oft gar nichts anderes einfallen, als was wir  seinen  Zwecken gemäß zu tun hätten: dieses also wird er alsdann, ohne an  unsere  Zwecke auch nur zu denken, sogleich und wie mechanisch antworten, indem sein Wille unmittelbar die Antwort diktiert, ehe nur die Frage zum Forum seines wirklichen Urteils gelangen konnte und er uns also seinen Zwecken gemäß zu lenken sucht, ohne sich dessen auch nur bewußt zu werden, sondern selbst vermeinend aus Einsicht zu reden, während aus ihm nur die Absicht redet; ja, er kann hierin so weit gehen, ganz eigentlich zu lügen, ohne es selbst zu merken. So überwiegend ist der Einfluß des Willens über den der Erkenntnis. Demzufolge ist darüber, ob einer aus Einsicht oder aus Absicht redet, nicht einmal das Zeugnis seines eigenen Bewußtseins gültig, meistens aber das seines Interesses. Einen anderen Fall zu nehmen: wer von Feinden verfolgt, in Todesangst, einen ihm begegnenden Tabuletkrämer nach einem Seitenweg frägt, kann erleben, daß dieser ihm die Frage entgegnet: "Ob er von seiner Ware nichts brauchen könne?" - Damit soll nicht gesagt sein, daß es sich  stets  so verhalte: vielmehr wird allerdings mancher Mensch am Wohl und Wehe des andern unmittelbar wirklichen Anteil nehmen oder in KANTs Sprache, ihn als Zweck und nicht als Mittel ansehen. Wie nahe oder fern nun aber jedem Einzelnen der Gedanke liegt, den andern, statt wie gewöhnlich als Mittel einmal als Zweck zu betrachten - das ist das Maß der großen ethischen Verschiedenheit der Charakteres: und worauf es hiherbei in letzter Instanz ankomme, - das wird eben das wahre Fundament der Ethik sein, zu welchem ich erst im folgenden Teil schreite.

KANT hat also, in seiner zweiten Formel, den Egoismus und dessen Gegenteil durch ein höchst charakteristisches Merkmal bezeichnet; welchen Glanzpunkt ich umso lieber hervorgehoben und durch Erläuterung in helles Licht gestellt habe, als ich im Übrigen von der Grundlage seiner Ethik leider nur wenig gelten lassen kann.

Die dritte und letzte Form, in der KANT sein Moralprinzip aufgestellt hat, ist die  Autonomie  des Willens: "Der Wille jedes vernünftigen Wesens ist allgemein gesetzgebend für alle vernünftigen Wesen." Dies folgt freilich aus der ersten Form. Aus der gegenwärtigen soll nun aber (laut Seite 71) hervorgehen, daß das spezifische Unterscheidungszeichen des kategorischen Imperativs dieses sei, daß beim Wollen aus Pflicht sich der Wille  von allem Interesse lossage.  Alle früheren Moralprinzipien wären deshalb verunglückt, "weil sie den Handlungen immer, sei es als Zwang oder Reiz, ein  Interesse  zu Grunde legten,  dies mochte nun ein eigenes oder ein fremdes Interesse sein".  (Seite 73) (auch ein  fremdes,  welches ich wohl zu merken bitte). "Hingegen ein allgemein gesetzgebender Wille schreibe Handlungen aus  Pflicht  vor, die sich auf  gar kein Interesse gründen."  Jetzt aber bitte ich zu bedenken, was das eigentlich sagen will: in der Tat nichts Geringeres, als ein Wollen  ohne Motiv,  also eine Wirkung ohne Ursache. Interesse und Motiv sind Wechselbegriffe: heißt nicht Interesse quod mea interest, woran mir gelegen ist? Und ist das nicht überhaupt alles, was meinen Willen anregt und bewegt? Was ist folglich ein Interesse anderes, als die Einwirkung eines Motivs auf den Willen? Wo also ein  Motiv  den Willen bewegt, da hat er ein  Interesse:  wo ihn aber kein Motiv bewegt, da kann er wahrlich so wenig handeln, als ein Stein ohne Anstoß oder Zug von der Stelle kann. Dies werde ich gelehrten Lesern doch nir erst zu demonstrieren brauchen. Hieraus aber folgt, daß jede Handlung, da sie notwendig ein  Motiv  haben muß, auch notwendig ein  Interesse  voraussetzt. KANT aber stellt eine zweite, ganz neue Art von Handlungen auf, welche ohne alles Interesse, d. h. ohne Motiv vor sich gehen. Und dies sollten die Handlungen der Gerechtigkeit und Menschenliebe sein! Zur Widerlegung dieser monströsen Annahme bedurfte es nur der Zurückführung derselben auf ihren eigentlichen Sinn, der durch das Spiel mit dem Wort  Interesse  versteckt war.

Inzwischen feiert KANT (Seite 74f) den Triumph seiner Autonomie des Willens, in der Aufstellung eines moralischen Utopias, unter dem Namen eines  Reichs der Zwecke,  welches bevölkert ist von lauter  vernünftigen Wesen  in abstracto, die samt und sonders beständig wollen, ohne irgend  etwas  zu wollen (d. h. ohne Interesse): nur dieses eine wollen sie: daß alle stets nach  einer  Maxime wollen (d. h. Autonomie). Difficile est, satiram non scribere. [Es ist schwierig, keine Satire darüber zu schreiben. - wp]

Aber noch auf etwas anderes, von beschwerlicheren Folgen, als dieses kleine unschuldige Reich der Zwecke, welches man, als vollkommen harmlos, ruhig liegen lassen kann, leitet KANTEN seine Autonomie des Willens, nämlich auf den Begriff der  Würde des Menschen.  Diese nämlich beruth bloß auf dessen  Autonomie  und besteht darin, daß das Gesetz, dem er folgen soll, von ihm selbst gegeben ist, - also er zu demselben in dem Verhältnis steht, wie die konstitutionellen Untertanen zu dem ihrigen.

Das möchte als Ausschmückung des Kantischen Moralsystems immerhin dastehen. Allein dieser Ausdruck  "Würde des Menschen",  einmal von KANT ausgesprochen, wurde nachher das Schiboleth [Erkennungszeichen - wp] aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen oder wenigstens doch irgendetwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponierenden Ausdruck "Würde des Menschen" versteckten, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen  Würde  angetan sehen und demnach damit zufrieden gestellt sein würde. (1) Wir wollen jedoch auch diesen Begriff etwas näher untersuchen und auf Realität prüfen.

KANT hat (Seite 79)  Würde  definiert als "einen unbedingten, unvergleichbaren Wert". Dies ist eine Erklärung, die durch ihren erhabenen Klang dermaßen imponiert, daß nicht leicht einer sich untersteht, heranzutreten, um sie in der Nähe zu untersuchen, wo er dann finden würde, daß eben auch sie nur eine hohle Hyperbel ist, in deren Innerem, als nagender Wurmd die contradiction in adjecto nistet. Jeder  Wert  ist die Schätzung einer Sache im Vergleich mit einer anderen, also ein Vergleichsbegriff, mithin relativ und diese Relativität macht eben das Wesen des Begriffs  Wert  aus. Ein  unvergleichbarer, unbedingter, absoluter Wert,  dergleichen die  Würde  sein soll, ist demnach, wie so vieles in der Philosophie, die mit Worten gestellte Aufgabe zu einem Gedanken, der sich gar nicht denken läßt, so wenig wie die höchste Zahl oder der größte Raum.
    "Doch eben wo Begriffe fehlen,
    Da stellt ein  Wort  zu rechter Zeit sich ein."
So war denn auch hier an der "Würde des Menschen" ein höchst willkommenes Wort auf die Bahn geworfen, an welchem nunmehr jede, durch alle Klassen der Pflichten und alle Fälle der Kasuistik ausgesponnene Moral ein breites Fundament fand, von welchem herab sie mit Behagen weiter predigen konnte.

Am Schluß seiner Darstellung (Seite 124) sagt KANT:
    "Wie nun aber  reine Vernunft,  ohne andere Triebfedern, die irgendwoher sonst genommen sein mögen, für sich selbst  praktisch  sein, d. h. wie das  bloße  Prinzip der Allgemeingültigkeit aller ihrer Maximen' als Gesetze, ohne allen Gegenstand des Willens, woran man zum voraus irgendein Interesse nehmen dürfte, für sich selbst eine Triebfeder abgeben und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken, oder, mit anderen Worten, wie reine Vernunft praktisch sein könne? - Das zu erklären, ist alle menschliche Vernunft unvermögend und alle Mühe und Arbeit verloren."
Nun sollte man denken, daß wenn etwas, dessen Dasein behauptet wird, nicht einmal seiner Möglichkeit nach begriffen werden kann, es doch faktisch in seiner Wirklichkeit nachgewiesen sein müsse: allein der kategorische Imperativ der praktischen Vernunft wird ausdrücklich  nicht  als eine Tatsache des Bewußtseins aufgestellt oder sonst durch Erfahrung begründet. Vielmehr werden wir oft genug verwarnt, daß er  nicht  auf solchem anthropologisch-empirischem Weg zu suchen sei (z. B. Seite VI der Vorrede, Seite 5, 59 und 60). Dazu wird uns wiederholt (Seite 48) versichert, "daß durch kein Beispiel, mithin empirisch auszumachen sei, ob es überall einen dergleichen Imperativ gebe." Und Seite 49, "daß die Wirklichkeit des kategorischen Imperativs nicht in der Erfahrung gegeben sei."

Wenn man das zusammenfaßt, so könnte man wirklich auf den Verdacht geraten, KANT habe seine Leser zum Besten gehalten. Wenn nun gleich dieses, dem heutigen Deutschen philosophischen Publikum gegenüber, wohl erlaubt und recht sein möchte; so hatte doch dasselbe sich zu KANTs Zeiten noch nicht so, wie seitdem, signalisiert: und außerdem war gerade die Ethik das am wenigsten zum Scherz geeignete Thema. Wir müssen also bei der Überzeugung stehen bleiben, daß, was weder  als möglich  begriffen, noch als  wirklich  nachgewiesen werden kann, keine Beglaubigung seines Daseins hat.

Wenn wir nun aber auch nur versuchen, es bloß mittels der Phantasie zu erfassen und uns einen Menschen vorzustellen, dessen Gemütz von einem in lauter kategorischen Imperativen redenden  absoluten Soll,  wie von einem Dämon besessen wäre, der, den Neigungen und Wünschen desselben entgegen, dessen Handlungen beständig zu lenken verlangte; - so erblicken wir hierin kein richtiges Bild der Natur des Menschen oder der Vorgänge unseres Innern: wohl aber erkennen wir ein erkünsteltes Substitut der theologischen Moral, zu welcher es sich verhält, wie ein hölzernes Bein zu einem lebendigen.

Unser Resultat ist also, daß die Kantische Ethik, so gut wie alle früheren, jedes sicheren Fundaments entbehrt. Sie ist, wie ich durch die gleich Anfangs angestellte Prüfung ihrer  imperativen Form  gezeigt habe, im Grunde nur eine Umkehrung der theologischen Moralund eine Vermummung derselben in sehr abstrakte und scheinbar  a priori  gefundene Formeln. Diese Vermummumg mußte umso künstlicher und unkenntlicher sein, als KANT dabei zuverlässig sogar sich selber täuschte und wirklich vermeinte, die offenbar nur in der theologischen Moral einen Sinn habenden Begriffe des  Pflichtgebots  und des  Gesetzes  unabhängig von aller Theologie feststelen und auf reine Erkenntnis a priori gründen zu können: wogegen ich genugsam nachgewiesen habe, daß jene Begriffe bei ihm, jedes realen Fundaments entbehrend frei in der Luft schweben. Unter seinen eigenen Händen entschleiert sich dann auch gegen das Ende dei verlarvte  theologische Moral,  in der Lehre  vom höchsten Gut,  in den  Postulaten der praktischen Vernunft  und endlich in  der Moraltheologie.  Doch hat alles dieses weder ihn noch das Publikum über den wahren Zusammenhang der Sache enttäuscht: vielmehr freuten beide sich, alle diese Glaubensartikel jetzt durch die Ethik (wenngleich nur  idealiter  und für einen praktischen Zweck) begründet zu sehen. Denn sie nahmen treuherzig die Folge für den Grund und den Grund für die Folge, indem sie nicht sahen, daß jener Ethik alle diese angeblichen Folgerungen aus ihr schon als stillschweigende und versteckte, aber unumgänglich nötige Voraussetzungen zugrunde lagen.

Wenn mir jetzt, am Schluß dieser scharfen und selbst den Leser anstrengenden Untersuchung, zur Aufheiterung, ein scherzhaftes, ja, frivoles Gleichnis gestattet sein sollte; so würde ich KANTEN, in jener Selbstmystifikation, mit einem Mann vergleichen, der, auf einem Maskenball, den ganzen Abend mit einer maskierten Schönheit buhlt, im Wahn, eine Eroberung zu machen; bis sie sich am Ende entlarvt und zu erkennen gibt - als seine Frau.
LITERATUR - Arthur Schopenhauer, Von den abgeleiteten Formen des obersten Grundsatzes der Kantischen Ethik, Über das Fundament der Moral, § 8, in "Die beiden Grundprobleme der Ethik", Leipzig 1860
    Anmerkungen
    1) Der Erste, der den Begriff der "Würde des Menschen" ausdrücklich und ausschließlich zum Grundstein der Ethik gemacht und diese demnach ausgeführt hat, schein GEORG WILHELM BLOCK, in seiner "Neuen Grundlegung der Philosophie der Sitten" (1802) gewesen zu sein.