tb-1ra-1M. WentscherPaulsenTaubertvon HartmannR. RichterG. Borries    
 
WILHELM WINDELBAND
Pessimismus und Wissenschaft

"Wenn ich mir ein Paar Tanzstiefel bestelle und nachher dem Schuster Vorwürfe mache: sie sind schlecht, denn ich kann sie nicht essen, so wird man mich für verrückt halten; wenn ich ihm sage:  sie sind schlecht, denn ich kann damit keine Gletscher besteigen, so wird man mich lächerlich finden; sage ich aber sie sind schlecht, denn sie sind zu schwer oder zu wenig biegsam, so werde ich, die Tatsache vorausgesetzt, in meinem Recht sein. Was ist der Unterschied zwischen diesen drei Beurteilungen?"

Es kann durchaus keine Frage sein, daß unter denjenigen Richtungen der allgemeinen Geistesbewegung, welche das Vorstellungsleben und die Charakterbildung des Einzelnen als die "höheren Mächte" bestimmen und beherrschen, in unserer Zeit der Pessimismus einen breiten und immer breiteren Raum für sich in Anspruch nimmt: gleichviel, ob man ihn bekämpft oder vertritt, ob man ihn verketzert oder preist, ob man in ihm einen Wahn oder eine Religion sieht, man muß ihn als eine Tatsache betrachten und mit ihm rechten. Der Pessimismus ist zweifellos eine der am weitesten, wenigstens in den Grenzen des deutschen Kulturlebens verbreiteten Moden. Es gibt ganze gesellige und gesellschaftliche Kreise, in denen es als unfein betrachtet wird, mit dem Zustand der Welt zufrieden zu sein, und in denen es zum guten Ton geworden ist, das Elend des Daseins im gemeinsamen Gefühl überlegener Verurteilung und in freundlicher Mitteilung resignierender Gefühle zu ertragen. Es gibt ja nichts auf der weiten Welt, was die persönliche Eitelkeit angenehmer zu berühren vermag, als diese verachtungsvolle Erhebung nicht über einzelne Wesen, sondern über die Gesamtheit allen Seins und Lebens überhaupt! Unbedeutende Menschen mögen zufrieden im Ablauf der Dinge dahinwandeln: wer sich aber dazu aufschwingt, die Welt zu beurteilen und sie gar zu verwerfen, der zeigt eben dadurch, daß er an innerer Bedeutung über ihr steht! Aber es ist nicht nur aristokratisch, Pessimist zu sein: nicht minder als in den Salons wird der Pessimismus auch auf den Gassen gepredigt, er geht mit jenen Agitationen Hand in Hand, die in den Kreisen rühriger Arbeit neue Bedürfnisse erregen, um ihnen dann die Unzulänglichkeit ihrer wirklichen Lage beweisen zu können, und er frißt sich so als eine Stimmung des Unmuts und der Unbehaglichkeit in alle Schichten der Bevölkerung hinein.

Von manchen Seiten ist wohl schon die Frage aufgeworfen worden, wie es sich erklärt, daß eine solche Stimmung sich gerade in dieser Zeit der frischen Aufrichtung, der arbeits- und gedankenvollen Erhebung des nationalen Lebens im deutschen Volk Bahn gebrochen hat, und es bedürfte, wie es uns scheint, nicht gerade allzu tiefer psychologischer Studien und Einsichten, um dem Ursprung dieses auf den ersten Blick verwirrenden Gegensatzes nachzugehen. Allein so verlockend eine solche Aufgabe sein möchte, so müssen wir doch, da wir uns weder zum Kulturhistoriker noch zum Sittenrichter der eigenen Zeit berufen fühlen, auf ihre Ausführung verzichten, und indem wir den Pessimismus in seiner augenblicklichen Tatsächlichkeit ins Auge fassen, möchten wir seine Berechtigung nur nach einer bestimmten Seite hin zum Gegenstand unserer Betrachtung machen, nach der Seite freilich, auf welcher wir die gefährlichste Form seines gegenwärtigen Auftretens erblicken müssen. Dieser Punkt im modischen Pessimismus, den wir freilich auch für den angreifbarsten halten, ist die Verbindung, in die man ihn mit wissenschaftlichen Theorien zu setzen versucht hat, sodaß es den Anschein gewinnen mußte, als ob die im Pessimismus ausgedrückte Überzeugung von der Schlechtigkeit der Welt ein beweisbares Resultat wissenschaftlicher Untersuchungen wäre.

Wenn wir es nun versuchen werden, nicht nur die in der Gegenwart bestehenden und einflußreichen Formen dieser Verbindung des Pessimismus mit der Wissenschaft, sondern auch die Möglichkeit einer solchen Verbindung überhaupt einer kritischen Untersuchung zu unterwerfen, so muß allerdings von vornherein darauf aufmerksam gemacht werden, daß eine solche Kritik sich nicht minder auch gegen die gegenteilige Überzeugung richtet, wonach etwa eine ähnliche Ableitbarkeit optimistischer Ansichten aus philosophischen Prinzipien verlangt und für möglich gehalten würde. In dieser Beziehung stehen offenbar Optimismus und Pessimismus auf ganz gleicher Linie, und wir glauben zeigen zu können, daß die Wissenschaft mit dem einen ebensowenig zu tun hat wie mit dem anderen. Deshalb wird sich auch unsere Untersuchung über die Möglichkeit einer solchen Verbindung überhaupt von Anfang an gleichmäßig gegen beide richten, und nur der Umstand, daß die moderne Literatur allüberall von der "trüben Botschaft" des wissenschaftlich begründeten Pessimismus widerhallt, kann uns veranlassen, den Nachweis von der Unhaltbarkeit dieser Verbindung wesentlich am Beispiel der pessimistischen Theorien der Gegenwart zu erhärten.

Optimismus und Pessimismus sind in ihrer ursprünglichen und einfachen Form Stimmungen, welche ihr abwechselnd, zeitweise in uns selbst und bei anderen wahrnehmen. Die Gesetze der psychologischen Assoziation und Apperzeption machen es vollkommen begreiflich, daß ein bis zu einem besonders hohen Grad gesteigertes Gefühl der Befriedigung oder der Enttäuschung eine verhältnismäßig lange Zeit in uns dominieren und mit allen folgenden Vorstellungen in der Weise sich verbinden kann, daß wir an den letzteren hauptsächlich nur die jenem Gefühl entsprechenden Momente wahrnehmen. Namentlich tritt dies ein, wenn mehrfach hintereinander gleichartige Gefühle entweder der Lust oder Unlust sich in ihrer Kraft und Eindrucksfähigkeit gegenseitig verstärkt haben: es genügen dann auch eine Anzahl ansich geringer und sogar kaum merklicher Anlässe, um eine vollständig ausgesprochene Stimmung zu erzeugen, wie es z. B. jeder erfahren haben wird, daß ihn morgens gleich beim Aufstehen die unbedeutendsten Dinge in eine pessimistische Tagesstimmung hineinärgern können. Zunächst also sind Optimismus und Pessimismus nichts anderes, als gewisse psychische Disposititionen, aus irgendwelchen Gefühlen hervorgegangen, die dann aber leicht allem Neuerlebten ihr Gepräge aufdrücken. Jeder kennt solche Stimmungen, und es ist bekannt, wie sehr sie namentlich auch von rein physiologischen Vorgängen abhängen. Diese Stimmungen, anfänglich ansich nur vorübergehender Natur, können nun aber aus Gründen des Temperaments oder der persönlichen Erfahrungen, immer aber infolge gewisser lediglich psychologischer Tatsachen und Richtungen, mehr oder weniger beharrlich werden, sodaß eine bestimmte Neigung des Individuums zu einer optimistischen oder pessimistischen Auffassung eintritt. Je mehr sich aber eine solche Neidung verfestigt, umso mehr geht sie auch vermöge der im menschlichen Vorstellungsleben von Jugend auf angelegten und wirksamen Tendenzen zur Verallgemeinerung des Denkinhalts in festgewurzelte Überzeugungen über, wonach die Gesamtheit der Dinge unter dem Licht der einen oder der anderen Stimmung betrachtet wird. Erfahren wir doch diese Verallgemeinerung eben schon in der einzelnen, vorübergehenden Stimmung: sind wir freudig bewegt, so sehen wir alle Dinge in einem rosigen Licht, gehen leicht und gern über die Mängel hinweg und nehmen alles von der lustigen Seite; dem Traurigen dagegen ist alles traurig, er steht in jeder Betrachtung auf der Schattenseite und sucht geflissentlich die Dornen der Welt, um sich an ihnen neu zu verwunden. Selbst im physischen Organismus ist eine solche Beständigkeit der Stimmung angelegt, indem alles Lachen und Weinen sich selbst zu potenzieren geneigt ist. Sind wir erst einmal ins Lachen gekommen, so lachen wir über Dinge, an denen bei ruhiger Betrachtung niemand etwas Lächerliches finden würde, und nicht nur von den kleinen Kindern dürfte es richtig sein, daß sie sich ins Weinen geradezu hineinheulen können. Um wieviel mehr wird diese Ansteckung und Verallgemeinerung der Stimmung da auftreten, wo sich schon durch Temperament und Erlebnisse beharrliche Stimmungen gebildet haben? Je nach ihren persönlichen Anlagen und dem Einfluß ihres eigenen Geschicks fassen daher die Menschen die sie umgebende Welt von der heiteren oder von der trüben, von der guten oder von der schlechten Seite auf: und in tausend und abertausenden von Graden und Verhältnissen kreuzen sich deshalb in der Weltauffassung der Menschen Optimismus und Pessimismus, so jedoch, daß in jedem Einzelnen, der eine mehr ausgesprochene persönliche Ansicht besitzt, eines der beiden Elemente überwiegt. Was aber von den Einzelnen, gilt auch von den Völkern. Im allgemeinen wird stets die Jugend mehr optimistisch, das Alter mehr pessimistisch denken; im allgemeinen überwiegt in den klassischen Kulturvölkern das optimistische, in den romantischen das pessimistische Prinzip. Ebenso kann man auch in den Generationen ein und desselben Volkes die Auffassung von einem Extrem zum andern in einer oszillatorischen Bewegung verfolgen. Daß jedoch der Mensch niemals allein ein Produkt der äußeren Verhältnisse ist, könnte man vielleicht am besten daraus beweisen, daß derjenige sehr irren würde, welcher mit Sicherheit voraussetzte, die sogenannten schlechten Zeiten seien stets die Schulen des Pessimismus, die guten diejenigen des Optimismus. Indem die Geschichte wie die gewöhnliche Erfahrung vielfacht das Gegenteil aufweist, bestätigt sie die Abhängigkeit dieser Auffassungen vom Temperament und Charakter, in dem die Dinge betrachtet werden.

Solange nun Optimismus und Pessimismus diesen Stempel ihres subjektiven Ursprungs offen an der Stirn tragen, sind sie in ihrer  psychologischen  Berechtigung durchaus unangreifbar. Man kann es niemandem verargen oder verbieten, sich nach seinem Charakter und seinem Schicksal eine Privatmeinung darüber zu bilden, welchen Wert für ihn die Welt und das Leben haben; und so sehr diese Meinungen das Denken und Tun der Einzelnen beeinflussen mögen, so werden sie doch nur bei besonders hoher Einseitigkeit als geradezu schädlich bezeichnet werden dürfen. Wir werden manchem wünschen, daß er etwas weniger optimistisch, manchem, daß er etwas weniger pessimistisch denke und verfahre, da beide Stimmungen, ins Extrem getrieben, die Tatkraft in gleicher Weise lähmen, der Optimismus, indem er leichtsinnig, der Pessimismus, indem er schwerblütig und gleichgültig macht. Im allgemeinen jedoch sind beide Stimmungen als notwendige psychische Zustände und Richtungen vollkommen anzuerkennen. Aber die Sache ändert sich sofort, sobald eine der beiden Parteien ihre Weltauffassung der anderen als eine von einer subjektiven Stimmung unabhängige und als objektiv anzusehende und anzuerkennende Wahrheit aufdrängen will. Handelt es sich um die optimistische oder pessimistische Beurteilung eines einzelnen Falles, so kann man sich in ruhiger, objektiver Weise darüber auseinandersetzen und die durch die persönliche Stimmung des einen oder anderen herbeigeführten Trübungen der Einsicht eliminieren. Will sich dagegen die Stimmung als solche in eine Weltanschauung umsetzen und jene Verallgemeinerungstätigkeit der Stimmungsbetrachtung bis an das letzte Ende führen, wo dann das Urteil: "Die Welt ist gut" oder "Die Welt ist schlecht" den Anspruch auf eine objektive Wahrheit und allgemeine Anerkennung macht - dann stehen wir vor einer Prinzipienfrage ersten Ranges. Objektiv beweisen heißt wissenschaftlich beweisen. Nun besteht der Unterschied zwischen wissenschaftlichem und gewöhnlichem Denken zuallererst im Ausschluß der Gefühle vom Vorstellungsinhalt. Wissenschaftliche Betrachtung ist interesselose Betrachtung, und die erste, ansich freilich nur erst negative Bedingung des wissenschaftlichen Denkens besteht darin, daß alle Einflüsse des Gefühls und der Stimmung auf die Ausgangspunkte ebenso wie auf den Fortgang des Denkens sorgfältig ausgeschlossen werden. So wäre es denn in der Tat eine höchst eigentümliche und wunderbare Erscheinung, wenn das wissenschaftliche Denken in seinem letzten Resultat, in seinem abschließenden Urteil über den Zusammenhang der Dinge in eine jener vorher sorgfältig ausgeschlossenen Stimmungen zurückkehrte.

Dies aber ist nun gerade das Charakteristische im Auftreten des modischen Pessimismus. Er erhebt laut und offen den Anspruch, sein Urteil: "Die Welt ist schlecht, und es wäre besser, sie wäre nicht da" - dieses Urteil wissenschaftlich, d. h. da es sich um die Grundprinzipien der Dinge handelt, philosophisch erwiesen zu haben; er will den Inhalt der pessimistischen Stimmung als eine von der Subjektivität unabhängige und philosophisch bewiesene Wahrheit anerkannt sehen. Es ist nicht schwer, die Gefährlichkeit dieser Kombination zu begreifen, wenn man nur bedenkt, wie leicht das Denken der Masse sich von einer nur recht selbstgewiß auftretenden subjektiven Gewißheit imponieren und diese subjektive Gewißheit sich in eine Autorität verwandeln läßt. Zahlreiche Gemüter, welche die Lücken dieser Beweisführung und vor allem ihre von Anfang an schiefe und wissenschaftlich unberechtigte Fragestellung nicht zu bemerken imstande sind, fangen dann an, die Welt für schlecht und sich darin für recht unglückliche und gescheiterte Existenzen zu halten, selbst wenn ihnen das bei sonst guten Verhältnissen manchmal recht schwer werden mag, und nachdem sie belerht worden sind, daß ein einsichtiger und moralischer Mensch das Elend der ganzen Welt in sich zur lebhaften Empfindung bringen muß, beginnen sie sich der optimistischen Regungen zu schämen, die etwa noch aus ihrer unbefangenen Natur von Zeit zu Zeit in ihnen aufsteigen mögen.

Freilich, an diesem Schein, als ob der Pessimismus wissenschaftlich begründbar und gar schon begründet sei, trägt die deutsche Philosophie selbst den größeren Teil der Schuld. Sie hat ihn schon zu dem Zeitpunkt auf sich geladen, als sie den nicht minder verfehlten Versuch antrat, den Optimismus aus wissenschaftlichen Prinzipien zu begründen. Es war bekanntlich LEIBNIZ, der in seiner Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp] damit gewissermaßen die Rechenprobe für den theologischen Teil seiner Weltanschauung machen wollte. Daß die Welt aus der schöpferischen Tätigkeit eines allweisen und allgütigen Gottes hervorgegangen ist, schien doch nur dann haltbar zu sein, wenn diese Welt nun auch selbst durchaus weise und gut eingerichtet wäre. Aber schon diese erste Probe fiel schlecht genug aus. Daß diese Welt gut im absoluten Sinne sei, wagte nicht einmal LEIBNIZ zu behaupten, und er beschränkte seine Beweisführung darauf, daß sie unter den möglichen Welten die beste sei. Daher stammt dann auch der Superlativ im Ausdruck "Optimismus" und dem danach gebildeten "Pessimismus", während der eigentliche Sinn der beiden Stimmungen mehr die Ausdrücke Bonismus und Malismus verlangte, wie dann auch der letztere aus den pessimistischen Kreisen der Gegenwart vorgeschlagen worden ist. Ob freilich die LEIBNIZ'sche Theodizee mit ihrer Lehre von der metaphysischen Negativität der Sünde und des Übels wirklich eine Apologie [Rechtfertigung - wp] des ganzen Christentums bilden würde, ist eine andere Frage, welche durchaus verneint werden müßte. Denn das Christentum ist als Religion ebenso pessimistisch wie es als Dogma optimistisch ist; und nur so ist es erklärlich, daß sich der SCHOPENHAUER'sche Pessimismus mit mindestens dem gleichen Recht auf die Urkunden des Christentums berufen konnte, wie der LEIBNIZ'sche Optimismus.

Seit aber nun so der Anfang gemacht worden war, ist es gewissermaßen Sitte geworden, daß die Weisen ihr Urteil über den Wert und die Existenzberechtigung der Welt abgeben, und es hat natürlich nicht ausbleiben können, daß einige von ihnen dabei bedenklich das Haupt geschüttelt und sich mit dem Zusammenhang der Dinge nicht so ganz einverstanden erklärt haben. Selbst KANT fiel, als er noch nicht ganz er selbst war, einmal in die Schlingen des LEIBNIZ'schen Optimismus und schrieb darüber eine kleine Schrift, die er in seinem Alter verleugnet hat. Wie aber schon bei LEIBNIZ, so trat auch später der Optimismus oder der Pessimismus immer in Verbindung mit den höchsten metaphysischen Spekulationen auf. Als die deutsche Philosophie an die Stelle des persönlichen Gottes die souveräne Weltvernunft setzte, da mußte natürlich auch dieser die Vollendung alles einzelnen Seins entsprechen, und der bekannte Satz: "Alles was ist, ist vernünftigt", war das letzte Stichwort des idealistischen Optimismus. Allein während diese Überzeugung die offizielle Philosophie der Deutschen ausdrückte, brachen sich im Stillen immer mehr jene schon von FICHTE angeregten, von SCHELLING näher ins Auge gefaßten, von BAADER aus der alten deutschen Mystik hervorgeholten, endlich von SCHOPENHAUER klar und scharf ausgesprochenen Gedanken Bahn, welche im Weltgrund ein Irrationales, größtenteils Unvernünftiges aufsuchten, und im Zusammenhang damit hob man dann auch die Irrationalität und die Unvernünftigkeit, das Elend der aus diesem Grund hervorgegangenen Welt stärker hervor. Es bildete sich unter dem Einfluß SCHOPENHAUERs eine wahre Manie heraus, den "Wert des Lebens" zu beurteilen, bis schließlich, als sei man an einem synthetischen Ende dieser Bewegung angelangt, HARTMANN die Meinungen von LEIBNIZ und SCHOPENHAUER in der äußerst witzigen Weise kombinierte, daß zwar mit dem Ersteren anerkannt wurde, diese Welt sei die beste der möglichen, dann aber mit dem Letzteren die Schlechtigkeit dieser bestmöglichen Welt behauptet und daraus gefolgert wurde, daß wenn die bestmögliche Welt so miserabel ausgefallen sei, es doch sicher besser wäre, sie wieder zu vernichten.

Will man diesen schwankenden und wechselnden Meinungen gegenüber einen sicheren Standpunkt der Beurteilung ihrer Berechtigung gewinnen, so muß man sich zunächst über das diesen Gegensätzen gemeinsam zugrunde Liegende orientieren. Die beiden entgegengesetzten Urteile: "Die Welt ist gut" und "Die Welt ist schlecht" haben offenbar die gemeinsame Absicht, den Wert des Universums zu beurteilen. Sie enthalten nicht ein theoretisches  Urteil  zur Feststellung oder zur Erklärung der Wirklichkeit, sondern vielmehr eine die erkannte Wirklichkeit beifällig oder mißfällig charakterisierende  Beurteilung.  Das Urteil ist somit teleologisch; und zwar ist sein Gegenstand, das beurteilte Objekt, in diesem Fall nicht ein einzelnes Ding oder eine bestimmte Art von Dingen, sondern das Universum. Wir brauchen deshalb in den noch immer nicht geschlichteten Streit über die teleologische Betrachtungsweise einzelner Vorgänge in der Natur gar nicht einzutreten, wenn wir für unseren Zweck lediglich die Behauptung aufstellen und zu begründen suchen, daß sich die Wissenschaft für die Beurteilung des Universums, für ein Urteil über den Wert der Welt von vornherein für durchaus inkompetent erklären muß, und daß sie dies tun muß nicht etwa aus einer mißverstäändlichen Bescheidung und Bescheidenheit, sondern vielmehr aus der klaren Einsicht in die völlige Unmöglichkeit einer solchen Beurteilun.

Die Urteile: "Die Welt ist gut, die Welt ist schlecht" messen, wie alle Urteile, in denen die Prädikate gut und schlecht vorkommen, das Subjekt des Satzes, diesmal also das Universum, an einem Beurteilungsprinzip, d. h. an einem Zweck, und je nachdem sie finden, daß der Gegenstand diesen seinen Zweck erfüllt oder nicht erfüllt, erklären sie ihn für gut oder für schlecht. Der Optimismus und der Pessimismus fallen somit unter diejenigen Beurteilungen, welche den Wert eines Gegenstandes für eine Bestimmung oder einen Zweck prüfen, und stehen folglich unter den allgemeinen Regeln einer solcher Beurteilung. Nun ist es hinlänglich bekannt, ein wie weiter Spielraum auf diesem Gebiet der subjektiven Willkür offen steht und wie außerordentlich schwer es ist, in derartigen "Beurteilungen" wirklich objektive wissenschaftlich zu beweisende und anzuerkennende Gesichtspunkte und Kriterien aufzustellen. Denn es ist klar, daß man in dieser Richtung die willkürlichsten und abenteuerlichsten Urteile aufstellen kann und daß eine derartige Beurteilung nur unter ganz bestimmten und genau festzustellenden Bedingungen eine objektive Berechtigung beanspruchen darf. Wenn ich mir ein Paar Tanzstiefel bestelle und nachher dem Schuster Vorwürfe mache: "sie sind schlecht, denn ich kann sie nicht essen", so wird man mich für verrückt halten; wenn ich ihm sage: "sie sind schlecht, denn ich kann damit keine Gletscher besteigen", so wird man mich lächerlich finden; sage ich aber "sie sind schlecht, denn sie sind zu schwer oder zu wenig biegsam", so werde ich, die Tatsache vorausgesetzt, in meinem Recht sein. Was ist der Unterschied zwischen diesen drei Beurteilungen? Die erste, offenbar unsinnige, mißt den Gegenstand an einer Bestimmung, den er niemals haben kann; die zweite nicht gerade unsinnige, aber durchaus berechtigte, mißt ihn an einem Zweck, zu welchem ich ihn zwar verwenden könnte, zu welchem er aber seinem ursprünglichen Sinn nach nicht bestimmt war; die dritte, richtige, endlich bezieht ihn auf die Bestimmung, für welche er ursprünglich und seinem ganzen Wesen nach da ist. Von diesen drei möglichen Formen der Beurteilung ist offenbar nur die dritte die objektiv begründete, die beiden anderen unterscheiden sich nur durch den Grad der Willkürlichkeit, mit der ein Gegenstand an einem ihm selbst durchaus fremden Zweck gemessen wird. Gleichwohl ist namentlich die zweite Art von Beurteilungen eine im gewöhnlichen Vorstellungsmechanismus, wenn auch nicht in so krasser Form wie in dem gewählten Beispiel, überaus häufig vorkommende Erscheinung, die Beurteilung eines Gegenstandes nach einer Bestimmung, wozu man ihn zwar verwenden kann, wozu er aber seinem eigenen Wesen nach ursprünglich nicht da ist. Wenn jemand, aus der Kirche kommend, die Beurteilung abgibt: "Die Predigt war schlecht, denn sie war nicht amüsant", so wird das der Geistliche sehr übel nehmen und als einen durchaus willkürlichen Maßstab der Beurteilung mit Recht zurückweisen; aber es wäre doch eben möglich, daß jemand zu diesem seinem persönlichen Zweck Predigten anhörte. Sehr witzig hat einmal HEINRICH HEINE so äußerlich willkürliche Betrachtungsweisen ironisiert, indem er erklärte, er für seine Person teile alle Pflanzen in solche ein, welche man essen kann, und in solche, welche man nicht essen kann. Allein diese willkürliche Beurteilungsweise der zweiten Art tritt nicht immer in so handgreiflicher Form auf, sondern meistens in sehr versteckter Weise und mit scheinbar sehr sicherer Begründung. Kinder und Erwachsene bedienen sich ihrer fortwährend, und um nur eins der allergeläufigsten Beispiele anzuführen - was ist es dann anderes, wenn wir so häufig von den besten und verständigsten Menschen Urteile hören müssen, wie dieses: "Dieses Kunstwerk ist schlecht, denn es ist unmoralisch". - Wenn es solchen Willkürlichkeiten der Beurteilung gegenüber nun eine objektive Form des teleologischen Urteils geben soll, so ist es nur auf dem einen Weg möglich, daß der Zweck, an welchem der Gegenstand gemessen werden soll, objektiv, d. h. wissenschaftlich als derjenige nachgewiesen wird, welcher wirklich als die dem Dasein des betreffenden Gegenstandes vorhergehende Bestimmung desselben objektiv vorhanden war. Es geht daraus von vornherein hervor, daß die Anzahl der mit wissenschaftlicher Begründung zu beurteilenden Objekte sich auf den relativ geringen Umfang derjenigen beschränkt, deren Entstehung aus einem Zweckgedanken unzweifelhaft nachgewiesen werden kann.

Ist dies richtig, so leuchtet ein, daß von einem wissenschaftlich begründbaren Urteil über den Wert des Universums, d. h. also von einer wissenschaftlichen Begründung des Optimismus oder des Pessimismus nur unter der Bedingung die Rede sein könnte, daß erstens das Universum überhaupt einen Zweck oder eine Bestimmung hat, und daß zweitens wir denselben mit Sicherheit wissen. So schwer es nun dem an die Zweckbeurteilung aller einzelnen Dinge von Jugend an gewöhnten gemeinen Bewußtsein ankommen mag, sich die Gesamtheit der Dinge ohne einen Zweck, den sie erfüllen sollen, vorzustellen, so schwer wird es andererseits dem wissenschaftlich geschulten Denken, sich auch nur die Möglichkeit irgendeines Zwecks, dem das Universum untergeordnet wäre und nach dem es deshalb beurteilt werden müßte oder dürfte, auch nur annähernd vorzustellen. Denn jede Zweckbestimmung, die dafür hypothetisch aufgestellt würde, wäre doch immer nur wieder eine der zahllosen Bestimmungen in der unendlichen Weite der Wirklichkeiten und somit nur ein Teil des Universums selbst. Wohl vermögen wir Einzelnes mit Einzelnem in eine zweckmäßige Beziehung zu setzen, aber um aus dem Universum herausgehend einen Zweck für dasselbe ausfindig zu machen, fehlt uns nach dem Begriff des Universums selbst jede Denkmöglichkeit. Sollte demnach auch für eine etwa höher angelegte Vorstellungstätigkeit ein Ausweg aus diesem Zirkel möglich sein, so müssen wir doch bekennen, daß die menschliche Wissenschaft von einem Zweck, der die Bestimmung des Universums ausmachte und das Kriterium seiner Beurteilung abzugeben vermöchte, nichts weiß und nichts wissen kann. Vom Universum gibt es keinen Zweck, der objektiv nachweisbar wäre.

Wenn wir also dennoch von mannigfachen Versuchen, die Welt auf einen Zweck zu beziehen und danach zu beurteilen, in der Geschichte des menschlichen Denkens hören, so werden wir darin immer nur eine, wenn auch subjektiv noch so begründete, so doch objektiv niemals zu rechtfertigende Übertragung der an der Betrachtung der Einzeldinge großgewordenen Auffassung auf den Begriff des Universums zu sehen haben. Es ist so selbstverständlich, daß der Mensch immer und auf allen Stufen der Kultur die Gesamtheit der Dinge unter dem Gesichtspunkt betrachtet, den er selbst als den höchsten und wertvollsten anzusehen gelernt hat, so selbstverständlich, daß er auch die Wissenschaft zum Nachweis dieser Beziehung heranzuziehen sucht. Eben daraus erklärt sich die Mannigfaltigkeit solcher Beurteilungen, welche die Geschichte aufweist. Mancher wird die höchsten Güter seiner persönlichen Überzeugung sich zu diesem Weltzweck zu verklären suchen; ein anderer wird, wenn auch vielleicht nicht offen theoretisch, aber doch praktisch dem Gedanken huldigen, die Welt sei dazu da, daß er sich darin möglichst wohl fühlt; der dritte wird, diesen Gedanken verfeinernd, der Überzeugung leben, die Welt sei dazu da, in der Erkenntnis betrachtet zu werden. Aber das sind keine objektiv begründbaren, wissenschaftlich beweisbaren Standpunkte, und alle darauf gegründeten beifälligen oder mißfälligen Urteile über die Art und Weise, wie die Welt diesen Zwecken entspricht, fallen somit unter die Kategorie jener zweiten, willkürlichen Form der Beurteilung. Jede den Einfluß der Gefühle und Stimmungen auf den Gedankengang ausschließende Wissenschaft muß deshalb auch die Frage, ob die Welt gut oder schlecht ist, d. h. ob sie ihrem Zweck entspricht oder nicht, von vornherein als schief gestellt ablehnen. Die jetzt so viel erhobene Frage, ob Optimismus oder Pessimismus, ist deshalb gar kein Problem der wissenschaftlichen Philosophie. Optimismus und Pessimismus können in der Wissenschaft nur Platz finden als Erscheinung auf den Gebiet der individuellen und der kulturhistorischen Psychologie, welche als interessante Gebilde höchst komplizierter Verschmelzungsprozesse aufgewiesen und erklärt werden müssen.

Wenn somit keine der im Optimismus oder Pessimismus ausgesprochenen Beurteilungen der Welt das Prinzip der Beurteilung als objektiv berechtigt nachweisen kann, so sehen wir doch dem Einwurf entgegen, daß diese ganze Entwicklung schließlich nur gegen die freilich mit eine Hauptsache bildende Formulierung der darin niedergelegten Erkenntnis sich richten könne. Es möchte vielleicht zugegeben werden, daß in Bezug auf eine objektive Beurteilung die angewendeten Maßstäbe allerdings willkürlich seien, aber es bliebe doch immerhin eine Möglichkeit, daß mit wissenschaftlicher Gewißheit nachzuweisen wäre, daß die Welt einem solchen willkürlich gesetzten Zweck in der Tat entspräche oder nicht entspräche. Und wäre dann diese Bestimmung nur eine recht tief aus dem Wesen der menschlichen Auffassung heraus geschöpfte, so bliebe dann doch die ungeheure Wichtigkeit einer solchen Erkenntnis bestehen. Man könnte mit einem Wort die Namen des Optimismus und des Pessimismus und den darin enthaltenen Anspruch auf eine objektive Beurteilung des Universums preisgeben, um dadurch die Anerkennung zu retten, daß es wenigstens wissenschaftlich durchführbar sei, zu beweisen, in welchem Grad das Universum einem solchen willkürlich gesetzten Zweck entspräche oder nicht entspräche. Man würde darauf verzichten, die Welt deshalb gut oder schlecht zu nennen; aber man würde es für objektiv entscheidbar halten, ob in der Welt einer der von der menschlichen Willkür setzbaren Zwecke erfüllt sei oder nicht. Allein selbst diesen schon bedeutend herabgeschraubten Anspruch würden wir nicht bestehen lassen können, und wir wollen deshalb versuchen, ihn an den hervorragendsten Gesichtspunkten des neueren philosophischen Pessimismus zu prüfen.

Es sind deren wesentlich drei aufgestellt worden, von denen allerdings in das allgemeine Bewußtsein fast nur der eine übergegangen ist. Als den Zweck der Welt, den sie in der Tat nicht erfüllt, hat man erstens die Erhaltung ihres eigenen Bestandes, zweitens die möglichst hohe Glückseligkeit, drittens die Realisierung sittlicher Prinzipien angesehen; der vulgäre Pessimismus bezieht sich natürlich nur auf die in der Welt mögliche Erfüllung des Glückseligkeitstriebes.

Der erste dieser Zwecke ist nicht so recht eigentlich ein wirklicher Zweck, den das Dasein und die Entwicklung der Dinge zu erfüllen hätte, sondern das Universum wird darin unter den dialektischen Begriff des Selbstzwecks gesetzt und seine Bestimmung somit wesentlich in die bloße Erhaltung seiner Existenz verlegt. In dieser Hinsicht müßte nun also der Pessimismus die kühne Behauptung aufstellen, die Mittel, mit denen die bestehende Welt sich selbst in ihrem Zusammenhang erhält, seien für diesen Zweck unzulänglich und unzweckmäßig. Wenn es wirklich so wäre und der Bestand des Universums somit ernsthaft in Frage gestellt wäre, so müßte das Ende der Welt dem mit ihrem Zustand unzufriedenen Pessimisten sicher ein Gegenstand der Befriedigung sein; allein dieses Gefüge der Dinge, an dem sich schon mancher den Kopf eingerannt hat, macht einen so verzweifelt beständigen Eindruck, daß es vermutlich selbst den Mehrheitsbeschluß der Hartmannianer, es in das Nichts zurückzuschleudern, im ruhigen Fortgang seiner Bewegungen überdauern wird. Und seit sich die moderne Wissenschaft zum Prinzip der Erhaltung der Kraft bekannt hat, dürfte für die Ausbreitung solcher Ansichten kaum mehr Hoffnung sein; daher denn auch diese Art des Pessimismus nicht recht hat aufkommen können. SCHOPENHAUER machte einmal dazu den Versuch, als er im überschäumenden Groll behauptete, diese Welt sei so schlecht, daß sie nur mit knapper Not überhaupt existiert, und daß, wenn sie nur um ein Haar schlechter wäre, sie zerfallen müßte. Er mußte, als er das schrieb, seine Lehre von der "Sempiternität" [Immersein - wp] der Materie und seine sonst so begeistert ausgesprochene Bewunderung für die Zweckmäßigkeit der Natur völlig vergessen haben. Aber er konnte diese Behauptung nicht einmal festhalten; denn alle Tatsachen und Möglichkeiten, mit denen er sie zu begründen suchte, bezogen sich nicht auf den Untergang des Universums, sondern nur auf die Zerstörung der gegenwärtigen Formen seiner Existenz. Diesen Gedanken haben dann auch die neueren Pessimisten als eine von vornherein verlorene Position sogleich aufgegeben.

Umso mehr aber haben sie die schon bei SCHOPENHAUER am meisten hervortretende zweite Art des Pessimismus, den "eudämonologischen Pessimismus", zu begründen unternommen. Dieser geht also von dem Grundsatz aus, die Welt sei dazu da, möglichst viel Glückseligkeit hervorzurufen. Der neuere Pessimismus bekennt sich unumwunden zu diesem Prinzip und erklärt konsequenterweise, daß auch die Sittlichkeit nur als eins der Mittel, vielleicht als das zweckmäßigste, für diesen letzten und höchsten Zweck angesehen werden kann. Es ist nun charakteristisch, in welcher Weise die Philosophie des Unbewußten diesen ihren eudämonistischen Grundgedanken zu begründen weiß. Zuerst wird durch eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, deren völlig illusionärer Charakter für jeden, der die Prinzipien dieser Rechnung und den Wert ihrer Anwendbarkeit kennt, durchsichtig ist, der Leser überredet, daß die Natur überhaupt nach Zwecken verfährt. Dann wird, "um die Kette der Finalität zu schließen", diese Annahme mit der anderen gleichgestellt, daß die Natur als Ganzes, das Universum einen Zweck zu erfüllen habe. Aus dieser Annahme wird endlich, nachdem alle anderen sonst etwa aufgestellten Zwecke, darunter auch die Sittlichkeit, abgewiesen worden sind, geschlossen, daß, da doch das Universum überhaupt keinen Zweck haben muß, die Glückseligkeit von allein übrig bleibt! Daß, selbst jene Annahme zugegeben, der Zweck des Universums möglicherweise ein noch nicht aufgestellter, daß er überhaupt vielleicht vom Unbewußten nicht offenbart sein könnte, wird dabei als ein vermutlich ganz törichter Einwurf nicht in Betracht gezogen - genug, es ist sonnenklar bewiesen, daß die Glückseligkeit der Zweck des Universums ist. Auf solchen Schlüssen beruht der Pessimismus, der bereits das Heraufdämmern einer neuen Religion der Menschheit in sich bemerkt hat! Wir haben es hier nicht mit einer logischen Gedankenkette, sondern mit einer Reihe von Assoziationen rein psychologischer Natur zu tun, welche sich deshalb so überaus eindrucksvoll erwiesen haben, weil dieselben Assoziationen auf dem natürlichen Standpunkt der menschlichen Weltauffassung fortwährend geschehen. Es ist das Einfachste und das Natürlichste auf der Welt, daß jeder Mensch so glücklich wie möglich sein will und daß er alle Dinge seiner Erfahrung zunächst auf das Interesse hin prüft, welches er an ihnen nehmen kann; er betätigt dies immer mehr und gewinnt dadurch immer mehr Instanzen für das verallgemeinernde Urteil, daß alles überhaupt nur für diese Glückseligkeit da ist. So muß dann jeder von uns seine natürliche "induktive" Tätigkeit gewaltig zügeln, um nicht zu dem "spekulativen Resultat" zu kommen, daß die Welt zu seiner Glückseligkeit da ist. Kommt er aber einmal zu dieser Verallgemeinerung, so verlangt er auch, daß die Welt diesen ihren Zweck erfüllt, und tut sie es nicht, so ist sie "schlecht". Man sieht, dieses Verlangen und damit beide Beurteilungen, welche nach diesem Verlangen die Welt auffassen - sie sind rein pathologisch. Das Interesse, welches unsere Zeit an den Streitfragen des Optimismus und Pessimismus nimmt, ist kein wissenschaftliches, sondern ein an die Wissenschaft völlig unberechtigterweise gerichtetes Verlangen, die Welt aus dem Trieb der Genußsucht zu beurteilen.

Aber nun könnte man zwar zugestehen, dieser Trieb sei ein willkürlicher Gesichtspunkt der Beurteilung, aber doch daran festhalten, er sei ein sehr wichtiger, der wichtigste Trieb des Menschendasin, und es sei doch wohl wert, das Universum daraufhin zu prüfen. Man wolle ja darum nicht die Welt wissenschaftlich belobigen oder tadeln, sondern man wolle lediglich eine wissenschaftliche Untersuchung darüber, ob es in der Welt mehr Glück oder Unglück gibt. Unter diesem Gesichtspunkt wären also die Untersuchungen der Optimisten und der Pessimisten gewissermaßen nur als Beiträge für eine Art von eudämonologischer Statistik zu betrachten, als Vorarbeiten für eine statistische Feststellung des Zahlenverhältnisses von Glück und Unglück im Universum. Das Nächstliegende wäre dann also, man zählte beide, Lust und Unlust, einfach aus. Allein das ist nicht nur deshalb unmöglich, weil man eben das Universum überhaupt nicht auszählen kann, sondern vor allem schon in ganz beschränkten Kreisen deshalb nicht, weil man, um das Plus und Minus richtig abzuwägen, niemals nach den als Lust- oder Unlustreize bekannten äußeren Vorgängen, sondern nach dem Grad der Gefühle abschätzen müßte, und weil man dazu eines uns völlig mangelnden gemeinsamen Gradmessers der Gefühle bedürfte. Dieses eudämonologische Thermometer würde nämlich bekanntlich schon bei zwei Wesen nächster Verwandtschaft, also etwa bei zwei Menschen desselben Alters, Berufs usw., für dieselbe Veranlassung merklich verschiedene Höhen angeben. Da nun also hier die Induktion doch nicht recht ausreichen möchte, so hat man den Beweis von der Mehrheit der Unlust durch begriffliche Deduktion zu führen gesucht. Zuerst tat das SCHOPENHAUER, indem er, ebenso wie der optimistische LEIBNIZ die Negativität des Übels darzutun gesucht hatte, nun seinerseits die Befriedigung des Willens und das Glück als etwas Negatives nachzuweisen suchte. Da aber die Gefühle der Lust - und die Gefühle sollen ja gegeneinander abgeschätzt werden - doch trotz der vielleicht teilweise negativen Veranlassungen gerade so real bleiben wie diejenigen der Unlust, so mußte auch dieser verfehlte Versuch von der neueren Verteidigung des Pessimismus preisgegeben werden. Nicht anders erging es dem scheinbar schlagendsten Beweis, den SCHOPENHAUER aus dem Wesen des Willens zu führen suchte: der Wille sei jedesmal das Bedürfnis nach einem noch Unerreichten, folglich  eo ipso  Unlust zu mächtigem Schmerz, werde er erfüllt, so müsse von der entspringenden Lust doch immer jene erste Unlust in der Gesamtschätzung abgezogen werden. Soll daraus auf eine überwiegende Summe von Unlust in der Welt geschlossen werden, so muß außerdem vorausgesetzt werden
    1. daß der Zuschuß von Unlust bei unbefriedigtem Wollen die anfängliche Unlust auf einen mindestens ebenso hohen Grad steigert als die Gradhöhe der bei der Befriedigung des Willens eintretenden Lust beträgt, was zu beweisen bleibt und

    2. daß der Wille mindestens ebenso oft unbefriedigt bleibt, als er befriedigt wird, was gleichfalls zu beweisen bleibt.
Außerdem aber ist dagegen zu konstatieren, daß eine große Anzahl von Lustgefühlen überhaupt ohne jedes vorhergehende Gefühl des Bedürfnisses erfahrungsmäßig eintritt. Indem er daher auf diese Beweise verzichtet, stellt HARTMANN fünf anthropologische Argumente auf, welche den durchgängigen Überschuß von Unlust in der empfindenden Seele erhärten sollen: die Nervenermüdung, welche die Unlust vermehrt, die Lust vermindert, die geringe Höhe der aus dem Nachlassen der Unlust entspringenden Lust, das leichtere Bewußtwerden der zur Unlust führenden Reize, die längere Dauer der Unlust gegenüber dem kurzen Verklingen der Lust, die Neigung des Bewußtseins, bei momentann gleichen Quantitäten von Lust und Unlust der letzteren das Übergewicht zu geben. Von diesen fünf Argumenten möchte zunächst das letzte eben nur für den Pessimisten, niemals für den Optimisten gelten, da es geradezu nichts anderes als eine Beschreibung der pessimistischen Stimmung enthält. Aber selbst wenn die vier ersten, wie wir es auch nur bedingt zugeben können, erfahrungsmäßig feststellbare Tatsachen sind, so folgt daraus das zu Beweisende noch durchaus nicht; denn alle diese Bestimmungen sind nur relativ, und sie würden den verlangten Beweis nur dann mit Sicherheit leisten können, wenn zugleich objektiv feststellbar wäre, daß die Summe der im Universum auftretenden Lustreize die Summe der Unlustreize nicht um so viel übersteigt, daß sie durch die in diesen vier Tatsachen begründete Verminderung noch immer nicht bis zur Unlustsumme herabgedrückt würde. Angenommen freilich, es gibt in der Welt etwa ebensoviel Veranlassungen zur Unlust wie zur Lust, könnten jene Argumente vielleicht Beweiskraft gewinnen - allein wer begründet uns diese Annahme? Genug, es ist keine objektive Beweisführung bisher gefunden worden, welche die unmögliche Auszählung und Abschätzung von Glück und Unglück im Universum a priori ersetzen und damit für ein optimistisches oder pessimistisches Resultat entscheidend werden könnte. Alle diese Versuche sind ebenso willkürlich, wie die darin notwendigen Abschätzungen der verschiedenen Grade von Lust und Unlust, und wenn der Pessimist SCHOPENHAUER seine Abschätzungen in das Apercu [geistreiche Bemerkung - wp] zusammenfaßt, man möge das Verhältnis von Glück und Unglück in der Welt nach dem Verhältnis schätzen, worin das Lustgefühl des fressenden Tieres zum Unlustgefühl des gefressenen steht - was würde er einem Optimisten erwidern können, der ihn fragt, was alle Schmerzen der Mutter wiegen gegen die Seligkeit, mit der das Kind an ihrem Hals ruht?

Schließlich aber, geben wir einmal zu, es ließe sich diesen willkürlichen Schätzungen und Zählungen gegenüber ein objektives Prinzip der Rechnung finden, und das Resultat derselben zeigte nun schließlich mit Sicherheit ein immerhin bedeutendes Übergewicht auf Seiten der Lust oder der Unlust - was wäre denn nun der Wert dieses Resultats? Für jeden einzelnen Gefühlszustand des einzelnen Wesens sind bekanntlich nicht nur die Gefühlszustände der übrigen Wesen, sondern auch die früheren oder späteren Gefühlszustände desselben Wesens völlig indifferent: denn sofern diese anderen Gefühlszustände selbst Momente des Vorstellungsinhalts in einem einzelnen Zustand sind, müssen sie im Begriff desselben als Erinnerungen, Hoffnungen usw., das heißt als integrierende Bestandteile dieses Zustandes schon mitgedacht sein. Was hat nun da das Zusammenrechnen für einen Sinn? Welchem realen Verhältnis entspricht das Resultat dieses Zusammenrechnens? Es heißt immer, man kompensiere gleichgradige Quantitäten von Lust und Unlust und sehe nach, wo ein Überschuß bleibt. Ein Lustgefühl und ein Unlustgefühl können sich doch nur so kompensieren, respektive einen Überschuß nach einer der beiden Seiten geben, daß sie gleichzeitig in demselben Wesen als entgegengesetzte Momente seiner Gefühlserregung auftreten. Ohne diese Bedingung gibt es gar keine reale "Kompensation". Sehr richtig ist die Bemerkung, daß ein Glas Bier, welches wir heute trinken, den Durst nicht kompensiert, der uns vor zehn Jahren einmal plagte: aber ebenso gilt auch der allgemeinere Satz, daß kein Unglück, das uns einmal betrübte, durch irgendein späteres Glück wieder gut gemacht werden kann, nicht minder jedoch auch der andere Satz, daß kein Glück, das wir einmal genossen haben, durch irgendein noch so großes Unglück wieder aufgehoben werden kann. Wenn es uns manchmal anders erscheinen möchte, so beruth das auf einer Verwechslung der unmittelbaren Gefühlsmomente mit den Erinnerungen und den von diesen erzeugten Gefühlen. Erinnern wir uns später in ein und demselben Moment zugleich einer Anzahl glücklicher und einer Anzahl unglücklicher Momente, so können sich die von diesen Erinnerungen ausgehenden Gefühle vielleicht kompensieren und einen Überschuß nach irgendeiner Seite geben; allein jene ersten realen Gefühle bleiben davon natürlich für eine solche Schätzung gänzlich unberührt. Die ganze Rechnung der Optimisten und Pessimisten hätte deshalb einen realen Wert nur für ein Allbewußtsein in welchem sämtliche Gefühle aller Wesen aller zeiten als Momente eines einzigen Gefühlszustandes aufträten, welches Allfreude und Allleid gegeneinander kompensierend abwöge und je nach dem Erfolg glücklich oder unglücklich oder - indifferent auf dem "Nullpunkt der Empfindung" wäre. Ein solches Allbewußtsein lehnen die pessimistischen Theorien der Gegenwart geflissentlich ab, und für sie schwebt so das Resultat der eudämonologischen Statistik durchaus in der Luft. Soviel aber ist klar, daß für das endliche Bewußtsein des Einzelnen das Resultat dieser Rechnung, wohin es auch ausfallen möge, durchaus bedeutungslos bleibt, zumal vom eudämonistischen Standpunkt aus, wo man doch dem Weltzweck der höchsten Glückseligkeit nur so dienen kann, daß man in seinem nächsten Kreis, vor allem aber am sichersten in sich selbst, so viel als möglich Glückseligkeit zu befördern sucht.

Diesem Haschen nach dem Glück und der Lust hat der größte deutsche Denker das eherne Wort entgegenhalten: "Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern um unsere Schuldigkeit zu tun." Diesen zunächst auf das menschliche Leben bezogenen Gedanken hat er dann, obwohl er die wissenschaftliche Erkenntnis des Universums als Weltganzen ablehnte, doch nach seinem Prinzip des "moralischen Glaubens" auf das Universums ausgedehnt, und in konsequenter Durchführung dieser Gedanken hat später FICHTE die Realisierung der sittlichen Ordnung für den Zweck des Universums erklärt. So sehr man nun den edlen, reinen Sinn bewundern mag, der sich in diesem Gedanken aussprach, so gern man die belebende und innerlich kräftigende Wirkung anerkennen wird, die von diesem moralischen Idealismus in die deutsche Jugend geströmt ist, so sehr muß man auch zugeben, daß, sowie der Wert, schließlich auch die Begründung dieses Gedankens mehr in dem großen Zug des Charakters als in der nüchternen Beweisführung der Wissenschaft gesucht werden mußte. Die Geschichte selbst hat den Untergrund jener dialektischen Beweisführungen durch seine eigene stetige Wandelbarkeit zerstört, und wir brauchen deshalb nicht besonders auszuführen, daß jener Gedanke einer strengen wissenschaftlichen Begründung bisher entbehrt und stets wird entbehren müssen, weil, um die Möglichkeit irgendeines Zweckes herbeizuführen, immer schon etwas, d. h. also das Universum selbst, da sein muß. Es liegt auch keine Veranlassung dazu vor, weil der auf die Beurteilung nach diesem sittlichen Zweck gegründete, d. h. der FICHTE'sche Pessimismus, auf den sich übrigens die modernen Pessimisten doch lieber nicht berufen sollten, zurzeit, wenigstigens literarisch, kaum vertreten und auch überhaupt für eine Verbreitung in der großen Masse recht wenig geeignet sein dürfte. Denn er appelliert nicht an den freilich überall ein Echo findenden Glückseligkeitstrieb, sondern an den tiefen Ernst sittlicher Betrachtung, und indem er am sittlichen Zweck den gegenwärtigen Zustand der Dinge prüft, muß er ihn verwerfen. Wenn wir die Tendenz auch dieses Pessimismus auf Beurteilung der Welt als unberechtigt zurückweisen müssen, so haben wir doch die Grenzen zu bestimmen, in denen ein solcher ethischer Pessimismus seine Berechtigung hat. Überall nämlich, wo ein wahrhaft sittliches Streben existiert, da wurzelt es in der Überzeugung, daß es anders werden muß in einem gegebenen Zustand, daß einiges nicht ist, was sein sollte, und daß einiges ist, was nicht sein sollte. Jeder sittliche Entschluß enthält deshalb eine auf sittliche Zweckbestimmungen bezogene Verwerfung des gegenwärtigen Zustandes, und wenn man unter diesem moralischen Pessimismus die Überzeugung verstehen will, daß der bestehende Zustand der Dinge noch an irgendeiner Stelle,  die man zunächst selbst vertritt,  dem Ideal sittlicher Gestaltung nicht entspricht, dann muß man gestehen, daß diese Art des Pessimismus - die einzige, deren relative Berechtigung uns zweifellos erscheint - die treibende Kraft in allen edlen Erscheinungen des Menschenlebens ist. Aber eben deshalb beschränkt sich auch das in diesem Pessimismus ausgesprochene Verwerfungsurteil immer auf einen gegebenen Zustand des Menschenlebens und am besten auf die Lebenssphäre des Einzelnen.

Es gäbe endlich noch eine Form, in der das Universum in Bezug auf den sittlichen Zweck beurteilt würde, indem sich das Urteil nicht auf einen augenblicklichen, gegebenen Zustand, sondern darauf bezöge, ob in der ganzen zeitlichen Entwicklung des Universums sich eine Annäherung an die Realisierung des sittlichen Zwecks nachweisen läßt, und ob es demnach zu hoffen steht, daß diese Realisierung einmal wirklich eintritt. In dieser Beziehung war FICHTE eine Zeitlang ebensosehr Optimist, wie er sich in der sittlichen Beurteilung des gegenwärtigen Weltzustandes zum trübsten Pessimismus bekannte. Sollte nun aber diese Frage aus den vagen Begriffsdefinitioinen auf reale Erkenntnisse zurückgeführt werden, so könnte es sich auch hier nicht um die Entwicklung des sittlichen Gedankens im Universum, sondern höchstens um diejenige innerhalb der terrestrischen Organismen handeln. Wer unbedingt dem Darwinismus huldigt, dürfte sich dann, wenn er den vermutlichen moralischen Zustand des Urmenschen mit dem der jetzigen Menschheit vergliche, wohl einer optimistischen Hoffnung hingeben können; wer sich aber lediglich an das historische Material halten würde, der könnte, wie es uns scheint, leicht zu dem SCHOPENHAUER'schen Schluß gelangen, daß zwar die intellektuelle Bildung der Menschheit in der Geschichte die wesentlichen Fortschritte zeigt, daß aber in sittlicher Beziehung vielleicht mehr Klugheit und äußere Beherrschung der Begierden, nicht aber mehr wirklich innerliche Güte und wahre Charakterbildung in der historisch übersehbaren Zeit Platz gegriffen hat. Wenn sich jedoch wirklich nachweisen ließe, daß das sittliche Wesen der Menschheit im ganzen innerhalb der unserer Kenntnis eröffneten wenigen Jahrtausende ebensowenig nachweislich sich verändert hat wie seine äußere Gestalt, so wäre doch immerhin die Möglichkeit einer eben ganz außerordentlich langsamen Umbildung dadurch nicht völlig ausgeschlossen. So wenig deshalb auch in dieser Richtung die Wissenschaft allzu hoffnungsvolle Perspektiven eröffnen kann, so wenig schließt sie solche völlig aus, und sie wird, bei den bisherigen Daten, sicher am besten tun, auch diese Frage  in suspenso  [ungeklärt - wp] zu lassen, - bis zu der Zeit, wenn dieser Planet mit allem, was er trägt, in den heimatlichen Gasball zurückstürzt, oder wenn, "wie unsere Weisen sagen", in eisiger Gleichheit die Bewegungen des Universums auszittern ... ?
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Präludien - Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1907