ra-1p-4ra-2Taubertvon HartmannWindelbandG. BorriesA. Kowalewski    
 
EDUARD von HARTMANN
Zur Pessimismusfrage

"Der Pessimismus ist ebensosehr als Postulat des religiösen Bewußtseins wie als Postulat des sittlichen Bewußtseins zu behandeln. Das religiöse Bewußtsein hat die Sehnsucht nach Erlösung (von Schuld und Übel) zum wesentlichen Inhalt und damit die Erlösungsbedürftigkeit, d. h. die Existenz von Schuld und Übel zur unentbehrlichen Voraussetzung, mit deren Aufhören es sein eigenes Erlöschen als religiöses Bewußtsein vor Augen sähe; will das religiöse Bewußtsein sich selbst als unaufhebbares behaupten, so muß es ebensosehr die Unaufhebbarkeit der Erlösungsbedürftigkeit für die Dauer des Weltprozesses, d. h. die Unentbehrlichkeit des Pessimismus behaupten."

"Die erste Voraussetzung der Möglichkeit einer Empfindungsbilanz ist die, daß man jede Lust- oder Unlustempfindung nur mit demjenigen Größenwert in die Bilanz einstellt, den sie zur Zeit ihrer Aktualität im Bewußtsein wirklich besaß, und unabhängig von allen besserwissenwollenden Gedanken darüber, welchen anderen sie eigentlich und von Rechtswegen hätte besitzen sollen. So wäre es z. B. fehlerhaft, Gefühle darum ganz aus der Bilanz wegzulassen oder mit einem Reduktionskoeffizienten einzustellen, weil sie auf illusorischen Vorstellungen beruhen.


1. Die Beweise und Geltungssphären
des Pessimismus

Ich hatte in einem früheren Aufsatz im 15. Band dieser Zeitschrift versucht, der Frage nach der wissenschaftlichen Erweisbarkeit des Pessimismus näherzutreten; inzwischen ist wiederum eine solche Menge von Abhandlungen, Broschüren und Büchern über den Pessimismus erschienen, daß es mir wünschenswert erscheint, nochmals zur Aufklärung und Präzisierung einiger Punkte das Wort zu ergreifen.

Ich hatte dort die Begründung des Pessimismus eingeteilt in eine empirische, eine psychologische und eine moralische, worunter auch die religiöse schon mit inbegriffen war. Auf eine spezielle Berücksichtigung der religiösen Begründung des Pessimismus im Unterschied von der moralischen wollte ich mich damals noch nicht einlassen, bevor meine Religionsphilosophie ausgearbeitet war. Gegenwärtig, wo ich auf dieselbe verweisen kann, wird es gestattet sein, den Pessimismus ebensosehr als Postulat des religiösen Bewußtseins wie als Postulat des sittlichen Bewußtseins zu behandeln. Das religiöse Bewußtsein hat die Sehnsucht nach Erlösung (von Schuld und Übel) zum wesentlichen Inhalt und damit die Erlösungsbedürftigkeit, d. h. die Existenz von Schuld und Übel zur unentbehrlichen Voraussetzung, mit deren Aufhören es sein eigenes Erlöschen als religiöses Bewußtsein vor Augen sähe; will das religiöse Bewußtsein sich selbst als unaufhebbares behaupten, so muß es ebensosehr die Unaufhebbarkeit der Erlösungsbedürftigkeit für die Dauer des Weltprozesses, d. h. die Unentbehrlichkeit des Pessimismus behaupten. Dieser religiöse Beweis tritt nunmehr selbstständig neben den moralischen, nach welchem das sittliche Bewußtsein sich selbst aufgeben und in eine eudämonistische Pseudo-Moral versinken müßte, wenn die positive Glückseligkeit auf gleichviel welchem Weg erreichbar wäre, weil sich dann niemand mehr abhalten lassen würde, in dieser positiven Glückseligkeit (und nicht mehr in der Sittlichkeit) seinen Daseinszweck zu sehen.

Zum empirischen, psychologischen, moralischen und religiösen Beweis des Pessimismus tritt schließlich als fünfter der metaphysische Beweis hinzu. Dieser wurde in der früheren Abhandlung absichtlich nicht erwähnt, weil er ohne die Annahme gewisser metaphysischer Voraussetzungen gegenstandslos und kraftlos wird, und es mir darauf ankam, den Pessimismus zunächst nur auf dem Gebiet des wirklichen (und möglichen)  weltlichen  Daseins als erweisbar zu konstatieren. Da jedoch neuere Kritiker sich gerade gegen meinen metaphysischen Pessimismus kehren, so scheint es nötig, darauf hinzuweisen, daß neben den ersten vier Beweisen noch ein fünfter existiert, der darauf beruth, zu zeigen, welcher Art das Absolute supponiert [unterstellt - wp] werden muß, um als zureichender Erklärungsgrund der Welt, wie sie nach der Ansicht der Pessimisten gegeben ist, dienen zu können.

Der empirische Beweis ist unabhängig von allen anderen, insbesondere vom psychologischen und metaphysischen Beweis; die Metaphysik der pessimistischen Systeme mag völlig verfehlt, und die psychologischen Ansichten derselben über die Gesetze des Willens und seiner Befriedigung mögen gänzlich irrtümlich sein, so würde dies doch an der Wahrheit des empirischen Beweises nichts ändern. Hätte z. B. HORWICZ (1) darin Recht, daß der eigentliche und einzige psychologische Grund des Pessimismus in den Seelen seiner Bekenner SCHOPENHAUERs Lehre von der Priorität und Grundlosigkeit des Willens sei (was beiläufig bemerkt, eine grundlose Unterstellung ist), so würde auch dann, wenn seine vermeintliche Widerlegung dieses psychologischen Beweises stichhaltig wäre, an der empirischen Wahrheit des Pessimismus als einer überall zu konstatierenden und durch berechtigte Analogien zu erweiternden Tatsache nichts geändert werden.

Ebenso unabhängig wie der empirische Beweis ist der moralische und religiöse Beweis, und zwar jeder für sich. Für den sittlichen oder religiösen Menschen, sofern er sich in sein sittliches oder religiöses Bewußtsein versenkt und dasselbe recht versteht, ist der Pessimismus ein unbedingtes praktisches Postulat, also ein weiterer Beweis für denselben überflüssig. Nur insofern der sittliche und religiöse Mensch nebenbei auch ein wissenschaftliches theoretisches Bewußtsein besitzt, kann er das Bedürfnis haben, sich auch nach anderen Beweisen umzusehen, da vom theoretischen Gesichtspunkt die Möglichkeit offen bleibt, daß sein sittliches und religiöses Bewußtsein samt ihren Postulaten bloße Jllusionen (wenn auch psychologisch notwendige Jllusionen) sind. Vom theoretischen Standpunkt aus betrachtet, sind die Postulate des sittlichen und religiösen Bewußtseins zunächst selbst bloß psychologische Erscheinungstatsachen, und damit zu erklärende Objekte; diejenigen Hypothesen werden ohne Zweifel den Vorzug in wissenschaftlicher Hinsicht verdienen, welche bei gleicher Tauglichkeit zur Erklärung der außersittlichen und außerreligiösen Erscheinungsgebiete auch das sittliche und religiöse Erscheinungsgebiet noch mit zu erklären imstande sind; da es nun bisher nicht gelungen ist, die letzteren als psychologisch notwendige Jllusionen genetisch zu erklären, so muß man entweder auf eine Erklärung derselben verzichten, oder sie unter der Voraussetzung der Wahrheit ihres wesentlichen Ideengehaltes zu erklären suchen. In diesem Sinne dienen das sittliche und religiöse Bewußtsein mit ihren Postulaten dem theoretischen Bewußtsein selbst wieder als empirisches Material zu Induktionsschlüssen, welche dazu beitragen, die Induktionsreihen des empirischen Beweises zu bewähren, d. h. deren Wahrscheinlichkeit zu verstärken. Von einem wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus stellen als der empirische, moralische und religiöse Beweis einen dreiteiligen Induktionsbeweis dar, dessen drei Glieder voneinander unabhängig zum gleichen Ziel führen; dieser Induktionsbeweis in seiner Totalität ist wiederum unabhängig vom psychologischen und metaphysischen Beweis, die beide für die empirisch gegebene Welt entbehrlich wären.

Der psychologische Beweis ist zwar formell kein induktiver mehr, sondern ein deduktiver Beweis, indem er aus den psychologischen Gesetzen des Willens schließt, daß überall, soweit diese Gesetze gültig sind, auch der Pessimismus in Kraft bleibt; inhaltlich aber gehört auch er zu den induktiven Beweisen, da ihm die induktive Ermittlung der Gesetzes des Willens (2) vorhergehen muß. Er macht einerseits die analoge Erweiterung der empirisch konstatierten pessimistischen Tatsachen zwingender, und gestattet andererseits, den Pessimismus auch auf solche Erscheinungswelten auszudehnen, die nicht mehr unter unserer Naturordnung, wohl aber noch unter den psychologischen Gesetzen des Willens stehen. Gäbe es solche "transzendentale" Welten der Individuation im Unterschied von unserer empirisch gegebenen, so würde der Pessimismus für dieselben auch dann gelten, wenn deren Individuen kein sittliches und religiöses Bewußtsein besäßen; besäßen sie hingegen ein solches, so würde auch für jene transzendentale Welten der Pessimismus außer durch den psychologischen Beweis auch noch durch den moralischen und religiösen erhärtet.

Der psychologische Beweis ist zwar anscheinend unabhängig vom empirischen Beweis, wie er es wirklich vom metaphysischen ist; aber es ist doch zu berücksichtigen, daß die psychologischen Tatsachen, aus denen die Gesetze des Willens erschlossen werden, selbst schon einen Teil, und zwar einen höchst wichtigen und für sich allein schon entscheidenden Teil desjenigen Tatsachenkomplexes bilden, aus dem auch der empirische Beweis unmittelbar schöpft. Hieraus erklärt es sich, daß solche Denker, welche sich gegen die Bündigkeit des empirischen Beweises sträuben, auch abgeneigt sind, die Willensgesetze anzuerkennen, aus denen der psychologische Beweis deduziert.

Der metaphysische Beweis hat am wenigsten Selbständigkeit und fügt der Wahrscheinlichkeit des Pessimismus für die Sphäre des wirklichen und möglichen Weltdaseins nichts hinzu; er ruht vielmehr auf der letzteren, insofern dieselbe durch die Summe der übrigen Beweise eine hinreichende Größe erlangt hat, und stellt eine neue auf dieser Basis höher hinauf in das metaphysische Gebiet steigende Induktion dar. Versteht man unter Pessimismus bloß die negative eudämonologische Bilanz des weltlichen Daseins, so hat der metaphysische Beweis überhaupt nichts mehr mit dem Pessimismus zu schaffen, sondern bezieht sich bloß auf gewisse Eigenschaften des Absoluten, welche zu jenem Pessimismus in Beziehung stehen. Versteht man hingegen unter Pessimismus die negative eudämonologische Bilanz des Seienden schlechthin, so bleibt die Möglichkeit offen, daß auch im Absoluten als solchem ebenso wie im weltlichen Dasein eine negative Lustbilanz besteht. Dazu gehören die metaphysischen Voraussetzungen, daß ein Absolutes ist, und daß es fähig ist, entweder Lust und Unlust, oder doch zumindest eines von beiden zu empfinden; unter diesen Voraussetzungen behauptet der metaphysische Beweis, daß, um die negative Lustbilanz in der Welt erklärbar zu machen, auch eine negative Lustbilanz im Absoluten als solchem supponiert werden muß.

Wäre diese Hypothese samt den Schlüssen, auf die sie gebaut ist, falsch, so würde die Wahrheit des Pessimismus in der Sphäre des Weltdaseins von diesem Irrtum gar nicht berührt; es ist eben die Eigentümlichkeit eines induktiven Systems, daß man die letzte metaphysische Spitze herunterstoßen kann, ohne die Basis und den mittleren Teil der Pyramide in ihrer Standfestigkeit zu erschüttern. Dies haben alle jene Kritiker übersehen, welche glaubten, durch die Kritik des metaphysischen Beweises die Prinzipien zu zerstören, aus welchen der gesamte Pessimismus abgeleitet ist; eine solche Verwechslung zwischen deduktivem und induktivem Aufbau eines Systems ist deshalb verzeihlich, weil alle früheren Systeme deduktiv konstruiert sind, und deshalb ein induktives System für die Zeitgenossen noch etwas ganz Neues und Ungewohntes ist, in das die meisten sich noch nicht zu finden wissen.

Aus den verschiedenen Beweisen ergeben sich nun verschiedene Sphären für die Geltung des Pessimismus. Der empirische, moralische und religiöse Beweis beziehen sich auf die Lustbilanz der empirisch gegebenen Welt, und der psychologische dient nur ihren Analogien zur Verstärkung; den hieraus abgeleiteten Pessimismus werden wir den  empirischen  nennen, dessen Geltungsbereich nicht bloß das irdische Leben der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfaßt, sondern auch das Leben auf anderen Planeten, Sonnensystemen und Weltlinsen unserer empirisch gegebenen Welt. Indem der psychologische, moralische und religiöse Beweis über diese emprisch gegebene Welt in ein "transzendentaes" Gebiet übergreifen und auch dort den Pessimismus eventualiter installieren, eröffnen sie eine neue Geltungssphäre; wir werden den ihr entsprechenden Pessimismus  den transzendentalen  nennen. Der empirische wie der transzendentale Pessimismus beziehen sich beide auf eine Welt der Individuation oder auf eine objektive Erscheinungswelt; deshalb werden wir beide unter der Bezeichnung  des phänomenalen  Pessimismus zusammenfassen. Dem phänomenalen Pessimismus steht schließlich  der metaphysische  Pessimismus gegenüber, der es mit der Lustbilanz nicht mehr der wirklichen oder möglichen Welten, sondern des absoluten Weltgrundes zu tun hat. Wird das Seiende als Einheit von Welt und Weltgrund, Erscheinung und Wesen genommen und die Negativität der Lustbilanz für dasselbe behauptet, so erhalten wir schließlich  den absoluten  Pessimismus.

Der transzendentale Pessimismus hat für mich nur eine konditionale Bedeutung in Bezug auf solche Gegner, die den empirischen Pessimismus durch einen transzendentalen Optimismus zu überwinden suchen;  gäbe  es eine transzendentale Welt (etwa im Sinne des christlichen Glaubens oder des Spiritismus) so  wäre  auch für diese der Pessimismus und nicht der Optimismus im Recht. Tatsächlich fällt mir der empirische und phänomenale Pessimismus in eins zusammen, ohne daß für einen transzendentalen Pessimismus Raum bliebe; diesem phänomenalen empirischen Pessimismus steht der metaphysische gegenüber. Der erstere behauptet, die eudämonologische Bilanz der Welt sei  = - a;  der letztere behauptet, die eudämonologische Bilanz im Absoluten sei  = - A.  Sonach behauptet der absolute Pessimismu, als einheitliches Ganzes am empirischen und metaphysischen Pessimismus, die eudämonologische Bilanz des Seienden in seiner Totalität (Einheit von Welt und Absolutem) sei  = - a - A  oder  = - (A + a). 

Die Wahrheit des absoluten Pessimismus ist unabhängig von einem Größenverhältnis zwischen  A  und  a;  wenn auch  A  kleiner als  a  wäre, so bliebt doch  A + a  größer als  a.  Selbst wenn  A = O  würde, bliebe der absolute Pessimismus im Recht, weil die eudämonologische Totalbilanz von Gott und Welt  = -a,  d. h. negativ bliebe; mit anderen Worten, der absolute Pessimismus bliebe in Kraft, auch wenn im Absoluten als solchem entweder ein Empfindungsgleichgewicht oder Empfindungslosigkeit bestände, d. h. der metaphysische Pessimismus als solcher falsch wäre. Erst dann, wenn anstelle des metaphysischen Pessimismus ein metaphysischer Optimismus im Recht wäre, käme es auf das Größenverhältnis von  A  und  a  an, denn die absolute eudämonologische Bilanz hätte dann die Formel  + A - a,  und würde positiv oder negativ, je nachdem  A  größer oder kleiner als  a  wäre. Beide Fälle erscheinen durch den konditionalen transzendentalen Pessimismus in gleicher Weise ausgeschlossen, welcher die Hoffnung für illusorisch erklärt, daß die Unseligkeit der Welt nur ein Durchgangsmoment zu einem späteren oder anderweitigen seligen Weltdasein sein könne; eine für immer zur Unseligkeit verdammte Welt neben einem seligen Gott ist aber eine ganz unmögliche Annahme, mag die Seligkeit des Gottes größer oder kleiner sein als die Unseligkeit der Welt. Mithin bleibt nur die Alternative übrig, daß die eudämonologische Bilanz im Absoluten  = O  oder negativ sei; wie auch die Entscheidung ausfallen mag, immer bleibt der absolute Pessimismus im Recht, sofern nur der phänomenale Pessimismus eine Wahrheit ist. Man sieht hieraus, daß alles auf den Beweis des phänomenalen Pessimismus und gar nichts auf den Beweis des metaphysischen Pessimismus ankommt, um den absoluten Pessimismus sicher zu stellen.

Im metaphysischen Pessimismus oder der Behauptung der Unseligkeit des Absoluten sind wiederum zwei begrifflich verschiedene Seiten zu unterscheiden: die innerweltliche und die außerweltliche Unseligkeit des Absoluten. Die  innerweltliche  Unseligkeit des Absoluten ist nach meiner Auffassung nicht eine andere Unseligkeit als die der Welt; denn um dies sein zu können, müßte das Absolute für sich ein Bewußtsein haben, welches ihm ein Spiegelbild des Weltleids darbietet. Die innerweltliche Unseligkeit des Absoluten ist vielmehr numerisch identisch mit der Weltunseligkeit; was in der Welt als eine Summe von Leiden aller empirischen Subjekte erscheint, ist, auf das Absolute als Wesen und Träger der Erscheinungswelt bezogen, ein Leid des absoluten Subjekts. Diese innerweltliche Unseligkeit des Absoluten kann mithin auch nicht doppelt gebucht, d. h. nicht mehr zum Weltleid addiert werden, da es  derselbe  eudämonologische Wert ist, nur das eine Mal aus phänomenalem, das andere Mal von einem metaphysischen Gesichtspunkt aus betrachtet. Die innerweltliche Unseligkeit des Absoluten ist also bereits im  - a  gesetzt, sofern es auf das absolute Subjekt als auf seinen Träger bezogen wird, und ist nicht im  - A  zu suchen. Trotzdem ist diese Betrachtung der Summe des Weltleids aus dem Gesichtspunkt des absoluten Subjekts nicht überflüssig, weil die motivierende Kraft des Mitleids mit dem Weltleid dadurch erhöht wird, wenn es nicht bloß ideell im betrachtenden Subjekt, sondern auch reell im absoluten Subjekt in Eins gefaßt wird, und so dem  instinktiven Einheitsgefühl,  mit welchem der Mensch dem Weltleid gegenüber steht, eine transzendentale Grundlage und durch die Erhebung des Weltschmerzes zum Gottesschmerz eine punktuelle Konzentration gegeben wird.

Diese Übertragung der Bilanz von der Erscheinungswelt auf ihr einheitliches Wesen ist ferner keine neue Hypothese zur Erklärung der Welt, wie es die Annahme der außerweltlichen Unseligkeit im Absoluten ist, sondern bloß eine unabwendbare Schlußfolgerung aus der Metaphysik des konkreten Monismus. Diese innerweltliche Unseligkeit Gottes genügt auch vollständig den Bedürfnissen des sittlichen und religiösen Bewußtseins, insbesondere dem Postulat der universellen Erlösung als einer Erlösung Gottes selbst durch den Weltprozeß, ohne daß es zu diesen praktischen Zwecken der Annahme einer außerweltlichen Unseligkeit Gottes bedürfte. Diese hinzukommende Hypothese dient lediglich dem theoretischen Interesse des Erkenntnisdrangs, der nach einem Grund dafür sucht, daß Gott sich absichtlich in die innerweltliche Unseligkeit gestürzt hat, obwohl er dazu durch nichts gezwungen war. Diesen Grund sehe ich im Bestand einer außerweltlichen Unseligkeit, von welcher Gott durch die universelle Erlösung zugleich mit erlöst werden will; ich habe diese Annahme umso lieber akzeptiert, als sie durch die Folgerungen aus der Natur des Willens, befreit von seinen individuellen Schranken (3), ungezwungen bestätigt wird.

Wem diese Annahme nicht gefällt, der mag die Lücke im System nach seinem Belieben offen lassen oder anders auszufüllen versuchen; für die ethischen und religiösen Konsequenzen meines Systems ist das ebenso gleichgültig wie für den Bestand des absoluten Pessimismus. Diese Verhältnisse sind von denjenigen Kritikern völlig verkannt, welche sich einbilden, mit dem Begriff der "außerweltlichen Unseligkeit" des Absoluten einen der Grundpfeiler meines Pessimismmus und meiner Ethik zerstört zu haben. (4)

Lassen wir also die Frage nach der außerweltlichen Unseligkeit des Absoluten als eine praktisch irrelevante Frage von bloß metaphysisch-theoretischem Interesse hier beiseite, so bleibt noch ein Einwand zu erwähnen, der sich gegen die innerweltliche Unlust richtet: da der Wille des Absoluten in der Welt seine "Erfüllung" findet, so müßte derselbe, ungeachtet aller Unlust der Individuen in der Welt, eigentlich als erfüllter Wille Lust sein, und dürfte doch mindestens, wenn Lust beim Mangel des Bewußtseins im Absoluten als solchen ausgeschlossen sein soll, nicht mehr Unlust sein können (5). Hierauf ist folgendes zu bemerken: "Erfüllung" des Willens ist doppelsinnig; es bedeutet erstens die Gewinnung eines idealen Inhalts für die an und für sich leere Form des Willens, und zweitens die Erreichung des gewollten Ziels. Nicht im ersteren, nur im letzteren Sinn liegt in der Erfüllung des Willens auch seine Befriedigung und damit die Möglichkeit zum Bewußtwerden der Lust. Sofern also der absolute Wille nur im ersteren Sinn "erfüllter" Wille ist, liegt damit in ihm noch keine der Bedingungen für die Entstehung von Lust, und es fragt sich, ob er auch im letzteren sinn ein erfüllter Wille ist. Von Schopenhauers Standpunkt aus, wo der Wille eigentlich gar kein Ziel hat, sondern sich mit der Realisierung seines jeweiligen, zufälligen (weil blind gesetzten) Inhalts erschöpft, könnte man versucht sein, die Frage zu bejahen, wenn man eben in der Realisation des Inhalts das Ziel erreicht sieht; von meinem Standpunkt aus muß die Frage entschieden verneint werden, weil als das Ziel des absoluten Willens hier nur der Endzweck des Weltprozesses gelten kann, der durch die Verwirklichung eines jeweiligen Inhalts aber noch nicht erreicht (sondern nur sehr indirekt vorbereitet) wird. Ist das ideenerfüllt absolute Wollen streng genommen ein ziellos blindes Wollen und als solches einer teleologisch zufälligen Notwendigkeit unterworfen, so ist es kaum noch ein Wollen zu nennen und von demjenigen, was wir als Wollen kennen, zu weit entfernt, um noch die Gesetze der Lust- und Unlustenstehung auf dasselbe anzuwenden; bei SCHOPENHAUER kann man nicht sagen, daß das Absolute das Weltleid "mit Willen", d. h. mit zweckvoller Absicht, auf sich genommen hat. Ist hingegen das absolute Wollen ein zielvolles, seinem Inhalt nach teleologisch determiniertes Wollen,, so würde man ihm in jedem Moment des Weltprozesses doch immer noch keine absolute, sondern nur eine relative Befriedigung und daneben eine relative Nichtbefriedigung zuschreiben können: erstere darüber, daß das Ziel wieder um einen Schritt näher gerückt ist, letztere darüber, daß es noch immer unerreicht ist. Zu beiden fehlt es aber an der nötigen Vorbedingung, einem perzipierenden Bewußtsein im Absoluten; die Befriedigung und Nichtbefriedigung bleiben unbewußt und kommen nicht dazu, Empfindung zu werden. Das Absolute hat also nach meiner Auffassung das Weltleid zwar absichtlich oder "mit Willen" auf sich genommen, aber erstens ist es sich dessen nicht bewußt, und zweitens hört ihm das Weltleid darum nicht auf Leid zu sein, weil es dasselbe zu einem fernen, noch nicht einmal erreichten Endzweck freiwillig auf sich genommen hat. Dadurch, daß er freiwillig zum Zahnarzt ging, ist das Zahnausziehen noch niemandem zum Genuß geworden, und wenn meine Hände einander drücken, so fühle ich den Schmerz beider, den jede Hand nur einzeln fühlt. Es bleibt also dabei, daß für die innerweltliche Lustbilanz im Absoluten kein neuer Summand oder Faktor hinzutritt, der nicht schon im empirischen Pessimismus in Rechnung gestellt wäre; andererseits geht aber auch kein Bestandteil des gesamten Weltleids für das absolute Subjekt als immanentes Weltwesen verloren.

Aus diesen Bemerkungen dürfte zur Genüge hervorgehen, daß der Streit um die Wahrheit oder Unwahrheit des absoluten Pessimismus nicht durch metaphysische Diskussionen zum Austrag gebracht werden kann, sondern auf empirischem Gebiet, d. h. für und wider die Gültigkeit und Tragweite des empirischen, moralischen und religiösen Beweises weiter geführt werden muß. Der religiöse Beweis (6) harrt noch seiner Kritiker; auf die gegen den moralischen Beweis erhobenen Einwendungen einzugehen, würde eine besondere Abhandlung erfordern. Ich will mich deshalb hier damit begnügen, zum Schluß einige Bemerkungen über die Einwürfe anzufügen, welche HORWICZ gegen die Grundlage des empirischen Beweises, d. h. gegen die Möglichkeit und Zulässigkeit einer eudämonologischen Bilanz erhoben hat.


2. Die Möglichkeit der Empfindungsbilanz.

Die  erste  Voraussetzung ist die, daß man jede Lust- oder Unlustempfindung nur mit demjenigen Größenwert in die Bilanz einstellt, den sie zur Zeit ihrer Aktualität im Bewußtsein wirklich besaß, und unabhängig von allen besserwissenwollenden Gedanken darüber, welchen anderen sie eigentlich und von Rechtswegen hätte besitzen sollen. So wäre es z. B. fehlerhaft, Gefühle darum ganz aus der Bilanz wegzulassen oder mit einem Reduktionskoeffizienten einzustellen, weil sie auf illusorischen Vorstellungen beruhen  (Horwicz  Seite 277). Ebenso fehlerhaft wäre es, eine Empfindung  a  so in Rechnung zu stellen, wie sie sich bei gleicher objektiver Reizgröße in der Seele entwickelt haben würde, wenn sie das Bewußtsein zur Zeit allein erfüllt hätte, während tatsächlich ihre Entfaltung durch die gleichzeitigen Empfindungen  b, c, d  beschränkt und gehemmt war (Seite 268). Falsch wäre es ferner, den Rechnungswert einer vergangenen Empfindung nachträglich danach modifizieren zu wollen, wie die Erinnerung an die sie damals veranlassenden Vorgang unser Gemüt gegenwärtig beim Rückblick auf die Vergangenheit affiziert (Seite 272, 273); die Lust der Erinnerung an überstandene Nöte und Leiden und die Bitterkeit des Kontrastes zwischen genossenem Glück und nunmehriger Entbehrung sind selbständige gegenwärtige Empfindungen, welche ebenso reinlich in die Bilanz eingestellt werden müssen wie die tatsächlich durchlebten Empfindungen der Vergangenheit. Die Aufzählung der durch eine solche Exaktheit bedingten Schwierigkeiten kann doch keinesfalls den Begriff der eudämonologischen Bilanz erschüttern, sie sind nicht einmal derart, um die praktische Ausführbarkeit der Sache in Frage zu stellen.

Die  zweite  Voraussetzung der Bilanz ist, daß  Lust  und Unlust sich wie mathematisch positive und negative Größen zueinander verhalten, sofern rein auf die Größe der Lust und Unlust und nicht auf die nebenherlaufenden Qualitätsbestimmungen der Gefühle reflektiert wird. Wenn in einer bestimmten Frist ein Mensch die Lust  + a  und die Unlust  - a  erlebt hat, ein anderer in derselben Frist bewußtlos gewesen oder die Empfindung  ± 0  erlebt hat, so haben sicher beide Verschiedenes erlebt; der erste hat die Gefühlsbewegung  2a  durchgemacht, der andere gar keine. Wenn man aber fragt, wer von beiden in eudämonologischer Hinsicht den besseren Teil erwählt hat, so wird der bewußtlose wahrscheinlich den Vorzug verdienen, da  + a  und  - a  sich für die Empfindung nicht nur nicht ausgleichen, sondern sogar einen negativen Überschuß lassen. Diese Erscheinung psychologisch zu begründen ist hier nicht meine Aufgabe, es genügt, dieselbe zu konstatieren; der tatsächliche Beweis liegt darin, daß jeder Mensch die Freiheit von Lust und Unlust dem Erkaufen einer Lust durch eine gleich große Unlust vorzieht, sofern er nicht die Nichtbetätigung des Willens in der Ruhe als eine so große Unlust  - b  empfindet, daß sie ihn zwingt, die Summe  - a + a  als das kleinere der beiden Übel vorzuziehen.

Gegen die Tatsache, daß Lust und Unlust kommensurable Größen sind, und zwar solche mit entgegengesetztem Vorzeichen, ist schlechterdings nicht aufzukommen; jeder Mensch und jedes Tier bestätigt dieselbe in jedem Augenblick seines Lebens. Denn jede Lust wird als eine Größe geschätzt, für deren Erlangung man bereit ist, eine gewisse Größe der Unlust in Kauf zu nehmen, welche man aber ablehnt, mit einer den Schätzungswert übersteigenden Unlust zu bezahlen; die Ungenauigkeit der Schätzung drückt sich darin aus, daß man innerhalb gewisser Grenzen im Zweifel darüber ist, ob sich das Opfer lohnt oder nicht. Man braucht diese Tatsachen nur mathematisch zu lesen: die Kommensurabilität oder die Meßbarkeit beider Größen durch ein gemeinsames Maß konstatiert ihre Gleichartigkeit, und die Entgegengesetztheit ihrer Vorzeichen ist daraus zu ersehen, daß sich bei einer algebraischen Summierung beider Größen ihre absoluten Werte nicht addieren, sondern subtrahieren. Jeder Mensch und jedes Tier stellt eine solche Erwägung fortwährend nicht nur in Bezug auf Empfindungen von derselben Qualität, sondern noch weit häufiger in Bezug auf Empfindungen verschiedener Qualität an, und konstatiert damit, daß praktisch und faktisch von der Qualität der Empfindungen abstrahiert und nur deren Größenwert als Lust- und Unlustempfindungen in Vergleich gestellt wird. Alles Gerede von der Unvergleichbarkeit verschiedenartiger Empfindungen (z. B. der höheren und niederen, der sinnlichen und geistigen (z. B. der höheren und niederen, der sinnlichen und geistigen - Seite 276) muß verstummen vor der nicht umzustoßenden Tatsache, daß das ganze natürliche Seelenleben mit allen natürlich determinierten Willensentscheidungen lediglich durch den Vergleich verschiedenartiger eventueller Empfindungen zustande kommt, und ohne die Vergleichbarkeit derselben nach ihrem Größenwert jeder Willensentschluß unmöglich würde.

Der einzige Einwand, den HORWICZ gegen die Entgegengesetztheit des Vorzeichens in Lust und Unlust vorzubringen weiß, ist die Tatsache, daß ein allmählich wachsender Hautreiz erst die Unlust des Kitzesl, dann die Lust des Juckens und schließlich Schmerz hervorbringt, und daß es doch nirgends vorkommt, daß positive Werte auf einmal wieder negativ werden (Seite 270-271). Hierbei ist übersehen, daß die Haut mit ihren verschiedenen Geweben und Nervenenden (ebenso wie das Auge) ein sehr kompliziertes Organ ist, in dem durch denselben Reiz nicht bloß eine, sondern sehr viele verschiedene Empfindungen erregt werden; bei ganz schwachen Reizen sind mehrere dieser Empfindungen noch unter der Schwelle, bei stärkeren Reizen verdecken die stärkeren Empfindungen jene anderen schwächeren, die vorher allein ins Bewußtsein gelangten, und die nicht proportional mit der Reizstärke mitwachsen. Was stetig wächst, sind also nur die Reize und nicht die Empfindungen, von denen immer einige für das Bewußtsein gleich Null sind; was scheinbar ins entgegengesetzte Vorzeichen umschlägt, sind dagegen nicht die Reize, sondern nur die Empfindungen, und auch diese bloß scheinbar, während es in Wirklichkeit verschiedene Empfindungen sind, die einander in einer schillernden Übergangsperiode ablösen, wie Nebelbilder aus zwei Apparaten auf demselben Vorhang. Dieser Einwand entspringt also nicht nur aus einer oberflächlichen, sondern auch aus einer konfusen (d. h. die Wandelungen im Reiz mit den Wandelungen in der Empfindung konfundierenden [vermengenden - wp]) Aufassung des gewählten Beispiels.

Die  dritte  Voraussetzung der Bilanz ist, daß der reine Größenwert der Lust- und Unlustempfindung als solchen  das Produkt aus Intensität und Dauer,  und unabhängig von allen sonstigen Faktoren ist; dies ist schon von MAUPERTUIS auf das Klarste entwickelt worden und von KANT in seiner kritischen Periode akzeptiert. Wenn die sogenannten "höheren" Gefühle die niederen überwiegen, wenn z. B. das Ehrgefühl oder der sittliche Stolz oder die religiöse Begeisterung die größten Qualen auf sich nimmt (Seite 269) und die stärkste Furcht, die vor dem Tod, überwindet, so beweist das doch nur, daß in diesen Fällen das betreffende höhere Gefühl der Summe der niederen an Intensität oder Dauer, oder an beiden, überlegen ist. Wenn die kleinste Äußerung des Ehrgefühls bei einem bestimmten Menschen den größten vereinigten Äußerungen der niederen Gefühle überlegen bleibt (Seite 283), so heißt das doch nichts anderes, als daß bei diesem bestimmten Menschen jede, auch die bei scheinbar unbedeutender Veranlassung zutage tretende, Äußerung des Ehrgefühls stärker und mächtiger ist als alle Gefühle, die mit ihm konkurrieren könnten. Soll das Ehrgefühl imstande sein, die übrigen Gefühle zu überwiegen und zu beherrschen, so muß es eben in demjenigen mächtiger sein, worin es mit jenen andern kommensuralbel, d. h. in Bilanz zu stellen ist; kommensurabel aber ist es mit den andern nur in demjenigen, worin es ihnen gleichartig ist, nicht in demjenigen, worin es ihnen ungleichartig. Die Überlegenheit des Ehrgefühls über die niederen Gefühle in Bezug auf den unvergleichlichen Gehalt seiner qualitativen Bestimmtheit mag noch so groß sein, so kann dieselbe doch direkt gar nichts dazu beitragen, jene anderen Gefühle zu überwiegen, weil sie gar nicht auf dieselbe Waage gelegt werden kann; nur indirekt kann sie von Einfluß werden, indem sie diejenigen Faktoren im Ehrgefühl steigert, durch welche es den niederen Gefühlen gleichartig ist. Diese gleichartigen Faktoren sind aber nur Intensität und Dauer der Lust- und Unlustempfindung als solcher; etwas Drittes ist nicht anzugeben. Sonach kann es nichts anderes als das Produkt von Intensität und Dauer sein, womit die Gefühle faktisch als Motive gegeneinander in eine Bilanz treten, und theoretisch miteinander in eine Bilanz gestellt zu werden fähig sind. Alle Bedenken gegen diese Ansicht als gegen eine für die Herrschaft der höheren geistigen Triebe gefährliche, beruhen auf leeren Vorurteilen und mangelhafter psychologischer Beobachtung; wo die niederen Gefühle faktisch noch überwiegen, ist aller Appell an die höheren Gefühle ohnehin vergeblich, - wo aber dieser Appell nicht vergeblich ist, da ist eben der Beweis geliefert, daß die höheren Gefühle durch das Produkt ihrer Intensität und Dauer die niederen überwiegen.

Mit den gemachten drei Voraussetzungen:  erstens:  Einstellung der Gefühle nach ihrem wirklich erlebten Größenwert ohne willkürliche Änderung,  zweitens:  Verhalten der Lust und Unlust zueinander als gleichartiger Größen mit entgegengesetzten Vorzeichen, und  drittens:  Abhängigkeit ihrer mathematischen Größe allein von ihrer Intensität und Dauer - sind nun aber auch alle Bedingungen für die Aufstellung einer eudämonologischen Bilanz erschöpft. Die bisher nicht erwähnten Einwendungen von HORWICZ fußen durchweg auf der angenommenen Notwendigkeit weiterer Voraussetzungen, die ich für irrtümlich erklären muß. HORWICZ behauptet nämlich: damit eine eudämonologische Bilanz möglich wird, müßten sich erstens zwei gleich große entgegengesetzte Empfindungen reell zu einer Null-Empfindung aufheben (Seite 267, 269, 270, 272); um dies zu können, müßten sie zweitens in demselben aktuellen Bewußtseinsmoment zusammentreffen, dürften also drittens nicht verschiedenen Lebensperioden desselben Subjekts (Seite 272-273) und viertens noch viel weniger verschiedenen Subjekten angehören (Seite 274).

Wären diese Behauptungen richtig, so hätte es nur ihrer Zusammenfassung in einen Satz und keiner langen Abhandlung bedurft, um die Unmöglichkeit einer eudämonologischen Bilanz sowohl für die Welt wie für die Lebensdauer eines Individuums selbstverständlich erscheinen zu lassen, sie sind aber lediglich Erzeugnisse eines groben Mißverständnisses. Alle Axiologie, sei sie optimistisch oder pessimistisch, spricht von einer eudämonologischen Bilanz immer nur in Bezug auf die  Vorstellungen welche ein Bewußtseinssubjekt von den realen Empfindungen in seinem Bewußtsein hat und dort rechnungsmäßig verknüpft; diese rechnungsmäßige Vorstellungsverknüpfung gibt dann wahrheitsgemäße Aussagen über die Verhältnisse der realen Empfindungen. Dies war mit hinreichender Deutlichkeit in meinen Gleichnissen vom Überwiegen der Birnen oder der Äpfel auf einem Tisch, oder von demjenigen der rechtläufigen oder rückläufigen Kometen in unserem Sonnensystem (im Anfang meiner früheren Abhandlung) ausgesprochen. Damals wurde dort ausdrücklich gesagt, daß es sich dabei zwar um ein reales, durch Gedankenoperationen zu erschließendes Faktum, aber keineswegs um eine reale Einheit der verglichenen und zusammengefaßten Objekte, und noch weniger um eine Bewußtseinseinheit, ja nicht einmal um eine anschaulich zusammenfassende Wahrnehmung eines Dritten handelt. Nach HORWICZ wäre es nur dann zulässig, zu behaupten, daß die hier auf dem Tisch liegenden  a  Äpfel von den  a + n  Birnen um den Saldo  n  überwogen werden, wenn die  a  Äpfel sich mit den  a  Birnen nicht bloß gedanklich aufwiegen, sondern auch  reell zur Null aufzehren.  HORWICZ verkennt eben, daß jedes Kalkül ohne Ausnahme es nicht mit den realen Dingen, sondern bloß mit Vorstellungen von denselben zu tun hat, und erst dadurch möglich wird; die Rechenmaschine wird nie erfunden werden, in er man rechts die Leinwand und links die Mark und Pfennige hineinstopft, und an der man dann solange dreht, bis das Resultat "herauskommt".

Ob zwei im Bewußtsein reell zusammentreffende entgegengesetzte Empfindungen von gleicher Größe sich zur Nullempfindung aufheben würden, wenn sie keinerlei qualitative Verschiedenheiten neben ihrem gleichen Größenwert hätten, können wir aus der Erfahrung nicht ermitteln, da es weder abstrakte Lust- und Unlustempfindungen ohne weitere qualitative Bestimmtheit, noch auch entgegengesetzte Empfindungen von völlig gleicher qualitativer Bestimmtheit gibt. Die Mischung der Gefühle ist in Wirklichkeit so verwickelt, daß shcon der Übergang von Lust in Unlust auf demselben Gebiet und umgekehrt genügt, um ganz verschiedene begleitende Empfindungen auszulösen und durch die Verschmelzung mit diesen den Hauptempfindungen eine ganz verschiedene Färbung zu verleihen. Es handelt sich aber auch niemals darum, ob zwei Empfindungen, wenn sie ein einem Bewußtseinsmoment zusammentreffen würden, sondern immer nur darum, ob die Gleichzeitigkeit oder rasche Aufeinanderfolge beider Empfindungen dem Ausbleiben beider vorgezogen wird oder umgekehrt; im ersteren Fall ist ihre Bilanz positiv, im letzteren Fall negativ. Steht eine Willensentschließung in Frage, so sind die eventuelle eintretenden Empfindungen durch die gegenwärtige Vorstellung abzuschätzen; steht aber die eudämonologische Bilanz eines vergangenen Zeitabschnitts in Frage, so sind die früher erlebten, vergangenen Empfindungen durch die gegenwärtige Vorstellung abzuschätzen. Die sogenannte Abschätzung  gegenwärtiger  Empfindungen ist in Wirklichkeit immer eine Abschätzung  vergangener  Empfindungen, da über den gegenwärtigen Bewußtseinsinhalt im strengsten Sinne nicht auch schon wieder vom Bewußtsein reflektiert werden kann; es gibt also nur konditionale Zukunftsschätzungen und reelle Vergangenheitsschätzungen. Erstere sind offenbar schwieriger als letztere, da sie sich auf noch nicht erfahrene, sondern nur nach Analogie erschlossene Objekte beziehen, deren Bedingungen nicht alle genügend bekannt sind; wenn erstere trotzdem möglich sind, wie die Tatsache jeder Willensentscheidung auf ihrer Basis beweist, so müssen die letzteren erst recht möglich sein, und können alle Deklamationen über die Schwierigkeiten derselben an ihrer Möglichkeit nicht rütteln.

Da nicht die Empfindungen selbst, sondern nur die gegenwärtigen Vorstellungen von denselben, d. h. ihre wahrheitsgemäßen Abbilder, in der Bilanz zusammengestellt werden, so fällt jeder Grund weg, die vergleichende Abschätzung von Empfindungen zu verbieten, welche zu verschiedenen Zeiten erfahren sind, vorausgesetzt, daß dieselben der Erinnerung noch deutlich genug gegenwärtig sind. HORWICZ vergleicht (Seite 272) dieses Verfahren mit der Aufstellung einer kaufmännischen Bilanz, in welcher neben den gegenwärtigen Aktiva auch ein vor Jahren besessenes Rittergut figuriert. Dieser Vergleich beweist auf das Deutlichste, HORWICZ keine Ahnung hat von der Aufgabe, um die es sich bei der eudämonologischen Bilanz handelt; denn sonst könnte er dieselbe nicht mit der Bilanz eines  Kapital kontos parallelisieren, anstatt sie derjenigen des  Gewinn- und  Verlust kontos analog zu setzen. Das Kapitalkonto handelt von einem Vermögensbestand des  gegenwärtigen  Augenblicks, das Gewinn- und Verlustkonto von den Gewinnen und Verlusten während einer bestimmten, der  Vergangenheit  angehörigen Periode. Die absurde Gedankenlosigkeit, welche HORWICZ mit der Hereinziehung der Vergangenheit in das gegenwärtige Kapitalkonto den Verteidigern einer eudämonologischen Bilanz anhängen wollte, fällt also lediglich auf ihn zurück.

Für die gedankliche Kombination der Bilanzposten ist allerdings die Einheit des Bewußtseinssubjekts erforderlich, von welchem sie als Vorstellungen umspannt werden; nicht aber ist es nötig, daß auch die verglichenen Empfindungen als aktuelle ein und demselben Bewußtseinssubjekt angehört haben, sofern nur der Vorstellende auf irgendeinem Weg imstande war, eine wahrheitsgemäße Vorstellung von denselben zu gewinnen. Die Mitteilung durch Worte, oder die Schlußfolgerung aus dem Benehmen und Handeln kommt freilich an Präzision der inneren Selbstbeobachtung nicht gleich, ist aber dafür auch objektiver und unbefangener, d. h. frei von den Fehlerquellen, welche die Erinnerungen an selbsterlebte Empfindungen zu trüben drohen. Jeder Mensch schätzt fortwährend bei seinen Willensentschließungen die Empfindungen dritter Personen gegeneinander und gegen die seinigen ab, welche durch die eine oder die andere Art seines Handelns eventuelle hervorgerufen werden würden; wäre eine solche Abschätzung unmöglich, so kämen alle Motive für mich in Wegfall, welche aus der Alteration [Veränderung - wp] des Empfindungslebens dritter Personen für mich entspringen, oder es hörte zumindest ihre praktische Wirkungsfähigkeit auf, die nur auf der Abschätzbarkeit und Vergleichbarkeit dieser Empfindungen beruth. Der Sozialeudämonismus würde durch eine solche Annahme ebenso unmöglich, wie der Individualeudämonismus es durch die Annahme der Unvergleichbarkeit der eigenen Empfindungen würde.

Die Schwierigkeiten der Abschätzung verschiedenartiger Empfindungen gegeneinander wachsen offenbar mit dem Grad der Abstraktion, welche erforderlich ist, um ihren reinen Größenwert als Lust- oder Unlustempfindung von ihrer qualitativn Bestimmtheit zu sondern; deshalb ist der Vergleich umso leichter, und das Fazit umso sicherer, je gleichartiger die verglichenen Empfindungen sind. Die Bilanzaufstellung trägt diesem Verhältnis dadurch Rechnung, daß sie der relativen Abschätzung verschiedenartiger Empfindungen möglichst ausdem Weg geht, d. h. jedes Empfindungsgebiet im menschlichen Seelenleben möglichst für sich untersucht und in eine Spezialbilanz zusammenfaßt. Ergibt sich nun, daß jede einzelne dieser Spezialbilanzen für sich genommen einen negativen Saldo liefert, so bleibt die Abschätzung derselben gegeneinander gänzlich erspart, da sich alle diese negativen Spezialsaldos zu einem negativen Totalsaldo einfach addieren.

Ganze ebenso sind die noch größeren Schwierigkeiten zu umgehen, welche sich aus der Abschätzung der Empfindungen verschiedener Subjekt gegeneinander ergeben; man zieht für jedes Individuum den persönlichen Saldo seines Lebens, und da alle negativ ausfallen, so hat man sie nur zum universalen Weltsaldo zu addieren. Selbstverständlich gewinnt man die Überzeugung von der Negativität der Weltbilanz lange bevor man mit der Aufstellung aller persönlichen Spezialbilanzen zu Ende ist, da man sieht, daß in jedem untersuchten Individualleben ein negatives Fazit herauskommt, und daraus nach Analogie auf alle nicht untersuchten weiter schließt. Dieser Analogieschluß wird befestigt dadurch, daß die Untersuchung aller besonderen Empfindungsgebiete vorausgegangen ist, aus deren verschiedenartiger Mischung sich das Seelenleben aller Individuen ohne Ausnahme zusammensetzt.

Hiermit kommen auch diejenigen Bedenken in Wegfall, welche aus der Unendlichkeit der Lösungsarbeit gegen die Lösbarkeit der Aufgabe geschöpft werden. Der empirische Beweis des empirischen Pessimismus ist unerschüttert von allen Einwendungen, welche bisher gegen die Wissenschaftlichkeit der gestellten Aufgabe und gegen die wissenschaftliche Lösbarkeit derselben erhoben worden sind. Wenn der empirische Pessimismus gleichwohl so sehr bekämpft wird, so ist diese Gegnerschaft genügend erklärbar teils aus der Neuheit seines Auftretens in Europa, teils aus den psychologischen Motiven und aus den Fehlerquellen bei der Schätzung der eigenen Lustbilanz, die vom Pessimismus selbst aufgedeckt sind.

LITERATUR - Eduard von Hartmann, Zur Pessimismusfrage, Philosophische Monatshefte, Bd. 19, Heidelberg 1883
    Anmerkungen
    1) ADOLF HORWICZ, Die psychologische Begründung des Pessimismus, Philosophische Monatshefte, Bd. 15
    2) Gegen HORWICZ bemerke ich, daß ich die "Grundlosigkeit" des (individuellen) Willens niemals behauptet, sondern stets bestritten habe, daß aber an der "Priorität" des Willens vor dem Gefühl schwerlich durch eine Theorie der Empfindung zu rütteln sein dürfte, welche, wie die von HORWICZ die Unlust zu einem Akzidenz der Lust macht (Seite 278). Es ist dies gerade ebenso verkehrt, wie die Lust zu einem Akzidenz [zufälliges Merkmal - wp] der Unlust machen zu wollen; vielmehr sind beide koordinierte Erscheinungen und in ihrer Gleichberechtigung offenbar Akzidenzen eines Dritten, wobei dieses Dritte in nichts anderem als im Willen zu finden ist.
    3) Hier kommt auch die "Grundlosigkeit" des absoluten Willens zu ihrem Recht, ohne daß dieselbe rückwärts irgendeinen Einfluß auf die Begründung des phänomenalen Pessimismus üben würde.
    4) Vgl. z. B. JOHANNES REHMKE, Der Pessimismus und die Sittenlehre" (Leipzig und Wien 1882, Seite 69-71); BORRIES, Über den Pessimismus als Durchgangspunkt zu universaler Weltanschauung (Münster 1880, Seite 44-53).
    5) JOHANNES REHMKE, a. a. O., Seite 71-73
    6) EDUARD von HARTMANN, Die Religion des Geistes, Seite 50-55, 89-102, 152-155, 180-183, 235-237, 255-268, 303-306.