ra-2ra-1p-4J. BaumannG. KerschensteinerP. RéeR. Wahle    
 
FRANZ WOLLNY
Über Freiheit und Charakter
des Menschen

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"Da die einzelnen konkreten Willensakte sich als von unterschiedlicher Beschaffenheit erweisen und in gewisse Arten ganz eigentümlichen Wollens spezifiziert werden müssen, so werden wir nicht  ein, sondern ebensoviele subjektive Vermögen, eigentümlich zu wollen, als es Arten des Wollens gibt, vorauszusetzen haben."

"Das menschliche Handeln, auf das sich die Moral bezieht, ist kein Gegenstand, welcher schon diesseits aller Erfahrung im reinen Denken erzeugt oder gegeben werden könnte. Es gibt nichts derartiges, wie einen allgemeinen, zunächst auf gar kein Objekt gerichteten Willen, dessen man sich vor aller tatsächlichen Berührung mit der Außenwelt und vor allem bestimmteren Wollen etwa bewußt sein könnte."

"Nach  Kants  Ansicht bezieht sich unser Denken niemals auf die unabhängig von uns, außerhalb von uns wirklich existierenden Dinge, sondern lediglich und einzig und allein auf bloße Phänomene, d. h. nur auf die Erscheinungen, welche jene in den Formen unserer reinen Anschauung und unseres Denkens darbieten. Auf letztere kann sich immer nur unser Urteil erstrecken und wir sind nicht imstande zu erkennen, was die Dinge  ansich sind."

"Es ist ersichtlich, daß man die kantische Trennung zwischen Ding-ansich und Erscheinung nicht akzeptieren darf, wenn man seinem Verstand nicht Zumutungen gestellt wissen will, die derselbe als unnatürlichen, ihm auferlegten Zwang erkennen muß."



I. Der vulgäre Freiheitsbegriff
und das Kausalitätsgesetz

Als geläufigste und populärste Vorstellung, die man von der menschlichen Freiheit hegt, kann heutzutage wohl immer noch gelten, daß sie ein Vermögen bedeutet, welches den Menschen der Nötigung durch die Motive zum Handeln enthebt. Man meint, der Mensch, wenn er sich wirklich in der Richtung empirischer Bestimmungen betätigt, sei doch hierzu nicht in notwendiger Weise determiniert worden, sondern er handelt so rein willkürlich. Es steht ihm frei, und er ist dessen fähig, in jeder Lage, zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort jede Handlung, die er unternimmt, anstelle dessen ohne weiteres auch zu unterlassen. Sei es, daß er sie vollzieht oder daß er sie nicht vollzieht, in keinem Fall wird er dazu bewogen. Sein Verfahren ist jederzeit in völlig selbständiger, ursprünglicher Akt und in diesem Sinne spontan. Dieser Ansicht gemäß wird keineswegs behauptet, daß der Inhalt der menschlichen Tätigkeit anderswoher stammt, als aus der unserer empirischen Kenntnis offen stehenden Welt.
    "Denn daß unser Wollen stets äußere Objekte zum Gegenstand hat, auf die es gerichtet ist, um die es sich dreht und die als Motive es wenigstens veranlassen", sagt  Schopenhauer (1), "kann keiner in Abrede stellen, da er sonst einen von der Außenwelt völlig abgeschlossenen und im finstern Innern des Selbstbewußtseins eingesperrten Willen übrig behielte."
Bloß die Notwendigkeit, mit der jene "in der Außenwelt gelegenen Dinge" die Akte des Willens bestimmen, ist es, was geleugnet wird.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Annahme einer solchen Art von Freiheit eine kausale Auffassung derjenigen Vorgänge, auf welche sie sich bezieht, also der menschlichen Handlungen ein für alle Mal ausschließt. Zwischen dieser und jener besteht ein unauflöslicher Widerspruch. Man läßt die menschlichen Handlungen aus einer Kraft erfolgen, aus der sie jedoch nicht mit Notwendigkeit folgen sollen. Das ist kein kausales Verhältnis. Das Verhältnis der Wirkung zur Ursache kann nicht anders, denn als notwendig vom Verstand gedacht werden. Wenn wir etwas aus einer Ursache herleiten, so bedeutet das eben den Gedanken eines notwendigen und unausbleiblichen Zusammenhangs. Wir haben aber kein Organ dazu, uns ein Kausalverhältnis von nicht notwendigem Charakter zu denken. Die von HUME gegen die Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung in seinen "Untersuchungen in Betreff des menschlichen Verstandes" (2) vorgebrachten Zweifel lassen sich unschwer lösen. Nicht in jeder beliebigen Aufeinanderfolge eines Ereignisses auf ein anderes erkennen wir das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung. Wir unterscheiden von Anfang an auf das Bestimmteste das bloße zeitliche Aufeinanderfolgen von der kausalen Verknüpfung zweier Ereignisse miteinander. Wir unterscheiden  a priori,  wie SCHOPENHAUER trefflich ausführt, die zufällige Folge von der notwendigen (3), und niemals ist es erst die "Gewohnheit des Übergangs" von einem zum andern, was den Begriff einer notwendigen Verknüpfung hervorruft, sondern höchstens die richtige Anwendung desselben in einem gegebenen Fall zur unzweifelhaften Gewißheit macht. HUME leugnet zwar, "daß der einzelne Fall diesen Begriff jemals zuführen kann, wenn man ihn auch von jeder Seite beleuchtet und prüft", bemerkt aber selbst, "daß eine Anzahl von Fällen nichts Unterscheidendes vom einzelnen Fall habe, welcher als völlig gleich vorausgesetzt worden ist" (4). In dieser Hinsicht hat in der Tat KANT schärfer gesehen, als sein berühmter Vorgänger, indem er erkannt hat, daß wir jenen Begriff von vornherein zur erstmaligen Auffassung gewisser Tatsachen oder Vorgänge, die sich in der Wirklichkeit vollziehen, noch bevor wir sie sich wiederholen sehen, bereits haben müssen. KANTs Verdienst ist, daß er im Begriff der Kausalität ein Prinzip, d. h. eine tatsächliche Form des Verstandes, gewisse reale Vorgänge aufzufassen, - die nach SCHOPENHAUER selbstverständlich keines Beweises bedarf -, nachgewiesen hat. Daß KANT derselben keine objektiv reale Bedeutung beilegt, hängt mit seiner eigentümlichen weiter unten (5) berührten, von DÜHRING zuerst mit siegreichen Gründen als unhaltbar erwiesenen Trennung zwischen Dingen-ansich und Erscheinungen zusammen. - Wer das gekennzeichnete Freiheitsvermögen für eine Tatsache hält,  muß  geradezu sagen: die menschlichen Handlungen lassen sich aus keinen bestimmten Ursachen herleiten und daraus erklären, sondern sie folgen aus einem völlig unbestimmten Vermögen. Jeder derartige Versuch müßte von dieser Seite von vornherein als eine Torheit und Ungereimtheit angesehen werden. Warum jemand nicht vielmehr auf andere Art, als so gehandelt hat, wie es in Wirklichkeit geschehen ist, dafür soll sich eben kein zureichender Grund anführen lassen können. Hält man dagegen am Kausalitätsprinzip auch in der Anwendung auf die menschlichen Handlungen ohne Ausnahme ausdrücklich fest, so erklärt man sich damit gegen jene Vorstellung. Zwischen beiden Annahmen ist keine Vereinbarung möglich.

Nun ist die Frage, ob sich überhaupt ein triftiger Grund für die Annahme jener Freiheit anführen läßt, vermöge deren die Handlungen, die der Mensch vollzieht im Vergleich zur Art und Weise des Zustandekommens aller sonstigen zeitlichen Vorgänge einen so exzeptionellen Charakter erhielten. Worauf berufen sich eigentlich die Vertreter der gedachten Freiheitsidee? Es ist klar, daß die Handlungen, welche bereits vollzogen, obgeschlossen in der Vergangenheit ruhen, keinen Beweis, sozusagen, für die Promiskuität ihres Ursprungs liefern. Denn, wenn auch in Bezug auf ein und dieselbe Person, so wird doch natürlicherweise nicht in Bezug auf die Zeit geleugnet, daß die einander entgegengesetzten Möglichkeiten irgendeiner Handlung einerseits und ihrer Unterlassung andererseits sich gegenseitig im strengsten Sinn ausschließen. Selbstverständlich läßt sich die streitige Freiheit auch nicht durch die Praxis, d. h. durch eine tatsächliche Zurückversetzung in die vergangene Lage demonstrieren. Es bleibt daher nichts, als der Hinweis auf das bei Entstehung der Handlungen vorhandene Selbstbewußtsein übrig. Und da beruft man sich gemeinhin auf das Unterscheidungsvermögen des Verstandes, welches mit der Vorstellung einer Sache sofort zumindest die ihres kontradiktorischen Gegenteils verbinden kann, und auf die hierauf beruhende Fähigkeit, unter entgegengesetzten oder verschiedenen praktischen Möglichkeiten, deren man sich auf dem Weg der Erfahrung bewußt geworden ist, die Wahl zu treffen.


II. Kritik des vulgären Freiheitsbegriffs

Die Verteidiger des in Rede stehenden Freiheitsbegriffs müssen, wie gesagt, zugeben, daß man das Bewußtsein der Möglichkeit jedweder Handlung nicht von vornherein besitzt, sondern erst erwerben muß. Nun gibt es Handlungen der mannigfaltigsten Beschaffenheit und Willensakte vom verschiedenartigsten, ja entgegengesetzten Charakter, deren der Mensch überhaupt fähig ist. Diese Unterschiede ergeben sich nicht bloß aus der Beziehung der menschlichen Tätigkeit auf verschiedene Objekte, sondern es verhält sich so, wie SPINOZA sagt: "Verschiedene Menschen können von ein und demselben Gegenstand verschiedenartig erregt werden, und ein und derselben Mensch kann von ein und demselben Gegenstand zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene Weise erregt werden." (6)

Wie verschieden nun auch der Charakter der Handlungen und Willensakte eines Menschen sein mag, in letzter Instanz wird jede Handlung von den Vertretern der fraglichen Freiheitsvorstellung aus dem einheitlichen, allgemeinen, ansich völlig indifferenten Tatvermögen, welches sie im Grunde des menschlichen Subjekts annehmen, und welches Wille heißt, abgeleitet. Der reine Wille, als alleiniger und letzter Grund aller Handlungen von anscheinend noch so verschiedenem Charakter, sei sich selbst gleich und verhalte sich gleichgültig gegen alle Unterschiede, welche die menschlichen Handlungen vor unseren Augen unter sich zur Schau tragen. Trotzdem wird die Verschiedenartigkeit der einzelnen Handlungen und Willensakte nicht geleugnet und als leerer Schein behandelt, sondern aufgrund dessen eine Freiheit im gedachten Sinne unter dem Namen eines  liberum arbitrium indifferentiae  [absolute Wahlfreiheit und Willkür - wp] vom menschlichen Wesen allgemein prädiziert. Es muß nun eine Unbegreiflichkeit für jeden Unbefangenen bleiben, wie sich der Mensch aufgrund eines einheitlichen indifferenten Vermögens der Möglichkeit von Handlungen verschiedenartigen, ja entgegengesetzten Charakters bewußt werden kann, wie es von dort her überhaupt zu dergleichen Handlungen wirklich kommen kann. Die Gleichgültigkeit hebt von Anfang an die Möglichkeit jeglichen Willensaktes und jeglicher Handlung auf. Es muß geradezu bestritten werden, daß in irgendjemandem das Bewußtsein eines indifferenten allgemeinen Willens existiert. Niemand kann sich eines Willens früher bewußt sein, als im besonderen Fall, wo auf gegebene Veranlassung das Wollen sich in eigentümlicher Weise auf einen bestimmten Gegenstand gelenkt hat. Abgesehen davon, daß er auf einen bestimmten Gegenstand gerichtet ist, läßt jeder besondere Willensakt einen eigentümlichen Charakter darin erkennen, daß er ein besonderes Interesse anzeigt. Die Indifferenz muß durchaus vom Willen für ausgeschlossen erachtet werden.

Wir haben bemerkt, daß das einzelne Wollen seine Entstehung in der Zeit haben muß. Es gehören bestimmte Veranlassungen dazu, auf daß bestimmte Willensrichtungen im menschlichen Subjekt zustande kommen. Ohne jene Veranlassungen können die entsprechenden Willensakte niemals erfolgen. Das Wollen ist auch etwas, was mit Bewußtsein geschieht, und ein Träger von Bewußtseinserscheinungen darf, um mit DÜHRING zu reden, "nie als ein fertiges Ding angesehen werden". (7) Dächte man sich nun jemanden, der noch kein Wollen besonderer Art auf gegebene Veranlassung in sich erfahren und gespürt hat, so müßte man annehmen, daß für denselben die Dinge der Außenwelt nur Objekte der bloßen Vorstellung bis dahin gewesen wären, daß er von dem, was überhaupt  Willen  bedeutet, noch keinen Begriff hätte und von der Möglichkeit irgendwelcher Handlungen seinerseits gar kein Bewußtsein besäße. Allerdings muß etwas derart, was das Vermögen zu wollen, bezeichnet, im menschlichen Innern vorausgesetzt werden. Diese subjektive Bedingung aller einzelnen Willensakte liegt aber vor allen konkreten Veranlassungen oder Willensbestimmungen diesseits des wirklichen Bewußtseins und gehört zum Reich des Unbewußten, d. h. zu demjenigen, was noch nicht zu Bewußtsein gekommen ist. Und da die einzelnen konkreten Willensakte sich als von unterschiedlicher Beschaffenheit erweisen und in gewisse Arten ganz eigentümlichen Wollens spezifiziert werden müssen, so werden wir nicht  ein,  sondern ebensoviele subjektive Vermögen, eigentümlich zu wollen, als es Arten des Wollens gibt, vorauszusetzen haben.

Richten wir unser Auge jetzt auf die subjektiven Unterscheidungsmerkmale der einzelnen Willensregungen, so bemerken wir, daß die letzteren sich nach den Empfindungen und Affekten klassifizieren. Es gibt kein unbestimmtes Wollen, welches nicht den affektiven Charakter in irgendwelche Grade an sich trägt. Selbst die Handlungen, welche wir gezwungen verrichten, und zu denen wir nicht die ihnen sonst gewöhnlich entsprechenden eigentümlichen Antriebe in uns fühlen, gehen aus Furcht oder Verzweiflung hervor. In den mannigfachen Empfindungen und Gefühlen und deren eigentümlichen Dispositionen in unserer natürlichen Anlage müssen wir auch die Wurzeln unserer besonderen Willensregungen erkennen. Jene enthalten eine ihrer Zahl entsprechende Mannigfaltigkeit von Triebkräften, die, durch die Empfindungsreize selbst ins Bewußtsein hervorgerufen und zur Wirksamkeit gebracht, ebensoviele eigentümliche Erscheinungen des Wollens ergeben. Wir haben es im Willen nicht mit einer Kraft zu tun, die sich auf die verschiedartigste Weise äußert, sondern mit einer Menge von Kräften, die in den einzelnen Trieben gegeben sind. Wir werden uns natürlich der Möglichkeit und realen Bedeutung von Handlungen in der Richtung des Interesses jedes dieser Triebe ursprünglich erst mit der tatsächlichen Erregung des betreffenden Triebes durch äußere Ursachen bewußt. Wir haben eine Vorstellung bloß von der äußeren Möglichkeit einer Handlung erworben, wenn wir wahrgenommen haben, wie ein anderer dabei verfahren ist, welcher Mittel er sich, um zu seinem Ziel zu gelangen, bedient hat, ohne daß wir den Antrieb selbständig erprobt haben, der jemanden innerlich zu einer bestimmten Handlung bewogen hat. Dann werden wir uns niemals zu eben derselben aufgefordert fühlen, wenn uns nicht ein anderweitiges Interesse drängt, Bedürfnisse und Antriebe zu heucheln, die wir selbst nicht in uns fühlen, und das Tun anderer Leute nachzuahmen. Da aber eine fremde Handlungsweise sich nur aus der Analogie der eigenen Fähigkeit zu entsprechendem Tun begreift, so werden solcherlei Nachahmungen nie von Erfolg sein.

Wir werden uns auf dem genannten Weg in ursprünglicher Weise der subjektiven Möglichkeit bestimmter Handlungen bewußt und erhalten zu ihnen überhaupt nur in der augenblicklichen Erregung des Triebes, in dessen Richtung sie sich vollziehen sollen, eine Veranlassung. Aber wenn wir so mit dem Antrieb zu einer Handlung die positive Vorstellung ihrer Möglichkeit von unserer Seite her erhalten, so dient doch das noch nicht ohne weiteres zur Veranlassung, daß wir uns zugleich der Möglichkeit ihres kontrdiktorischen Gegenteils, d. h. ihrer Unterlassung, nun wirklich bewußt werden, und noch viel weniger zur Veranlassung ihrer wirklichen Unterlassung. Vom Verstand werden die Gedanken auch nicht ohne bestimmte, in der Gegenwart gegebene Motive produziert und reproduziert. Was das theoretische Denken bewegt, sind die natürlichen Stimulationen der in den Prinzipien oder Triebkräften des Verstandes enthaltenen Neugier durch das gegebene Dasein und die gegebenen Veränderungen, wenn sie zu Bewußtsein kommen. Die Beschäftigung des Verstandes mit den Möglichkeiten des Handelns wird in naturgemäßer und gesunder Weise stets von wirklichen praktischen Interessen und Antrieben, von praktischen Verlegenheiten ausgehen. Indem ich einen bestimmten Willensantrieb erfahre, wird die Vorstellung der daraus entspringenden Handlung nur in den Fällen auch diejenige der Möglichkeit ihrer Unterlassung in meinem Bewußtsein nach den Gesetzen der Ideenassoziationi zur Folge haben, wenn ich mich der widerwärtigen, aus eigener Erfahrung bekannten Konsequenzen erinnere, oder wenn gleichzeitig durch eine andere Anregung meine Tätigkeit in eine andere Richtung gelenkt wird, oder wenn mir etwa das Beispiel anderer, die sich in der gleichen Lage mit mir befanden oder befinden, zufällig vor Augen schwebt. Jedenfalls wird der so in mir erzeugte Gedanke an die Unterlassung der Handlung mit einem positiven Interesse, mit einem lebendig empfundenen Trieb meinerseits verknüpft sein müssen, wenn seine Verwirklichung stattfinden soll. Das bloße Beispiel eines anderen, der sonst keinen Eindruck auf mich ausübt, könnte mir z. B. völlig gleichgültig sein und unmotiviert erscheinen. Zum Unterlassen einer Handlung, zu der man eine Willensanregung empfangen, zu der man sich geneigt fühlt, reicht nicht das indifferente Bewußtsein seiner Möglichkeit hin, sondern gehört notwendigerweise, daß ein jener Neigung entgegengesetzter Trieb, ein ihr konträres Interesse in einem erregt wird. Die Unterlassung einer Handlung bedeutet die Überwindung des Antriebs zu derselben und kann nur aufgrund eines besonderen Willensaktes eintreten. JOHN LOCKE hat daher wohl Recht, die Unterlassung einer Handlung selbst als eine Handlung anzusehen (8). Die Positivität des Charakters, den sie an sich trägt ist nicht zu verkennen.

Es ist einleuchtend, daß die Stärke der einzelnen Willensregungen überhaupt von der höchsten Bedeutung für das praktische Handeln ist, als auch namentlich eine Hauptrolle in jenen zweifelhaften Lagen spielt, wo zwischen zwei entgegengesetzten oder mehreren verschiedenartigen Möglichkeiten, zu handeln die Wahl ist. Wir haben es in solchen Fällen auf Seiten des Wählenden in keiner Weise mit einem indifferenten Vermögen, welches die Entscheidung trifft, wie die Anhänger der gekennzeichneten Freiheitsidee meinen, sondern mit einem Antagonismus verschiedener, einander in ihrer Wirksamkeit ausschließender Kräfte, voneinander abweichender, differenter Interessen zu tun. Das stärker oder das stärkste der einzelnen gleichzeitig nebeneinander wirkenden Motive muß offenbar nicht bloß in der Regel, sondern stets hier durch sein Übergewicht zu seinen Gunsten die Entscheidung der Wahl herbeiführen. Man beruft sich auf die Unbestechlichkeit des Verstandes zugunsten der erwähnten Freiheitsvorstellung. Allein die Erfahrung lehrt, daß der Verstand nicht überall zu seinem Recht gelangt, daß er es oft mit so überlegenen Trieben zu tun hat, daß seine durch die praktische Verlegenheit, welche sich in jedem Wahlakt kund tut, hervorgerufenen Überlegungen nicht imstande sind, den schwächeren Trieb, welcher jenen gegenübersteht, in gehöriger Weise zu verstärken. Nur wenn die einander widerstreitenden Regungen in ihrer Stärke nicht so sehr untereinander differieren und sich gegenseitig mehr die Waage halten, wird die denkende Erwägung der Umstände und Vergleichung der einzelnen gegebenen und der ihnen verwandten Interessen sowohl für sich Zeit gewinnen, als auch als lenkende, hemmende und verstärkende Macht im Wahlkampf in Betracht kommen (9). Da wird auch die praktische Einsicht und Voraussicht, die der Betreffende bereits besitzt, von nicht geringer Bedeutung sein.

Diejenigen, welche der besprochenen Freiheitsidee huldigen, haben sich um die Quantität der einzelnen Regungen des Wollens gar nicht bekümmert, und überdies die Rolle, welche der Verstand im Wahlakt spielt, verkannt. Der Verstand an und für sich ist kein praktisches Vermögen, und der disjunktive [unterscheidende - wp] Gedanke hätte als solcher keine Macht über Leidenschaften und zum Handeln drängende Triebkräfte. Es ist eine Wahrheit, die nicht verkannt werden darf, welche SPINOZA in dem Satz ausspricht: "Ein Affekt kann nur beschränkt oder aufgehoben werden durch einen entgegengesetzten Affekt, welcher stärker ist, als der zu beschränkende Affekt." (10), was HELVETIUS folgendermaßen ausdrückt: "Moralisten haben das Gefühl, sie könnten mit Beleidigungen gegen Gefühle ankommen. Das ist aber eine Leidenschaft, über die allein eine Leidenschaft triumphieren kann." (11) Der Verstand kann über widerspenstige praktische Triebe also nur in Verbindung mit einer Macht etwas ausrichten, die mit jenen ein und derselben Sphäre angehört, ihnen aber entgegengesetzt ist.

Weil das Denken jener Freiheitstheoretiker sich von quantitativen Bestimmungen fern hält, fällt es ihnen auch nicht ein, für die Freiheit des Einzelnen einen Maßstab anzugeben. Offenbar kennen sie auch schwerlich einen Maßstab der Freiheit. Soll etwa, soweit die Vorstellungskraft des Einzelnen in Bezug auf mögliche Handlungen reicht, ebenso weit auch seine Freiheit reichen? Ohne Frage wird das  wirkliche Tatvermögen  durch die Phantasie weit überflügelt, die in alle Weiten schweift und womöglich alle Möglichkeiten des menschlichen Handelns überhaupt erschöpft. Die allbekannte Tatsache, daß unsere Wünsche gewöhnlich weiter gehen, als unsere Fähigkeiten, spricht unzweifelhaft gegen jene Annahme. Und woher wäre, mit jenem völlig unbestimmten Freiheitsbegriff in der Hand, der so verschiedene Grad von Fähigkeiten und Talenten, der sich unleugbarerweise innerhalb des Menschengeschlechts bei seinen einzelnen Vertretern findet, zu erklären? Wenn jeder Mensch der gepriesenen Freiheit in demselben Maß teilhaftig wäre, woher kämen dann die ganz handgreiflichen Unterschiede zwischen den einzelnen menschlichen Individuen in Bezug auf das Handeln?

Aus alledem ergibt sich mit unzweideutiger Gewißheit, daß der Freiheitsbegriff, von dem wir ausgegangen sind, eine unhaltbare Konzeption ist. Das menschliche Handeln läßt sich bis in seine letzten Ursachen zurückverfolgen, und die kausale Auffassung derselben wird durch keine vermeintliche Gewißheit des die Möglichkeiten des Handelns betreffenden Selbstbewußtseins zerstört. Das Wort  Wille  bezeichnet einen allgemeinen abstrakten Begriff, unter welchem eine ganze Mannigfaltigkeit verschiedenartiger Erscheinungen zusammengefaßt wird. Das Reale, was ihm entspricht, sind die Triebkräfte der menschlichen Natur. Sofern sich derselben sämtlich ein und dasselbe menschliche Subjekt infolge äußerer Veranlassungen bewußt werden kann, sofern dieselben alle auf den einheitlichen Mittelpunkt ein und desselben Bewußtseins bezogen werden können, insofern können sie unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt aufgefaßt und im Allgemeinen als Wille bezeichnet werden. "Das Wort  Wille  hat aber", wie DÜHRING (12) bemerkt, "häufig zu einer falschen Verdinglichung verleitet". Man hat, wie gesagt, unter diesem Begriff ein wunderbares Vermögen, das sich willkürliche auf die verschiedenste Art und Weise äußern kann, im Menschen erdichtet. Die Einheit des menschlichen Bewußtseins hat zur Konzeption des Begriffs Veranlassung gegeben. Dieselbe ist jedoch mit DÜHRING "nicht anders, als formal" (13) zu denken, und "die Einheit der mannigfaltigen Kausalitäten, die in einer Handlung zusammenwirken, darf nicht wiederum als Kausalität gedacht werden". (14) Ein und demselben Menschen gehören eine Menge von Willensakten an, aber eine Menge von Willenskräften sind auch in ihm vereinigt. Mit dem Begriff eines reinen, allgemeinen, verschiedenartiger Wirkungen fähigen Willens, als eines tatsächlichen Vermögens der menschlichen Natur, muß ein für alle Mal aufgeräumt werden. Dies hätte auch DROBISCH, der ja selbst den Willen zu einer Abstraktion erklärt, tun sollen, anstelle sich mit diesem Begriff noch lange, anscheinend ernsthaft, einzulassen. (15)

Eine Anzahl der bedeutendsten Philosophen der neueren Zeit, unter ihnen SPINOZA, HUME, SCHOPENHAUER, haben sich in unzweideutiger Weise gegen den auch von uns nicht anerkannten Freiheitsbegriff erklärt (16). Namentlich hat SCHOPENHAUER, dem wir überall da Recht geben, wo er sich gegen die charakterisierte Freiheitsvorstellung wendet, in seiner gekrönten Preisschrift eine vernichtende Kritik an derselben geübt. Was LOCKE betrifft, so zeigen seine in der Mehrzahl treffenden Äußerungen über den Gegenstand (17), daß er das Richtige gefühlt hat. Trotzdem enthalten seine Auseinandersetzungen viel Widersprechendes: er kommt aus dem Schwanken nicht heraus, weil er noch zu sehr die hergebrachten verdinglichenden Vorstellungen vom Willen teilt. (18)


III. Kants Moraltheorie

Vergegenwärtigen wir uns die einzelnen Gelegenheiten, bei welchen am Leichtesten die irrtümliche Annahme eines so wunderbaren Vermögens, wie die menschliche Freiheit sein soll, sich einschleicht, so ergibt sich Folgendes. Wo die Graddifferenz der bei einem Wahlakt zur Geltung kommenden einzelnen Antriebe keine erheblichen Abweichungen gezeigt hat, da liegt nach erfolgter Entscheidung die Täuschung sehr nahe, daß dieselbe ohne weitere Bedingungen auch anders hätte ausfallen können, da wird umso leichter das Hypothetische einer jeden solchen Entscheidung übersehen. Sodann trägt jenes entfesselte, mehr willkürliche, als von nachhaltigen praktischen Antrieben regierte Schweifen der Phantasie in alle Möglichkeiten hinaus zur Hervorbringung dieses Irrtum bei. Auch die Indifferenz des ruhigen vorstellenden Denkens, welches in Bezug auf das Handeln verschiedene Möglichkeiten kennt, ist geeignet, die Differenz der für jede dieser Möglichkeiten in Betracht kommenden lebendigen Interessen unter sich und die Bedingungen zu ihrer Produzierung und Reproduzierung zu übersehen. Daher stammt auch jener fremde Ausdruck, den man für das angebliche Vermögen erfunden hat, nämlich  liberum arbitrium indifferentiae.  Endlich führt auch wohl der Umstand leicht zur falschen Freiheitsvorstellung, daß man in der Reue über ein Vergehen, unter der Macht des sich augenblicklich regenden Reaktionstriebes stehend, den Zustand, in welchem man sich das Vergehen hat zu Schulden kommen lassen, verkennt und wähnt, daß jener erst infolge des Bewußtseins der vollendeten Tat durch den Gegensatz in Einem erzeugte Antrieb Einen schon damals wirklich hätte bestimmen können, wo es darauf ankam.

Wir haben es in allen diesen Beziehungen mit einem Irrtum im psychologischen Urteil zu tun, den wir widerlegt zu haben glauben. Allein, wenn man für jene Willkürfreiheit eintritt, so hat man eigentlich vorzugsweise das sittliche Wollen des Menschen im Auge. Es gibt ein mächtiges Interesse, aus welchem jene Annahme stammt, und das betrifft die Moral.

Dieses hochwichtige und unvergleichliche Interesse, welchem an der Aufrechterhaltung des von uns angefochtenen Freiheitsbegriffs in der Meinung Mancher etwas gelegen ist, ist zur Verdunkelung des wahren Sachverhalts sehr viel beizutragen imstande. Namentlich die eigentümliche Theorie, welche im Interesse der MOral einer der hervorragendsten Fürsprecher des fraglichen Begriffs, nämlich KANT, zum Schutz desselben aufgestellt hat, fordert uns dazu auf, bei diesem Punkt noch länger zu verweilen.

KANT zieht daraus, daß das moralische Gesetz allgemein und unbedingt befiehlt, die Folgerung, daß Jedermann deswegen ein Vermögen haben müsse, durch welches er in den Stand gesetzt wird, den allgemeinen Forderungen und Zumutungen der Moral auch unbedingt zu genügen. Das moralische Gesetz gilt ihm, wie er sich ausdrückt, als  ratio cognoscendi  [Erkenntniswahrheit - wp] der Freiheit, und diese als  ratio essendi  [Seinswahrheit - wp] jenes (19). Er nimmt aber, freilich ohne einen Beweis hierfür beizubringen, an, daß sich Jeder  a priori,  also vor jeglicher durch äußere Eindrücke vermittelten Erfahrung, des moralischen Gesetzes in jedem Fall bewußt ist. Dieses Bewußtsein, weil es sich auf einen Befehl beziehen soll, hat für ihn unbedingt antreibende Kraft. Nach seiner Meinung handelt nicht einmal der im höchsten Sinne moralisch, welcher den gut gearteten Erregungen durch empirische Motive folgt, sondern nur derjenige, welcher sich nüchternen Mutes dem apriorischen Gebot unterwirft. Die praktische Vernunft soll praktische Einsicht und praktisches Vermögen in sich vereinigen.

Die Mathematik wird mit Recht eine apriorische Wissenschaft genannt, weil sie aus der reinen Anschauung und dem reinen Denken folgt, und von der gesamten Erfahrung unabhängig besteht. Ebenso verhält es sich mit der Wissenschaft des reinen Denkens selbst, mit der formalen Logik. Was die beiden genannten Wissenszweige angeht,, so stammen Gegenstand und Gedanken über denselben in ihnen aus ein und derselben Quelle, nämlich aus dem Denkvermögen selbst. Wenn nun KANT das allgemeine Gesetz, welches er an die Spitze der Moral stellt, in dem nämlichen Sinn, in welchem er die rein mathematischen und die rein logischen Satzungen apriorisch nennt, ebenfalls dafür ansieht, so ist er hierin ebensosehr im Irrtum, wie wenn er von apriorischen Naturgesetzen redet. Das menschliche Handeln, auf das sich die Moral bezieht, ist kein Gegenstand, welcher schon diesseits aller Erfahrung im reinen Denken erzeugt oder gegeben werden könnte. Es gibt nichts derartiges, wie einen allgemeinen, zunächst auf gar kein Objekt gerichteten Willen, dessen man sich vor aller tatsächlichen Berührung mit der Außenwelt und vor allem bestimmteren Wollen etwa bewußt sein könnte, worauf bereits oben (20) von mir hingewiesen ist. Erst mit den bestimmten Willensrichtungen, die er durch Antriebe von Außen verschiedenartig erhält, wird der Mensch überhaupt der Möglichkeit zu handeln inne, von der ihm vor derartigen Erfahrungen keine Ahnung in den Sinn kommen kann. Von einer allgemeinen Möglichkeit zu Handlungen kann er  a priori  gar keine Idee haben, weil er sich  a priori  keiner Antriebe bewußt sein kann.Wie soll also Jemand schon Gesetze von etwas kennen, wovon er noch keine Vorstellung hat? Gesetze, die sich auf die Betätigung und das gegenseitige Verfahren der Menschen beziehen sollen, wird man erst dann aufzustellen vermögend sein, wenn man das Leben selbst allseitig erprobt und der mannigfachen Antriebe, die ein Menschenherz erregen können, teilhaftig geworden ist. Nur alsdann wird der sichtende Verstand erst in der Lage sein, in der Menge der einander widerstreitenden Triebe, der einander abwechselnden und sich drängenden Regungen und Leidenschaften in der Richtung des vorwiegenden Interesses Maß und Ordnung zu stiften und ein für die Gattung allgemein gültiges und verbindliches Gesetz ausfindig zu machen.
    "Man kann", sagt  Dühring,  "die Sprache erst aus der Grammatik meistern, wenn man die Grammatik zuvor der Sprache abgelauscht hat; man kann dem Leben erst mit der Moral entgegentreten, wenn man zuvor die Moral aus den Triebkräften und grundgesetzlichen Charakteren des Lebens gewonnen hat." (21)
Das moralische Gesetz befiehlt allerdings unbedingt, weil es sich an den Menschen als Gattungswesen gerichtet hält. Es ist darum nicht selbst bedingungslos konzipiert und aus gar keinen Voraussetzungen abstrahiert, sondern es beruth auf allgemein menschlichen Naturanlagen. "Die Wurzeln aller (seiner) Normen sind eben die allgemeinen Grundkräfte des Strebens selbst" (22).

Wenn es an Jedermann die nämlichen Anforderungen stellt, so tut es dies mit der gegründeten Voraussetzung, daß er jener im menschlichen Wesen wurzelnden Anlagen ebenfalls teilhaftig, oder, wo nicht im erforderlichen Grad, wenigstens fähig ist, diese Bedingung mit der Zeit zu erfüllen. Insofern ist es daher sehr wohl möglich, und tatsächlich verhält es sich regelmäßig in den meisten Fällen so, daß die Menschen sich in einer Disposition befinden, die den natürlichen Bedingungen, auf welche sich die Moral stützt, und durch welche die Erfüllung ihrer Gebote allein ermöglicht wird, nicht entspricht, und deswegen, sei es auch, daß sie sich der letzteren völlig bewußt sein, dennoch nicht imstande sind, ihnen zu gehorsamen. So wenig hängt das sittliche Vermögen mit der bloßen Kenntnis der sittlichen Forderung zusammen. Aus der bisherigen Auseinandersetzung geht aber schon hervor, daß diese Kenntnis keineswegs so allgemein und bei Jedermann anzutreffen sei, wie gewöhnlich angenommen wird. Das sittliche Bewußtsein ist im Grunde ein empirisches. Denn man muß doch mindestens einmal erst in ursprünglicher Weise jene natürlichen Regungen in seinem eigenen Triebleben wirklich erfahren haben, jener lebendigen Antriebe auf denen die Sitte hauptsächlich beruth, sich bewußt geworden sein, ehe man zum Einsehen der inneren Möglichkeit einer moralischen Handlungsweise und ihrer natürlichen Notwendigkeit und Berehtigung gelangt. Das Gewissen ist etwas, was keineswegs in Allen und Jeden vorhanden sein, oder wenigstens nicht im gleichen Ausmaß jedem zu eignen braucht, sondern in Vielen aus natürlichen Gründen von großer Beschränktheit sein kann. Die Moral hat auch ihre geschichtliche Entwicklung gehabt. Sie ist nicht von Anbeginn menschheitlicher Entwicklung eine ausgemachte Sache, sie ist nicht, in ihrer ausgebildeten Gestalt, für das menschliche Bewußtsein von Anfang an etwas Bekanntes und Feststehendes gewesen.


IV. Kritik der kantischen Vermittlung zwischen dem
vulgären Freiheitsbegriff und dem Kausalitätsgesetz

Mit der Herleitung der angeblichen Freiheit aus dem allgemeinen Moralgesetz würde höchstens  ein  Grund für die Annahme eines solchen unbedingten Vermögens aufgedeckt, keineswegs aber schon der oben bezeichnete Widerspruch mit dem Gesetz der Kausalität gelöst worden sein. Die Lösung, welche hierfür von KANT in der "Kritik der reinen Vernunft" (23) aufgestellt worden ist, ist für ebensowenig gelungen wie jene Ableitung zu erachten.

Die von ihm eingeführte Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen-ansich hat KANT dazu dienen müssen, die von ihm für unentbehrlich gehaltene Freiheit auch gegen Angriffe von jener Seite zu verteidigen. Nach seiner Ansicht bezieht sich ja unser Denken niemals auf die unabhängig von uns, außerhalb von uns wirklich existierenden Dinge, sondern lediglich und einzig und allein auf bloße Phänomene, d. h. nur auf die Erscheinungen, welche jene in den Formen unserer reinen Anschauung und unseres Denkens darbieten. Auf letztere kann sich immer nur unser Urteil erstrecken und wir sind nicht imstande zu erkennen, was die Dinge  ansich  sind. So ist dann auch der Mensch als Wesen ansich von seiner Erscheinung, wie er sich vor unserem empirischen Bewußtsein ausnimmt, wohl zu unterscheiden. Seine Handlungen sind daher unter einer doppelten Beziehung, einmal in Bezug auf ihn als Erscheinungswesen und sodann im Verhältnis zu seinem eigentlichen Kern als dem Ding-ansich, welches von ihm repräsentiert wird, aufzufassen. Während der Mensch dort im Rahmen der zeitlichen Anschauungsform erscheint, und seine Handlungen als zeitliche Hergänge dem darauf bezüglichen Erklärungsprinzip des Verstandes unterworfen sind, muß man hier, als Ding-ansich, für unabhängig von allen derartigen Bestimmungen erkennen und seine Handlungen daher als ursprüngliche, weiter nicht bedingte Produktionen betrachten. KANT nimmt an, daß der Mensch in der Erscheinung zum Handeln durchaus determiniert wird, daß seine Handlungen daselbst bestimmten Motiven entspringen, daß dieselben aber zugleich als Wirkungen des menschlichen Dings-ansich und in dieser Eigenschaft als freie, von äußeren sinnlichen Bedingungen unabhängige Äußerungen anzusehen sind. Durch diese Wendung glaubt er die moralische Freiheit, zu deren vorläufiger Annahme er aufgrund des allgemeinen Bestehens des Sittengesetzes im menschlichen Bewußtsein sich für berechtigt hielt, vor der Gefahr der Anfechtung gesichert zu haben, welche ihr wegen ihres scheinbar oder offenbar dem Kausalitätsgesetz widersprechenden Charaktes droht; KANT glaubt diesen Widerstreit dadurch beseitigt zu haben, daß er die Freiheit in ein Gebiet verwies, das angeblicherweise dem Blick des menschlichen Verstandes verschlossen bleiben soll (24).

KANT hat sich mit diesen Ausführungen nicht begnügt. Indem er die Sache aber weiter auszuführen gesucht hat, hat er sich mehrfach mit sich selbst bereits in Widersprüche verwickelt. KANT meint: wenn wir den Charakter eines Menschen, den er als Erscheinungswesen liefert, bis auf den Grund durchschauen würden oder durchschauen könnten, so würden wir vermögend sein, seine sämtlichen Handungen mit Sicherheit vorauszubestimmen (25). Dagegen muß nun eingewendet werden, daß dies nach den obigen kantischen Voraussetzungen ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Denn wir müßten bedenken, daß wir es nicht mit einer bloßen Erscheinung, sondern auch mit einem Ding-ansich im Menschen zu tun hätten, dem Willkür eigen ist, und daß, wenn uns sein Leben auch biz zum Augenblick völlig durchsichtig und klar wäre, wir daraus in Betreff seines künftigen Verhaltens keine sicheren Schlüsse machen könnten, weil jene Willkür, deren Wirkungen ja in die Erscheinungswelt hineinreichen sollen, als unbedingtes und daher unberechenbares Vermögen den Lebensfaden plötzlich in einem anderen Sinn, als bisher, zu lenken vermöchte. - Der Mangel an Übereinstimmung bei KANT läßt sich ferner an folgendem Beispiel konstatieren. Er nennt die Dinge-ansich intelligibel, in der Annahme, daß sie nur durch reine Denken direkt und nicht erst durch eine sinnliche Vermittlung, wie bei uns Menschen, erfaßbar seien, weswegen sie auch für den Menschen unerkennbar sein sollen. Er legt nun dem intelligiblen menschlichen Ding einen intelligiblen Charakter bei. Derselbe soll natürlich für unseren menschlichen Verstand unerkennbar sein. Gleichwohl soll er dem empirischen Charakter des Menschen in der Erscheinung, den wir sehr wohl erkennen, entsprechen und gemäß demselben gedacht werden müssen. (26) Vor allen Dingen muß man hier bemerken, daß der intelligible Charakter die intelligible Freiheit, d. h. die Freiheit, die dem Ding-ansich des Menschen eignet, geradezu aufhebt. Aus dem empirischen Charakter soll nämlich mit Notwendigkeit die Handlung, welche gerade zu erwarten steht, folgen. Nun soll aber, wie gesagt, dem empirischen Charakter der intelligible Charakter gemäß sein, und KANT tut sogar selbst diesen Ausspruch: daß "ein anderer intelligibler Charakter einen anderen empirisch gegeben haben würde" (27). Somit folgt die Handlung mit Notwendigkeit auch aus dem intelligiblen Charakter, und die intelligible Freiheit schwebt in der Luft. KANT hätte sich mit der Annahme eines empirischen Charakters wenigstens begnügen müssen. Ein intelligiblen anzunehmen hätte er sich hüten sollen. Wenn dem intelligiblen Ding Freiheit in dem mehrerwähnten Sinn zukommen soll, so darf das Ding-ansich keinen bestimmten eigentümlichen, von anderen seinesgleichen unterschiedenen Charakter haben, sondern es muß, gleich einem Chamäleon, beliebig, bald dies bald jenes sein können, woraus sich die Willkür im Handeln von selbst ergeben würde. Wenn die Freiheit ein völlig unbestimmtes Vermögen bedeuten soll, so darf auch das Ding, dem sie gehört, nicht den Charakter der Bestimmtheit tragen. Wenn man ihm einen bestimmten Charakter verleihen wollte, so dürfte es höchstens derjenige der praktischen Vernunft [lask] selbst sein können.

Nachdem KANT einmal den Begriff vom Ding-ansich, das für uns durchaus unerkennbar sein soll, wie er ihn faßt, geschaffen hatte, mußte es für ihn ein Leichtes sein, das Freiheitsproblem und so manches andere zu lösen. Es war geholfen, wenn er die Freiheit in jenes angeblich unerkennbare Gebiet versetzte. Dann konnte er mit dem Schein des Rechts den Verstand zur Ruhe verweisen, der nach dem Grund der Erscheinungen zu fragen nicht unterließ. (28) Das Absurdeste ist dort, wo der Verstand nicht soll hindringen können, möglich. In der Tat muß man, wie SCHOPENHAUER richtig bemerkt, "wenn man den Versuch wagt, ein  liberum arbitrium indifferentiae"  (was doch die kantische Freiheit sein soll), "sich vorstellig zu machen, bald inne werden, daß dabei recht eigentlich der Verstand still steht: er hat keine Form so etwas zu denken." (29)

Indessen hat auch KANT den natürlichen Regungen des Verstandes, der nach der Ursache forscht, nicht gänzlich widerstehen können. Er ist durch dieselben zur Konzeption des intelligiblen Charakters verleitet worden, von welchem wir gehandelt haben.

Infolge dieser Begriffskonzeption hat die kantische Freiheitslehre ein zweideutiges Aussehen erhalten. Man muß gewahr werden, daß sich zwei verschiedene Auffassungen in derselben kreuzen. Das, was KANT beweisen will, ist die Existenz der Freiheit, die er sich als ein Vermögen, als eine Kraft denkt, willkürlich Wirkungen irgendwelcher Art von sich ausgehen zu lassen oder nicht ausgehen zu lassen. Er wird aber nicht darauf aufmerksam,, daß seine Ausführungen eine andere Auffassung nahe zu legen geeignet sind, als ob es sich nur um eine Freiheit des intelligiblen Charakters im Sinne der Unabhängigkeit handelt. Eine solche aber würde in nichts anderem bestehen, als daß es in der Natur dieses Charakters läge, unberührt von äußeren Einflüssen, sich selbst gleich von Anfang bis Ende, sich im Leben durchzusetzen. (30)

Aus allem, was vorgebracht worden ist, ist ersichtlich, daß man die kantische Trennung zwischen Ding-ansich und Erscheinung nicht akzeptieren darf, wenn man seinem Verstand nicht Zumutungen gestellt wissen will, die derselbe als unnatürlichen, ihm auferlegten Zwang erkennen muß. Ohne sich weiter auf eine Kritik jener Unterscheidung einzulassen, könnte man alle derartigen Zumutungen bloß durch die Erinnerung von sich weisen, daß ja nichts in der Welt zu positiven Annahmen über das Ding-ansich berechtigen kann, wenn es ausgemacht sein soll, daß das Ding-ansich für uns unerkennbar ist. Ein Vermögen, das schalten und walten könnte, wie die viel erwähnte Freiheit es im Stand sein soll, würde eine so positive Eigenschaft des Dings-ansich ausmachen, daß niemand die Verantwortung auf sich nehmen dürfte, sie demselben beizulegen. Es würde das eine Bekanntschaft mit dem Ding-ansich anzeigen, die doch ausdrücklich geleugnet wird.

Abgesehen hiervon verhält es sich mit den kantischen Aufstellungen über Erscheinung und Ding-ansich keineswegs in Richtigkeit. Es hat wohl keiner eine treffendere und einschneidendere Kritik an denselben geübt, als gerade DÜHRING in seiner "kritischen Geschichte der Philosophie". Indem DÜHRING die Unterscheidung des nur Subjektiven vom Objektiven, was niemals völlig subjektiv werden kann, einräumt, wehrt er doch zugleich jeder falschen Trennung beider Gebiete und zeigt, "wie die beiden Begriffe (Erscheinung und Ding ansich) "voneinander unzertrennlich sind; wie man im kantischen Sinn nicht von Erscheinung reden kann, wenn man den zugehörigen Beziehungsbegriff von Dingen, die, abgesehen von den Erscheinungen, existieren, fortlassen will" (31). "Insofern etwas nur durch die Formen der Sinnesauffassung bestimmt ist, heißt es Erscheinung. Die letztere ist nur eine Seite der Dinge, aber nicht etwa noch neben den Dingen als ein Zweites vorhanden." (32) "Das ansich Existierende ist das, was jenseits allen Bewußtseins oder mit anderen Worten, als nicht subjektiv vorausgesetzt wird." (33) Das sind die DÜHRINGschen Definitionen, welche das Verhältnis beider Teile zueinander klar erkennen lassen. Die Erscheinungen in unserem Bewußtsein sind Erzeugnisse, die den letzten Grund ihrer Entstehung in den Dingen selbst aufzuweisen haben, sind also mit denselben durch eine notwendige Beziehung eng verknüpft zu denken und stehen ihnen nicht wildfremd gegenüber. Sie sind nicht mit den Dingen-ansich identisch, sondern sie entsprechen den Dingen und sind deswegen Mittel, wodurch wir das, was am wirklichen Dasein derselben erkennbar ist, auch erkennen. Es hindert uns mithin nichts, zu sagen, daß unsere empirische Erkenntnis sich wirklich auf die Dinge selbst bezieht. Damit ist nicht gesagt, daß wir die Dinge völlig in Bewußtseinserscheinungen oder in Gedanken verwandelt in uns herumtragen, daß die Dinge völlig in unser subjektives Vermögen aufgehen könnten. Eher findet das Umgekehrte statt, daß wir mit unserem Subjektiven völlig in die Dinge aufgehen! Denn "die Intelligenz ist wohl eine Art des Seins, aber nicht umgekehrt das Sein eine Art des Denkens." (34) In der Aufgabe und dem Begriff des Denkens und Erkennens wird das auch nie gesucht werden können, daß der objektive Gegenstand, auf welchen es sich bezieht, sich vollkommen in es auflösen und in uns übergehen soll. Das Erkennen setzt die Trennung des Erkennenden und Erkannten, das sich Gegenüberstehen beider voraus. "Der Wahrheitsbegriff selbst würde sonst zusammenfallen, der ohne die Trennung des Denkens und des Seins keinen Sinn hat." (35)

Woher haben wir denn überhaupt eine Idee davon, daß es Dinge-ansich in von uns unabhängiger Existenz gibt, wenn nicht durch die Vermittlung unserer Sinne? Es gibt kein Sein, dessen wir uns nicht zunächst durch sinnliche Empfindung bewußt werden. Unseres eigenen Daseins sind wir uns gegenwärtig in einem unmittelbaren Selbstbewußtsein der Empfindung bewußt. Es gibt kein Objekt unserer Erkenntnis, das nicht diesen Weg passieren müßte, um in unser Bewußtsein zu gelangen. Objekt, Gegenstand unseres Denkens sein heißt nichts anderes, als Grund von Bewußtseinserscheinungen sein (36). Die höchste Art der letzteren kommt aber nur, nachdem die niedrigste Stufe überschritten ist, zustande. Wenn nun unser sinnliches Vermögen dazu gehört, um uns überhaupt das Sein der Dinge zu Bewußtsein zu bringen, warum soll dieser allgemeinste Begriff von den Dingen, nämlich der des Seins, der durch die Sinne vermittelt wird, mehr Gültigkeit haben, als alle übrigen, die wir auf dem nämlichen Weg von ihnen erhalten? Warum soll er allein von ihnen gelten, alle anderen aber nicht? Daß die Dinge  sind erfahren wir auf keinem anderen Weg, als das,  was  sie sind. Daher hat DÜHRING mit seinem Ausspruch vollkommen Recht, der sich in seiner Abhandlung "De tempore, spatio, causalitate" (Seite 12) findet:
    "Es heißt von der zuerst aufgestellten Definition des Dings-ansich, durch welche letzteres als von unserer Erkenntnis getrennt und unabhängig hingestellt worden ist, völlig abweichen, wenn man die Hauptform aller Erkenntnis, nämlich die Beziehung des Objekts zum Subjekt in der Definition bewahrt und vom Ding-ansich so spricht, als ob es ein Objekt sei. Mit einfachen Worten läßt sich der Widerspruch begreiflich machen, wenn man definiert: das Ding-ansich ist so zu denken, als ob es nicht gedacht würde; oder: das Ding ansich ist als dasjenige zu erkennen, was überhaupt nicht erkannt wird."
Wenn sich die Sache so verhält, so hat unsere Erkenntnis wirklich objektive Bedeutung. Was daher von unseren Bewußtseinserscheinungen gilt, das gilt dann auch von den Dingen, auf welche sie sich beziehen, denen sie korrespondieren. "Das Widersprechende kann nicht sein" ist demnach ein Satz, der unbedenklich auf die Dinge selbst eine gerechte Anwendung finden muß. "Insofern der wirkliche Gegenstand einer begrifflichen Form entspricht, kann er auch nicht Unvereinbarkeiten an sich haben, die schon im bloßen Begriff nicht bestehen können." (37) Ein Sein, in welchem das Widersprechende möglich wäre, würde nie Gegenstand unseres Denkens, nie Grund von Bewußtseinserscheinungen werden können, würde uns nie zu Bewußtsein kommen können, weil dergleichen für uns undenkbar ist. Ein Sein, welches einmal in unser Bewußtsein eingegangen ist, kann daher niemals Widersprüche an sich tragen.

Wenn also die Vorstellung der Freiheit derjenigen vom Kausalzusammenhang allen Geschehens hier in unserem Bewußtsein in Bezug auf menschliche Erscheinungen widerstreitet, und sich nicht damit vereinigen läßt, so existiert diese Unvereinbarkeit auch für den realen Grund jener Erscheinungen, und wir werden sagen müssen, daß Menschen von Fleisch und Blut eines solchen "wunderbaren Vermögens" (38) nicht eilhaftig sein können. Da wir nun schon in voriger Nummer auseinandergesetzt haben, weswegen die Veranlassung, welche KANT für die Annahme einer derartigen Freiheit zu haben glaubte, eine irrige gewesen ist, und sich sonst keine andere dazu findet, so haben wir auch kein Recht, verständigerweise überhaupt so etwas anzunehmen.


V. Eigentümliche Schwächen der kritisierten
Freiheitsvorstellung hinsichtlich der praktischen Lebensanschauung.

Jeder Vernünftige wird eingestehen, daß die von uns bestrittene Freiheitsidee zu den  Jllusionen  gehört, mit denen sich früher wie auch jetzt noch die Mehrzahl der Menschen betrügt Aber er wird auch eingestehen müssen, daß dieser Verlust gerade nicht einmal zu den überaus schmerzlichen und beklagenswerten gehört, wenn dergleichen Befreiungen überhaupt zu beklagen sind. Man muß ganz besonders froh darüber sein, daß man dieser verlustig gegangen ist, wenn man sich folgender wenig empfehlenswerter Eigentümlichkeiten, die ihr eigen sind, erinnert.

Die in Rede stehende Vorstellung zerstört nämlich den letzten und alleinigen Trost (39), der den über ein Vergehen Reue Empfindenden mit sich selbst aussöhnt, über den tatlosen und unfruchtbaren Jammer in Anbetracht des Fehltrittes hinweghebt und sowohl zur Ruhe des Gemüts, als auch zur Energie der Besserung gelangen läßt. Die Trostlosigkeit der Reue muß notwendig ohne Ende sein und unaustilgbar, mit dem Gedächtnis der Tat sich immer wieder erneuern, wenn die Einbildung, daß man in Tat und Wahrheit auf spontane Weise aus unbedingtem Vermögen anders und besser hätte handeln können, nicht als eine Täuschung des Augenblicks, worin der Reaktionstrieb die Alleinherrschaft in uns führt, erkannt würde. Andererseits hebt auch jene Vorstellung das erfolgreichste Mittel zur Besserung, welches noch im Besitz eines solchergestalt mit sich selbst Unzufriedenen wäre, schlechterdings auf. Wenn sich das Übel, welches von demselben beklagt wird, nicht mit Notwendigkeit aus bestimmten Ursachen ergeben soll, aus deren Einsicht sich bestimmte Anhaltspunkte für das umändernde Einwirken auf den eigenen Charakter darbieten würden, so ist eben damit das Richtmaß für die Umgestaltung aufgegeben und zum Nichts erklärt. Nur, wenn wir wirklich einsehen, daß wir aufgrund der tatsächlichen Beschaffenheit unserer selbst und der gegebenen Verhältnisse, in deren Bereich wir uns befanden, so verfahren mußten, als wir den Fehltritt begingen, können wir uns über das Ereignis beruhigt fühlen und einer Verbesserung der Zukunft erst aus voller Kraft entgegenstreben: nur wenn wir unsere Schlechtigkeit in ihrer nackten, unverhüllten Tatsächlichkeit vor Augen stellen und ihre Genesis bis in ihre letzten Gründe verfolgen, werden wir eine Handhabe dafür besitzen, in Zukunft besser zu verfahren. Der bloß reagierende Trieb richtet allein an und für sich nicht so viel aus, besonders wenn er von Natur schwächer angelegt ist. Seine Affektionen halten ihre Zeit ein und treten dann wieder in den Hintergrund, wo sie verharren, bis sie von Neuem zufällig oder methodisch absichtlich herbeigeführte Erregungen erfahren. Erst wenn die Einsicht in die Natur des Trieblebens und seiner Behandlung, in die Bedingungen zu Einschränkungen oder Erregungen sich hinzugesellt, wird das ernstere Streben auf nachhaltigere Erfolge rechnen dürfen.

Ferner kann der unbestimmte und unklare Freiheitswahn dazu Veranlassung bieten, daß wir uns törichten Einbildungen über unsere Fähigkeiten ergeben. Wir können durch ihn verleitet werden, aus Ehrgeiz oder Neid aufgrund oberflächlicher Erregungen uns in Richtungen der Betätigung zu verlieren, zu denen wir eigentlich keine ernsthaften Antriebe empfangen haben. Dagegen lernen wir mit fortschreitendem Bewußtsein über unsere natürliche Anlage und unsere Stellung im natürlichen Zusammenhang unserer Umgebung mit uns selbst zufrieden zu sein und fremder menschlicher Größe reine von Neid und Ehrgeiz unvermischte Bewunderung zollen.

Wenn wir unsere Kräfte besser zu schätzen gelernt haben, sind wir auch imstande, ein unabänderliches Geschick besser von den Veränderlichkeiten unserer Lage, die unserer Tatkraft unterliegen, zu unterscheiden und Geduld und Entsagung ohne Klage zu üben. Hier ist es wiederum die Einsicht einer Notwendigkeit, die Erkenntnis einer Seite unseres Lebens von notwendigem Charakter, was unserem Gemüt Trost und Ruhe verleiht.

Diejenigen, welche dem Freiheitswahn huldigen, sind weit davon entfernt, den Ernst des Lebens einzusehen und recht zu würdigen. Worin besteht denn sonst die Erkenntnis vom Ernst des Lebens, als in einem Bewußtsein von der unumgänglichen Notwendigkeit der einzelnen Lebensvorgänge aufgrund bestimmter Voraussetzungen, welches zu Wege bringt, daß man aus bestimmten Zuständen her keine besseren Früchte erwartet, als dieselben naturgesetzlicherweise liefern können, daß man von daher auf keine anderen Konsequenzen rechnet, als sie notwendig ergeben müssen, wenn man die Lage nicht ändert?


VI. Die metaphysische Freiheit

LICHTENBERG sagt in seinen philosophischen Bemerkungen:
    "Wir wissen mit weit mehr Deutlichkeit daß unser Wille frei ist, als daß alles, was geschieht, eine Ursache haben muß. Könnte man also nicht einmal das Argument umkehren und sagen: Unsere Begriffe von Ursache und Wirkung müssen sehr unrichtig sein, weil unser Wille nicht frei sein könnte, wenn sie richtig wären?" (40)
Im Sinne des Autors hat dieser Ausspruch keine tiefere Bedeutung, und der darin wiedergegebene Gedanke für sein Denken auch keine weiteren Folgen gehabt. Es war ein flüchtiger Einfall, der nicht die Kraft hatte, die kritische Aufmerksamkeit dessen, in dem er aufgetaucht war, ernsthaft auf den Kausalitätsbegriff zu lenken. Gleichwohl ist dieser Begriff einer irrtümlichen Auffassung und Anwendung fähig, deren Wegräumung zwar nich den von uns verurteilten Freiheitsbegriff etwa wieder annehmbar erscheinen läßt, was wohl der augenblickliche Gedanke des angeführten Schriftstellers gewesen sein mag, sondern die Konzeption eines anderen unbedenklich macht, der überhaupt auf jede Existenz in der Welt, von der Wirkungen ausgehen, Anwendung finden muß.

Der Begriff der Ursache ist es nach SCHOPENHAUER und DÜHRING, durch den wir uns die Veränderungen des gegebenen Daseins als möglich denken (41). Die Ursache ist der Grund der Veränderungen (42).

Zur Konzeption des Begriffs der Kausalität werden wir jedesmal in eigentümlicher Weise unwillkürlich vermöge einer Triebkraft unseres Denkens, welche zur Tatsächlichen, weiter nicht erklärlichen Konstitution des menschlichen Verstandes gehört, und in der wir das sogenannte Prinzip der Kausalität zu erkennen haben, genötigt, sobald wir durch etwas Neues einen beharrlichen Zustand oder den gewöhnlichen Lauf der Dinge unterbrochen sehen. Bei der Wahrnehmung jenes Neuen erfahren wir jedesmal in uns einen Zwang, unser Denken von eben demselben zu etwas anderem überzuleiten, was uns noch unbekannt sein kann, was die Ursache eben von Jenem ist und in Wirklichkeit in ebenso engem und notwendigem Zusammenhang mit jenem stehen muß. als von Letzterem unser Gedanke zu ihm selber hineilt. So bringt uns eine menschliche Handlung den Übergang der handelnden Person aus einem Zustand in einen anderen zum Bewußtsein. Hierbei werden wir unwillkürlich durch den Zug, welcher dem bezeichneten Trieb unseres Verstandes innewohnt, genötigt, nach der Urache zu fragen und zu forschen, mit der wir den Vorgang oder, genauer geredet, die neue Lage, in die wir den Handelnden versetzt sehen, notwendig in einen Zusammenhang zu bringen haben.

Darf und muß das Prinzip der Kausalität in naturgemäßer Weise im Hinblick auf gegebene Veränderungen unbedenklich zur Anwendung gelangen, so muß dasselbe in Beziehung auf etwas für widersinnig und unnatürlich gelten, was zur selbstverständlichen und unumgänglichen Voraussetzung der Veränderungen überhaupt gehört. Aller Veränderung muß nämlich ein Sein als Substrat zugrunde liegen, an dem sie sich vollzieht, ein Etwas, was selbst bei aller Veränderung sich selbst gleich beharrt. Der Begriff eines absoluten, sich selbst gleichen, beharrlichen Seins ist eine haltbare Konzeption unseres Denkens: allein eine absolute Veränderung wäre etwas Undenkbares. Von zwei Existenzen, von denen die eine zur anderen in gar keiner Beziehung stände, etwas absolut Anderes, als dieselbe wäre, kann man nicht sagen, daß eine Veränderung von der einen zur anderen vor sich gegangen ist. Denn die Trennung beider soll ja eine absolute sein; und die Veränderung drückt ein enges Band der Beziehung aus. Etwas absolut anderes, etwas, was von einem zweiten gegebenen Sein absolut verschieden wäre, läßt sich gar nicht denken. Ein solcher Gedanke würde einen unmöglichen Dualismus statuieren, gegen den sich die ganze Verfassung unseres Denkens sträubt. Schon daß ich beides nebeneinander denken kann, ist ein Zeichen, daß das eine notwendig zum andern in Beziehung stehen muß. Es ist ganz unmöglich, daß ich mir vorstellen könnte, das eine von beiden liege so außerhalb des Bereichs meiner Erkenntnis, daß ich seine Beziehungen zum andern von Natur aus gar nicht einsehen könnte. Etwas, was ich als einen besonderen Gegenstand, verschieden von einem andern, mir denken muß, muß ich mir auch in ganz bestimmten Beziehungen zu diesem stehend denken: sonst würde es nicht einmal ganz allgemein als Gegenstand meinem Denken darbieten können. Das Denken besteht eben in nichts anderem, als in einem Beziehen seiner Objekte aufeinander, es ist eine Tätigkeit, welche alles, was ihm gegeben wird, miteinander in Zusammenhang setzt, nicht willkürlich, sondern, wie die Natur des Gegebenen selbst es verlangt; welche alles, was zu Bewußtsein kommt, zu einer allumfassenden Einheit verbindet. "Insofern", sagt DÜHRING, alles Denken auf einen einheitlichen Mittelpunkt bezogen wird, ist die Identität des alle Gedanken vermittelnden subjektiven Bandes bereits durch die vereinigende Tätigkeit des Denkens selbst gegeben. Wenn überhaupt ein Denken stattfinden soll, so müssen im Begriff des einheitlichen Seins alle besonderen Denkbestimmungen übereinkommen. Die Identität des Seins überhaupt in allen besonderen Gedankengestalten steht daher von vornherein fest, d. h. sie braucht nicht erst durch eine besondere Gedankenentwicklung ausgemacht zu werden. Ja sie kann dies nicht einmal, denn sie muß vor dem Anfang aller bestimmten Gedankenerzeugung bereits feststehen." (43)

Zur Annahme eines Seins, welches seiner Natur nach zum menschlichen Bewußtsein und Denken niemals in eine Beziehung soll treten können, würde nicht bloß jeglicher Grund fehlen, sondern es würde auch, wie bereits oben ausgeführt wurde (44), in einer solchen Annahme ein Widerspruch enthalten sein. "Was abgesehen vom Verstand sein könnte und möchte, geht den Verstand und das ihm vorliegende System der Dinge nichts an." (45)

Von den Veränderungen überhaupt in der Welt ließe sich sehr wohl in Gedanken abstrahieren. Es bliebe das beharrliche Substrat, das universelle Dasein, der überhaupt vorhandene Vorrat von Dingen übrig, in und an welchen jene sich vollziehen. Vom universellen Dasein in seiner beharrlichen elementaren Beschaffenheit, welches als Grundlage der Veränderungen in der Welt anzusehen ist, läßt sich nun aber nicht abstrahieren. Es bliebe das absolute Nichts zurück, dem völlige Gedankenlosigkeit korrespondiert. Das einheitliche elementare Dasein bietet sich dem Bewußtsein als einfache Tatsache dar und fordert zur Anerkennung und Bejahung heraus. Das einheitliche elementare Dasein weist nicht über sich selbst hinaus, auf ein anderes zurück, durch das es erklärt sein will, sondern es steht ihm nur der abstrakte Gedanke des absoluten Nichts gegenüber,, aus dem Nichts folgt. Es ist daher die größte Torheit, nach einem Grund oder einer Ursache des Seins überhaupt zu fragen und das Prinzip der Kausalität auf dasselbe in Anwendung zu bringen, das nur eine notwendige gegenseitige Beziehung differenter Teile von ihm aufeinander ausdrücken kann (46). "Die Idee der Deduktion des Seins aus bloßen Gedanken (aus Erkenntnisgründen) wird von DÜHRING als "eine kolossale Ungeheuerlichkeit" bezeichnet (47). "Wie wunderlich sich die Anfechtungen der im menschlichen Denken unumgänglichen Vorstellung des Seins ausnehmen müssen", sagt er anderen Ortes, "mag man an einer Ausdrucksweise beurteilen, die eine Folge der fraglichen Leugnung werden müßte. Man hätte nämlich nicht von einem Sein, sondern nur von einer Hypothese des Seins zu reden, und das unbedingte Nichtsein wäre eine in gleichem Maße berechtigte Annahme." (48)

Wir können das Sein durch unser Denken nicht erschöpfen. "Wie mannigfach wir auch die Denkbestimmungen häufen mögen, es bleibt dennoch am Gegenstand etwas Ungedachtes oder zumindest nur formal durch den Begriff der realen Quelle der Vorstellungen Gedachtes zurück." (49) In allen wissenschaftlichen Untersuchungen werden wir uns immer an der Hand des Kausalitätsprinzips auf letzte beharrliche, sich selbs gleiche Elemente zurückgeführt finden. DÜHRING vergleicht die elementaren Tatsachen des Seins mit den Axiomen der apriorischen wissenschaft, "die auch einer Begründung weder fähig noch bedürftig sind", und er sagt in Betreff dessen: "so wenig durch die Selbstgewißheit der Einsichten die Wissenschaft, ebensowenig wird durch die Selbstgenügsamkeit der Tatsachen die Natur beeinträchtigt." (50)

Dies ist also der fehlerhafte Gebrauch der Kausalitätsvorstellung, welcher darin besteht, daß man letztere auf das Universum in seiner elementaren Existenz oder auch auf dasselbe in seinem ganzen vergangenen und zukünftigen Verlauf, also nicht bloß in seiner gesamten räumlichen, sondern auch zeitlichen Existenz in Anwendung bringt. Allerdings gibt es eine gewisse Notwendigkeit des gesamten Systems der Dinge, allerdings kann von einer Notwendigkeit des elementaren Daseins, des Seins in letzter Instanz geredet werden. Der Inbegriff dieser Notwendigkeit muß aber selbstverständlich von ganz anderer Art sein, als der, welcher durch das Verhältnis zwischen zwei Gliedern oder Teilen des gesamten Daseins ausgedrückt wird. Letztere Vorstellung liegt zugrunde, wenn DÜHRING in seiner Dissertation den Ausspruch tut: "Es gibt nur den Begriff einer komparativen oder relativen Notwendigkeit, also daß man die absolute Notwendigkeit für etwas einen Widerspruch in sich Enthaltendes anzusehen hat." (51) Es gibt auch nach DÜHRINGs Meinung wohl eine Notwendigkeit, die nicht auf der Reihe der Begründungen beruth, sondern selbst die Elemente zu diesen Begründungen liefert und in diesem Sinne keine speziellen Voraussetzungen in Gründen und Ursachen haben kann." (52) Diese Notwendigkeit ist jedoch eine Konzeption, welche sich auf die Unverrückbarkeit des Gedankens der gegebenen Tatsachen gründet. Im Hinblick auf diese Art von Notwendigkeit kann man wohl von einem "letzten Grund" reden, "der sich aber auf etwas, was für die Reihen von Begründungen das allgemeine Gesetz abgibt, bezieht". "Er ist der Grund, daß es überhaupt eine Verkettung nach Grund und Folge, nach Ursache und Wirkung gibt: er ist, sozusagen, Grund zweiter Potenz und daher von ganz anderer Art, als die einzelnen Momente, welche in den Reihen der Vorgänge Glied an Glied knüpfen." (53) Wer sieht nicht, daß dieser letzte Grund oder das allgemeine Gesetz des Daseins eine ganz abstrakte Kategorie des Denkens ist, der nichts entspricht, was etwa außerhalb oder über den Dingen existiert, sondern in Wirklichkeit nur etwas korrespondiert, was in den Dingen eben selbst, im gegebenen Dasein verkörpert ist.

Es ist nicht die höhere Notwendigkeit, von der soeben gehandelt worden ist, was die Selbständigkeit oder, was hierunter verstanden wird, die relative Freiheit der einzelnen Glieder des gegebenen Daseins, vornehmlich der Menschen, mit denen wir es ja lediglich hier zu tun haben, vernichtet. Denn im Gegensatz zu dieser Art von Notwendigkeit gibt es für unser Denken keinerlei positive Möglichkeit. Jene Notwendigkeit besteht ja, wie gesagt, in weiter nichts, als in der Tatsächlichkeit des gegebenen Daseins. Dieses letztere ist aber auch die einzige Quelle des positiven Inhalts unserer Vorstellungen. Jene Notwendigkeit besteht also gerade darin, daß wir mit unseren Gedanken über die gegebene Welt in ihrem grundgesetzlichen Charakter nicht hinauskommen, was aber auch niemand bei gesundem Verstand jemals zu wünschen in den Sinn kommen wird. Vielmehr hat jene ungereimte Übertragung der Idee von der kausalen Notwendigkeit auf das ganze System der Dinge zu jener fatalistischen Lehre über die menschliche Existenz geführt, nach welcher die Menschen nichts weiter, als willenlose Instrumente in der Hand eines höheren Wesens sind, das als letzte Ursache allen Seins betrachtet wird. Es wird so von der Selbständigkeit der menschlichen Individualität und ihrer Funktionen nichts übrig gelassen, und ein absolutes Abhängigkeitsverhältnis statuiert, auf dessen in sich Widersprechendes schon aufmerksam gemacht worden ist. Der Mensch bildet eine Einheit von Elementarstoffen und Elementarkräften letzter Instanz, vermöge deren er sich als ein selbständiges Glied des Universmus betrachten kann und muß. Er bezeichnet in der Reihe der gegebenen Sonderexistenzen ein Wesen von eigentümlicher Art, wie es nicht zu allen Zeiten auf unserem Planeten existiert hat. Mit seinem ersten Auftreten als vollendete Sonderexistenz von ganz spezifischer Beschaffenheit ist eine neue Daseinsform geschaffen, wie ihresgleichen vordem nicht in Erscheinung getreten ist. Eine so neue Erscheinung nun auch der Mensch im Vergleich zu dem ihm vorangegangenen Dasein liefert, so kann doch nicht geleugnet werden, daß er die beharrlichen Elemente letzter Instanz irgendwie in sich aufzuweisen haben muß, daß er aus Elementen bestehen muß, die vor ihm waren. Gleichwohl läßt sich auch nicht die Neuheit und Ursprünglichkeit der neuen Erscheinungsform in Abrede stellen, die mitten aus dem Kreis der Daseinsformen der bisherigen Entwicklungsstufe mit einem Mal, wenn auch nicht ganz unvermittelt hervorgetaucht ist und daher nicht aus den Gestaltungen jener allein erklärt werden kann, sondern aus einem eigentümlichen Gestaltungsprinzip folgen muß. Wir können nichts anderes tun, als die Tendenz zu den eigentümlichen Gestaltungen, welche die gegebene Wirklichkeit aufzuweisen hat, von Anfang an als treibende Kraft in den Dingen vorauszusetzen. Wir sehen die stufenweise Abfolge der einzelnen Daseinsformen auseinander im Laufe der Zeit wohl ein; aber wir können diese Abfolge selbst im Ganzen in ihrer Tatsächlichkeit nur anerkennen, ohne einen Grund für dieselbe anführen zu können, aber auch ohne das Bewußtsein eines solchen für möglich zu halten. Die menschliche Erkenntnis kann, wie gesagt, nicht umhin, von gegebenen, selbstgenugsamen Voraussetzungen, die von unmittelbarer Gewißheit sind, auszugehen, seien es nun axiomatische Sätze oder elementare Tatsachen. Die Natur aber, welche nichts neben sich oder über sich hat, produziert als absolut selbständige Quelle aus sich selbst heraus.

Betrachten wir nun den Menschen in seiner Eigenart, in seiner individuellen Einheit, mit seinen eigentümlichen Funktionen als ein Glied der allgemeinen Natur, von besonderem und ursprünglichem Charakter, wie wir bemerkt haben, so sehen wir deutlich, daß er an der allgemeinen Selbständigkeit partizipieren und mit allen anderen wirksamen Sonderexistenzen in der Natur der bereits oben angedeuteten elementaren Freiheit sich erfreuen muß. Indem wir dies anerkennen, brauchen wir uns nicht der Einsicht verschließen, daß ohne seine natürliche Umgebung das menschliche Einzelwesen so gut wie ein Nichts und auch nichts auszurichten imstande wäre. Wir brauchen uns nur vergegenwärtigen, was daraus entstehen würde, wenn wir uns den Menschen völlig isoliert, d. h. aus dem Kontakt und Zusammenhang mit der übrigen Natur herausgerissen und absolut getrennt denken würden. Deswegen können wir uns immer so ausdrücken und sagen: die Natur handelt durch uns, wenn wir selbst unsere Geschäfte verrichten. Unsere relative und besondere Selbständigkeit wird dadurch nicht aufgehoben und hiermit auch nicht unsere relative Freiheit, welche nichts anderes bedeutet. Denn blicken wir auf das, was sich aus unserer natürlichen Wirksamkeit ergibt, so sind das Wirkungen von so eigentümlicher Art, wie sie kein anderes wirksames Glied im Reich der Natur an unserer Staat würde hervorgebracht haben.

Dieser Freiheitsbegriff, der sich also auf die elementare Selbständigkeit des menschlichen Daseins gründet, muß gegen jene fatalistische Vorstellungsweise besonders stark betont und aufrechterhalten werden, welche den Menschen weiter nichts als ein bloßes Geschöpf sein läßt und ihm das Bewußtsein der Ursprünglichkeit seiner Existenz in ihrer elementaren Beschaffenheit und hiermit das echte Lebensgefühl raubt. Das unmittelbare Bewußtsein absoluter Abhängigkeit, dessen der Mensch nach SCHLEIERMACHER nicht allein im Leiden, sondern auch im selbständigen Handeln teilhaftig sein soll, ist eine ungeheuerliche Fiktion, bei der sich gar nichts denken läßt. Ein Abhängigkeitsverhältnis kann nur zwischen den Teilen des Universums, also nur relativ stattfinden. Das Universum selbst aber, die Totalität der Dinge, die gesamte Natur oder, wie man es nennen will, ist absolut Eine und, weil es außer ihm ein anderes Dasein gibt, deswegen nicht sowohl absolut abhängig, was auch die Welt nach SCHLEIERMACHER sein soll, sondern vielmehr absolut frei zu nennen. Die Glieder des Ganzen hingegen sind keine absoluten Existenzen. Es gibt keinen Teil desjenigen, was überhaupt als wirklich seiend angenommen wird, der nicht mit dem übrigen Dasein unzertrennlich verknüpft und auf das Engste verwachsen gedacht werden müßte. Ein dem einheitlichen subjektiven Band, welches im menschlichen Bewußtsein alles fest umschling und zusammenklammert, entsprechender unauflöslicher Zusammenhang muß auch in der objektiven Wirklichkeit existieren. Der Gedanke der Möglichkeit einer absoluten Trennung oder einer absoluten Teilexistenz ist für uns unvollziehbar, worauf bereits oben hingewiesen ist. Ist nun auch alles einzelne Dasein zueinander gehörig und in einem wechselseitigen Zusammenhang zu denken, so darf doch auch mit der Formel "Alles in Allem" kein gedankenloses Spiel getrieben werden. In allem Besonderen findet sich allerdings eine allgemeine Beziehung zu allem Übrigen: dadurch wird aber die relative Isolierung des Besonderen nicht aufgehoben. Es gibt nähere und entferntere Beziehungen der Dinge aufeinander. Die realen Mächte, welche die Dinge miteinander in eine gewisse Beziehung setzen, sind von eigentümlicher Art und jede auf ein beschränktes Gebiet angewiesen. Der Schall kommt z. B. nur innerhalb des Luftkreises in Betracht. Denn bekanntlich erstrecken sich die Luftwellen nicht auf den Äther, der nur Licht und Wärme fortpflanzt. Der Bereich des Luftkreises ist gegen den Äther ebenso abgeschlossen, wie etwa der Bereich des flüssigen Elements gegen die Luft. Wenn wir ferner auch sagen müssen, daß es keinen Teil im Weltall gibt, der jemals unabhängig von seiner Umgebung und mittelbar auch von allem Übrigen befunden werden könnte, so besteht doch unbeschadet dessen auch das umgekehrte Verhältnis, welches eine unmittelbare Abhängigkeit anderer Teile und eine mittelbare überhaupt aller übrigen von jedem einzelnen Teil des Ganzen ausdrück. Und sodann ist doch wohl zu bedenken, wessen bereits auch oben Erwähnung getan ist, daß aus dem Abhängigkeitsverhältnis des Einzelnen von allem Übrigen, was in der Welt existiert, keineswegs resultiert, daß die Existenz des Einzelnen durch die Beziehungen zu allem Übrigen erschöpft oder gleichsam verschlungen würde. Sämtliche besonderen einzelnen Gebilde innerhalb der Natur sind aus Elementen letzter Instanz zusammengesetzt, vermöge deren sie zum ursprünglichen ungeschaffenen Dasein gehören und als selbständige Glieder des Weltalls zu betrachten sind. Insofern können sie auch gewissermaßen als letzte Gründe der Weltgestaltung gelten, welche in eigentümlicher Weise aktiv in das Spiel der die kosmische Entwicklung bedeutenden Veränderungen eingreifen. Zu diesem Bewußtsein seiner letzten und höchsten Bedeutung in der Welt, zu diesem Bewußtsein seiner selbs muß sich auch der Mensch erheben. Der Mensch darf sich nicht als ein bloßes Geschöpf betrachten. Im Geschöpf sind Elemente, die nicht geschaffen, sondern von ewiger, unvergänglicher Natur sind. Als einheitliches Gebilde, als individuelle Erscheinung freilich fängt er an und hört er auf zu sein. Aber auch als individuelle Erscheinung ist und existiert er wirklich nur auf elementarer Grundlage. Im unmittelbaren Bewußtsein des Gefühls und der Empfindung ist der Mensch sich in jedem gegenwärtigen Augenblick niemals einer Abhängigkeit, sondern seines Seins und seiner Selbständigkeit stets eigentümlich bewußt, und es gibt keine fernere Gedankenentwicklung, welche dieses Bewußtsein in ihm völlig aufzuheben oder völlig aufzulösen vermöchte. In der Gegenwart ist die volle Wirklichkeit gegeben. In der lebendigen Empfindung, im vollen Gefühl des Augenblicks nimmt demnach das menschliche Subjekt im höchsten Sinne und Maß in eigentümlicher Weise unmittelbar bewußt am Dasein teil. Alle Wendungen, die eine Verzichtleistung des Menschen auf seine soeben gekennzeichnete Selbständigkeit ausdrücken, müssen als fehlerhaft bezeichnet werden. Der Mensch darf sich niemals ganz und gar als bloße Wirkung einer Ursache oder irgendwelcher Ursachen ansehen: sein Dasein ist etwas mehr, als eine bloße Wirkung. Dasjenige, worin nach LUDWIG FEUERBACH die Religiosität besteht, bezeichnet daher auch nicht das höchste Bewußtsein, das der Mensch von sich haben kann. "Die Religiosität ist nach  Feuerbach  gar nichts anderes, als die Tugend, kraft welcher der Mensch sich den stolzen Titel eines Autors abspricht, die Werke, die er schafft, selbst die Werke der Feuer- und Webekunst, sich nicht als Verdienst anrechnet, weil er die Anlagen, die Prinzipen zu diesen Kunstfertigkeiten von Natur, aber nicht von sich hat"; oder: "das Wesen der Religion ist das Bewußtsein oder Gefühl, daß ich Mensch, aber nicht die Ursache des Menschen bin, lebe, aber nicht die Ursache des Lebens, sehe, aber nicht die Ursache des Sehens bin" (54). In dem Bewußtsein, daß ich wirkliche Naturprinzipien in mir aufzuweisen habe, die eben ursprünglichen Charakters sind, muß ich mich über all die Vorstellungen erheben, vermöge deren ich mir meiner natürlichen Abhängigkeit bewußt bin. Denn ich bin mir in ihm des eigensten und innersten Kerns meines Daseins bewußt. Dieses Bewußtsein muß mir sagen, daß ich mich mit allem übrigen Sein mindestens in gleicher Linie befinde. Dieses Bewußtsein berechtigt mich zu einem gewissen stolzen Selbstgefühl. Dieses Bewußtsein liegt unter anderem auch folgenden Worten DÜHRINGs zugrunde:
    "Der Mensch hat, sobald er zur Würde der auf sich selbst ruhenden Einsicht und des innerlich verstandenen, auf dem Naturgrund ruhenden, sich selbst klaren Wollens gelangt ist, mit nichts als dem Boden unter sich, der Luft über sich und Seinesgleichen neben sich zu schaffen. Die ihn umgebende Natur, sei sie irdisch oder kosmisch, erregt ihn nach allen Richtungen, aber verbindet ihn nicht, und legt ihm keine moralischen oder autoritären Gesetze auf. Von Seinesgleichen hat er keinen Willen anzunehmen, den er nicht selbst üben könnte, und wo sie ihn verbindlich machen wollen, müssen sie sich auf etwas berufen, was ihnen mit ihm gemeinschaftlich ist." (55)

LITERATUR - Franz Wollny, Über Freiheit und Charakter des Menschen, Leipzig 1876
    Anmerkungen
    1) SCHOPENHAUER, Die beiden Grundprobleme der Ethik, Seite 12
    2) siehe weiter unten IV.
    3) siehe SCHOPENHAUER, Die vierfache Wurzel etc.", Seite 88
    4) HUME, Essay concerning human understanding (Übersetzung von KIRCHMANN), Seite 70.
    5) siehe weiter unten V.
    6) SPINOZA, Ethices Pars III, propos. 51
    7) EUGEN DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 22
    8) JOHN LOCKE, Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, Kap. 21, § 28.
    9) In ROUSSEAU hielten z. B. die beiden Neigungen einerseits zu Madame  von Warens,  andererseits zu Madame  de Larnage  einander das Gleichgewicht, so daß er der Stimme der Vernunft folgen konnte. Vgl. Confession, Seite 229, Paris 1865
    10) SPINOZA, Ethices pars IV, propos. 7
    11) HELVETIUS, de l'esprit, Paris 1776, Seite 128
    12) siehe DÜHRING, Kursus der Philosophie, Seite 186
    13) DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 188
    14) DÜHRING, ebd. Seite 189
    15) MORITZ DROBISCH, Die moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit, Seite 68 und 69
    16) Vgl. HUME, Untersuchungen über den Menschlichen Verstand (KIRCHMANN-Ausgabe), Abt. VIII, Abschn. I. Anm. F, Seite 86f. - SPINOZA, Ethices pars II, prop. 35 und 48.
    17) LOCKE, Versuch über den menschlichen Verstand, Buch II, Kap. 21.
    18) LOCKE, a. a. O., § 5, 50, 53
    19) KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede, Anm. 1
    20) siehe II.
    21) siehe DÜHRING, Wert des Lebens, Seite 171
    22) DÜHRING, ebd.
    23) KANT, Kr. d. r. V. in der Ausgabe von HARTENSTEIN, Seite 374f
    24) Man muß sich wohl davor hüten, eine Verwechslung der kantischen Meinung mit einem Gedanken zu begehen, den ihr SCHOPENHAUER in seiner gekrönten Preisschrift über die Freiheit irrtümlicherweise untergelegt hat. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß sie, zweideutig gehalten, allerdings diesen Sinn nicht ganz ausschließt, wenn man KANTs in der Kr. d. r. V. nur leicht berührte moralischen Gesichtspunkte dort außer Acht läßt. KANT will die moralische Freiheit oder Willkür gerettet wissen, vermöge deren man unbedingt jede Handlung sowohl tun als auch soll lassen können. Die "höhere Ansicht" SCHOPENHAUERs von der Freiheit (vgl. die beiden "Grundprobleme der Ethik", Seite 90) befindet sich nicht im Einklang mit dieser Auffassung. Dieselbe sieht das menschliche Ding-ansich bei KANT als Substanz an und die Freiheit desselben als Unabhängigkeit von verändernden Einflüssen, also, sozusagen als Freiheit von Veränderlichkeit. Hierin ist SCHOPENHAUER ganz fatalistisch gesonnen und von einer kantischen Absicht offenbar völlig entgegengesetzter Tendenz. KANTs Konzeption vom intelligiblen Charakter, von dem im Folgenden gehandelt wird, erlaubte freilich sehr wohl die SCHOPENHAUERsche Wendung. Die letztere erfährt übrigens weiter unten, wo von SCHOPENHAUER ausführlicher die Rede ist, noch eine eingehendere Besprechung.
    25) Vgl. Kr. d. r. V., Seite 381, 81 und "Kritik der praktischen Vernunft", Seite 103, 104 (Ausgabe HARTENSTEIN, Bd. V)
    26) vgl. Kr. d. r. V., Seite 375
    27) vgl. Kr. d. r. V. Seite 384
    28) siehe Kr. d. r. V., Seite 384
    29) SCHOPENHAUER, Grundprobleme der Ethik, a. a. O., Seite 46
    30) SCHOPENHAUER, der Nachfolger KANTs, hat sich mehr an den intelligiblen Charakter desselben, als an die intelligible Freiheit im eigentlich kantischen Sinn gehalten. Jener ist eine dem natürlichen Zug des Verstandes mehr entsprechende Aufstellung. Die intelligible Freiheit bei SCHOPENHAUER widerspricht demselben nicht. Sie ist aber von der kantischen, wie schon bemerkt, grundverschieden. SCHOPENHAUERs Freiheit ist rein negativ und bedeutet die Gefeitheit gegen Einwirkungen irgendwelcher Art, die Unabhängigkeit von allen meliorierenden [verbessernden - wp] oder depravierenden [verderblichen - wp] Eindrücken, wenn man will. Die kantische Freiheit ist in einem positiven Sinn zu nehmen. Sie soll ein Vermögen bedeuten, das eingreifen kann, wie es ihm beliebt.
    31) siehe DÜHRING, Geschichte der Philosophie, Bd. II, Seite 409
    32) DÜHRING, ebd. Seite 421
    33) siehe DÜHRING, ebd. Seite 409
    34) siehe DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 73. Vergleiche hierzu SCHOPENHAUER, Über den Willen in der Natur, Seite 39: "Nicht ein Intellekt hat die Natur hervorgebracht, sondern die Natur den Intellekt."
    35) siehe DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 73.
    36) siehe DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 39
    37) siehe DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 21
    38) siehe SCHOPENHAUER, Grundprobleme der Ethik, Seite 45
    39) siehe SCHOPENHAUER, Grundprobleme der Ethik, Seite 60
    40) LICHTENBERGs Vermischte Schriften, Göttingen 1867, Bd. 1, Seite 70.
    41) Vgl. SCHOPENHAUER, Vierfache Wurzel, Seite 34f und DÜHRING, Kursus der Philosophie, Seite 37: "der genaue Begriff der Kausalität ist stets mit dem Hinblick auf eine Veränderung oder Differenz verbunden."
    42) Das ist mitnichten, wie es wohl den Anschein haben könnte, eine Tautologie. Es ist nämlich zwischen einem allgemeineren und engeren Begriff hier zu unterscheiden. Der Begriff des Grundes ist in unserem Sinne allgemeinerer Natur und bezieht sich auf jede  causa cognoscendi.  Die Erkenntnisgründe zerfallen aber in Gründe der Verhältnisse im Raum und in Gründe der Verhältnisse in der Zeit. Zu den ersteren gehören namentlich alle apriorischen mathematischen Einsichten, aus denen sich andere ableiten lassen. Den Begriff der Ursache wenden wir auf dieses Gebiet nicht an, wo uns vielmehr derjenige des Grundes allein geläufig ist. Der Begriff der Ursache wird lediglich auf reale Veränderungen in der Zeit bezogen, die wir erst durch Erfahrung kennen lernen.
    43) siehe DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 39f
    44) siehe oben V.
    45) siehe DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 120.
    46) siehe SCHOPENHAUER, Vierfache Wurzel etc. Seite 43 und 45: "Von der endlosen Kette der Ursachen etc.", ebd. § 24, Seite 93.
    47) DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 73.
    48) DÜHRING, Kritische Geschichte der Philosophie, Bd. II, Seite 287.
    49) DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 73
    50) vgl. DÜHRING, Kursus der Philosophie, Seite 34
    51) EUGEN DÜHRING, De tempore, spatio, causalitate, Seite 66
    52) vgl. DÜHRING, Kursus der Philosophie, Seite 35
    53) siehe DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 80
    54) siehe LUDWIG FEUERBACH, Vorlesungen über das Wesen der Religion, Leipzig 1851, Seite 406f
    55) siehe DÜHRING, Kursus der Philosophie, Seite 7