ra-2 A. BolligerW. LexisB. Erdmann    
 
MORITZ WILHELM DROBISCH
Die moralische Statistik
und die Willensfreiheit

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"Wo konstante Ursachen mit irregulär variierenden akzidentiellen zusammenwirken, macht sich nun also die  Gesetzlichkeit  der Erscheinungen durchaus erst an einer  großen Zahl  derselben bemerkbar und gilt eben auch nur für  diese.  Sie ist unerkennbar an  kleinen  Zahlen."

1. Einleitendes

Daß in der Natur  nichts zufällig  geschieht, sondern alles Entstehen und Vergehen, alle Veränderungen  notwendige Folgen von wirksamen Ursachen  sind, ist heutzutage ein allgemein anerkannter Grundsatz, der sich durch die exakte Erklärung einer großen Menge von Naturerscheinungen längst als eine berechtigte Voraussetzung erwiesen hat und an den stetigen Fortschritten der Naturerkenntnis sich immer wieder aufs neue bewährt. Gleichwohl geht man viel zu weit, wenn man ohne Einschränkung die  Naturgesetze selbst  als  notwendige  Gesetze bezeichnet. Zunächst nämlich ist zu beachten, daß alle bloß durch Beobachtung und Induktion aufgefundenen  empirischen  Naturgesetze zwar  allgemeine und ausnahmslose Regeln  sind, welche nachweisen, daß eine Gruppe mannigfaltiger oder veränderlicher Erscheinungen durch das Band eines konstanten Zusammenhangs verknüpft ist; aber dieser Zusammenhang wird nur als ein  tatsächlicher, nicht  aber schon als ein  notwendiger  erkannt, und dem Gesetz kommt daher an und für sich gleichfalls keine andere als eine bloß tatsächliche, faktische Geltung zu. Eine notwendige Geltung erlangt es erst dann, wenn es gelingt, zu zeigen, daß der in ihm ausgesprochene Zusammenhang der Erscheinungen die notwendige Folge einer Kombination von angebbaren zusammenwirkenden Ursachen ist. So waren z. B. die KEPLERschen Gesetze solange nur  tatsächlich  gültige allgemeine Regeln der Planetenbewegungen bis NEWTON bewies, daß sie die notwendigen Folgen des Zusammenwirkens der anziehenden Kraft der Sonne mit einer von der Richtung und Stärke dieser Anziehung unabhängigen, den Planeten ursprünglich erteilten geradlinigen und gleichförmigen Bewegung sind. Hierdurch erhielten nun zwar die KEPLERschen Gesetze  notwendige  Gültigkeit, aber das NEWTONsche Gesetz der Gravitation, nach dem, wie bekannt, die Himmelskörper sich im direkten Verhältnis ihrer Massen und im umgekehrten quadratischen Verhältnis ihrer Entfernungen anziehen, hat bis auf diesen Tag  nicht notwendige,  sondern nur  tatsächliche  Geltung. Denn noch niemand hat erklärt, unter welchen Bedingungen sich Massenteile überhaupt anziehen, unter welchen anderen sie sich abstoßen  müssen,  und daß,  wenn  Anziehung stattfindet, sie  nicht nach anderen  Verhältnissen als den tatsächlich gegebenen wirken  kann.  In vielen Teilen der Naturwissenschaft ist aber eine solche Deduktion der Notwendigkeit der empirischen Gesetze noch nicht einmal gelungen und überall wo sie gelungen ist, haben die höheren Gesetze, aus denen die empirischen mit Notwendigkeit folgen, nicht notwendige, sondern nur diejenige faktische Geltung, die durch die Übereinstimmung ihrer Konsequenzen mit den Erscheinungen verbürgt wird. Zwar kann man sie in einem anderen Sinn wohl notwendig nennen. Sie sind nämlich allerdings  notwendige Voraussetzungen,  ohne welche die Frage,  warum  die Erscheinungen gerade unter  diesen  empirischen Gesetzen stehen, unbeantwortet bleiben würde. Aber  diese  Notwendigkeit ist nur eine  subjektive  und  relative,  keine objektive und absolute: sie gilt nur  für uns,  sie macht unserem Denken die wunderbare Regelmäßigkeit, die das empirische Gesetz an den Erscheinungen nachweist, begreiflich, gibt uns aber nicht die mindeste Einsicht darüber, daß jene Ursachen und Kräfte, durch deren Annahme wir die Forderungen unseres nach dem Warum fragenden Denkens befriedigen,  nicht anders wirken können,  als es geschieht, also das Gesetz ihrer Wirksamkeit ein  innerlich notwendiges  ist. Die mathematische Dynamik, auf welche, als die letzte und höchste Instanz, alle naturwissenschaftlichen Theorien zurückgeführt werden müssen, weiß mit gleicher Genauigkeit und Gewißheit die Bewegungen anzugeben, die mit Notwendigkeit erfolgen müßten, wenn Kräfte nach Gesetzen wirkten, die in der Natur gar nicht angezeigt sind, wie sie die wirklich gegebenen, beobachteten Bewegungen aus Kräften zu deduzieren vermag, deren Gesetze durch die Erscheinungen diktiert sind; sie weiß nicht nur die Bahnen, welche die Planeten  wirklich  beschreiben, aus dem NEWTONschen Gravitationsgesetz als notwendige Folgen abzuleiten, sondern auch  die  Bahnen zu bestimmen, welche die Planeten beschreiben  müßten, wenn  sie von der Sonne etwa im direkten einfachen oder im umgekehrten kubischen Verhältnis der Entfernungen angezogen würden. Das Gravitationsgesetz ist also für die allgemeine mathematische Dynamik nur ein einzelner Fall unter unendlich vielen anderen gleich denkbaren Voraussetzungen und es liegt dieser Dynamik daher fern, die Nachweisung innerer Notwendigkeit des Gravitationsgesetzes auch nur zu versuchen. Für den naturwissenschaftlichen Standpunkt dagegen kann das Graviationsgesetz immerhin wieder als ein höheres  Problem  betrachtet werden, an dessen Lösung sich zu versuchen jedoch bisher meistens nur den Metaphysikern überlassen worden ist. (1)

Demnach ziemt es nun der Naturwissenschaft, selbst in ihren entwickeltsten Zweigen, nur, zu sagen: der Wechsel der Erscheinungen erfolgt so, wie es geschehen  muß,  wenn wir annehmen, daß es Kräfte gibt, die, je nach Maßgabe der Eigentümlichkeit der Erscheinungen, nach diesem oder nach jenem Gesetz wirken; woher diese Kräfte aber stammen und warum ihre Wirksamkeit an diese und keine anderen Gesetze gebunden ist - wissen wir nicht. Die Naturwissenschaft kennt also, um das noch einmal zu sagen,  keine absolut und ansich notwendigen Gesetze,  sondern nur teils empirische, die das Gegebene unter eine allgemeine Regel bringen, teils solche, die, um diese empirischen Gesetze aus höheren Gründen ableiten zu können, hypothetisch vorausgesetzt werden.

Dürfen wir also vom Standpunkt des Naturforschers aus, der sich aller metaphysischen Erörterungen enthält und sich nur des formal logischen und mathematischen Denkens bedient, allein von einem  relativ notwendigen  Zusammenhang im Naturlauf sprechen, so ist andererseits von diesem letzteren in einem gewissen Sinne auch die  Zufälligkeit  nicht unbedingt auszuschließen. Wir meinen damit diejenige Zufälligkeit, die sich häufig im Zusammentreffen von Ereignissen kundgibt. Jedes Ereignis hat zwar seine näheren und entfernteren Ursachen, aber die Ursachen gleichzeitiger Ereignisse stehen oft außer allem Zusammenhang oder sie haben mindestens einen in so weiter Vergangenheit liegenden gemeinsamen Ausgangspunkt, daß die Ketten, deren Schlußglieder sie sind, von uns als außer aller Verbindung stehend angesehen werden. So nennen wir z. B. das Zusammentreffen des Todes oder der Geburt eines großen Mannes mit einem selteneren Himmelsereignis (wie etwa des Todestags KANTs am 12. Februar 1804, mit einer Sonnenfinsternis oder des Geburtsjahrs NAPOLEONs und WELLINGTONs, CUVIERs und ALEXANDERs von HUMBOLDT mit dem Jahr des Durchgangs der Venus durch die Sonne, 1769) ein zufälliges. Oder wir nennen es einen unglücklichen Zufall, daß, als das Strohdach einer am äußersten Ende eines Dorfes liegenden Scheune durch Spielen von Kindern mit Zündhölzchen in Brand gesteckt wurde, gerade in heftiger Wind nach dem Dorf hin wehte und dieses daher gänzlich eingeäschert wurde. Diese Zufälligkeit macht sich nun auch bei iner gewissen Art von empirischen Naturgesetzen geltend, die von der zuvor besprochenen Art wesentlich verschieden ist. Die Gesetze, von denen bisher die Rede war, sind nämlich allgemeine Regeln, die auf  alle  ihnen untergeorneten Fälle Anwendung finden, jeden einzelnen in seiner Individualität gemäß der Regel bestimmen. Denn nach welcher Richtung z. B. ein Lichtstrahl in ein brechendes Medium eindringen möge, so steht doch immer der Sinus seines Einfallswinkels zum Sinus seines Brechungswinkels in demselben konstanten Verhältnis; und jeder Teil einer Wassermasse, sei er groß oder klein, ist doch immer aus acht Gewichtsteilen Sauerstoffgas und einem Gewichtsteil Wasserstoffgas gemengt, deren Volumina sich wie 2 zu 1 verhalten. Es gibt dagegen auch empirische Gesetze, die gar nich für den einzelnen Fall, sondern  nur für das Mittel aus einer großen Anzahl von Fällen  Geltung haben. Hierher gehört z. B. das Drehgesetz der Winde, wonach in der gemäßigten Zone der nördlichen Halbkugel der Erde der Wind  im Mittel  die Himmelsgegenden in der Ordnung S-W-N-O-S, auf der südlichen Halbkugel in der umgekehrten Ordnung durchläuft. Ebenso bestimmt das Sterblichkeitsgesetz die noch zu erwartende Lebensdauer für jedes Alter, aber nur für den  mittleren  Menschen dieses Alters. Streng genommen gehören selbst die KEPLERschen Gesetze hierher; denn sie gelten nur für die Bewegungen der Planeten in ihren  mittleren  Bahnen, von denen diese unaufhörlich, bald mehr bald weniger, abweichen. In diesem letzteren Fall erklärt nun allerdings das höhere Gesetz der Gravitation diese Abweichungen vom Mittel daraus, daß sich nicht nur Sonne und Planeten, sondern auch diese untereinander wechselseitig anziehen. Abstrahiert man aber von diesen gegenseitigen Anziehungen und zieht in Betracht, daß die Massen der Planeten im Vergleich mit der Masse der Sonne nur sehr klein sind, so resultiert die reine elliptische Bewegung in unveränderlichen Bahnen. Es ist also hier zu unterscheiden zwischen der  konstanten  Ursache der Gesetzlichkeit der Planetenbewegungen im Großen und Ganzen, die in der weit überwiegenden Anziehung der Sonne ihren Sitz hat, und den  variablen  oder  akzidentiellen  [zufälligen - wp] Ursachen der Abweichungen von den mittleren Bahnen, die auf den veränderlichen Stellungen der Planeten zueinander und der großen Ungleichheit ihrer Massen beruhen. Aber hier stehen auch diese akzidentiellen Ursachen unter demselben höheren Gesetz wie die konstante Ursache (denn auch die sogenannten Störungen erklären sich aus dem Gravitationsgesetz); darum erscheint hier  nichts als zufällig,  und läßt sich für jeden gegebenen Zeitpunkt die Abweichung eines Planeten von seiner mittleren Bahn vorausberechnen. Nicht so aber die Richtung der Winde, obgleich ihre Änderung im allgemeinen unter dem Drehgesetz steht. Die allgemeine Ursache der Winde ist die Störung des Gleichgewichts der Atmosphäre. Diese wird teils durch die Anziehungen von Sonne und Mond bewirkt, welche Ebbe und Flut in der Atmosphäre erzeugen, teils durch die ungleiche Erwärmung der Erdoberfläche durch die Sonne, die einem täglichen und jährlichen periodischen Wechsel unterliegt und wieder durch die ungleiche Erwärmbarkeit und Abkühlbarkeit von Land und Meer, die Verschiedenheit der Bodenverhältnisse, die Gestaltung, Erhebung oder Senkung des Landes und dgl. mehr mannigfaltig modifiziert wird. In Bezug auf die Richtung der Winde kommt noch als ein höchst wichtiges Moment die Rotation der Erde um ihre eigene Achse hinzu, zufolge welcher die westöstliche Drehgeschwindigkeit der Teile der Atmosphäre mit den wachsenden geographischen Breiten abnimmt. Durch diese, teils konstanten, teils periodisch wiederkehrenden Ursachen ist alle Regelmäßigkeit, welche an der Richtung der Winde und ihrem Wechsel beobachtet wird, bedingt. Sie tritt aber als eine  ausnahmslose  nur da auf, wo eine dieser Ursachen die anderen entschieden überwiegt, wie bei den Passatwinden, den Moussons [Monsun - wp] und dem täglichenn Wechsel von Land- und Seewinden an den Meeresküsten. Wo dagegen zwar ein  permanentes  Überwiegen einer der Ursachen  nicht  stattfindet, eine solche sich doch aber in längeren Zeiträumen vor den übrigen Ursachen geltend macht, da leuchtet zwar im Großen und Ganzen oder  durchschnittlich  noch immer eine Regel durch, die aber im Einzelnen vielfache Ausnahmen erleidet. Diese rühren aber auch noch von anderen Ursachen her, die weder konstant noch periodisch sind und sich jeder gesetzlichen Bestimmung, daher auch jeder Vorausberechnung entziehen. Solche akzidentielle Ursachen sind z. B. bei den Winden die ab- und zunehmende Ausdehnung der Eisfelder in den Polarregionen, die Ablösung von Eisbergen, welche unter südlicheren Breiten schmelzen und verdunsten, vulkanische Eruptionen, Erdbeben und dgl. mehr. Auch der Mensch greift hier in sehr merklicher Weise in den Naturlauf ein. Die Ausrottung von Wäldern, die Austrocknung von Sümpfen und Seen verändert das Klima, die Wärme- und Feuchtigkeitsverhältnisse eines Landes und mit diesen die Luftbewegungen; jede Stadt, ja jedes Dorf bringt Änderungen in der Erwärmung der Atmosphäre hervor, jede Feuersbrunst erzeugt lokale Luftströmungen usf. Das Zusammentreffen solcher akzidentieller Ursachen mit den konstanten und periodischen, von denen ihr Auftreten unabhängig ist, kann nun im obigen Sinne ein  zufälliges  genannt werden, ohne daß damit dem Satz, daß nichts in der Natur zufällig geschieht, das mindeste vergeben wird.

Viel einfacher als an so verwickelten Naturerscheinungen, und daher klarer und übersichtlicher, läßt sich das Ineinandergreifen konstanter und akzidentieller Ursachen an folgendem bekannten Beispiel erläutern, wo alle bedingenden Umstände offen vorliegen. Nehmen wir an, ein zylindrisches Gefäß enthalte eine unbekannte Anzahl (a) weißer und eine gleichfalls unbekannte andere Anzahl (b) schwarzer, im übrigen aber jenen weißen völlig gleicher Kugeln wohl durcheinander gemischt, also in keiner durch irgendwelche Regeln bestimmbaren Ordnung und Lage. Man nehme nun blindlings aus dem Gefäß eine Kugel heraus, merke ihre Farbe, werfe sie dann wieder in das Gefäß, mische die Kugeln von neuem, nehme dann wieder eine Kugel heraus, merke ihre Farbe, werfe sie wieder in das Gefäß, mische aufs neue und wiederhole dieses Verfahren eine große Anzahl von Malen. Der Wechsel in der Farbe der gezogenen Kugeln wird nun zwar völlig regellos sein: es werden weiße und schwarze Kugeln bald einzeln wechseln, bald hintereinander mehrere weiße, dann wieder mehr oder weniger schwarze gezogen usf. Aber je öfter sich die Ziehungen wiederholen, umso mehr wird das  Verhältnis  zwischen der Zahl der gezogenen weißen und der Zahl der gezogenen schwarzen kugeln sich dem Verhältnis der Zahlen  a  und  b  nähern, in welchen bezüglich die weißen und die schwarzen Kugeln im Gefäß wirklich vorhanden sind und man wird daher aus dem sich ergebenden Verhältnis zwischen den gezogenen weißen und schwarzen Kugeln schließen können, daß die Mengen der in dem Gefäß enthaltenen Kugeln beider Farben beinahe in demselben Verhältnis stehen, wobei die absoluten Zahlen dieser Kugeln selbstverständlich unbekannt bleiben. Wenn also z. B. unter 100 sukzessiv gezogenen Kugeln 71 weiße und 29 schwarze sind, so ist das Verhältnis dieser zu jenen

29 : 71 = 1 : 2,448

Wenn sich dann nach 300 Ziehungen ergeben hätte, daß 231 Kugeln weiß und 69 schwarz waren, das Verhältnis dieser zu jenen also
69 : 231 = 1 : 3,347

ist; wenn unter 500 gezogenen Kugeln sich 373 weiße und 127 schwarze gefunden hätte, die das Verhältnis
127 : 373 = 1 : 2,937

geben; endlich wenn bei 700 Ziehungen 524 Kugeln weiß und 176 schwarz waren, also die schwarzen zu den weißen im Verhältnis
176 : 524 = 1 : 2,977

stehen, - so kann man mit Wahrscheinlichkeit schließen, daß in dem Gefäß dreimal soviel weiße als schwarze Kugeln enthalten sein werden. Denn der Quotient des ersten Verhältnisses ist um 0,552 kleiner als 3, der des zweiten um 0,347 größer, der des dritten um 0,063 kleiner, endlich der des vierten nur noch um 0,023 kleiner als 3. Das Verhältnis der Zahl der gezogenen schwarzen Kugeln zur Zahl der gezogenen weißen nähert sich also immer mehr dem Verhältnis 1 : 3.

Diese allmählich hervortretende Beständigkeit des Verhältnisses zwischen den Zahlen der doppelfarbigen Kugeln ist nun ebenso erklärlich wie die völlige Regellosigkeit im Wechsel der Farben. Die Farbe, welche jede einzelne Kugel hat, ist nämlich bedingt
    1) durch die Anordnung, nach welcher vor jeder Ziehung die schwarzen und die weißen Kugeln im Gefäß nebeneinander gelagert sind und

    2) durch die Richtung der Hand, welche jedesmal eine derselben ergreift.
Es ist daher  nicht zufällig,  welche Farbe jede gezogene Kugel hat, sondern diese ist durch die beiden angegebenen Bedingungen  mit Notwendigkeit  bestimmt. Die Farbe läßt sich aber  nicht voraussagen,  weil weder zwischen den verschiedenen sukzessiven Lagen und Anordnungen der doppelfarbigen Kugeln im Gefäß, noch zwischen den sukzessiven Richtungen der eingreifenden Hand ein gesetzlicher Zusammenhang besteht, sondern das eine wie das andere  völlig regellos  ist, noch weniger endlich zwischen den einzelnen Lagen der Kugeln und den einzelnen Richtungen der aus einer solchen Lage eine Kugel herausgreifenden Hand irgendeine Beziehung stattfindet. Das Resultat jeder Ziehung würde daher selbst dann noch nicht vorauszusagen sein, wenn die Hand absichtlich entweder immer konstant dieselbe Richtung innehielte, oder nach einer festen Regel sukzessiv ihre Richtung änderte; denn die Unregelmäßigkeit in den sukzessiven Lagerungen der Kugeln bliebe doch immer übrig. Man wird daher, unbeschadet der zuvor anerkannten notwendigen Bedingtheit der Farbe der gezogenen Kugel, doch in jenem anderen Sinne sagen können, daß es  zufällig  sei, ob die Hand eine schwarze oder eine weiße Kugel ergreifen werde.

Man könnte sich vielleicht einen Augenblick dem Gedanken hingeben, daß diese übrig bleibende Zufälligkeit auf Rechnung der  Willkür  zu schreiben sei, die, auch wenn das Ergreifen eine feste Regel beobachtet, bei der Mischung der Kugeln stattzufinden scheint. Allein der ganze Ziehungsprozeß läßt sich leicht so abändern, daß alle menschliche Willkür dabei ganz aus dem Spiel bleibt. Denn man ersetze das Gefäß durch eine zylindrische Trommel, die sich um eine horizontale Achse dreht und an ihrer zylindrischen Oberfläche eine durch einen Schieber verschließbare kreisrunde Öffnung hat, weit genug, um gerade einer Kugel den Durchgang zu verstatten. Man bestimme, daß die Mischung der Kugeln jedesmal durch die gleiche Anzahl von Umdrehungen der Trommel, z. b. 10, bewirkt werden und am Ende jeder Drehung, also auch bei der letzten, die verschlossene Öffnung die tiefste Stelle einnehmen soll. Man ziehe nun den Schieber so zurück, daß eine, aber auch nicht mehr als eine Kugel herausfällt, schließe die Öffnung wieder, bringe sie in die oberste Lage und lasse die gezogene Kugel, nachdem ihre Farbe notiert worden ist, wieder hineinfallen, schließe die Öffnung und drehe die Trommel nun noch 9 ½ mal herum, worauf in der vorigen Weise eine neue Kugel gezogen wird. Hier ist alle Willkür beseitigt, aber das Resultat der Ziehungen muß und wird ganz dasselbe sein, wie wenn die freie Hand zöge und mischte. - Bei aller Unregelmäßigkeit in den sukzessiven Anordnungen der Kugeln enthalten diese aber doch ein  konstantes  Element, nämlich die sich gleichbleibenden Zahlen derselben in jeder von beiden Farben. Da nun die Kugeln nach allen übrigen Beziehungen, wie Größe, Gewicht, Glätte usw. als völlig gleich vorausgesetzt werden, so muß sich bei einer großen Anzahl von Ziehungen dieses konstante Element durch eine  konstante Wirkung  bemerkbar machen. Denn es ist kein Grund vorhanden, anzunehmen, daß bei vielmaliger Wiederholung des Verfahrens an dem Ort, wo die Kugeln von der Hand ergriffen werden, oder, nach dem zweiten Verfahren, an dem Ort, wo sich die Öffnung in der Trommel befindet, sich in einer größeren Anzahl von Malen Kugeln von der einen oder von der anderen Farbe vorfinden sollten, als in  der  Anzahl, welche durch das Verhältnis der absoluten Zahlen bestimmt wird, in denen die Kugeln beider Farben wirklich vorhanden sind. Wenn es anders wäre, so müßte noch eine andere Nebenursache mitwirken, durch welche die Kugeln der einen Farbe vor denen der anderen begünstigt würden, was gegen die Voraussetzung ist.

Die Farbe jeder  einzelnen  gezogenen Kugel ist also bedingt
    1) durch eine  konstante  Ursache, nämlich durch die sich gleichbleibenden Zahlen der weißen und der schwarzen Kugeln und

    2) durch eine  regellos variierende akzidentielle  Ursache, das zufällige Zusammentreffen einer weiß  oder  einer schwarzen Kugel entweder mit der in das Gefäß greifenden Hand oder mit der Öffnung der Trommel.
Die weiße und die schwarze Farbe ist nun zwar in jedem  einzelnen  Fall  gleich möglich,  aber  in einer größeren Anzahl von Fällen  muß, wenn die Zahlen der doppelfarbigen Kugeln  ungleich  sind, diese Ungleichheit am Zahlenverhältnis der gezogenen weißen und schwarzen Kugeln zur Erscheinung kommen. Man kann aber  nicht  sagen, daß hierbei die Wirkungen der akzidentiellen Ursachen gegen die der konstanten  verschwinden  oder daß sich die Wirkungen der ersteren untereinander  aufheben.  Sie sind vielmehr am völlig unregelmäßigen Wechsel in der Aufeinanderfolge der beiden Farben deutlich zu erkennen; sie sind nur gänzlich unfähig, in einen gesetzlichen Zusammenhang gebracht, irgendeiner Regel untergeordnet zu werden.  Abstrahiert  man aber von diesem regellosen  Wechsel  der beiden Farben und beachtet einzig und allein die  Zahlen,  in denen sie bei vielmaliger Wiederholung der Ziehung vorkommen, so tritt allmählich ein  konstantes Verhältnis  dieser Zahlen hervor, die Wirkung der konstanten Ursache.

In diesem und in allen ähnlichen Fällen, wo konstante Ursachen mit irregulär variierenden akzidentiellen zusammenwirken, macht sich nun also die  Gesetzlichkeit  der Erscheinungen durchaus erst an einer  großen Zahl  derselben bemerkbar und gilt eben auch nur für  diese.  Sie ist unerkennbar an  kleinen  Zahlen. Die  konstante Ursache,  von der sie herrührt, wirkt zwar in jeder auch noch so kleinen Anzahl von Fällen, ja in jedem einzelnen Fall mit; aber erst in einer großen Anzahl von Fällen schlägt sie durch, gewinnt das Übergewicht über die irregulären akzidentiellen Ursachen und kommt als eine Regel zur Erscheinung. Es bezieht sich also die erkannte Regel oder Gesetzmäßigkeit durchaus nicht auf jeden einzelnen Fall, sondern nur auf eine große Anzahl von Fällen. Je größer diese Anzahl, umso bestimmter tritt die Gesetzlichkeit hervor. Das konstante Verhältnis, in dem sie besteht, ist daher ein  Grenzverhältnis,  das erst bei einer  unendlichen  Anzahl von Fällen genau erreicht wird und von welchem jedes einer bloß endlichen Anzahl entspreche Verhältnis bald im positiven, bald im negativen Sinne abweicht, doch so, daß die absolute Größe dieser Abweichungen mit der wachsenden Zahl der Fälle abnimmt, daher die bei endlichen Zahlen derselben sich herausstellenden Verhältnisse sich jenem Grenzverhältnis immer mehr nähern. Sofern sich nun in diesem die entgegengesetzten Abweichungen aufheben, daher dasselbe zwischen sämtlichen von ihm abweichenden Verhältnissen die Mitte hält, kann man es auch das  mittlere  oder  durchschnittliche Verhältnis  nennen. Bleibt es nun auch für jeden einzelnen Fall ganz unbestimmt, welcher von den beiden entgegengesetzten möglichen Erfolgen (im Beispiel die weiße oder die schwarze Farbe der gezogenen Kugeln) eintreten wird, so kann man doch einen  mittleren  oder  durchschnittlichen Fall  fingieren und für diesen die  Wahrscheinlichkeitsgrade  bestimmen, mit denen jeder von beiden Erfolgen erwartet werden kann.
LITERATUR - Moritz Wilhelm Drobisch, Die moralische Statistik und die Willensfreiheit, Leipzig 1867
    Anmerkungen
    1) Dieses Problem beschäftigte schon NEWTON und EULER.