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Die moralische Statistik und die Willensfreiheit [ 1 / 3 ]
1. Einleitendes Demnach ziemt es nun der Naturwissenschaft, selbst in ihren entwickeltsten Zweigen, nur, zu sagen: der Wechsel der Erscheinungen erfolgt so, wie es geschehen muß, wenn wir annehmen, daß es Kräfte gibt, die, je nach Maßgabe der Eigentümlichkeit der Erscheinungen, nach diesem oder nach jenem Gesetz wirken; woher diese Kräfte aber stammen und warum ihre Wirksamkeit an diese und keine anderen Gesetze gebunden ist - wissen wir nicht. Die Naturwissenschaft kennt also, um das noch einmal zu sagen, keine absolut und ansich notwendigen Gesetze, sondern nur teils empirische, die das Gegebene unter eine allgemeine Regel bringen, teils solche, die, um diese empirischen Gesetze aus höheren Gründen ableiten zu können, hypothetisch vorausgesetzt werden. Dürfen wir also vom Standpunkt des Naturforschers aus, der sich aller metaphysischen Erörterungen enthält und sich nur des formal logischen und mathematischen Denkens bedient, allein von einem relativ notwendigen Zusammenhang im Naturlauf sprechen, so ist andererseits von diesem letzteren in einem gewissen Sinne auch die Zufälligkeit nicht unbedingt auszuschließen. Wir meinen damit diejenige Zufälligkeit, die sich häufig im Zusammentreffen von Ereignissen kundgibt. Jedes Ereignis hat zwar seine näheren und entfernteren Ursachen, aber die Ursachen gleichzeitiger Ereignisse stehen oft außer allem Zusammenhang oder sie haben mindestens einen in so weiter Vergangenheit liegenden gemeinsamen Ausgangspunkt, daß die Ketten, deren Schlußglieder sie sind, von uns als außer aller Verbindung stehend angesehen werden. So nennen wir z. B. das Zusammentreffen des Todes oder der Geburt eines großen Mannes mit einem selteneren Himmelsereignis (wie etwa des Todestags KANTs am 12. Februar 1804, mit einer Sonnenfinsternis oder des Geburtsjahrs NAPOLEONs und WELLINGTONs, CUVIERs und ALEXANDERs von HUMBOLDT mit dem Jahr des Durchgangs der Venus durch die Sonne, 1769) ein zufälliges. Oder wir nennen es einen unglücklichen Zufall, daß, als das Strohdach einer am äußersten Ende eines Dorfes liegenden Scheune durch Spielen von Kindern mit Zündhölzchen in Brand gesteckt wurde, gerade in heftiger Wind nach dem Dorf hin wehte und dieses daher gänzlich eingeäschert wurde. Diese Zufälligkeit macht sich nun auch bei iner gewissen Art von empirischen Naturgesetzen geltend, die von der zuvor besprochenen Art wesentlich verschieden ist. Die Gesetze, von denen bisher die Rede war, sind nämlich allgemeine Regeln, die auf alle ihnen untergeorneten Fälle Anwendung finden, jeden einzelnen in seiner Individualität gemäß der Regel bestimmen. Denn nach welcher Richtung z. B. ein Lichtstrahl in ein brechendes Medium eindringen möge, so steht doch immer der Sinus seines Einfallswinkels zum Sinus seines Brechungswinkels in demselben konstanten Verhältnis; und jeder Teil einer Wassermasse, sei er groß oder klein, ist doch immer aus acht Gewichtsteilen Sauerstoffgas und einem Gewichtsteil Wasserstoffgas gemengt, deren Volumina sich wie 2 zu 1 verhalten. Es gibt dagegen auch empirische Gesetze, die gar nich für den einzelnen Fall, sondern nur für das Mittel aus einer großen Anzahl von Fällen Geltung haben. Hierher gehört z. B. das Drehgesetz der Winde, wonach in der gemäßigten Zone der nördlichen Halbkugel der Erde der Wind im Mittel die Himmelsgegenden in der Ordnung S-W-N-O-S, auf der südlichen Halbkugel in der umgekehrten Ordnung durchläuft. Ebenso bestimmt das Sterblichkeitsgesetz die noch zu erwartende Lebensdauer für jedes Alter, aber nur für den mittleren Menschen dieses Alters. Streng genommen gehören selbst die KEPLERschen Gesetze hierher; denn sie gelten nur für die Bewegungen der Planeten in ihren mittleren Bahnen, von denen diese unaufhörlich, bald mehr bald weniger, abweichen. In diesem letzteren Fall erklärt nun allerdings das höhere Gesetz der Gravitation diese Abweichungen vom Mittel daraus, daß sich nicht nur Sonne und Planeten, sondern auch diese untereinander wechselseitig anziehen. Abstrahiert man aber von diesen gegenseitigen Anziehungen und zieht in Betracht, daß die Massen der Planeten im Vergleich mit der Masse der Sonne nur sehr klein sind, so resultiert die reine elliptische Bewegung in unveränderlichen Bahnen. Es ist also hier zu unterscheiden zwischen der konstanten Ursache der Gesetzlichkeit der Planetenbewegungen im Großen und Ganzen, die in der weit überwiegenden Anziehung der Sonne ihren Sitz hat, und den variablen oder akzidentiellen [zufälligen - wp] Ursachen der Abweichungen von den mittleren Bahnen, die auf den veränderlichen Stellungen der Planeten zueinander und der großen Ungleichheit ihrer Massen beruhen. Aber hier stehen auch diese akzidentiellen Ursachen unter demselben höheren Gesetz wie die konstante Ursache (denn auch die sogenannten Störungen erklären sich aus dem Gravitationsgesetz); darum erscheint hier nichts als zufällig, und läßt sich für jeden gegebenen Zeitpunkt die Abweichung eines Planeten von seiner mittleren Bahn vorausberechnen. Nicht so aber die Richtung der Winde, obgleich ihre Änderung im allgemeinen unter dem Drehgesetz steht. Die allgemeine Ursache der Winde ist die Störung des Gleichgewichts der Atmosphäre. Diese wird teils durch die Anziehungen von Sonne und Mond bewirkt, welche Ebbe und Flut in der Atmosphäre erzeugen, teils durch die ungleiche Erwärmung der Erdoberfläche durch die Sonne, die einem täglichen und jährlichen periodischen Wechsel unterliegt und wieder durch die ungleiche Erwärmbarkeit und Abkühlbarkeit von Land und Meer, die Verschiedenheit der Bodenverhältnisse, die Gestaltung, Erhebung oder Senkung des Landes und dgl. mehr mannigfaltig modifiziert wird. In Bezug auf die Richtung der Winde kommt noch als ein höchst wichtiges Moment die Rotation der Erde um ihre eigene Achse hinzu, zufolge welcher die westöstliche Drehgeschwindigkeit der Teile der Atmosphäre mit den wachsenden geographischen Breiten abnimmt. Durch diese, teils konstanten, teils periodisch wiederkehrenden Ursachen ist alle Regelmäßigkeit, welche an der Richtung der Winde und ihrem Wechsel beobachtet wird, bedingt. Sie tritt aber als eine ausnahmslose nur da auf, wo eine dieser Ursachen die anderen entschieden überwiegt, wie bei den Passatwinden, den Moussons [Monsun - wp] und dem täglichenn Wechsel von Land- und Seewinden an den Meeresküsten. Wo dagegen zwar ein permanentes Überwiegen einer der Ursachen nicht stattfindet, eine solche sich doch aber in längeren Zeiträumen vor den übrigen Ursachen geltend macht, da leuchtet zwar im Großen und Ganzen oder durchschnittlich noch immer eine Regel durch, die aber im Einzelnen vielfache Ausnahmen erleidet. Diese rühren aber auch noch von anderen Ursachen her, die weder konstant noch periodisch sind und sich jeder gesetzlichen Bestimmung, daher auch jeder Vorausberechnung entziehen. Solche akzidentielle Ursachen sind z. B. bei den Winden die ab- und zunehmende Ausdehnung der Eisfelder in den Polarregionen, die Ablösung von Eisbergen, welche unter südlicheren Breiten schmelzen und verdunsten, vulkanische Eruptionen, Erdbeben und dgl. mehr. Auch der Mensch greift hier in sehr merklicher Weise in den Naturlauf ein. Die Ausrottung von Wäldern, die Austrocknung von Sümpfen und Seen verändert das Klima, die Wärme- und Feuchtigkeitsverhältnisse eines Landes und mit diesen die Luftbewegungen; jede Stadt, ja jedes Dorf bringt Änderungen in der Erwärmung der Atmosphäre hervor, jede Feuersbrunst erzeugt lokale Luftströmungen usf. Das Zusammentreffen solcher akzidentieller Ursachen mit den konstanten und periodischen, von denen ihr Auftreten unabhängig ist, kann nun im obigen Sinne ein zufälliges genannt werden, ohne daß damit dem Satz, daß nichts in der Natur zufällig geschieht, das mindeste vergeben wird. Viel einfacher als an so verwickelten Naturerscheinungen, und daher klarer und übersichtlicher, läßt sich das Ineinandergreifen konstanter und akzidentieller Ursachen an folgendem bekannten Beispiel erläutern, wo alle bedingenden Umstände offen vorliegen. Nehmen wir an, ein zylindrisches Gefäß enthalte eine unbekannte Anzahl (a) weißer und eine gleichfalls unbekannte andere Anzahl (b) schwarzer, im übrigen aber jenen weißen völlig gleicher Kugeln wohl durcheinander gemischt, also in keiner durch irgendwelche Regeln bestimmbaren Ordnung und Lage. Man nehme nun blindlings aus dem Gefäß eine Kugel heraus, merke ihre Farbe, werfe sie dann wieder in das Gefäß, mische die Kugeln von neuem, nehme dann wieder eine Kugel heraus, merke ihre Farbe, werfe sie wieder in das Gefäß, mische aufs neue und wiederhole dieses Verfahren eine große Anzahl von Malen. Der Wechsel in der Farbe der gezogenen Kugeln wird nun zwar völlig regellos sein: es werden weiße und schwarze Kugeln bald einzeln wechseln, bald hintereinander mehrere weiße, dann wieder mehr oder weniger schwarze gezogen usf. Aber je öfter sich die Ziehungen wiederholen, umso mehr wird das Verhältnis zwischen der Zahl der gezogenen weißen und der Zahl der gezogenen schwarzen kugeln sich dem Verhältnis der Zahlen a und b nähern, in welchen bezüglich die weißen und die schwarzen Kugeln im Gefäß wirklich vorhanden sind und man wird daher aus dem sich ergebenden Verhältnis zwischen den gezogenen weißen und schwarzen Kugeln schließen können, daß die Mengen der in dem Gefäß enthaltenen Kugeln beider Farben beinahe in demselben Verhältnis stehen, wobei die absoluten Zahlen dieser Kugeln selbstverständlich unbekannt bleiben. Wenn also z. B. unter 100 sukzessiv gezogenen Kugeln 71 weiße und 29 schwarze sind, so ist das Verhältnis dieser zu jenen Wenn sich dann nach 300 Ziehungen ergeben hätte, daß 231 Kugeln weiß und 69 schwarz waren, das Verhältnis dieser zu jenen also ist; wenn unter 500 gezogenen Kugeln sich 373 weiße und 127 schwarze gefunden hätte, die das Verhältnis geben; endlich wenn bei 700 Ziehungen 524 Kugeln weiß und 176 schwarz waren, also die schwarzen zu den weißen im Verhältnis stehen, - so kann man mit Wahrscheinlichkeit schließen, daß in dem Gefäß dreimal soviel weiße als schwarze Kugeln enthalten sein werden. Denn der Quotient des ersten Verhältnisses ist um 0,552 kleiner als 3, der des zweiten um 0,347 größer, der des dritten um 0,063 kleiner, endlich der des vierten nur noch um 0,023 kleiner als 3. Das Verhältnis der Zahl der gezogenen schwarzen Kugeln zur Zahl der gezogenen weißen nähert sich also immer mehr dem Verhältnis 1 : 3. Diese allmählich hervortretende Beständigkeit des Verhältnisses zwischen den Zahlen der doppelfarbigen Kugeln ist nun ebenso erklärlich wie die völlige Regellosigkeit im Wechsel der Farben. Die Farbe, welche jede einzelne Kugel hat, ist nämlich bedingt
2) durch die Richtung der Hand, welche jedesmal eine derselben ergreift. Man könnte sich vielleicht einen Augenblick dem Gedanken hingeben, daß diese übrig bleibende Zufälligkeit auf Rechnung der Willkür zu schreiben sei, die, auch wenn das Ergreifen eine feste Regel beobachtet, bei der Mischung der Kugeln stattzufinden scheint. Allein der ganze Ziehungsprozeß läßt sich leicht so abändern, daß alle menschliche Willkür dabei ganz aus dem Spiel bleibt. Denn man ersetze das Gefäß durch eine zylindrische Trommel, die sich um eine horizontale Achse dreht und an ihrer zylindrischen Oberfläche eine durch einen Schieber verschließbare kreisrunde Öffnung hat, weit genug, um gerade einer Kugel den Durchgang zu verstatten. Man bestimme, daß die Mischung der Kugeln jedesmal durch die gleiche Anzahl von Umdrehungen der Trommel, z. b. 10, bewirkt werden und am Ende jeder Drehung, also auch bei der letzten, die verschlossene Öffnung die tiefste Stelle einnehmen soll. Man ziehe nun den Schieber so zurück, daß eine, aber auch nicht mehr als eine Kugel herausfällt, schließe die Öffnung wieder, bringe sie in die oberste Lage und lasse die gezogene Kugel, nachdem ihre Farbe notiert worden ist, wieder hineinfallen, schließe die Öffnung und drehe die Trommel nun noch 9 ½ mal herum, worauf in der vorigen Weise eine neue Kugel gezogen wird. Hier ist alle Willkür beseitigt, aber das Resultat der Ziehungen muß und wird ganz dasselbe sein, wie wenn die freie Hand zöge und mischte. - Bei aller Unregelmäßigkeit in den sukzessiven Anordnungen der Kugeln enthalten diese aber doch ein konstantes Element, nämlich die sich gleichbleibenden Zahlen derselben in jeder von beiden Farben. Da nun die Kugeln nach allen übrigen Beziehungen, wie Größe, Gewicht, Glätte usw. als völlig gleich vorausgesetzt werden, so muß sich bei einer großen Anzahl von Ziehungen dieses konstante Element durch eine konstante Wirkung bemerkbar machen. Denn es ist kein Grund vorhanden, anzunehmen, daß bei vielmaliger Wiederholung des Verfahrens an dem Ort, wo die Kugeln von der Hand ergriffen werden, oder, nach dem zweiten Verfahren, an dem Ort, wo sich die Öffnung in der Trommel befindet, sich in einer größeren Anzahl von Malen Kugeln von der einen oder von der anderen Farbe vorfinden sollten, als in der Anzahl, welche durch das Verhältnis der absoluten Zahlen bestimmt wird, in denen die Kugeln beider Farben wirklich vorhanden sind. Wenn es anders wäre, so müßte noch eine andere Nebenursache mitwirken, durch welche die Kugeln der einen Farbe vor denen der anderen begünstigt würden, was gegen die Voraussetzung ist. Die Farbe jeder einzelnen gezogenen Kugel ist also bedingt
2) durch eine regellos variierende akzidentielle Ursache, das zufällige Zusammentreffen einer weiß oder einer schwarzen Kugel entweder mit der in das Gefäß greifenden Hand oder mit der Öffnung der Trommel. In diesem und in allen ähnlichen Fällen, wo konstante Ursachen mit irregulär variierenden akzidentiellen zusammenwirken, macht sich nun also die Gesetzlichkeit der Erscheinungen durchaus erst an einer großen Zahl derselben bemerkbar und gilt eben auch nur für diese. Sie ist unerkennbar an kleinen Zahlen. Die konstante Ursache, von der sie herrührt, wirkt zwar in jeder auch noch so kleinen Anzahl von Fällen, ja in jedem einzelnen Fall mit; aber erst in einer großen Anzahl von Fällen schlägt sie durch, gewinnt das Übergewicht über die irregulären akzidentiellen Ursachen und kommt als eine Regel zur Erscheinung. Es bezieht sich also die erkannte Regel oder Gesetzmäßigkeit durchaus nicht auf jeden einzelnen Fall, sondern nur auf eine große Anzahl von Fällen. Je größer diese Anzahl, umso bestimmter tritt die Gesetzlichkeit hervor. Das konstante Verhältnis, in dem sie besteht, ist daher ein Grenzverhältnis, das erst bei einer unendlichen Anzahl von Fällen genau erreicht wird und von welchem jedes einer bloß endlichen Anzahl entspreche Verhältnis bald im positiven, bald im negativen Sinne abweicht, doch so, daß die absolute Größe dieser Abweichungen mit der wachsenden Zahl der Fälle abnimmt, daher die bei endlichen Zahlen derselben sich herausstellenden Verhältnisse sich jenem Grenzverhältnis immer mehr nähern. Sofern sich nun in diesem die entgegengesetzten Abweichungen aufheben, daher dasselbe zwischen sämtlichen von ihm abweichenden Verhältnissen die Mitte hält, kann man es auch das mittlere oder durchschnittliche Verhältnis nennen. Bleibt es nun auch für jeden einzelnen Fall ganz unbestimmt, welcher von den beiden entgegengesetzten möglichen Erfolgen (im Beispiel die weiße oder die schwarze Farbe der gezogenen Kugeln) eintreten wird, so kann man doch einen mittleren oder durchschnittlichen Fall fingieren und für diesen die Wahrscheinlichkeitsgrade bestimmen, mit denen jeder von beiden Erfolgen erwartet werden kann. ![]()
1) Dieses Problem beschäftigte schon NEWTON und EULER. |