ra-2ra-3H. DietzelW. OstermannA. WalsemannL. P. BoggsL. NelsonHerbart     
 
NIKOLOFF MLADEN
Beitrag zur
Lehre vom Interesse


"Es entstand uns der Begriff  Interesse,  indem wir gleichsam etwas abbrachen von den Sprossen der menschlichen Regsamkeit, indem wir der inneren Lebendigkeit zwar keineswegs ihr mannigfaltiges Hervortreten, aber wohl ihre letzten Äußerungen versagten. Was ist nun das Abgebrochene oder das Versagte? Es ist die  Tat;  und, was unmittelbar dazu treibt, die  Begehrung.  So muß Begehrung mit dem Interesse zusammengenommen das Ganze einer hervortretenden menschlichen Regung darstellen."

"Mit fortschreitender Geistesentwicklung wächst das Wertbewußtsein aus dem Gefühlsleben auch hinüber und hinein in das Gebiet des Intellektuellen und nimmt hier Formen an, die trotz des innigen Zusammenhangs mit dem Mutterschoß des Gefühls, selbst doch nicht mehr Gefühle sind. Dies geschieht aber allmählich."

Einleitung

Die Geschichte der Interessenlehre beginnt mit dem 19. Jahrhundert. Bis zur Gegenwart haben sich in der deutschen Fachliteratur zwei nennenswerte typische Theorien des Interesses ausgestaltet, die von HERBART und die von OSTERMANN.

HERBART faßt das Wesen des Interesses folgendermaßen auf:
    "Es entstand uns ... der Begriff  Interesse indem wir gleichsam etwas abbrachen von den Sprossen der menschlichen Regsamkeit, indem wir der inneren Lebendigkeit zwar keineswegs ihr mannigfaltiges Hervortreten, aber wohl ihre letzten Äußerungen versagten. Was ist nun das Abgebrochene oder das Versagte? Es ist die  Tat und, was unmittelbar dazu treibt, die  Begehrung.  So muß Begehrung mit dem Interesse zusammengenommen das Ganze einer hervortretenden menschlichen Regung darstellen." (1)
Nachdem er vom Ganzen der Regsamkeit (des Strebens) die Tat und die Begehrung wegdenkt, bleibt ihm das Interesse übrig.

Nun, was ist denn dieser Rest von der ganzen Regung, der sich auf dem bloßen Zuschauen (Wahrnehmung) erhebt und bis zu Begierde oder Wille (Zugreifen) reicht? Dies ist eine kräftige Vorstellung oder Vorstellungsmasse, die den Geist vorzugsweise einnimmt und sich durch ihre Kraft und ihr Übergewicht unter den übrigen Vorstellungen geltend macht (2). In der Kraft und dem Übergewicht einer Vorstellung bzw. Vorstellungskette bestehe das Wesen des Interesses, auf dem die unwillkürliche Aufmerksamkeit beruth. Dies meint HERBART, wenn er sagt: "In ihr (der Aufmerksamkeit) liegt das Interesse, welches wir beabsichtigen." (3) und vorher: "Der Lehrer soll während des Unterrichts darauf achten, ob ihm die Vorstellungen der Schüler frei entgegenkommen ..." (4), dann hat der Unterricht das Interesse für sich. Die starken Vorstellungen steigen frei ins Bewußtsein, wie in den Phantasien, Spielen und dgl. In diesem Selbststeigen der Vorstellungen besteht das Interesse und HERBART definiert: "Interesse ist Selbständigkeit." (5) Die schwachen Vorstellungen können nicht von selbst steigen, sie müssen ins Bewußtsein gehoben werden, z. B. durch Aufsagen des Gelernten, und so, nach allmählicher Verstärkung, können sie auch selbständig steigen und Interesse ausmachen (6).

Kurz, das Interesse besteht in der Energie der innig verknüpften Vorstellungen in ihrer Selbstbewegung.

HERBART, konsequent in seiner intellektualistischen Psychologie, leitet das Interessse vom Vorstellungsleben ab.

OSTERMANN findet eine solche Erklärung und Deutung des Interesses unbefriedigend, denn der reine Intellekt steht seinem Objekt immer nur als gleichgültiger Beobachter gegenüber und würde niemals zu ihnen in die warme Beziehung subjektiver Teilnahme treten (7).

Er selber leitet das Interesse aus dem Gefühl ab.

OSTERMANN steht auf dem Boden der Gefühlslehre von LOTZE (8). Das Gefühl sei etwas  Ursprüngliches,  "Wertprägungsvermögen" des Geistes, Quell und Wurzel allen Wertbewußtseins (9). Wenn ein Eindruck oder eine Wahrnehmung irgendeine  Förderung  oder  Störung  des Seelenlebens hervorruft, werde sie durch  Lust bzw. Unlustgefühl bewertet (10). Aufgrund dieser primär im Gefühl erlebten Werte (Unwerte) der Dinge, werden diese nachträglich auch erkenntnismäßig gewertet (Wertbegriff und Werturteile) (11).

Im Anschluß an diese Anschauung definiert OSTERMANN das  Interesse als Wertbewußtsein  (Wertschätzung) (12) im Gegensatz zum  Gleichgültigsein.  Da die Werte entweder positiv oder negativ sind, unterscheidet er positive und negative Interessen, zwischen welchen die neutrale Zone des Gleichgültigen liegen soll (13).

Er argumentiert wie folgt:
    "Alles Interesse ist letzten Endes auf Vorgänge des  Gefühls lebens zurückzuführen." (14)
In vielen, vielleicht in den meisten Fällen ist das Interesse (die Wertschätzung) Gefühl. Besonders in den ersten Entwicklungsstadien des Seelenlebens, wo Erinnerung und Urteil noch wenig oder gar nicht ausgebildet sind, wird aller Wert und Unwert ganz unmittelbar durch das Gefühl aufgefaßt und liegen dementsprechend auch alle Antriebe zum Begehren und Handeln ganz im Gefühl selbst. Auch im ausgebildeten Geistesleben entscheidet der Wert und Unwert sehr oft noch ganz unmittelbar und ganz ausschließlich das Gefühl." (15) Hier ist das Interesse gleich Gefühl.

Aber es verhält sich nicht immer so. Mit fortschreitender Geistesentwicklung wächst das Wertbewußtsein aus dem Gefühlsleben auch hinüber und hinein in das Gebiet des Intellektuellen und nimmt hier Formen an, die trotz des innigen Zusammenhangs mit dem Mutterschoß des Gefühls, selbst doch nicht mehr Gefühle sind. (16) Dies geschieht aber allmählich.

Zunächst entstehen die Wertvorstellungen aus dem, was schon im Gefühl erlebt worden ist. Wie die Empfindungen und Wahrnehmungen Spuren im Geist hinterlassen und nachträglich vorgestellt werden können, ebenso bleiben auch von den Gefühlen (Werten) bestimmte Spuren zurück, die eine  Erinnerung  des Gefühlten ermöglichen (17). Was jemand früher in Lust oder Unlust mehr oder weniger Bedeutsames, positiv oder negativ Wertvolles erlebt hat, wird der Qualität und Quantität nach erinnert. Ein solches Wertbewußtsein nennt OSTERMANN  "Werterinnerung"  oder  "Wertvorstellung". (18)

Aus den Wertvorstellungen entsteht die dritte Phase des Wertbewußtseins - das Werturteil.
    "So klären sich die subjektiven Werteindrücke des Gefühls und die bezüglichen Werterinnerungen nach und nach zu einer wirklichen  "Werterkenntnis"  ab, zu bestimmten  "Werturteilen",  in denen der Geist das Mannigfaltige der einzelnen Werteindrücke denkend (abstrahierend, resümierend) zusammenfaßt und in feststehende intellektuelle Formen und Normen bringt." (19)
Zusammengefaßt: das Interesse (Wertbewußtsein) ist entweder selbst Gefühl oder Werterinnerung oder Werturteil. Die letzten zwei Formen stammen aus Gefühlen. Alles Interesse (alle Wertschätzung) beruth auf dem Gefühl (20).
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Außer diesen zwei verhältnismäßig entwickelten Interessenlehren gibt es noch viele andere. Diese sind aber entweder unselbständig, Varianten jener oder beiläufige Bestimmungen aphoristischer Art, bloße Andeutungen.

Hier mögen die Modifikationen der HERBARTschen Theorie von seinen Schülern erwähnt werden: ZILLER (21), WALSEMANN (22) und REIN (23), die neben Vorstellungsmassen dem Gefühl einen Platz einzuräumen suchen, um jene damit zu "erwärmen" und ihnen Wert zu verleihen. Hierher gehören u. a. auch die folgenden: VOLKMANN sagt: Interesse ist die Beziehung einer Vorstellung zu den herrschenden Vorstellungsmassen des Ich (24). STEINTHAL versteht unter Interesse die Bereitwilligkeit einer Vorstellungsgruppe zur apperzipierenden Tätigkeit (25). Nach DÜRR ist das Interesse eine Beobachtungsdisposition (Lehre von der Aufmerksamkteit, Seite 50).

Andere Definitionen sind mehr oder weniger ähnlich der Interessenlehre von OSTERMANN. Nach EBBINGHAUS ist das Interesse die Lust, die hervorgebracht wird durch das harmonische Zusammengehen eines gegenwärtig der Seele nahegelegten Eindrucks mit früher verborgenen, jetzt durch ihn geweckten Vorstellungen, durch das Entgegenkommen, das jener bei diesen findet. (26) THEOBALD ZIEGLER schreibt: Interesse wird erregt durch Gefühl, oder ist vielmehr selbst Gefühl (27). PFEIFFER nennt Interesse das Lustgefühl (28). STUMPF definiert das Interesse als Lust an den Akten des Bemerkens selbst (29) und THEODOR KERRL - als Lust am Bemerken und Bemerkenwollen (30). Nach THEODOR LIPPS ist Interesse alles, was irgendwie macht, daß dieses Erlebnis in mir  Bedeutung gewinnt, alles also, was ein psychisches Geschehen fähig macht zur Aneignung der psychischen Kraft oder der Aufmerksamkeit (31). Das Interesse verleiht und bedingt Energie des Strebens bzw. der Vorstellung, in denen das Streben potenziell liegt. Dann ist das Interesse ein Motiv, eine Triebfeder des Strebens bzw. der Willenstätigkeit (32) und dgl. mehr.

Alle diese Bestimmungen des Interesses sind mehr oder weniger theoretische Konstruktionen. Eine allseitige empirische Forschung des Tatbestandes ist notwendig.

Die ausgedehnte und einwandfreie Forschung auf diesem wichtigen Gebiet der Psychologie hätte hauptsächlich und vor allem geprüfte Daten und Materialien über die Tatsachen und Ursachen, Wirkungen und Motive des Interesses zu liefern und zu ordnen, welche Stütz- bzw. Orientierungspunkte und Bausteine für eine vollständige Lehre vom Interesse bilden würden.

Hier wollen wir nur einen Beitrag zu dieser Forschungsarbeit leisten.



I. Aufgabe und Methode der Arbeit

Die Aufgabe der wissenschaftlichen Psychologie besteht darin, die psychischen Tatsachen mit ihren Zusammenhängen bzw. ihren Motiven genau festzustellen und die Gesetzmäßigkeiten des Seelenlebens herauszuarbeiten.

Dieselbe Aufgabe gilt für eine allgemeine psychologische Erforschung der Tatsachen des Interesses und speziell für unsere Arbeit.

Wir müssen vor allem versuchen
    1.  den Weg (die Methode zu ihrer Lösung anzubahnen, sodann

    2. gemäß und entsprechend der obigen Aufgabe individuelle Untersuchungen anzustellen und zwar

      a)  die Zeichen  möglichst aller vorhandenen Arten und Richtungen des Interesses bei einer Untersuchungsperson herauszuheben und zu  konstatieren,  wie auch sämtliche Ausdrucksformen ihrer unmittelbaren psychischen Motive bis zu ihren Ursachen zu verfolgen und festzustellen,

      b) hinter diesen greifbaren Ausdrucksformen und Zeichen die  Interessen  selbst und ihre wirklichen  Motive  und  Ursachen  aufzudecken, sie zu  deuten, - und in dieser Weise jedes einzelne Interesse aus seinem psychischen Zusammenhang heraus  psychologisch zu verstehen. 
Durch welche Methode können wir diese Aufgabe befriedigend lösen? oder wie, auf welchem Weg können wir das Ziel erreichen?

Von den Interessen fremder Personen können wir direkt nichts erfahren. Dies kann man nur indirekt entweder durch persönliche Aussagen eines Individuums über seine Erlebnisse (Gefühle), Akte und Tätigkeiten oder mittels Beobachtung seiner Lebensäußerungen und Beschäftigungen.

Die bisher gemachten Forschungsversuche über das Interesse (in der deutschen Literatur) sind durch die  Fragebogen - und  statistische Methode  ausgeführt worden.

So hat MARX LOBSIEN (33) durch diese Methode Versuche zur Prüfung der Kinderideale angestellt. Er fragte die Schüler nach dem liebsten Unterrichtsfacht, Spiel, Buch, der liebsten Beschäftigung, Blume usw. Die Antworten gaben die Kinder auf leeren Zetteln (anonym). Die Resultate hatten "die Gangbarkeit des eingeschlagenen Weges, die Brauchbarkeit der Methode" nach STERNs Ausspruch erwiesen.

Drei Jahre später (1906) erweiterte STERN (34) diese Methode. Neben der positiven Frage: "Welches Facht hast du am liebsten?" stellte er eine negative: "Welches Fach hast du am wenigsten lieb?"

Ausgehend von der Erfahrung, daß jeder in der Regel mehrere Fächer hat, die ihm zusagen, und umgekehrt, änderte WALSEMANN (35) die Fragestellung dahin, daß auf einem leeren Zettel die zwei liebsten, auf einem anderen Zettel die zwei unbeliebtesten Fächer niedergeschrieben werden sollten.

Im Jahre 1909 führte LOBSIEN neue Untersuchungen über 6248 Schüler von Volks- und Mittelschulen aus. Hier weicht seine Versuchstechnik etwas ab. Anstatt die Schüler an die Fächer des Schulplanes zu erinnern (wie WALSEMANN), gab er ihnen Zettel mit den gedruckten Namen der Fächer. Hinter den Namen der unbeliebten Fächer schrieben sie  0,  hinter dem beliebtesten Fach  1,  zweitliebsten  2  usw.

LOBSIEN, STERN, WALSEMANN, HÖSCH (36), RADELL (37) und TSCHUDY (38) verfuhren nach der Fragebogen- und statistischen Methode und ihre Ergebnisse mögen in pädagogischer, didaktischer und sozialer Beziehung wertvoll sein. Für eine rein psychologische Forschung des Interesses haben sie wenig Bedeutung, denn durch ihre Massenversuche liefern sie Durchschnittswerte, die hier umso weniger sagen, als sie nicht alle Arten und Motive der Interessen einer Person umfassen; dabei werden Interessen und Motive mit Vorliebe und Freude verwechselt. In den Klassenversuchen verschwindet das Individuum, das mit seinen Erlebnissen bzw. Interessenrichtungen und ihren verwickelten motivischen Zusammenhängen unser Forschungsobjekt bildet.

Wir müssen Individualuntersuchungen anstellen. Dafür fehlt uns eine spezielle Methode. Wir müssen die Beobachtungsmethoden und die Fragebogenmethode für den Zweck anpassen und motivieren. Die letztere suchen wir zu erweitern und zu vertiefen, sodaß wir möglichst alle Zeichen der Interessen, ihrer Motive, ihre Genesis und Bedingungen bei einzelnen Personen feststellen können. Damit ist aber nicht alles getan. Ein Interesse muß verstanden werden, d. h. seine Motive müssen aufgedeckt werden.

Wir werden versuchen, im einzelnen Fall diesen Motiven nachzugehen. Freilich sind wir uns der Schwierigkeiten bewußt, die uns dabei entgegentreten. Die Motive können im Unbewußten liegen, sie können vergessen oder verdrängt sein, vielleicht würde hier die psychoanalytische Methode weiterhelfen. Wir sind jedoch mit dieser Methode zu wenig vertraut, als daß wir uns ihrer kritisch bedienen könnten. Darum wollen wir versuchen, wie weit man mit der Ausforschung des Bewußtseins gelangen kann, in der durch Erfahrung gewonnenen Überzeugung, daß auf diesem Weg immerhin manches zu erreichen ist.

Wir verstehen unter Interesse vorläufig einfach die Tatsache, daß sich ein Individuum mit momentaner (aktuelles Interesse) oder dauernder (habituelles Interesse) Vorliebe oder innerer Hinwendung auf bestimmte Weise, mit bestimmten Objekten oder überhaupt ni bestimmter Richtung beschäftigt.

Indem wir die Interessen der Studierenden von den untersten Schulklassen bis zur Universität hinauf untersuchen, wollen wir (entsprechend der primären Seite der Aufgabe) zunächst wissen, womit sich die Untersuchungsperson (UP) während der Arbeitszeit und während der Mußestunden am liebsten beschäftigt. Wir versuchen dann den früheren und gegenwärtigen Interessen der UP nachzugehen und ihre Bedingunen aus ihren Motiven kennenzulernen. Dementsprechend helfen wir uns mit dem folgenden Frageschema:
    a. Wie verbringen Sie Ihre freie Zeit? Warum? Seit wann?

    b. Was für Vergnügungen haben Sie? Warum? Seit wann?

    c. Was ist Ihr Lieblingsspiel? Warum? Seit wann?

    d. Welches ist Ihr Lieblingsbuch? Warum? Seit wann?

    e. Welches sind Ihre Lieblingsfächer? Warum? Seit wann? Was oder wer hat Sie dazu veranlaßt und beeinflußt?

    f. Was möchten Sie einmal werden? Warum? Wie kommen Sie dazu? (Wem möchten Sie ähnlich sein? Warum? Wer ist ihr persönliches Vorbild? Warum? Welches ist Ihr Berufsideal? Warum?)

    g. Was zieht Sie am meisten an, Menschen, Pflanzen, Tiere oder Sachen? Warum?

    h. Mit wem verkehren Sie am liebsten? Warum?

    i. Haben Sie auch andere Interessen (philosophische, religiöse, sozialpolitische, wirtschaftliche etc.? Seit wann? Was hat Sie dazu veranlaßt? Warum?
Jede Antwort sollte etwas zur Beleuchtung bestimmter Interessen beitragen, wenn auch selbstverständlich nicht jede auf ein besonderes Interesse zurückweist.

Es ist selbstverständlich, daß die Aussagen der UP im allgemeinen nicht adäquate Ausdrücke der Interessen und ihrer Motive sein können. Die Beantwortungen liefern nur Rohmaterial, Zeichen der Interessen und ihrer Motive; von hier suchen wir diese zu deuten und motivisch zu verstehen.

Was die Untersuchungspersonen selbst anbelangt, so haben wir sie aus verschiedenen Schulen und Klassen der Stadt Bern bis hinauf zur Universität und von beiden Geschlechtern (39) hergenommen. Wo die Heimat nicht angegeben ist, sind sie in Bern geboren und aufgewachsen.


II. Individuelle Untersuchungen

1. Hdg. **

7-jährig, 1. Klasse, Deutschschweizerin, Evangelisch, Vater Dr. phil (Erzieher), Mutter Lehrerin, Geschwister Adh., Mx., Hsd.

a., b., c., - Mein liebstes Spiel ist Ballwerfen, weil es geschwind geht.

h. Mit einem etwas kleineren Knaben verkehre ich; wir spielen "Mütterchen" zusammen. Er hat Geschirrchen und wir machen "Küchli" und dgl.

e. Ich liebe vor allem die Geschichtchen (Märchen), die uns die Lehrerin erzählt, insbesondere  Schneewittchen, Dornröschen.  Sie sind so schön und lustig. Welche ist die die liebste von allen drei? -  Schneewittchen,  weil sie Königin geworden ist und ich auch einmal Königin werden möchte. Warum willst du Königin werden? - Dann könnte ich alles haben, was ich will: Wagen und Auto zum Spazierengehen, umd alles schauen zu können; einen schönen Garten voll Blumen und Früchte (Aprikosen), Palast, schöne Betten, bunte Kerzen, silberne Vasen, goldene Geschirre, silbernes Kleid, Krone und eine Kammer voll Geld.

Schreiben,  um zu sehen, ob ich ohne Fehler schreiben kann, dann zeige ich es der Mama und dem Papa und sie haben auch Freude. Mama gab mir einmal Geld dafür.

Singen  und  Rechnen  machen mir Freude und es ist lustig.

 Sprache, Gedichtchen,  weil ich sie gut sagen kann. Das Lesen gefällt mir, aber nur was ich gut kann; aber wenn es sich wiederholt, ist es langweilig.

f. Ich möchte einmal Ladentochter werden, und zwar in einer Confiserie, weil ich dort etwas naschen kann. (Sie liebt Küchli sehr und mit ihrem kleinen Freund macht sie "Küchli").

Man kann aus den gewonnenen Antworten etwa folgende allgemeine Richtungen der Aktivität, die als Hintergründe oder Motive der Einzelinteressen gelten müssen, herauslesen:
    1. Drang nach Bewegung (körperlicher), Betätigung überhaupt.

    2. Hinneigung zu Beschäftigungen, welche diejenigen der eigenen Mutter nachahmen oder das "Mütterliche" oder "Frauliche" zum Ausdruck bringen.

    3. Die Tendenz, den Eltern Freude zu machen, von ihnen anerkannt, gelobt, belohnt zu werden.

    4. Etwas Hervorragendes zu sein (Königin, reich) es "schön zu haben". Wobei wohl ein ästhetischer Trieb sichtbar wird.

    5. Allerlei Gelüste des Gaumens befriedigen.

    6. Die eigene Person in den Vordergrund zu stellen, die eigenen Begabungen zu zeigen.

    7. Diese Begabungen zu aktivieren, sich ihnen entsprechend zu beschäftigen.

2. Hnd.

8-jährig, 2. Klasse beendet. Deutschschweizer, Protestant, von Zürich, Mutter Reisebegleiterin, Vater wegen Trunksucht im Irrenhaus, vor ½ Jahr gestorben, wohnt mit der Mutter beim Onkel.

a., b., c. - Am liebsten spiele ich  Eisenbahn,  weil die Lokomotive bzw. der Zug in einer Kreislinie läuft und  Baukasten,  weil ich Häuser bauen kann, die ich nachher gerne zeichne.

e. Rechnen, um es benützen zu können, wenn ich groß werde. (Wer hat dir das gesagt?) - Ich habe es selber gedacht. Der Lehrer ist lustig beim Rechnen.

Schreiben,  weil es mir gefällt, schön zu schreiben.

Zeichnen,  weil mir Bilder und Gemälde sehr gefallen; ich beschäftige mich gerne damit, daß auch ich einmal solche machen kann. In der Schule muß ich Bäume und Pferde zeichnen. Zu Hause aber zeichne ich was mir gefällt. (Was denn?) - Wie ein  Schiff  auf dem Zürichsee fährt. - Was gefällt dir da? - Die  Rauchwolken,  weil sie immer höher in die Luft steigen, und ich denke, wie schöne es wäre, von oben die Häuser, Straßen, Leute usw. zu schauen. Auch der  Kapitän  gefällt mir, da er höher steht und das Schiff leitet. Und das Schiff selber, weil es Wellen macht und dadurch die kleinen Schiffe (Boote) 
schaukelt. Ich zeichne einen  Eisenbahnzug,  da er auch fährt und raucht; und  Fuhrwagen,  weil der Fuhrmann mit der Peitsche knallt.

Singen,  weil ich Lust an den Tönen habe.

Turnen,  weil ich gern am Reck schwinge und gern Spiele mache.

Unbeliebt ist die  Grammatik,  weil man still sitzen muß.

f. Ich möchte einem bestimmten Knaben ähnlich sein, weil er einen kleinen Kopf hat. (Er selber hat einen auffallend großen). - Ich möchte Bautechniker werden, weil ich als solcher viel Geld verdienen kann. (Warum möchtest du viel Geld?) - Um mir schöne Kleider kaufen zu können. (Warum?) - Um den Leuten zu gefallen. (Wer hat die gesagt Bautechniker zu werden?) - Niemand; dies kam mir in den Sinn, als ich in unserem Lesebuch etwas darüber las.

g.  Menschen,  weil sie jemand etwas geben können, z. B. "Fünfer". (Woher kam dir das in den Sinn?) - Ich hole den Soldaten Tabak und sie geben mir 5 Rappen. Aber auch  Tiere,  z. B. das Ross, wegen seiner Stärke und weil man es reiten kann, der Elefant wegen seiner Stärke und dem langen Rüssel, der Esel, wegen seinen langen Ohren. Von den  Pflanzen  ziehen mich am meisten Gemüse an, z. B.  Rüben,  weil sie gut schmecken, und  Spinat,  weil man ihn nicht kauen muß. (Er hat wenig und schlechte Zähne).

h. Mit dem Vetter (6-jährig): er ist gut und wir spielen zusammen.

Bei diesem Knaben treten uns folgende allgemeine Motive seiner Interessen entgegen:
    1. Ein Trieb nach Betätigung, der sich in der Nachahmung der Erwachsenen äußert (Eisenbahnspielt, Häuserbauen).

    2. Eine stark ausgesprochene egoistische Tendenz. Pflanzen, Tiere und Menschen betrachtet wer unter ihrem Gesichtspunkt. Sein Berufsinteresse gilt in erster Linie dem materiellen Erwerb.

    3. Ein Sinn für das Schöne (Schreiben, Singen, Zeichnen, Gemälde betrachten).
[...]
Schluß

1. Die zutage tretenden aktuellen und habituellen Interessen lassen sich ausnahmslos auf allgemeinere Triebe oder Neigungen der Aktivität des Subjekts zurückführen. So fanden wir z. B. die allgemeine Tendenz, sein Ich durchzusetzen, die eigene Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. Sie äußert sich einerseits in einem Drang nach körperlicher und geistiger Betätigung (Spiel, Sport, Turnen, Radfahren und dgl., im Verlangen nach Wissen und Erkennen). Sie tritt uns entgegen in all den Wünschen der UP, etwas Hervorragendes zu werden oder Bedeutendes zu leisten und dabei von andern Anerkennung zu finden (Wunsch ein guter Musiker, Zeichner, Rechner oder ein Kriegsheld, Arzt, Lehrer oder Pfarrer zu sein.) Alle diese Wünsche verraten eine ausgesprochene egozentrische Tendenz. Bei geistig höherstehenden Personen zeigt sie sich vorwiegend im Streben, Bedeutsames und Anerkennenswertes zu leisten, bei Egoisten zielt die Tendenz vorab auf materiellen Erwerb, auf Ruhm und Besitz.

Eine andere größere Zahl von Interessenrichtungen der UP können wir zusammenfassen unter die Tendenz, anderen Menschen ähnlich zu sein, sich ihnen gleichzusetzen und ihre Tätigkeiten nachzuahmen. Die Kinder spielen die "Großen": "Mütterlein", Schulehalten, Soldatenspielen usw. Jünglinge und größere Mädchen lernen ein Instrument oder dichten, wenn sie durch ihre Umgebung angeregt werden; sie neigen vielfach zum Beruf und den Interessen der Eltern, eines Kameraden, eines beliebten Lehrers oder Verwandten. Die Vorbilder brauchen keineswegs persönlich bekannt zu sein, wie in all den Fällen, wo sich die UP mit Helden der Geschichte, mit Dichtern und Künstlern identifiziert.

2. Die eben ausgeführten Gruppen von Neigungen lassen sich unschwert auf zwei noch umfassendere Gruppen oder Arten zurückführen, die zuletzt in zwei nicht mehr zu vereinigende Aktivitätsarten zusammenlaufen.

a) Die Interessenrichtungen der ersten Art können wir allgemein zusammenfassen unter das Bestreben, in allem Erleben sein Ich zur Geltung zu bringen und sich gegenüber der Welt durchzusetzen. Man hat diese Tendenz etwa als Selbsterhaltungstrieb bezeichnet.

b) In der zweiten Gruppe finden wir die Tendenz, sich fremden Individuen bzw. personifizierten Objekten hinzugeben, sich mit ihnen zu identifizieren, ihnen nachzufühlen und nachzustreben. Diese Triebrichtung hat man als "Liebe" bezeichnet. Wir nennen diese beiden ursprünglichen Triebrichtungen nach dem Vorgang von HÄBERLIN  Ichtendenz  und  Identifikationstendenz  (40). Sie sind nichts anderes als die beiden überall anzutreffenden allgemeinsten Interessen. Indem sie sich auf bestimmte Objektarten oder einzelne Objekte richten und sich daran mehr oder weniger dauernd fixieren, werden sie, die ursprünglich "ungerichtet" sind, zu bestimmt gerichteten Interessen im engeren Sinne, die man nach ihren Objekten bezeichnen kann.

3. Wir könnten demnach das  Interesse  (in diesem engeren Sinn) definieren als  bestimmt gerichtete  (an bestimmte Objekte oder Objektgattungen mehr oder weniger dauernd fixierte)  Aktivitäts-Tendenzen.  So zumindest scheint sich uns die Sache nach unseren Untersuchungen darzustellen. Wir sind uns aber bewußt, daß damit nur ein Anfang gemacht ist, und daß die ganze Lehre vom Interesse noch einer Erweiterung und Vertiefung bedarf.

4. Was die anfangs skizzierten historischen Theorien vom Interesse betrifft, so sieht man, daß wir mit OSTERMANN darin einig gehen, daß auch für uns das Interesse der emotionalen Sphäre angehört. Der Unterschied von OSTERMANNs Lehre wird aus dem Gesagten ohne weiteres klar.

Mit HERBART verbindet uns die Überzeugung, daß das Interesse als Vorstadium der ausgeführten Handlung zu betrachten ist. Wir fassen nur dieses Vorstadium anders als er. Übrigens ist ja auch nach HERBART das Interesse im Grunde emotionaler Natur, Aktivität; spricht er doch von  "kräftigen"  Vorstellungen. Diese "Kräftigkeit" kann nicht anders als "Wille" gefaßt werden oder besser: als (intensive) Aktivität.



LITERATUR - Nikoloff Mladen, Beitrag zur Lehre vom Interesse, Münsingen 1916
    Anmerkungen
    1) Herbarts sämtliche Werke, Bd. X (Ausgabe HARTENSTEIN), Seite 51
    2) ebd. Seite 25
    3) ebd. § 73, Seite 216
    4) ebd. § 72, Seite 251
    5) ebd. § 71, Seite 215
    6) ebd. § 71, Seite 215
    7) OSTERMANN, Das Interesse, Seite 37
    8) ebd. Seite 21
    9) ebd. Seite 15
    10) ebd. Seite 16, 29
    11) ebd. Seite 18
    12) ebd. Seite 26
    13) ebd. Seite 31-32
    14) ebd. Seite 34
    15) ebd. Seite 69-70
    16) ebd. Seite 70
    17) ebd. Seite 71
    18) ebd. Seite 72-73
    19) ebd. Seite 75
    20) ebd. Seite 78
    21) TUISKON ZILLER, Erziehender Unterricht, § 12, Seite 316-319; § 13; Seite 334-336.
    22) AUGUST WALSEMANN, Das Interesse
    23) WILHELM REIN, Pädagogik II, Seite 16
    24) VOLKMANN, Lehrbuch der Psychologie II, Seite 206
    25) STEINTHAL, Einleitung in die Psychologie, Seite 330
    26) EBBINGHAUS, Grundriß der Psychologie I, 1905, Seite 577; Abriß (1908), Seite 76
    27) THEOBALD ZIEGLER, Das Gefühl, dritte Auflage, Seite 47
    28) LUDWIG PFEIFFER, Über Vorstellungstypen, Seite 118
    29) STUMPF, Tonpsychologie II, Seite 280
    30) THEODOR KERRL, Die Aufmerksamkeit, Seite 64
    31) THEODOR LIPPS, Vom Gefühl etc. Seite 30
    32) LIPPS, Leitfaden der Psychologie, dritte Auflage, Seite 280-281
    33) MARX LOBSIEN, Kinderideale, Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Bd. 5, Seite 323-344.
    34) WILLIAM STERN, Über Beliebtheit und Unbeliebtheit der Schulfächer, Zeitschrift für pädagogische Psychologie, 1905, Seite 267-296
    35) HEINEMANN STERN, Untersuchung über das Interesse der Schüler am Unterricht
    36) LUCY HÖSCH, Kinderideale, Wiesbaden
    37) RADELL, Das Interesse der Schulkinder an den Unterrichtsfächern
    38) ROBERT TSCHUDY, Die Ideale des Schweizerkindes, Berner Seminarblätter, Jhg. 5, Heft 1-4, 1911.
    39) Die Mädchen sind mit ** bezeichnet.
    40) Paul Häberlin, Wissenschaft und Philosophie II, Seite 52-56