cr-4K. SchneiderA. MartyCh. SigwartM. Stingelin    
 
MARTIN STINGELIN
Lichtenberg -
Unsere ganze Philosophie ist
Berichtigung des Sprachgebrauchs


Die Verwechslung von Ursache und Wirkung, zu der die Grammatik verführt, nährt schließlich auch die Illusion.

Ordnung entspricht nach LICHTENBERG nicht nur unserem ästhetischen Empfindungen. Die sprachliche Ordnung des Menschen,  individua  metaphorisch zu  genera  und  species  zusammenfassen zu müssen (1), ist physiologisch bedingt durch den Bau seines Gedächtnisses, das LICHTENBERG vorab als Körpervermögen und Leibgeschehen, erst in zweiter Linie als Erinnerungsvermögen des Ichs konzipiert:
    "In allen Sprachen sagt man:  ich  denke,  ich  fühle,  ich  atme,  ich  habe Schläge bekommen, und  ich  vergleiche,  ich  erinnere mich der Farbe, und  ich  erinnere mich des Satzes. Das, was sich in uns der Farbe, und das, was sich der Farbe erinnert, sind vieleicht ebenso wenig einerlei, als das, was die Schläge bekommt, und das, was vergleicht. Alles tut etwas bei Allem, der Mensch fühlt sich in Allem ganz, und wenn ich behalte, daß (a + x) · (a - x) a2 - x2 ist, so hat vieleicht mein Daumen einen Teil davon behalten, wiewohl einen sehr unbeträchtlichen, aber in manchen Menschen doch so viel, daß der Satz ihnen bei Berührung einer Sache einfällt, oder daß sie im Traum, oder in einem Fieber glauben, daß der Satz sei weiter nichts als ein Stückchen Leinwand.

    Es ist nicht so verdrießlich, ein Phänomen mit etwas Mechanik und einer starkten Dosis von Unbegreiflichem zu erklären, als ganz durch Mechanik, das heißt die  docta ignorantia  mach weniger Schande, als die  indocta.  Alle Bewegung in der Welt hat ihren Grund in etwas, das keine Bewegung ist, warum soll die allgemeine Kraft nicht auch die Ursache meiner Gedanken sein, so gut als sie die Ursache von Gährung ist?"
Nur durch vergröbernde Abstraktionen, die seinem Ordnungssinn zahlreiche Nuancen der Empfindung opfern, kann der Mensch sich Eindrücke überhaupt merken:
    "Eine große Rede läßt sich leicht auswendig lernen, und noch leichter ein großes Gedicht. Wie schwer würde es nicht halten, eben so viele, ohne allen Sinn verbundene Wörter, oder eine Rede in fremder Sprache zu memorieren. Also Sinn und Verstand kommt dem Gedächtnis zu Hilfe. Sinn ist Ordnung, und Ordnung ist doch am Ende Übereinstimmung mit unserer Natur. Wenn wir vernünftig sprechen, sprechen wir immer nur unserem Wesen und unserer Natur gemäß.

    Um unserem Gedächtnis etwas einzuverleiben, suchen wir daher immer einen Sinn hinein zu bringen, oder eine Art von Ordnung; daher  genera  und  species  bei Pflanzen und Tieren, Ähnlichkeiten bis auf den Reim hinaus. Eben dahin gehören auch unsere Hypothesen; wir müssen welche haben, weil wir sonst die Dinge nicht behalten können. Dieses ist schon längst gesagt, man kommt aber von allen Seiten wieder darauf. So suchen wir Sinn in die Körperwelt zu bringen, die Frage aber ist, ob Alles für uns lesbar ist. Gewiß aber läßt sich durch vieles Probieren und Nachsinnen auch eine Bedeutung in etwas bringen, das nicht für uns, oder überhaupt gar nicht lesbar ist.

    So sieht man im Sande Gesichter, Landschaften und dergl., die sicherlich nicht die Absicht dieser Lagen sind.  Symmetrie  gehört auch hierher, imgleichen die Stufenleiter in der Reihe der Geschöpfe; - alles das ist nicht in den Dingen, sondern in uns.
    Überhaupt kann man nicht genug bedenken, daß wir nur immer uns beobachten, wenn wir die Natur und zumal unsere Ordnungen beobachten."
LICHTENBERGs Argumentation entspricht dem Gang von NIETZSCHEs Erkenntnisgeschichte, wie es zu "jenen uralt einverleibten Grundirrtümer" gekommen ist. Wo gilt: "Unsere falsche Philosophie ist der ganzen Sprache einverleibt", und: "Die Philosophie ist, wenn sie spricht, immer genötigt, die Sprache der Unphilosophie zu reden", ist ihre erste Aufgabe " Berichtigung des Sprachgebrauchs".

Erst nachdem NIETZSCHE die Abkürzungsprozesse im Gang der Erkenntnisgeschichte, wie er sich aus den Wegmarken ihrer sprachlich bedingten Vorurteile und Irrtümer abzeichnet, auf ihren Schauplatz zurückgeführt und kritisiert hat, kann er dazu übergehen, Abkürzungen seinerseits produktiv zu wenden und aus strategischem Vorsatz zu betreiben. Philosophie, "so wie ich sie allein noch gelten lasse", bezeichnet NIETZSCHE im Spätwerk
    "als die allgemeinste Form der Historie, als Versuch das HERAKLITische Werden irgendwie zu beschreiben und in Zeichen abzukürzen (in eine Art von scheinbarem Sein gleichsam zu  übersetzen  und zu mumisieren)"
Diese  Abkürzung in Zeichen  ist für NIETZSCHE aber in doppelter Hinsicht rhetorischer Natur. Da für NIETZSCHE jedes Denken von Rhetorik geprägt (und nicht frei vom Mythischen) ist, wird diese nicht nur angewandt, "wenn die Kürze der Zeit keine wissenschaftliche Belehrung zulässt". Dieses dem platonischen Dialog "Theaitetos" und der "Apologie" entlehnte Argument bezeichnet im Gegenteil die anthropologische Dimension der Rhetorik: Ihr erstes Merkmal ist der Zeitmangel; sie stellt einen Tribut an die Sterblichkeit der menschlichen Natur dar und steht im Dienst des Eigeninteresses, dessen höchster Wert die Wahrung des Lebens ist.

Diese beiden Schritte - Zeitmangel und Wahrung des Lebens - bestimmen auch den Gang von NIETZSCHEs Erkenntnisgeschichte: Immer weiter vererbte "irrtümliche Glaubenssätze" sind schließlich "fast zum menschlichen Art- und Grundbestand" geworden, weil sie sich als "nützlich und arterhaltend" erwiesen haben. In diesem Dienst steht auch die Logik; sie ist aus der Unlogik, nicht aus der Wahrheit entstanden, die dem Leben weniger förderlich ist, denn
    "unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schließen, gingen zu Grunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein! Wer zum Beispiel das  Gleiche  nicht oft genug aufzufinden wußte, in Betreff der Nahrung oder in Betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig in der Subsumtion war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet. Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang - denn es gibt an sich nichts Gleiches -, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen."
Ihr Irrtum besteht also - zusammen mit einem ausgeprägten Substantialismus - in ihrem unreflektierten Hang zur Analogie. Diese lebensnotwendige Verkennung rührt nicht zuletzt von jenem verborgenen Ort her, wo dieser Grundwille waltet, den die Logik zum Ausdruck bringt: unser Gedächtnis. es filtriert "das tatsächliche Geschehen beim Denken gleichsam durch einen Simplifications-Apparat"; dadurch erst "bringen wir es zu einer  Zeichenschrift  und  Mitteilbarkeit  und  Merkbarkeit  der logischen Vorgänge":
    "Das Mittel ist: die Einführung vollständiger Fiktionen als Schemata, nach denen wir uns das geistige Geschehen einfacher denken als es ist. Erfahrung ist nur möglich mit Hilfe von Gedächtnis: Gedächtnis ist nur möglich vermöge einer Abkürzung eines geistigen Vorgangs zum  Zeichen." 
Die Übereinstimmungen mit LICHTENBERG, die auch in NIETZSCHEs Lesespuren zum Ausdruck kommen, sind deutlich: Die vom Menschen in der Natur erkannte Ordnung entspricht dem Bau seines Gedächtnisses und ist als solche nur eine Fiktion, die der besseren Merkbarkeit von Eindrücken dient. Da der Mensch diese Projektion verkennt, verfestigen sich die Irrtümer, die seinen anthropomorphistischen Übertragungen entspringen; als Vorurteile gehen sie in den Bau der Sprache über und prägen ihr Schema, dem die menschliche Erkenntnis bis hin zur Verwechslung von Fiktion und (an sich unzugänglicher) "Realität" zusehends mehr unterworfen ist.

Im Spätwerk sprengt NIETZSCHE den Zirkel, seine Sprachkritik historisch zu begründen, obwohl gerade die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Erkenntnis ihre gröbsten und zugleich am meisten verkannten Irrtümer hervorgebracht hat, indem er dazu übergeht, Geschichte rhetorisch zu inszenieren und Abkürzungen im Dienst der genealogischen Geschichtsschreibung zu instrumentalisieren. Erkenntnis als - rhetorisch bedingte - "Abkürzung eines geistigen Vorgangs zum  Zeichen",  Historie als "Versuch das HERAKLITische Werden (...) in Zeichen abzukürzen": dieselbe Formel für zwei in NIETZSCHEs Denken nicht unmittelbar aufeinander bezogene Probleme.

Ihr liegt ein doppelt verschränktes Spannungsverhältnis zwischen Rhetorik und Genealogie zugrunde: Ihrer (vermeintlichen) gegenseitigen Ausschließlichkeit steht die gemeinsame anthropologische Dimension gegenüber. Der einzelne entkommt weder der Geschichte noch der Rhetorik; gleichzeitig kann er die Geschichte nur mit rhetorischen Mitteln beschreiben. Damit erwächst die Rhetorik nicht nur "aus einem Volke, das noch in mythischen Bildern lebt, u. noch nicht das unbedingte Bedürfnis nach historischer Treue kennt"; unter den verschärften erkenntnistheoretischen und -kritischen Bedingungen von NIETZSCHEs Denken gibt die genealogische Geschichtsschreibung das Bemühen um historische Objektivität als Illusion auf und geht dazu über, sich der Geschichte durch vorsätzliche Fiktionen im Dienst ihrer Interpretationen zu bemächtigen.


Philosophie der Grammatik
Subjekt und Prädikat, Ursache und Wirkung

Zwei - von LICHTENBERG und NIETZSCHE mit Nachdruck kritisierte - Irrtümer wiegen die Geschichtsschreibung in der Jllusion historischer Objektivität: der Glaube an die Selbstmächtigkeit des Subjekts und die Verwechslung von Ursache und Wirkung. Beide Irrtümer sind durch das Kausalitätsgefüge der Grammatik bedingt, die den Ausdruck allen Geschehens in die Subjekt -Prädikat -Objekt -Struktur zwingt und für jedes Tun unabdingbar einen Täter voraussetzt; die Sprache erlaubt nicht, eine bloße Tätigkeit ohne Urheber oder Ursache zu denken:
    "Der Mensch glaubt sich als Ursache, als Täter - alles, was geschieht, verhält sich prädikativ zu irgend welchem Subjekte."

    In jedem Urteile steckt der ganze volle tiefe Glauben an Subjekt und Prädikat oder an Ursache und Wirkung; und dieser letzte Glaube (nämlich als die Behauptung daß jeder Wirkung Tätigkeit sei und daß jede Tätigkeit einen Täter voraussetze) ist sogar ein Einzelfall des ersteren, so daß der Glaube als Grundglaube übrig bleibt: es gibt Subjekte".
Sowohl bei LICHTENBERG wie bei NIETZSCHE ist der Blitz das Paradigma, an dem die Sprachkritik an der grammatisch bedingten Logik des Kausalitätsgefüges zwischen Subjekt, Prädikat und Objekt geübt wird; NIETZSCHE streicht sich in seiner Ausgabe von LICHTENBERGs  Vermischten Schriften  den letzten Satz der folgenden Bemerkung am rechten Rand rot an:
    "Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; Andere glauben, wir wenigstens hingen von uns ab, wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt,  sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt.  Zu sagen  cogito,  ist schon zu viel, so bald man es durch  Ich denke  übersetzt. Das  Ich  anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis".
Eine Reihe weiterer Lesespuren NIETZSCHEs steht im Zusammenhang mit der durch KANT angeregten Erwägung, daß der Mensch, zurückgeworfen auf seine Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken, als Teil der "Realität" keinen äußeren Zugang zu sich selbst hat; nur hypothetisch kann er sich als Urheber seines Denkens selbst vergegenwärtigen. Die antikartesianische Bemerkung über den Blitz hat als sogenanntes "LICHTENBERG-Argument" vor allem in der angelsächsischen sprachanalytischen Bewegung Philosophiegeschichte gemacht.

NIETZSCHE hat LICHTENBERGs Sprachkritik an der grammatikalischen Bedingtheit der kartesianischen Formel  cogito ergo sum  noch radikalisiert: Als Setzung des Denkens entlarvt er das "Ich" als weitere " regulative Fiktion,  mit deren Hilfe eine Art Beständigkeit, folglich  Erkennbarkeit  in eine Welt des Werdes hineingelegt,  hineingedichtet  wird". NIETZSCHE erhellt diese Kritik im Anschluß an LICHTENBERG durch die Analogie zwischen Denken und Blitzen: "Wenn ich sage  der Blitz leuchtet,  so habe ich das Leuchten einmal als Tätigkeit und das andere Mal als Subjekt gesetzt: also zum Geschehen ein Sein supponiert, welches mit dem Geschehen nicht eins ist, vielmehr  bleibt, ist,  und nicht  wird."

In der Verbindung zwischen Denken und Blitzen mündet NIETZSCHEs Kritik in vier Aphorismen der beiden Bücher  Jenseits von Gut und Böse  und  Zur Genealogie der Moral.  Quintessenz: Erst die "Trennung des  Tuns  vom  Tuenden"  löst das Ineinander eines Prozeßes des Werdens in ein Nacheinander kausaler Bedingtheit auf: "diese alte Mythologie hat den Glauben an  Ursache und Wirkung  festgestellt, nachdem er in den sprachlichen grammatikalischen Funktionen eine feste Form gefunden hatte". Die Verwechslung von Ursache und Wirkung, zu der die Grammatik verführt, nährt schließlich auch die Illusion der menschlichen Willensfreiheit. Doppelt streicht sich NIETZSCHE in den  Vermischten Schriften  LICHTENBERGs Bemerkung an:
    "Wir wissen mit weit mehr Deutlichkeit, daß unser Wille frei ist, als daß Alles, was geschieht, eine Ursache haben müsse. Könnte man also nicht einmal das Argument umkehren und sagen: Unsere Begriffe von Ursache und Wirkung müssen sehr unrichtig sein, weil  unser  Wille nicht frei sein könnte, wenn sie richtig wären?"

LITERATUR - Martin Stingelin, Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, Friedrich Nietzsches Lichtenberg Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik und historischer Kritik, München 1996
    Anmerkungen
    1) Vgl. LICHTENBERG  Vermischte Schriften:  "Es ist ein ganz unvermeidlicher Fehler aller Sprachen, daß sie nur  genera  von Begriffen ausdrücken, und selten das hinlänglich sagen, was sie sagen wollen. Denn wenn wir unsere Wörter mit den Sachen vergleichen, so werden wir finden, daß die letzten in einer ganz andern Reihe fortgehen, als die ersten. Die Eigenschaften, die wir an unserer Seele bemerken, hängen so zusammen, daß sich wohl nicht leicht eine Grenze zwischen zweien wird angeben lassen.

    Die Wörter hingegen, womit wir sie bezeichnen, sind nicht so beschaffen, und zwei aufeinander folgende und verwandte Eigenschaften werden durch Zeichen ausgedrückt, die uns keine Verwandtschaft zu erkennen geben. Man sollte die Wörter philosophisch deklinieren, das ist, ihre Verwandtschaft von der Seite durch Veränderungen angeben können. In der Analysis nennt man einer Linie  a  unbestimmtes Stück  x,  das andere nicht y,  wie im gemeinen Leben, sondern  a - x.  Daher hat die mathematische Sprache so viele Vorzüge vor der gemeinen."