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LUDWIG FEUERBACH
Vorläufige Thesen
zur Reform der Philosophie

(1842)

"Der Glaube an das Jenseits ist ein absolut unpoetischer Glaube. Der Schmerz ist die Quelle der Poesie. Nur wer den Verlust eine endlichen Wesens als einen unendliche Verlust empfindet, hat die Kraft zu lyrischem Feuer. Nur der schmerzliche Reiz der Erinnerung an das, was  nicht mehr  ist, ist der erste Künstler, der erste Idealist im Menschen. Aber der Glaube an das Jenseits macht jeden Schmerz zum Schein, zur Unwarheit."

"Die Philosophie ist die Erkenntnis dessen,  was ist.  Die Dinge und Wesen  so  zu denken,  so  zu erkennen,  wie sie sind  - diese ist das höchste Gesetz, die höchste Aufgabe der Philosophie."

In der Anschauung werde ich  bestimmt  vom Gegenstand, im Denken  bestimme  ich den Gegenstand; im Denken bin ich  Ich,  in der Anschauung  Nicht-Ich.  Nur aus der  Negation  des Denkens, aus dem  Bestimmtsein  vom Gegenstand, aus der  Passion,  aus der Quelle aller Lust und Not erzeugt sich der wahre, objektive Gedanke, die wahre, objektive Philosophie. Die Anschauung gibt das mit der  Existenz unmittelbar identische,  das Denken das durch die  Unterscheidung,  die  Absonderung  von der Existenz  vermittelte  Wesen."

"Wenn man den Namen der neuen Philosophie, den Namen  Mensch mit Selbstbewußtsein  übersetzt: so legt man die neue Philosophie im Sinne der alten aus, versetzt sie wieder auf den alten Standpunkt zurück, denn das Selbstbewußtsein der alten Philosophie  als abgetrennt vom Menschen ist eine Abstraktion ohne Realität.  Der Mensch  ist  das Selbstbewußtsein."

Das Geheimnis der  Theologie  ist die  Anthropologie,  das Geheimnis aber der  spekulativen Philosophie  die  Theologie  - die  spekulative  Theologie, welche sich dadurh von der  gemeinen  unterscheidet, daß sie das von dieser aus Furcht und Unverstand in das Jenseits entfernte göttliche Wesen ins Diesseits versetzt, d. h.  vergegenwärtigt, bestimmt, realisiert. 


SPINOZA ist der eigentliche Urheber der modernen spekulativen Philosophie, SCHELLING ihr Wiederhersteller, HEGEL ihr Vollender.


Der  "Pantheismus"  ist die  notwendige Konsequenz  der Theologie (oder des Theismus) - die  konsequente  Theologie; der  "Atheismus" die notwendige Konseqenz  des "Pantheismus", der  konsequente  "Pantheismus." (1)


Das Christentum ist der  Widerspruch  von  Polytheismus  und  Monotheismus. 


Der Pantheismus ist der  Monotheismus  mit dem  Prädikat  des Polytheismus, d. h. der Pantheismus macht die selbständigen Wesen des Polytheismus zu Prädikaten, Attributen des  einen  selbständigen Wesens. So machte SPINOZA das Denken, als den Inbegriff der denkenden Dinge, und die Materie, als den Inbegriff der ausgedehnten Dinge, zu Attributen der Substanz, d. h. Gottes. Gott ist ein denkendes Ding, Gott ist ein ausgedehntes Ding.


Die Identitätsphilosophie unterschied sich nur dadurch von der Spinozischen, daß sie das tote, phlegmatische Ding der Substanz mit dem Spiritus des Idealismus begeisterte. HEGEL inbesondere machte die Selbsttätigkeit, die Selbstunterscheidungskraft, das Selbstbewußtsein zum Attribut der Substanz. Der paradoxe Satz HEGELs: "das Bewußtsein von Gott ist das Selbstbewußtsein Gottes," beruth auf  demselben Fundament,  wie der paradoxe Satz SPINOZAs: "die Ausdehnung oder Materie ist ein Attribut der Substanz," und hat keinen anderen Sinn, als: das Selbstbewußtsein ist ein Attribut der Substanz oder Gottes, Gott ist Ich. Das Bewußtsein, welches der Theist im Unterschied vom  wirklichen  Bewußtsein Gott zuschreibt, ist nur eine Vorstellung ohne Realität. Der Satz SPINOZAs aber: die Materie ist  Attribut  der Substanz, sagt nichts weiter aus, als die Materie ist substanzielle göttliche Wesenheit: ebenso der Satz HEGELs nichts weiter als: das Bewußtsein ist göttliches Wesen.


Die Methode der reformatorischen Kritik der  spekulativen Philosophie überhaupt  unterscheidet sich nicht von der bereits in der  Religionsphilosophie  angewandten. Wir dürfen nur immer das  Prädikat  zum  Subjekt,  und so als  Subjekt  zum  Objekt  und  Prinzip  machen - also die spekulative Philosophie nur  umkehren,  so haben wir die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit.


Der "Atheismus" ist der umgekehrte "Pantheismus".


Der Pantheismus ist  die Negation der Theologie auf dem Standpunkt der Theologie. 


Wie nach SPINOZA (Ethik I, Def. 3 und Prop. 10) das Attribut oder Prädikat der Substanz die Substanz selbst ist, so ist auch nach HEGEL das  Prädikat  des Absoluten, des Subjekts überhaupt das  Subjekt selbst.  Das Absolute ist nach HEGEL Sein, Wesen, Begriff (Geist, Selbstbewußtsein). Das Absolute aber, als Sein nur gedacht, ist gar  nichts anderes  als Sein; das Absolute, inwiefern es unter dieser oder jener Bestimmtheit, Kategorie gedacht wird, eht  ganz  in diese Kategorie, diese Bestimmtheit auf, so daß es  abgesehen  davon ein bloßer Name ist. Aber dessen ungeachtet liegt doch noch das Absolute  als Subjekt  zugrunde, hat das  wahre  Subjekt,  das,  wodurch das Absolute nicht ein bloßer Name, sondern  Etwas  ist, die  Determination  doch noch immer die Bedeutung eines bloßen Prädikates, gerade wie bei SPINOZA das Attribut.


Das Absolute oder Unendliche der spekulativen Philosohie ist, psychologisch betrachtet, nichts anderes als das nicht Determinierte, Unbestimmte - die Abstraktion von allem Bestimmten, gesetzt als ein von dieser Abstraktion unterschiedenes, zugleich aber wieder mit derselben identifiiertes Wesen; historisch betrachtet aber nichts anderes als das alte theologisch-metaphysische  nicht  endliche,  nicht  menschliche,  nicht  materielle,  nicht  bestimmte,  nicht  beschaffene Wesen oder Unwesen, - das vorweltliche Nichts gesetzt  als Akt. 


Die HEGELsche Logik ist die zur  Vernunft  und  Gegenwart  gebrachte, zur  Logik  gemachte  Theologie. Wie das göttliche Wesen der Theologie der ideale oder abstrakte Inbegriff aller Realitäten, d. h. aller Bestimmungen, aller Endlichkeiten ist, so die Logik Alles auf Erden, findet sich wieder im Himmel der Theologie - so auch  alles, was in der Natur, im Himmel der göttlichen Logik:  Qualität, Quantität, Maß, Wesen, Chemismus, Mechanismus, Organismus. Alles haben wir  zweimal  in der Theologie, das eine Mal  in abstracto,  das andere Mal  in concreto  - Alles  zweimal  in der HEGELschen Philosophie; als Objekt der Logik, und dann wieder als Objekt der Natur- und Geistesphilosophie.


Das Wesen der Theologie ist das  transzendente,  außer den Menschen hinausgesetzte Wesen des Menschen; das Wesen der Logik HEGELs das  transzendente  Denken, das Denken des Menschen  außer den Menschen gesetzt. 


Wie die Theologie den Menschen  entzweit  und  entäußert,  um dann das entäußerte Wesen wieder mit ihm zu identifizieren, so  vervielfältigt  und  zersplittert  HEGEL das  einfache, mit sich identische Wesen  der Natur und des Menschen, um das gewaltsam Getrennte dann wieder gewaltsam zu vermitteln.


Die Metaphysik oder Logik ist nur dann eine  reelle, immanente  Wissenschaft, wenn sie  nicht  vom sogenannten  subjektiven Geist abgetrennt  wird. Die Metaphysik ist die  esoterische Psychologie.  Welche Willkür, welche Gewalttat, die Qualität für sich, die Empfindung für sich zu betrachten, beide in besondere Wissenschaften entzwei zu reißen, als wäre die Qualität etwas ohne Empfindung, die Empfindung etwas ohne Qualität.


Der  absolute Geist  HEGELs ist nichts anderes, als der  abstrakte,  von sich selbst abgesonderte sogenannte  endliche  Geist, wie das unendliche Wesen der Theologie nichts anderes ist, als das  abstrakte  endliche Wesen.


Der absolute Geist offenbart oder realisiert sich nach HEGEL in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie. Das heißt auf deutsch:  der Geist der Kunst, der Religion, der Philosophie ist der absolute Geist.  Aber die Kunst und Religion kann man nicht von der menschlichen Empfindung, Phantasie und Anschauung, die Philosophie nicht von Denken, kurz den absoluten Geist nicht vom subjektiven Geist oder Wesen des Menschen absondern, ohne uns wieder auf den alten Standpunkt der Theologie zurückzuversetzen, ohne uns den absoluten Geist als einen  andern,  vom menschlichen Wesen unterschiedenen Geist, d. h. ein außer uns existierendes Gespenst von uns selbst vorzuspiegeln.


Der "absolute Geist" ist der "abgeschiedene Geist" der Theologie, welcher in der HEGELschen Philosophie noch als  Gespenst  umgeht.


Die Theologie ist  Gespensterglaube.  Die  Gemeine  Theologie hat aber ihre Gespenster in der sinnlichen Imagination, die spekulative Theologie in der unsinnlichen Abstraktion.


Abstrahieren heißt das  Wesen  der Natur  außer die Natur,  das  Wesen  des Menschen  außer den Menschen,  das  Wesen  des Denkens  außer den Denkakt  setzen. Die HEGELsche Philosophie hat den Menschen  sich selbst entfremdet,  indem ihr ganzes System auf diesen Abstraktionsakten beruth. Sie identifiziert zwar wieder, was sie trennt, aber nur auf eine selbst wieder  trennbare, mittelbare  Weise. Der HEGELschen Philosophie fehlt  unmittelbare Einheit, unmittelbare Gewißheit, unmittelbare Wahrheit. 


Die unmittelbare, sonnenklare, truglose Identifikation des durch die Abstraktion vom Menschen entäußerten Wesens des Menschen  mit  dem Menschen kann nicht auf positivem Weg, kann nur als die  Negation  der HEGELschen Philosophie aus ihr abgeleitet, kann überhaupt nur  begriffen,  nur  verstanden  werden, wenn sie  als die totale   der spekulativen Philosophie begriffen wird, ob sie gleich die  Wahrheit  derselben ist. Alles steckt zwar in der HEGELschen Philosophie, aber immer zugleich mit seiner  Negation,  seinem  Gegensatz


Der  augenfällige  Beweis, daß der absolute Geist der sogenannte endliche, subjektive Geist ist, also jener nicht von diesem abgesondert werden kann und darf - ist die  Kunst.  Die Kunst eht aus dem Gefühl hervor, daß das diesseitige Leben das wahre Leben, das  Endliche  das  Unendliche  ist - aus der Begeisterung für ein  bestimmtes, wirkliches  Wesen als das  höchste,  das  göttliche  Wesen. Der  christliche Monotheismus hat kein Prinzip der künstlerischen und wissenschaftlichen Bildung  in sich. Nur der  Polytheismus,  der sogenannte  Götzendienst  ist die Quelle der Kunst und Wissenschaft. Die Griechen erhoben sich nur dadurch zur Vollendung der plastischen Kunst, daß ihnen  unbedingt und unbedenklich  die menschliche Gestalt für die höchste Gestalt, für die Gestalt der Gottheit galt. Die Christen kamen erst da zur Poesie, als sie die  christliche Theologie praktisch negierten,  das  weibliche  Wesen als  göttliches  Wesen verehrten. Die Christen waren im  Widerspruch  mit dem Wesen ihrer Religion, wie sie es vorstellten, wie es  Gegenstand  ihres Bewußtseins war, Künstler und Poeten. PETRARCA  bereute  aus Religion die Gedichte, in denen er seine LAURA vergöttert hatte. Warum haben die Christen nicht, wie die Heiden, ihren religiösen Vorstellungen adäquate Kunstwerke? warum kein sie vollkommen befriedigendes Christusbild? Weil die religiöse Kunst der Christen scheitert am verderblichen  Widerspruch  zwischen ihrem  Bewußtsein  und der  Wahrheit.  Das Wesen der christlichen Religion ist in Wahrheit das menschliche, im Bewußtsein der Christen aber ein  anderes,  ein  nicht  menschliches. CHRISTUS soll Mensch nund wieder nicht Mensch sein; er ist eine Amphibolie [Doppelsinn - wp]. Die Kunst kann aber nur das Wahre,  Unzweideutige  darstellen.


Das entschiedene, zu Fleisch und Blut gewordene Bewußtsein, daß das Menschliche das Göttliche, das Endliche das Unendliche, ist die Quelle einer neuen Poesie und Kunst, die an Energie, Tiefe und Feuer alle bisherige übertreffen wird. Der Glaube an das Jenseits ist ein absolut unpoetischer Glaube. Der Schmerz ist die Quelle der Poesie. Nur wer den Verlust eine endlichen Wesens als einen unendliche Verlust empfindet, hat die Kraft zu lyrischem Feuer. Nur der schmerzliche Reiz der Erinnerung an das, was  nicht mehr  ist, ist der erste Künstler, der erste Idealist im Menschen. Aber der Glaube an das Jenseits macht jeden Schmerz zum Schein, zur Unwarheit.


Die Philosophie, welche das Endliche aus dem Unendlichen, das Bestimmte aus dem Unbestimmten ableitet,  bringt es nie zu einer wahren Position des Endlichen und Bestimmten.  Das Endliche wird aus dem Unendlichen abgeleitet - das heißt: das Unendliche, das Unbestimmte wird bestimmt,  negiert;  es wird eingestanden, daß das Unendliche  ohne Bestimmung, d. h. ohne Endlichkeit nichts  ist, als die  Realität  des Unendlichen also das Endliche gesetzt. Aber das negative Unwesen des Absoluten bleibt zugrunde liegen; die gesetze Endlichkeit wird daher immer wieder aufgehoben. Das  Endliche  ist die  Negation des Unendlichen,  und wieder das  Unendliche die Negation des Endlichen.  Die Philosophie des Absoluten ist ein  Widerspruch. 


Wie in der Theologie der  Mensch die Wahrheit, Realität  Gottes ist - denn alle Prädikate, die Gott als Gott realisieren, Gott zu einem  wirklichen Wesen  machen, wie Macht, Weisheit, Güte, Liebe, selbst Unendlichkeit und Persönlichkeit, welche den  Unterschied  vom Endlichen zur Bedingung haben, werden erst  in  und  mit  dem Menschen gesetzt - ebenso ist in der spekulativen Philosophie die  Wahrheit des Unendlichen das Endliche. 


Die Wahrheit des Endlichen wird von der absoluten Philosophie nur auf  indirekte, verkehrte  Weise ausgesprochen. Wenn das Unendliche nur  ist,  nur  Wahrheit und Wirklichkeit  hat, wenn es  bestimmt,  d. h. wenn es nicht als Unendliches, sondern  Endliches  gesetzt wird, so ist ja in Wahrheit das  Endliche  das  Unendliche. 


Die Aufgabe der wahren Philosophie ist nicht, das Unendliche als das Endliche, sondern das Endliche als das  nicht Endliche,  als das Unendliche zu erkennen, oder, nicht das Endliche in das Unendliche, sondern das Unendliche in das Endliche setzen.


Der Anfang der Philosophie ist nicht Gott, nicht das Absolute, nicht das Sein als  Prädikat  des Absoluten oder der Idee - der Anfang der Philosophie ist das Endliche, (2) das Bestimmte, das  Wirkliche.  Das Unendliche kann gar nicht gedacht werden  ohne  das Endliche. Kannst Du  die  Qualität denken, definieren, ohne an eine  bestimmte Qualität  zu denken? Also ist nicht das Unbestimmte, sondern das Bestimmte das Erste, denn die  bestimmte  Qualität ist nichts anderes als die  wirkliche  Qualität; der gedachten Qualität geht die wirkliche voraus.


Der  subjektive  Ursprung und Gang der Philosophie ist auch ihr  objektiver  Gang und Ursprung. Ehe Du die Qualität denkst,  fühlst  du die Qualität. Dem Denken geht das  Leiden  voran.


Das Unendliche ist das  wahre Wesen  des Endlichen - das  wahre  Endliche. Die wahre Spekulation oder Philosophie ist nichts, als die  wahre  und  universale Empirie. 


Das Unendliche der Religion und Philosophie ist und war nie etwas anderes, als irgendein  Endliches,  irgendein Bestimmtes, aber  mystifiziert,  d. h. ein Endliches, ein Bestimmtes,  mit dem Postulat, nichts Endliches, nichts Bestimmtes  zu sein. Die spekulative Philosophie hat sich  desselben  Fehlers schuldig gemaht, wie die Theologie, - die Bestimmungen der Wirklichkeit oder Endlichkeit nur durch die  Negation  der Bestimmtheit, in welcher sie sind,  was sie sind,  zu Bestimmungen, Prädikaten des Unendlichen gemacht.


Ehrlichkeit und Redlichkeit sind zu allen Dingen nütze - auch zur Philosophie. Ehrlich und redlich ist aber nur die Philosophie, wenn sie die Endlichkeit ihrer spekulativen Unendlichkeit eingesteht - eingesteht also, daß z. B. das Geheimnis der Natur in Gott nichts anderes ist, als das Geheimnis der menschlichen Natur, daß die  Nacht,  die sie in Gott setzt, um aus ihr das Licht des Bewußtseins zu erzeugen, nichts ist, als ihr eigenes,  dunkles,  instinktartiges Gefühl von der Realität und Unentbehrlichkeit der Materie.


Der bisherige Gang der spekulativen Philosophie vom Abstrakten zum Konkreten, vom Idealen zum Realen ist ein verkehrter. Auf diesem Weg kommt man nie zur  wahren, objektiven Realität,  sondern immer nur zur  Realisation seiner eigenen Abstraktionen,  und eben deswegen nie zur wahren  Freiheit  des Geistes, denn  nur die Anschauung der Dinge und Wesen in ihrer objektiven Wirklichkeit macht den Menschen frei und ledig aller Vorurteile.  Der Übergang vom Idealen zum Realen hat seinen Platz nur in der praktischen Philosophie.


Die Philosophie ist die Erkenntnis dessen,  was ist.  Die Dinge und Wesen  so  zu denken,  so  zu erkennen,  wie sie sind  - diese ist das höchste Gesetz, die höchste Aufgabe der Philosophie.


Das, was ist,  so,  wie es ist - also das Wahre  wahr  ausgesprochen,  scheint oberflächlich;  das, was ist,  so, wie es nicht ist  - also das Wahre  unwahr, verkehrt  ausgesprochen,  scheint tief  zu sein.


 Wahrhaftigkeit, Einfachheit, Bestimmtheit  sind die formellen Kennzeichen der  reellen  Philosophie.


Das Sein, mit dem die Philosophie beginnt, kann nicht vom Bewußtsein, das Bewußtsein nicht vom Sein abgetrennt werden. Wie die Realität der Empfindung die Qualität, und umgekehrt die Empfindung die Realität der Qualität ist, so ist auch das Sein die Realität des Bewußtseins, aber ebenso umgekehrt das Bewußtsein die Realität des Seins - das Bewußtsein erst das  wirkliche  Sein. Die  reelle  Einheit von Geist und Natur ist nur das Bewußtsein.


Alle diese Bestimmungen, Formen, Kategorien, oder wie man es sonst nennen will, welche die spekulative Philosophie vom Absoluten abgestreift und in das Gebiet des  Endlichen, Empirische  verstoßen hat, enthalten gerade das  wahre Wesen  des Endlichen, das  wahre Unendliche, die wahren und letzten Mysterien  der Philosophie.


 Raum und Zeit  sind die Existenzformen alles Wesens. Nur die Existenz in Raum und Zeit ist  Existenz.  Die Negation von Raum und Zeit ist immer nur die  Negation  ihrer Schranken, nicht ihres  Wesens.  Eine zeitlose Empfindung, ein zeitloser Wille, ein zeitloser Gedanke, ein zeitloses Wesen sind Undinge. Wer keine Zeit überhaupt, hat auch keine zeit, keinen Drang zum Wollen, zum Denken.


Die Negation von Raum und Zeit in der Metaphysik, im Wesen der Dinge hat die verderblichsten praktischen Folgen. Nur wer  überall  auf dem Standpunkt der Zeit und des Raums steht, hat auch im Leben  Takt und praktischen Verstand.  Raum und Zeit sind die ersten Kriterien der Praxis. Ein Volk, welches aus seiner Metaphysik die Zeit ausschließt, die ewige, d. h.  abstrakte,  von der Zeit abgesonderte Existenz vergöttert, das schließt konsequenz auch aus seiner Politik die Zeit aus, vergöttert das rechts- und vernunftwidrige, antigeschichtliche Stabilitätsprinzip.


Die spekulative Philosophie hat die von der  Zeit  abgesonderte Entwicklung zu einer Form, einem Attribut des Absoluten gemacht. Diese Absonderung der Entwicklung von der Zeit ist aber ein wahres Meisterstück  spekulativer Willkür  und der schlagende Beweis, daß die spekulativen Philosophen es ebenso gemacht haben mit ihrem Absoluten, wie die Theologen mit ihrem Gott, der alle Affekte des Menschen hat  ohne Affekt,  liebt  ohne Liebe,  zürnt  ohne Zorn.  Entwicklung ohne Zeit ist so viel wie Entwicklung  ohne Entwicklung.  Der Satz: das absolute Wesen entwickelt sich aus sich - ist übrigens nur  umgekehrt  ein wahrer, vernünftiger. Es muß also heißen: nur ein sich entwickelndes, sich zeitlich enfaltendes Wesen ist ein  absolutes, d. h. wahres, wirkliches  Wesen.


Raum und Zeit sind die Offenbarungsformen des  wirklichen  Unendlichen.


Wo keine Grenze, keine Zeit, keine Not, da ist auch keine Qualität, keine Energie, kein Spiritus, kein Feuer, keine Liebe.  nur das  notleidende  Wesen ist das  notwendige  Wesen.  Bedürfnislose  Existenz ist  überflüssige  Existenz. Was frei ist von Bedürfnissen überhaupt, hat auch kein Bedürfnis der Existenz. Ob es ist, oder nicht ist, das ist eins - eins für es selbst, eins für andere. Ein Wesen ohne Not ist ein Wesen ohne  Grund.  Nur was  leiden  kann, verdient zu existieren. Nur das  schmerzensreiche Wesen ist göttliches Wesen.  Ein Wesen  ohne Leiden  ist ein Wesen  ohne Wesen.  Ein Wesen ohne Leiden ist aber nichts anderes, als ein Wesen  ohne Sinnlichkeit, ohne Materie. 


Eine Philosophie, welche kein  passives Prinzip  in sich hat, eine Philosophie, welche spekuliert über Existenz  ohne Zeit,  über das Dasein  ohne Dauer,  über die Qualität  ohne Empfindung,  über das Wesen  ohne Wesen,  über das Leben  ohne  Leben, ohne Fleisch und Blut - eine solche Philosophie, wie die des Absoluten überhaupt, hat, als eine durchaus  einseitige, notwendig  die Empirie zu ihrem Gegensatz. SPINOZA hat die Materie wohl zu eine Attribut der Substanz gemacht, aber nicht als ein Prinzip des Leidens, sondern gerade deswegen, weil sie  nicht  leidet, weil sie einzig, unteilbar, unendlich ist, weil sie insofern die  nämlichen  Bestimmungen hat, als das ihr  entgegengesetzte  Attribut des Denkens, kurz, weil sie eine  abstrakte  Materie, eine Materie  ohne Materie  ist, gleichwie das Wesen der HEGELschen Logik das Wesen der Natur und des Menschen ist, aber  ohne Wesen, ohne Natur, ohne Mensch. 


Der Philosoph muß das im Menschen, was  nicht  philosophiert, was vielmehr  gegen  die Philosophie ist, dem abstrakten Denken  opponiert,  das also, was bei HEGEL nur zur  Anmerkung  herabgesetzt ist, in den  Text  der Philosophie aufnehmen. Nur so wird die Philosophie zu einer  universalen, gegensatzlosen, unwiderleglichen, unwiderstehlichen Macht Die Philosophie hat daher nicht  mit sich,  sondern mit ihrer  Antithese,  mit der  Nichtphilosophie  zu beginnen. Dieses vom Denken unterschiedene, unphilosophische, absolut  antischolastische  Wesen in uns ist das Prinzp des  Sensualismus


Die wesentlichen Werkzeugte, Organe der Philosophie sind der  Kopf,  die Quelle der Aktivität, der Freiheit, der metaphysischen Unendlichkeit, des Idealismus, und das  Herz,  die Quelle der Leiden, der Endlichkeit, des Bedürfnisses, des Sensualismus - theoretische ausgedrückt:  Denken  und Anschauung; den das  Denken  ist das  Bedürfnis des Kopfes, die Anschauung, der Sinn das Bedürfnis des Herzens.  Das Denken ist das Prinzip der Schule, des Systems, die Anschauung das  Prinzip des Lebens.  In der Anschauung werde ich  bestimmt  vom Gegenstand, im Denken  bestimme  ich den Gegenstand; im Denken bin ich  Ich,  in der Anschauung  Nicht-Ich.  Nur aus der  Negation  des Denkens, aus dem  Bestimmtsein  vom Gegenstand, aus der  Passion,  aus der Quelle aller Lust und Not erzeugt sich der wahre, objektive Gedanke, die wahre, objektive Philosophie. Die Anschauung gibt das mit der  Existenz unmittelbar identische,  das Denken das durch die  Unterscheidung,  die  Absonderung  von der Existenz  vermittelte  Wesen. Nur da also, wo sich mit dem Wesen die Existenz, mit dem Denken die Anschauung, mit der Aktivität die Passivität, mit dem  scholastischen Phlegma der deutschen Metaphysik  das  antischolastische, sanguinische Prinzip des französischen Sensualismus und Materialismus  vereinigt, nur da ist  Leben  und  Wahrheit. 


Wie die Philosophie, so der Philosophe, und umgekehrt: die Eigenschaften des Philosophen, die  subjektiven Bedingungen  und  Elemente  der Philosophie sind auch ihre  objektiven.  Der wahre, der  mit dem Leben, dem Menschen identische  Philosoph muß  gallo-germanischen  Geblüts sein. Erschreckt nicht, ihr keuschen Deutschen, über diese Vermischung! Schon anno 1716 haben diesen Gedanken die  Acta Philosophorum  ausgesprochen. "Wenn wir die  Teutschen  und  Franzosen  gegeneinander halten, so haben zwar dieser ihre  ingenia  mehr Hurtigkeit, jene aber mehr Solidität, und könnte man füglich sagen, das  temperamentum Gallico-germanicum  schicke sich am Besten zur Philosophie, oder ein Kind, welches einen  Franzosen  zum Vater, und eine  Teutsche  zur Mutter hat, müßte (ceteris paribus [unter gleichen Bedingungen - wp]) ein gut  ingenium philosophicum  bekommen." Ganz richtig; nur müssen wir die Mutter zur Französins, den Vater zum Deutschen machen. Das  Herz  - das weibliche Prinzip, der  Sinn  für das Endliche, der Sitz des Materialismus - ist  französisch  gesinnt; der  Kopf  - das männliche Prinzip, der Sitz des Idealismus -  deutsch.  Das Herz revolutioniert, der Kopf reformiert; der Kopf bringt die Dinge  zustande,  das Herz in  Bewegung.  Aber nur wo Bewegung, Wallung, Leidenschaft, Blut, Sinnlichkeit, da ist auch  Geist.  Nur der  Esprit  LEIBNIZ', sein sanguinisches,  materialistisch -idealistisches Prinzip war es, was zuerst die Deutschen aus ihrem philosophischen Pedantismus und Scholastizismus herausriß.


Das Herz galt bisher in der Philosophie für die Brustwehr der Theologie. Aber gerade das Herz ist das schlechterdings  antitheologische,  das im Sinn der Theologie ungläubige, atheistische Prinzip im Menschen. Denn es glaubt an  nichts anderes, als an sich selbst,  glaubt nur an die unumstößliche, göttliche, absolute Realität  seines  Wesens. Aber  der  Kopf, welcher das Herz  nicht  versteht, verwandelt, weil Trennen, Unterscheiden in Subjekt und Objekt seine Sache ist, das eigene Wesen des Herzens in ein vom Herzen  unterschiedenes, objektives, äußerliches  Wesen. Allerdings ist dem Herzen ein  anderes  Wesen ein Bedürfnis, jedoch nur ein solches Wesen, welches Seinesgleichen,  nicht  vom Herzen unterschieden ist,  nicht  dem Herzen widerspricht. Die Theologie  leugnet die Wahrheit des Herzens, die Wahrheit des religiösen Affekts.  Der religiöse Affekt, das Herz, sagt z. B.: "Gott  leidet";  die Theologie dagegen sagt: Gott leidet  nicht,  d. h. das Herz  leugnet den Unterschied  Gottes vom Menschen, die  Theologie   behauptet  ihn.


Der Theismus beruth auf dem  Zwiespalt  von Kopf und Herz; der Pantheismus ist die Aufhebung dieses Zwiespalts im  Zwiespalt  - denn er macht das göttliche Wesen nur  als transzendentes  immanent -; der Anthropotheismus  ohne Zwiespalt.  Der Anthropotheismus ist das zu  Verstand  gebrachte Herz; er spricht im Kopf nur auf Verstandesweise aus, was das Herz in seiner Weise sagt. Die Religion ist nur Affekt, Gefühl, Herz, Liebe, d. h. die Negation,  Auflösung Gottes  im Menschen. Die neue Philosophie ist daher, als die  Negation der Theologie,  welche die Wahrheit des religiösen Affekts leugnet, die  Position der Religion.  Der Anthropotheismus ist die  selbstbewußte Religion  - die Religion,  die sich selbst versteht.  Die Theologie dagegen  negiert  die Religion  unter dem Schein,  als ob sie sie  ponierte  [als wahr annehmen - wp].


SCHELLING und HEGEL sind  Gegensätze.  HEGEL präsentiert das männliche Prinzip der Selbständigkeit, der Selbsttätigkeit, kurz, das idealistische Prinzip; SCHELLING das weibliche Prinzip der Rezeptivität, der Empfänglichkeit; - erst rezipierte er FICHTE, dann PLATO und SPINOZA, schließlich JAKOB BÖHME - kurz, das materialistische Prinzip. HEGEL fehlt es an  Anschauung,  SCHELLING an  Denk-,  an  Bestimmungskraft.  SCHELLING ist Denker nur im  Allgemeinen;  aber wie es zur Sache kommt, im Besonderen, Bestimmten, verfällt er in den Somnambulismus der Imagination. Der Rationalismus bei SCHELLING ist nur  Schein,  der Irrationalismus  Wahrheit.  HEGEL bringt es nur zu einer  abstrakten,  dem irrationalen Prinzip, SCHELLING nur zu einer dem rationalen Prinzip widersprechenden,  mystischen,  imaginären Existenz und Realität. HEGEL ergänzt den Mangel am Realismus durch  sinnliche,  SCHELLING durch  schöne  Worte. HEGEL drückte das Ungemeine gemein, SCHELLING das Gemeine ungemein aus. HEGEL macht die  Dinge zu bloßen Gedanken,  SCHELLING bloße  Gedanken  - z. B. die Aseität [aus sich sein - wp] in Gott - zu  Dingen.  HEGEL täuscht die denkenden Köpfe, SCHELLING die  nicht  denkenden. HEGEL macht die Unvernunft zur Vernunft, SCHELLING umgekehrt die Vernunft zur Unvernunft. SCHELLING ist die Realphilosophie  im Traum,  HEGEL schon im  Begriff.  SCHELLING negiert das abstrakte Denken  in der Phantasie,  HEGEL im  abstrakten Denken.  HEGEL ist als die  Selbstnegation  des negativen Denkens, als die Vollendung der alten Philosophie der negative Anfang der neuen; SCHELLING ist die alte Philosophie  mit  der Einbildung, der  Jllusion die neue Realphilosophie zu sein.


Die HEGEL'sche Philosophie ist die Aufhebung des Widerspruchs von Denken und Sein, wie ihn insbesindere KANT ausgesprochen hat, aber wohlgemerkt! nur die Aufhebung dieses Widerspruchs  innerhalb des Widerspruchs  - innerhalb des  einen  Elements -  innerhalb des Denkens. Der Gedanke  ist bei HEGEL das  Sein;  - der  Gedanke das Subjekt,  das  Sein das Prädikat.  Die Logik ist das Denken im Element des Denkens, oder der sich selbst denkende Gedanke - der Gedanke als  prädikatloses Subjekt  oder der Gedanke, der  zugleich Subjekt, zugleich das Prädikat von sich  ist. Das Denken aber im Element des Denkens ist noch abstraktes; es realisiert, es entäußert sich daher. Dieser realisierte, entäußerte Gedanke ist die Natur, überhaupt das Reale, das Sein. Was ist aber das wahre Reale in diesem Realen? Der Gedanke - welcher darum auch alsbald das Prädikat der Realität wieder von sich abstreift, um seine Prädikatlosigkeit als sein wahres Wesen herzustellen. Aber eben deswegen ist HEGEL nicht zum  Sein als Sein,  zum freien, selbständigen, in sich selber glücklichen Sein gekommen. HEGEL hat die Objekte nur gedacht als  Prädikate  des sich selbst denkenden Gedankens. Der nun eingestandene Widerspruch zwischen der  seienden  und  gedachten  Religion in der HEGELschen Religionsphilosophie kommt nur daher, daß auch hier, wie anderwärts, der Gedanke zum Subjekt, der Gegenstand, die Religion aber zu einem bloßen  Prädikat  des Gedankens gemacht wird.


Wer die HEGELsche Philosophie nicht aufgibt, der gibt nicht die Theologie auf.  Die HEGELsche Lehre, daß die Natur, die Realität vor der Idee  gesetzt  - ist nur der  rationale  Ausdruck von der theologischen Lehre, daß die Natur von Gott, das materielle Wesen von einem immaterielen, d. h. abstrakten Wesen geschaffen ist. Am Ende der Logik bringt es die absolute Idee sogar zu einem nebulösen  "Entschluß",  um eigenhändig ihre Abkunft aus dem theologischen Himmel zu dokumentieren.


Die Hegel'sche Philosophie ist der letzte Zufluchtsort, die letzte rationale Stütze der Theologie.  Wie einst die katholischen Theologen  de facto  Aristoteliker wurden, um den Protestantismus, so müssen jetzt die protestantischen Theologen  de jure  [nach geltendem Recht - wp] Hegelianer werden, um den "Atheismus" bekämpfen zu können.


Das wahre Verhältnis vom Denken zum Sein ist nur dieses: das  Sein  ist  Subjekt,  das  Denken Prädikat.  Das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein nicht aus dem Denken. Sein ist aus sich und durch sich - Sein wird nur durch Sein gegeben, - Sein hat seinen Grund in sich, weil nur Sein Sinn, Vernunft, Notwendigkeit, Wahrheit, kurz alles in allem ist. - Sein  ist,  weil Nichtsein Nichtsein, d. h. Nichts,  Unsinn  ist.


Das Wesen des Seins  als Sein  ist das Wesen der Natur. Die zeitliche Genesis erstreckt sich nur auf die Gestalten, nicht auf das Wesen der Natur.


Das Sein wird nur da vom Denken abgeleitet, wo die  wahre Einheit  von Denken und Sein  zerrissen  ist, wo man erst dem Sein seine  Seele,  sein  Wesen  durch die Abstraktion genommen, und dann hintendrein wieder in dem vom Sein abgezogenen Wesen den  Sinn  und  Grund  dieses für sich selbst leeren Seins findet; gleichwie nur da die Welt aus Gott abgeleitet wird und werden muß, wo man das Wesen der Welt von der Welt willkürlich absondert.


Wer nach einem  besonderen  Realprinzip der Philosophie spekuliert, wie die sogenannten positiven Philosophen,
    Ist wie ein  Tier  auf  dürrer Heide 
    Von einem  bösen Geist  im  Kreis  herum geführt,
    Und rings umher liegt  schöne, grüne Weide. 
Diese schöne, grüne Weide ist die Natur und der Mensch, denn beide gehören zusammen. Schaut die Natur an, schaut den Menschen an! Hier habt ihr die Mysterien der Philosophie vor euren Augen.


Die Natur ist das von der  Existenz ununterschiedene,  der Mensch das von der Existenz sich  unterscheidende Wesen.  Das nicht unterscheidende Wesen ist der Grund des unterscheidenden - die Natur also der Grund des Menschen.


Die neue, die allein positive Philosophie ist die  Negation aller Schulphilosophie,  obgleich sie das Wahre derselben in sich enthält, ist die Negation der Philosophie  als einer abstrakten, partikularen, d. h. scholastischen  Qualität: sie hat kein  Schiboleth  [Paßwort - wp], keine besondere Sprache, keinen  besonderen  Namen, kein  besonderes  Prinzip; sie ist der  denkende Mensch  selbst - der Mensch, der  ist  und  sich weiß  als das selbstbewußte Wesen der Natur, als das Wesen der Geschichte, als das Wesen der Staaten, als das Wesen der Religion - der Mensch, der  ist  und  sich weiß  als die  wirkliche  (nicht imaginäre)  absolute Identität  aller Gegensätze und Widersprüche, aller aktiven und passiven, geistigen und sinnlichen, politischen und sozialen Qualitäten -  weiß,  daß das  pantheistische  Wesen, welches die spekulativen Philosophen oder vielmehr Theologen vom Menschen  absonderten,  als ein  abstraktes  Wesen vergegenständlichten, nichts anderes ist als sein  eigenes unbestimmtes, aber unendlicher Bestimmungen  fähiges Wesen.


Die neue Philosophie ist die  Negation  ebensowohl des  Rationalismus,  als des  Mystizismus ebensowohl des  Pantheismus,  als des  Personalismus,  ebensowohl des  Atheismus,  als des Theismus; sie ist die  Einheit all dieser antithetischen Wahrheiten  als eine  absolut selbständige und lautere Wahrheit. 


Die neue Philosophie hat sich bereits als Religionsphilosophie ebenso  negativ, wie positiv  ausgesprochen. Man braucht nur die  Konklusionen  ihrer Analyse zu  Prämissen  machen, um in ihnen die Prinzipien einer positiven Philosophie zu erkennen. Aber die neue Philosophie buhlt nicht um die Gunst des Publikus. Ihrer selbst gewiß, verschmäht sie es, das zu  scheinen,  was sie ist; muß aber eben deswegen unserer Zeit, welcher in den wesentlichsten Interessen der Schein für Wesen, die Jllusion für Realität, der Name für die Sache gilt, das  sein,  was sie  nicht  ist. So ergänzen sich die Gegensätze! Wo das  Nichts  für  Etwas,  die  Lüge  für  Wahrheit  gilt, da muß konsequenterweise das  Etwas  für Nichts, die Wahrheit für Lüge gelten. Und wo man - komischerweise gerade in dem Moment, wo die Philosophie in einem entscheidenden, universalen  Selbsttäuschungsakte  begriffen ist - den bisher unerhörten Versuch macht, eine Philosophie ledigliche auf die  Gunst und Meinung des Zeitungspublikums  zu gründen, da muß man auch ehrlicher- und christlicherweise philosophische Werke nur dadurch zu  widerlegen  suchen, daß man sie in der Augsburger Allgemeinen Zeitung beim Publikum  verleumdet.  O wie ehrbar, wie sittlich sind doch die öffentlichen Zustände Deutschlands!


Ein neues Prinzip tritt immer mit einem  neuen Namen  auf; d. h. es erhebt einen Namen aus einem niedrigen, zurückgesetzten Stand in den Fürstenstand - macht ihn zur Beziehung des Höchsten. Wenn man den Namen der neuen Philosophie, den Namen  Mensch mit Selbstbewußtsein  übersetzt: so legt man die neue Philosophie im Sinne der alten aus, versetzt sie wieder auf den alten Standpunkt zurück, denn das Selbstbewußtsein der alten Philosophie  als abgetrennt vom Menschen ist eine Abstraktion ohne Realität.  Der Mensch  ist  das Selbstbewußtsein.


Der Sprache nach ist der Name  Mensch  wohl ein besonderer, aber der Wahrheit nach der Name aller Namen. Dem Menschen gebührt das Prädikat  polyonymos  [Vielnamiger - wp]. Was der Mensch auch immer nennt und ausspricht - immer spircht er sein eigenes Wesen aus. Die Sprache ist daher das Kriterium, wie hoch oder wie niedrig der Grad der Bildung der Menschheit ist. Der Name Gottes ist nur der Name dessen, was dem Menschen für die höchste Kraft, das höchste Wesen, d. h. für das höchste Gefühl, den höchsten Gedanken gilt.


Der Name  Mensch  bedeutet insgemein nur den Menschen mit seinen Bedürfnissen, Empfindungen, Gesinnungen - den Menschen als Person, im Unterschied von seinem Geist, überhaupt seinen allgemeinen öffentlichen Qualitäten - im Unterschied z. B. vom Künstler, Denker, Schriftsteller, Richter, als wäre es nicht eine  charakteristische, wesentliche Eigenschaft des Mensche,  daß er Denker, daß er Künstler, daß er Richter usw. ist, als wäre der Mensch in der Kunst, in der Wissenschaft usw.  außer sich.  Die spekulative Philosophie hat diese Absonderung der wesentlichen Qualitäten des Menschen vom Menschen theoretisch fixiert, und dadurch lauter abstrakte Qualitäten als selbständige Wesen vergöttert. So heißt es z. B. im HEGEL'schen Naturrecht § 190: "Im Recht ist der Gegenstand die  Person,  im moralischen Standpunkt das  Subjekt,  in der Familie das Familienmitglied, in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt der Bürger (als  bourgeois),  hier auf dem Standpunkt der Bedürfnisse ist es das Konkretum der  Vorstellung  (?), das man  Mensch  nennt, es ist also erst hier und auch eigentlich nur hier vom Menschen in diesem Sinne die Rede." In  diesem  Sinne: also handelt es sich auch, wenn die Rede ist vom Bürger, vom Subjekt, vom Familienglied, von der Person, in Wahrheit immer nur von  ein und demselben  Wesen, dem Menschen, nur in einem anderen Sinne, nur in einer anderen Qualität.


Alle Spekulation über das Recht, den Willen, die Freiheit, die Persönlichkeit ohne den Menschen, außer dem oder gar über dem Menschen ist eine Spekulation  ohne Einheit, ohne Notwendigkeit, ohne Substanz, ohne Grund, ohne Realität.  Der Mensch ist die Existenz der Freiheit, die Existenz der Persönlichkeit, die Existenz des Rechts. Nur der Mensch ist der  Grund  und  Boden  des FICHTE'schen Ichs, der  Grund  und  Boden  der LEIBNIZ'schen Monade, der  Grund  und  Boden  des Absoluten.


Alle Wissenschaften müssen sich auf die  Natur  gründen. Eine Lehre ist so lange nur eine  Hypothese,  solange nicht ihre  natürliche Basis  gefunden ist. Dies gilt insbesondere von der  Lehre der Freiheit.  Nur der neuen Philosohie wird es gelingen, die Freiheit, die bisher eine  anti- und supranaturalistische Hypothese war, zu naturalisieren. 


Die Philosophie muß sich wieder mit der Naturwissenschaft, die Naturwissenschaft mit der Philosophie verbinden.  Diese auf gegenseitiges Bedürfnis, auf innere Notwendigkeit gegründete Verbindung wird dauerhafter, glücklicher und fruchtbarer sein, als die  bisherige Mesalliance  zwischen der Philosophie und Theologie.


Der Mensch ist das  hen kai pan  [ein und alles - wp] des Staats. Der Staat ist die realisierte, ausgebildete, explizierte Totalität des menschlichen Wesens. Im Staat werden die wesentlichen Qualitäten oder Tätigkeiten des Menschen in besonderen Ständen verwirklicht, aber in der Person des Menschen in besonderen Ständen verwirklicht, aber in der Person des Staatsoberhaupts wieder zur Identität zurückgeführt. Das Staatsoberhaupt hat alle Stände ohne Unterschied zu vertreten; vor ihm sind sie alle gleich notwendig, gleich berechtigt. Das Staatsoberhaupt ist der Repräsentant des universalen Menschen.


Die christlische Religion hat den Namen des Menschen mit dem Namen Gottes in den  einen  Namen des Gottmenschen verbunden - den Namen des Menschen also zu einem Attribut des höchsten Wesen erhoben. Die neue Philosophie hat der Wahrheit gemäß dieses Attribut zur Substanz, das Prädikat zum Subjekt gemacht - die neue Philosophie ist die  realisierte Idee - die Wahrheit  des Christentums. Aber eben weil sie das  Wesen  des Christentums in sich hat, gibt sie den  Namen  des Christentums auf. Das Christentum hat die Wahrheit nur  im Widerspruch mit der Wahrheit  ausgesprochen. Die widerspruchslose, reine, unverfälschte Wahrheit ist eine  neue  Wahrheit - eine  neue, autonomische Tat  der Menschheit.
LITERATUR Ludwig Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie, Sämtliche Werke, Bd. 2, Leipzig 1846
    Anmerkungen
    1) Diese  theologischen  Bezeichnungen werden hier nur im  Sinne trivialer Spitznamen  gebraucht.
    2) Das Wort Endlich brauche ich immer nur im Sine der "absoluten" Philosophie, welcher vom Standpunkt des Absoluten das Reale, das Wirkliche als das Unwirkliche, Nichtige erscheint, weil ihr das Unwirkliche, das Unbestimmte für das Reale gilt, ob ihr gleich andererseits wieder vom  Standpunkt der Nichtigkeit  aus das Endliche, das Nichtige, als das Reale erscheint - ein Widerspruch, der besonders in der früheren SCHELLINGschen Philosophie hervortritt, aber auch der HEGELschen noch  zugrunde  liegt.