ra-2ra-1p-4J. BaumannG. KerschensteinerP. RéeR. Wahle    
 
FRANZ WOLLNY
Über Freiheit und Charakter
des Menschen

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"Die Tiere leben ganz im Gegenwärtigen. Sie leben in keiner Welt von Vorstellungen, die sich auf Vergangenheit und Zukunft beziehen. Sie haben eben zur rein ideellen Betrachtung nicht den Trieb und darum auch nicht die Kraft. Deswegen vermag auch in ihnen die bloße, im Bewußtsein festgehaltene Vorstellung nicht einen praktischen Trieb fortdauernd wach zu halten, ein derartiges Interesse für eine entferntere Zukunft zu nähren. Allein die Bewußtseinskräfte des Menschen sind von viel größerer Energie und von viel größerer Tragweite. Seine Gedanken werden in die fernste Zukunft getragen."

"Der tierische Verstand ist der Abstraktionen nicht fähig und kann sich daher zu keinen allgemeinen, die Einzelheiten des Daseins umfassenden Vorstellungen und Begriffen so erheben, wie der menschliche. Er operiert nur mit Einzelvorstellungen, die ihm gerade augenblicklich die sinnliche Anschauung liefert. Das Tier erinnert sich vergangener Zustände, in denen es sich einmal befunden hat, höchstens, wenn es sich wieder ind diese versetzt findet. Es urteilt und schließt nur so lange, als seine Sinnlichkeit starken Reizen und Antrieben von Außen unterliegt und im Anschluß an die durch dieselben in ihm wachgerufenen Vorstellungen. Sein Denken ist von den momentanen Regungen seiner Triebe und Leidenschaften abhängig und denselben dienstbar."



VII. Die psychologische und
moralische Freiheit

Die Freiheit in dem eben angedeuteten Sinne ist nichts den Menschen etwa vor allen übrigen Existenzen in der Welt besonders Auszeichnendes. Er hat sie mit jeder Naturkraft gemein, von welcher eigentümliche Wirkungen ausgehen. Er hat sie vermöge der natürlichen in ihm angelegten Potenzen mit jenen gemein, auf die, als subjektive Gründe letzter Instanz, seine Handlungen zurückzuführen sind. Wir haben bereits oben gesehen, daß die Triebfedern aller menschlichen Praxis in den Trieben gesucht werden müssen, welche mit den Gefühlen im menschlichen Innern wachgerufen werden und zu einem ursprünglichen Bewußtsein gelangen. Das sind die elementaren Mächte oder Kräfte, die zwar zum Allgemeinen und mannigfaltigen Haushalt der Natur gehörig, doch im menschlichen Individuum eine selbständige Sonderexistenz führen und unter gegebenen Bedingungen durch dasselbe zu einer selbständigen Wirksamkeit gelangen. Daß eine den einzelnen Triebkräften entsprechende eigentümliche Wirksamkeit zustande kommt, dazu gehört offenbar das Vorhandensein jener Triebkräfte selbst in erster und letzter Instanz, die allerdings durch anderweitige Ursächlichkeiten erst erregt und ins Spiel gesetzt werden müssen. Mit eintretender Wirksamkeit jener Kräfte werden also gewisse Elemente der menschlichen Natur, um uns so auszudrücken, entfesselt, die vorher gebunden waren. Hieraus ist ersichtlich, daß dieser Freiheitsbegriff, mit dem wir es hier zu tun gehabt haben, eigentlich nichts anderes bedeutet, als die tatsächliche Losgebundenheit und Unabhängigkeit einfacher Naturagentien von Hemmungen durch entgegenwirkende Mächte. In dieser Bedeutung, wie gesagt, eignet Freiheit jedem Wirkungen von sich ausgehen lassenden Ding in der Welt, von welcher Beschaffenheit es auch immer sein mag, und der Mensch unterscheidet sich hierin von den übrigen existierenden Wesen in keiner Weise. Ein Freiheitsbegriff, welcher ganz ausschließlich auf den Menschen Anwendung finden dürfte, müßte sich auf eine denselben von allen übrigen individuellen Erscheinungen in der Welt unterscheidende Wesensbeschaffenheit gründen. In der Tat zeigen nun auch die menschlichen Verrichtungen sämtlich einen derartigen Charakter, den sie zwar teilweise mit den ihnen nahe verwandten animalischen Wesen gemein haben, der sie aber zumindest mit diesen über den Wirkungskreis und die Wirkungsart aller sonstigen selbständigen Wesenheiten auf dem Erdboden erhebt, und auf Grund dessen zunächst von einer animalischen Freiheit  kat exochen [schlechthin - wp] geredet werden kann. Das, was Tier und Mensch als ein besonderes Reich von der Gesamtheit der übrigen irdischen Daseinsformen streng und scharf unterscheidet, ist das Bewußtsein, und vermöge der Fähigkeit zum Bewußtsein besitzen die einzelnen Glieder, welche jenen ganzen Bereich erfüllen, eine besondere Art der Freiheit, von der im Folgenden die Rede ist.

Wie wir bereits oben im Anfang zu bemerken Gelegenheit hatten, ist der Wille eine Bewußtseinserscheinung, die auf eine Zahl von Triebkräften zurückzuführen ist, welche diesseits der fertigen, durch die Ursachen der besonderen Willenserregung hervorgerufenen Erscheinung im Bewußtlosen oder Nichtbewußten wurzeln. Denkt man sich nun ein des Wollens von Haus aus fähiges Individuum der Organe und hiermit der Fähigkeit des Bewußtseins vollständig beraubt, so wird es bei einem solchen in einer Lage, wo es sonst in unversehrtem Zustand unvermeidlich Willenserregungen erfahren mußte, weder zu dergleichen noch zu deren Konsequenzen, zu tätigen Willensäußerungen, d. h. zu eigentlichen Handlungen jemals kommen können. Es ist infolge jener Beraubung durchaus handelnsunfähig geworden, ja es hat mit dem Bewußtsein seine Instinkte, die ja auf Empfindungen beruhen, und das Vermögen zu instinktiver Tätigkeit ein für alle Mal verloren. Der Instinkt ist keineswegs eine dem Reich des Unbewußten völlig angehörige Erscheinung. Denn es liegt ihm jedenfalls, in welcher Gestalt er auch auftreten mag, eine Triebempfindung zugrunde, die dann allerdings unwillkürlich und unbewußt zu einer ihrem Bedürfnis und Zweck entsprechenden Handlung führt. Dadurch unterscheiden sich die instinktive Vorgänge von den eigentlichen Willensäußerungen und mit Absicht vollzogenen Handlungen. Diesen liegt nämlich außer der Triebempfindung auch ein deutliches Bewußtsein der zu ihrer Befriedigung dienenden Objekte und der Erlangung und Verwendung derselben erforderlichen Mittel zugrunde. Das Bewußtlose beim Instinkt bezieht sich nur auf die Ausführung der durch ihn verursachten Handlung, nicht auf den Antrieb zu derselben, der unumgänglich empfunden werden muß. Die Handlungen, deren wir im ersten Kindheitsdasein fähig sind, gehen alle von Instinkten aus. In diesem Alter wird die Orientierung des Verstandes durch die Funktionen jener ersetzt. Selbst jener niedrigsten Fähigkeiten geht ein animales Wesen verlustig, wenn es sein Organ zum Selbstbewußtsein verliert. Der französische Physiologe FLOURENS hat durch eine Menge gelungener Experimente und genauer Beobachtungen (1) außer Zweifel gesetzt, daß bei den Wirbeltieren die Fähigkeit des Bewußtseins an die beiden großen Hemisphären des Gehirns, als ihr Organ gebunden ist. FLOURENS hat bekanntlich seine Versuche an Federvieh, Hühnern und Tauben, an wilden Kaninchen, Hunden und Katzen besonders ausgeführt. Er hat ihnen die genannten Teile des Gehirns, welche die obere Partei des Hinterkopfs und den Vorderkopf erfüllen, ausgegraben, ohne den Gesichts- und Gehörapparat zu verletzen. Seine Versuche haben gezeigt, daß die Tiere eine solche operation ziemlich ein ganzes Jahr überleben können (2). Ja, es wird sogar von ihm berichtet, daß manche nach derselben noch ganz vortrefflich gediehen sind (3). Das Resultat der mannigfachen an solchergestalt verstümmelten Tieren angestellten Beobachtungen, auf welches es an dieser Stelle allein ankommen kann, wird vom Entdecker in folgendermaßen dargestellt: Die Tiere büßen mit dem Verlust der genannten Hirnteile sogar das Gefühl des Hungers und Durstes und damit den Nahrungstrieb ein, so daß sie Hungers sterben würden, wenn man ihnen die Nahrung nicht gewaltsam einflößt. Denn es hilft nichts, daß man sie ihrem Mund nahebringt: man muß sie bis an die Speiseröhre führen und erst dann gleitet sie von selbst hinab.

Der Hinweis DÜHRINGs auf diese Entdeckung FLOURENS' zur Erläuterung dessen, was die den animalischen Wesen eigentümliche, sogenannte psychologische Freiheit bedeutet, ist durchaus am Platz (4). Wir lernen aus den genannten Versuchen die Kluft kennen, welche das Bewußtsein zwischen den mit ihm Begabten einerseits und andererseits allen übrigen Wesen zieht. Schon das bloß instinktive Verhalten zeigt einen Grad von Übelegenheit vor der dem Tierreich nächstliegenden Daseinsstufe, welche die Pflanzen einnehmen, an. Der Instinkt befähigt schon vermäge der ihm zugrunde liegenden Triebempfindung zu gewissen selbständigen Bewegungen und Verrichtungen, die ohne jene in Wegfall kämen. Des Bewußtseins beraubt, sinkt das Tier, wie sich gezeigt hat, vollständig zum Pflanzendasein herab. Allein die instinktiven Verrichtungen sind auch nur, wie gesagt, unwillkürliche und durch keinen besonderen Bewußtseinsakt vermittelte Folgen der empfundenen Antriebe. Eine Stufe höher erhebt das Bewußtsein, sobald das Ziel des in der Triebempfindung enthaltenen Strebens und die Mittel zu seiner Erreichung zur deutlichen Vorstellung gelangen. Dann ist eigentlich erst von Wollen die Rede. Es wird nunmehr infolge bewußter Selbstbestimmung oder mit Absicht gehandelt: d. h. der Handlung ging im Subjekt das Bewußtsein derselben voran, und durch dessen Vermittlung ist sie erfolgt. Das aber ist es lediglich, was im Grunde die psychologische Freiheit zu bedeuten hat. Sie besteht nicht sowohl darin, daß im Innern des Individuums die Kraft des vollen Bewußtseins zur Geltung kommt und ihre eigentümliche Tätigkeit vollzieht, als vielmehr darin, daß das Individuum vermöge jener Kraft einer höheren, die übrigen, wie das Experiment erweist, in Wahrheit weit übertreffenden Wirkungsart fähig ist.

Indessen ist hierdurch die Bedeutung des Bewußtseins für diese höhere Art der Freiheit keineswegs erschöpft. So stände das Bewußtsein doch nur im Dienst der durch äußere Ursachen jedesmal augenblicklich in Erregung versetzten Triebe. Die Betätigung der höheren Bewußtseinskräfte führt jedoch zu einem lenkenden und modifizierenden Einfluß auf die unmittelbaren Äußerungen der praktischen Triebe. Das ist eine bereits ausgemachte Sache, daß der Verstand aus sich selbst keine praktische Tätigkeit erzeugt. Letztere kann nur aus bestimmten Interessen hervorgehen, und diese werden lediglich durch die im Subjekt angelegten, verschiedenartigen Triebe an die Hand gegeben. In der Richtung irgendwelcher der gegebenen Triebe muß notwendig gehandelt werden, wann und wo überhaupt gehandelt wird. Davon kann die höhere Kraft des Bewußtseins nicht entbinden. Allein es ist nicht nötig, daß jedesmal in der Richtung des augenblicklich gegebenen, durch die Empfindung zum Bewußtsein gekommenen Antriebs auch wirklich gehandelt wird. Das Bewußtsein ist ja durchaus kein Vermögen, welches auf die Vorstellung des unmittelbar Gegebenen beschränkt bleibt. Das Bewußtsein kann, allerdings nur auf bestimmte Veranlassungen hin, über die gegebenen Antriebe hinaus zu Vorstellungen, die mit jenen in Zusammenhang stehen und mittels derselben zu neuen Antrieben geführt werden. Dadurch, daß bestimmte Veranlassungen zum Handeln den Verstand und das Gedächtnis in einem bewußtseinsfähigen Subjekt in Bewegung setzen können, dadurch, daß letzteres die näheren Umstände und Folgen einer Handlung, zu der es sich augenblicklich bewogen fühlt, und andere Möglichkeiten zu handeln, in Erwägung und Überlegung ziehen kann, wird es von dem sonst unausbleiblichen Zwang, den augenblicklichen, zufälligen Antrieben blind zu gehorchen, in der Tat entbunden. Im Hinblick auf diese zu einer solchen Befreiung führende Macht des Bewußtseins muß man eingestehen, daß die Kluft zwischen den bewußtseinsfähigen und dem übrigen Dasein erst recht weit und tief wird.

Mensch und Tier sind vermöge ihrer Bewußtseinsanlage die lebendigen Vertreter der psychologischen Freiheit. Doch behält jener vor diesem hierin bei Weitem den Vorrang. Die denkende Tätigkeit wird im Tier nur aufgrund starker, gegenwärtiger Gefühls- und Empfindungsreize, welche durch eine Berührung mit der Außenwelt entstehen, erregt. Die Wiedererzeugung früher empfangener Vorstellungen setzt sich auch nur auf solche Veranlassungen hin bei ihm durch. Mit dem Verschwinden jener auf die angegebene Weise entstandenen sensuellen Erregungen wird das Tier auch vom Zug der Ideen, die in seinem Innern aufgetaucht sind, verlassen und ist dann wieder in das dumpfe Empfindungsleben versunken, in welchem es sich sonst, abgesehen von lebendigen sinnlichen Regungen befindet. Das Tier ist fortgesetzter, von gegenwärtigen Anschauungen gänzlich gesonderter Überlegungen nicht fähig. Und weil seine Intelligenz dieser höheren Spannung nicht fähig ist, kann sie auch unmöglich denjenigen Einfluß auf das Handeln ausüben, den durch sie der Mensch auf dasselbe übt. (5)

Ein Interesse wird im tierischen Bewußtsein nur mittels augenblicklicher, durch äußere Ursachen hervorgerufener Triebempfindungen erzeugt und dauert nur solange an, als der von außen herstammende Reiz seine Wirksamkeit äußert. Die Tiere leben ganz im Gegenwärtigen. Sie leben in keiner Welt von Vorstellungen, die sich auf Vergangenheit und Zukunft beziehen. Sie haben eben zur rein ideellen Betrachtung nicht den Trieb und darum auch nicht die Kraft. Deswegen vermag auch in ihnen die bloße, im Bewußtsein festgehaltene Vorstellung nicht einen praktischen Trieb fortdauernd wach zu halten, ein derartiges Interesse für eine entferntere Zukunft zu nähren. Allein die Bewußtseinskräfte des Menschen sind von viel größerer Energie und von viel größerer Tragweite. Seine Gedanken werden in die fernste Zukunft getragen. Er kann nicht umhin, die Folgen seiner Handlungen für die Zukunft in Erwägung zu ziehen, den Nutzen verschiedener Handlungsweisen, deren Möglichkeit er sich bewußt ist, den Wert ihrer voneinander abweichenden Interessen untereinander zu vergleichen. Es bilden sich aus der Unterscheidung und Vergleichung verschiedener Möglichkeiten Vorstellungen bestimmter Handlungsweisen für bestimmte Zeit- und Ortsverhältnisse, und diese sind es nun, welche das Interesse nach sich ziehen. Es sind dann nicht mehr bloß Objekte der Außenwelt, welche unmittelbar oder auf mehr oder weniger direktem Weg den Willen ausschließlich regieren, sondern es sind auch durch die Kraft des Denkens erzeugte Gebilde, wie sie so die Außenwelt nicht aufzuweisen hat, sondern wie sie nur im Bewußtsein existieren, es sind Ideen, welche nunmehr ebenfalls auf das Wollen einen Einfluß üben. Auf solche Weise kommen die sogenannten ideellen menschlichen Interessen zustande.

Dem Menschen liegt nicht bloß die augenblickliche Erhaltung seines Lebens am Herzen, er ist auch auf die Verbesserung desselben bedacht. Er strebt "nach dem dauernd Wohltätigen, wodurch seiner Natur im Ganzen oder in den Teilen eine Förderung widerfährt" (6). Aus dieser Tendenz geht im letzten Grund auch die Moral hervor. Der Mensch hat sich in derselben für sein Verhalten feste Normen und Regeln geschaffen. Die Innehaltung derselben kann nur unter bestimmten Voraussetzungen erfolgen. Denn die Moral enthält nur die Vorstellung einer möglichen besseren Lebensgestaltung, und diese Möglichkeit kann nur auf bestimmten praktischen Fähigkeiten beruhen. Zwar ist die Vorstellung dieser Möglichkeit, verbunden mit dem Interesse ihrer Verwirklichung (das, was man  Vernunft  zu nennen pflegt), allerdings eine Macht, welche praktische Erfolge erzielen kann. Indessen kommt es da lediglich auf die Stärke des mit ihr verbundenen Interesses und die Stärke der ihm entgegenstehenden Triebe in Rücksicht darauf an, welche der beiderseitigen Tendenzen die Oberhand behält. Auf die durch Übung und Gewohnheit verstärkte und gefestigte Macht der Vernunft wird sich die sogenannte moralische Freiheit gründen. Sie bezeichnet dagegen kein unbedingtes Vermögen, welches überall von vornherein vorauszusetzen ist, sondern ihr Besitz wird sich überall durch wirkliche Tatsachen zu beglaubigen haben. Sie ist empirisch und nicht apriorisch.

Die moralische Freiheit ist eine besondere höhere Art der psychologischen. Jede Handlung, die mit vollem Bewußtsein geschieht, heißt im allgemeinen psychologischen Sinn frei. Nur diejenigen aber bekunden die moralische Freiheit, welche speziell dem vom Verstand gebildeten Moralgesetz gemäß mit Bewußtsein erfolgen.

Durch die Kraft seines Bewußtseins wird der Mensch über die gegebene Gestaltung und Zusammensetzung der Dinge hinausgeführt. Es hat das nicht bloß eine ideelle Erhebung über das gegebene Dasein zu neuen Kombinationen der Daseinselemente in der Vorstellung zu bedeuten. Eben darum, weil die von uns in der Vorstellung zunächst gebildete, über die Wirklichkeit hinausgreifende Gestalt der Dinge uns für besser gilt, uns mehr behagt, als die gegebene, hat jene Vorstellung, zu welcher das Bedürfnis der eigenen Natur den Menschen hingeführt hat, auch antreibende Kraft für unser praktisches Vermögen, eben darum kann sie auch zu wirklichen Umgestaltungen in der Praxis führen. Darin liegt die höchste und vorzüglichste Bedeutung der menschlichen Freiheit, darin besteht gerade das Hauptinteresse, weswegen uns an ihrem Besitz etwas gelegen ist, daß sie eine Fähigkeit zur selbständigen Veränderung des gegebenen Daseins, sei es nun der äußeren Welt oder der ursprünglichen Disposition der eigenen individuellen Natur repräsentiert.

Die menschliche Freiheit ist kein Begriff, welcher der überall in der Natur anzunehmenden kausalen Gesetzmäßigkeit widerstreitet, wenn man ihn nur richtig versteht. Wie wir gesehen haben, wird er auf die Fähigkeit zum Bewußtsein zurückgeführt. Es gibt aber keinen Bewußtseinsakt, der nicht ursächlich vermittelt wäre. Die Bewußtseinsvorgänge bilden jedoch ein besonderes, streng abgegrenztes Gebiet, und das eigentümliche Gesetz, welches sie beherrscht, ist von anderer Art, als dasjenige, welches die unbewußte Welt regiert. Die menschlichen Handlungen, welche aus dem Bewußtsein folgen, sind erhaben über die letztere Art von Gesetzmäßigkeit, und deshalb heißen sie frei. Das Bewußtsein ist ein Durchgangspunkt, durch welchen der Weg zu ihnen von den ersten Veranlassungen aus führt, und der sie zu Wirkungen von ausgezeichneter Art macht. Die menschliche Freiheit gewinnt aber dadurch erst ihre höchste Bedeutung, daß das Unterscheidungsvermögen des Verstandes für das Zustandekommen der menschlichen Handlungen unter Umständen von großem Einfluß sein kann. Es zeigt die höchste Stufe der Freiheit an, daß der Mensch zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Handelns zu unterscheiden und selbständig zu wählen imstande ist und selbstgebildeten Grundsätzen und Regeln im Handeln folgen kann. Hiermit berufen wir uns für die psychologische und moralische Freiheit auf das Nämliche, was wir auch als tatsächlichen Grund der Annahme des im Anfang dieser Abhandlung besprochenen und bestrittenen vulgären Freiheitsbegriffs kennengelernt haben. Und somit hätte sich jetzt ergeben, daß die bezeichneten Bewußtseinstatsachen doch zumindest einen haltbaren Freiheitsbegriff zur Stütze dienen.

Es ist durchaus erklärlich, daß man das Gebiet der Freiheit für gesetzlos ansieht und in diesem Sinne von einer Willkür des menschlichen Handelns redet. Der Begriff der Freiheit hat einen negativen Sinn. Die menschlichen Handlungen heißen darum frei, weil sie einem eigentümlichen Gesetz folgen, infolgedessen sie vom Zwang der Gesetzmäßigkeit derjenigen mechanischen Vorgänge unabhängig erscheinen, welche uns im Gebiet des bewußtlosen Daseins begegnen. Die menschlichen Handlungen müssen zwar auch als Wirkungen solcher Art vorgestellt werden, welche keinen jener Gesetzmäßigkeit widersprechenden Charakter an sich tragen, die aber aufgrund eines Mechanismus von ganz besonderer, höherer Art erfolgen. Weil die Bezeichnungen Freiheit und Willkür einen Gegensatz zu einer bestimmten Art von Gesetzmäßigkeit ausdrücken, dürfen sie doch keineswegs in einem alle kausale Gesetzmäßigkeit überhaupt ausschließenden Sinn gefaßt und auf das menschliche Handeln bezogen werden. Dieser Irrtum liegt aber, wie oben auseinander gesetzt wurde, sehr nahe. Willkürlich wird auch das Spiel der eigentlich sogenannten Ideenassoziationen im Gegensatz zu den Operationen des Verstandes genannt. Hier ist die Bezeichnung auf eine niedere Stufe der Gesetzmäßigkeit gegenüber einer höheren angewendet. Man muß sich durch den Sprachgebrauch, welcher Willkür und Freiheit mit Regel- und Gesetzlosigkeit überhaupt oft identifiziert, nicht beirren lassen. Weil ein Vorgang von einer bestimmten Art der Gesetzlichkeit ausgenommen ist, darum ist noch keineswegs regel- und gesetzlos.


VIII.

SCHOPENHAUER erkennt die Möglichkeit der im vorigen Paragraphen besprochenen Freiheitsvorstellung mit folgenden Worten an:
    "Diese relative Freiheit ist es wohl im Grunde, was gebildete, aber nicht tiefdenkende Leute unter der Willensfreiheit, die der Mensch offenbar dem Tier voraushat, verstehen. Dieselbe ist jedoch eine bloß relative, nämlich in Bezug auf das anschaulich Gegenwärtige, und eine bloß komparative [vergleichende -. wp], nämlich im Vergleich mit dem Tier. Durch sie ist ganz allein die Art der Motivation geändert, hingegen die Notwendigkeit der Wirkung der Motive nicht im Mindesten aufgehoben oder verringert." (7)
Die Art dieser Äußerung läßt schon deutlich erblicken, daß SCHOPENHAUER von diesem Freiheitsbegriff nicht viel hält. In der Tat legt er ihm auch nicht den mindesten praktischen Wert bei. Denn, indem er die Unveränderlichkeit des individuellen menschlichen Charakters behauptet, hebt er das Hauptinteresse, welches wir überhaupt für jene Vorstellung hegen können, mit einem Schlag auf. Nur wegen der Hoffnung auf eine von uns selbst zu bewirkende Verbesserung unseres Lebens in der Richtung gewisser aufgrund praktischer Erfahrungen erzeugter Vorstellungen kann die Freiheit für uns von hohem Wert sein. Wird nun dem Menschen die Fähigkeit, etwas gegen diese oder jene Anlage seines ihm angeborenen Naturells in irgendeiner Richtung auszurichten, abgesprochen, so wird damit auch ausdrücklich geleugnet, daß die menschliche Freiheit, was man etwa so nennen könnte, diese Bedeutung hat, und jene Aussicht für tatsächlich grundlos erklärt.

Die Behauptung von der Unveränderlichkeit des Charakters kann einen verschiedenen Sinn haben. Es kann damit ein zwar richtiger, aber leerer Gedanke verbunden, aber es kann dadurch auch eine falsche Meinung ausgedrückt sein. Bei SCHOPENHAUERrichtige Gedanke und die falsche Meinung. Darum haben seine Ausführungen auch zum Teil die Kraft der Überredung. Man muß sich aber wohl hüten, sie in allen Punkten für durchaus zutreffend zu halten.

Ohne Zweifel sind die Handlungen und das Leben des Einzelnen, welche seinen eigentümlichen, individuellen Charakter ergeben, die notwendige Folge des ihnen zugrundeliegenden individuellen Seins. Woraus das einzelne Leben sich entwickelt, daher ist jedenfalls auch der demselben aufgeprägte Charakter zu erklären. Derselbe setzt besondere Anlagen, die dem Einzelnen angeboren sein müssen, voraus. Es ist gar keine Frage, daß die Faktoren seiner Erzeugung das Schicksal eines Jeden in gewissem Sinne von vornherein bestimmen (8). Das Leben eines jeden menschlichen Individuums hat ein für alle Mal seinen besonderen irreparablen Ausgangspunkt. Die Furcht, welche mit der Geburt ins Leben tritt, trägt den Keim seiner ganzen späteren eigentümlichen Entwicklung bis zum Tod in sich. Es kann nicht bestritten werden, daß Genies und Talente geboren werden; ebensowenig aber auch, daß Existenzen und Kapazitäten ganz gewöhnlicher Art das, was sie vorzustellen haben, von Geburt sind. Es kann keinem Bedenken unterliegen, daß sich Eigenschaften des Geistes und Körpers von Eltern auf Kinder forterben (9). Darum ist auch "die vorausgehende Fürsorge, die vor der Erziehung an das Ergebnis denkt, sowohl etwas Plausibles", als auch niemals zu Vernachlässigendes.
    "Wird dem Entstehen eines Menschen vorgebeugt, der doch nur ein schlechtes Erzeugnis werden würde, so ist diese Tatsache offenbar ein Vorteil." (10)

    "Der philosophischen Bedeutungsart", sagt  Dühring an einer anderen Stelle, "kann es nicht schwer fallen, das Recht der ungeborenen Welt auf eine möglichst gute Komposition auch innerlich und zwar in der natürlichsten und rationalsten Weise zu begreifen. Vom Standpunkt des noch nicht angetretenen Lebens ist es besser, daß sich eine Existenz gar nicht, als daß sie sich mit disharmonischen, das Leben verleitenden Anlagen einführt." (11)
Weil die Individualität des Einzelnen auf bestimmten, von Geburt an vorhandenen Naturanlagen beruth, und der Eintritt in das Leben mit diesen Anlagen ein einmaliges unabänderliches Faktum ist, hält man sich für berechtigt, auch den individuellen Charakter für unveränderlich zu erklären. Denn in welchem Zeitpunkt auch das Leben eines Menschen betrachtet werden möge, der momentane Inhalt desselben wird stets durch die ursprüngliche Disposition in letzter Instanz bedingt, von welcher die Entwicklung des Lebens ihren Ausgang genommen hat. Man gebraucht die Wendung, daß der individuelle Charakter des Menschen im Keim schon ursprünglich im Neugeborenen vorausgesetzt werden muß.

Auf solche Art und Weise wird das Wechselspiel, welches den Verlauf des Lebens bezeichnet, zu einer Tatsache von untergeordneter, sekundärer Bedeutung gegenüber dem, was zu seiner notwendigen Voraussetzung gehört, herabgesetzt, und, weil man es sich schon in letzterem enthalten denkt, wohl gar in einen leeren Schein aufgelöst. Das ergibt eine Auffassung des Lebens, welche ganz der eleatischen Weltvorstellung entspricht. Die Lage, welche der Kosmos in jedem gegenwärtigen Augenblick einnimmt, ist auch nur eine Folge der anfänglichen Disposition, aus der er sich entwickelt. So weit man auch den veränderungsvollen Weltlauf antizipieren mag, er setzt ein veränderungsloses Sein voraus, welches im Anfang vor allen Veränderungen als existierend und bei allen Veränderungen als sich selbst gleich beharrend gedacht werden muß. Diesem sprachen eigentlich die Eleaten, wenn man ihre Äußerungen, die wir noch besitzen, tiefer durchdringt, alle Realität zu, während sie jene als leeren Schein aus dem Dasein verwiesen. Es liegt der ganzen Auffassung ein ganz richtiger Gedanke zugrunde.
    "Das einzig Seiende ist allerdings auch die Kraft zur Hervorbringung von Veränderungen."

    "Die Hauptentscheidung ist aber", wie  Dühring bemerkt (12), "die Beantwortung der Frage, ob das nicht in die Veränderungen eingehende Sein ansich das Hauptinteresse in Anspruch zu nehmen hat, oder ob es nur wie eine abstrakte Kategorie fungiert. Der ernsthafte Realismus wird auf der letzteren Voraussetzung beruhen. Er wird das allgemeine Sein als die höchste Realität anerkennen, aber seine Teilnahme dem spezifizierten Dasein zuwenden. Der Idealismus wird dagegen das allgemeine Sein als eine besondere jenseits der gemeinen Wirklichkeit liegende und von dieser unabhängige Realität ins Auge fassen."
Es erscheint aber doch gar zu träumerisch und oberflächlich, die Realität der Veränderungen, sei es nun in Bezug auf das universelle oder auch das einzelne menschliche Dasein, wie in unserem Fall, zu leugnen. Was im Einzelnen bei aller Veränderung allein unveränderlich beharrt, das sind, wie schon oben erwähnt wurde, die Elemente letzter Instanz. Das sind die nicht weiter zerlegbaren Grundbestandteile des ganzen Weltgebäudes im Allgemeinen und seiner individuellen Gebilde im Besonderen, die sich als einfache Tatsachen von axiomatischer Gewißheit dem Verstand darbieten. Die Tatsache der Veränderungen, welche mit jenen Grundbestandteilen vor sich gehen, darf aber auch nicht übersehen werden. Tatsächlich zeigt das Universum in verschiedenen Momenten seiner Entwicklung, wie auch das Leben eines einzelnen menschlichen Individuums, ein verschiedenartiges Gepräge. Was im Lauf des allgemeinen Veränderungsspiels beharrt, sind die Elemente, was sich verändert, sind die Formen der Verbindungen und Zusammensetzungen, welche dieselben eingehen. Im einzelnen individuellen Dasein sind es sogar auch die Grundbestandteile selbst, welche im Laufe der Zeit wechseln.

Aus den gegebenen Bemerkungen erhellt sich, daß der auf DÜHRINGs Vorschlag (13) besser durch den der Komposition zu ersetzende Entwicklungsbegriff gewisse Unklarheiten enthält, die wohl zur Konzeption von der Unveränderlichkeit des Charakters Veranlassung bieten. Es ist allerdings ganz richtig, daß Alles, was zum Charakter des Lebens eines Menschen gehört, in demjenigen, womit er von Geburt ausgestattet ist, seinen Anknüpfungspunkt hat, der an und für sich nicht abzuändern ist und der ganzen späteren Entwicklung des Menschen die Richtung weist und bestimmte Grenzen setzt. Darum ist doch das noch nicht wirklich im ersten Ansatz des Lebens vorhanden, was die spätere ausgebildete Erscheinung desselben Eigentümliches aufzuweisen hat. Während der Dauer seines Lebens findet in und am menschlichen Individuum nicht nur ein beständiger Wechsel der Elemente statt, sondern es ändert sich auch die Art ihrer Komposition, es finden faktisch Neubildungen statt, und in der gesamten individuellen Sphäre gewinnen erst mit der Zeit gewisse ursprünglich schon dort vorhandene oder neu hinzutretende Elemente ihre eigentümliche Bedeutung und Wirksamkeit. Wenn man, das ganze Leben eines Menschen bis zu seinem Abschluß durch den Tod antizipierend, sagt: was dieses Dasein von Anfang bis Ende eigentümlich kennzeichnet, sie eine unabänderliche notwendige Tatsache, die auf der mit der Geburt gegebenen gesamten Naturanlage des Menschen beruth, so läßt sich hiergegen nichts einwenden. Nur ist hiermit über die Veränderlichkeit oder Unveränderlichkeit des Charakters nichts ausgemacht. Der ganze Verlauf des Lebens ist zu einer Einheit zusammengefaßt, und in dieser Zusammenfassung hat man es dann allerdings mit einer einfachen Tatsache zu tun, deren unumgängliche Notwendigkeit und Unabänderlichkeit aufgrund der gegebenen realen Vorbedingungen nicht in Abrede gestellt werden kann. Das ist am Ende auch der nicht anzufechtende Bestandteil der SCHOPENHAUERschen Ausführungen. Es kommt aber darauf an, zu entscheiden, ob jene Einheit ohne Ausnahme in jedem Fall auch im Sinn einer übereinstimmenden Haltung des Lebens von seinen ersten Ansätzen an bis zum Tod zu bedeuten hat, so daß gewisse Eigenschaften, die in der Jugend des Menschen charakterisieren, stets auch ihr ganzes Leben hindurch unverändert und schlechterdings unveränderlich die hauptsächlichen unterscheidenden Merkmale seiner Eigentümlichkeit bleiben, oder ob jene Einheit nur von rein äußerlicher, formaler Bedeutung ist. Hierzu gehört, daß man sich über das, was den Charakter konstituiert, näher unterrichtet.


IX.

Was man unter einem individuellen Charakter versteht, bezieht sich auf das eigentümliche Verhalten des Einzelnen im Leben. Gegen eine übrigens gleiche äußere Umgebung verhalten sich verschiedene menschliche Individuen verschieden Das beruth jedenfalls auf rein subjektiven Unterschieden der ursprünglichen Anlage. Wir haben oben im Eingang dieser Abhandlung bemerkt, daß die menschlichen Handlungen sich nicht bloß hinsichtlich ihrer Beziehung auf verschiedene Gegenstände unterscheiden, sondern daß sich auf die nämlichen Objekte auch ein ganz verschiedenartiges Handeln beziehen kann, sowohl seitens ein und derselben Person zu verschiedenen Zeiten, als auch seitens verschiedener Persönlichkeiten zur gleichen Zeit. Bei verschiedenen Individuen bezeichnen diese letzteren Unterschiede den verschiedenen subjektiven Charakter des aktiven Verhaltens der Einzelnen. Ist, wie oben gesagt wurde, die Verschiedenartigkeit des praktischen Verhaltens auf die verschiedenartigen Triebe des menschlichen Innern zurückzuführen und in Verbindung mit diesen auf die Anlage zur Verstandesfunktion, so weisen die Unterschiede des passiven Verhaltens auf die mannigfachen Gefühle und deren besondere Anlagen im Grunde des Subjekts hin und ergeben den verschiedenartigen subjektiven Charakter des passiven Verhaltens bei den einzelnen Individuen. Daß sich die einzelnen Menschen, wiewohl sie ein und derselben Gattung angehören, dennoch unter gleichen Umständen von Haus aus zu ihrer Umgebung verschiedenartig verhalten, das ist aber lediglich aus dem Grund zu erklären, daß der Grad der Erregbarkeit der einzelnen Gefühle und der mit ihnen verbundenen Triebe, sowie die Größe der Verstandesfähigkeit in ihrer ursprünglichen Anlage unter den verschiedenen Individuen mannigfach differiert.

Wir haben hier eine ganze Mannigfaltigkeit elementarer Ursachen, welche in ihrer ursprünglichen Angelegtheit im menschlichen Individuum das Naturell desselben vorstellen und den sich im Laufe des Lebens manifestierenden Charakter desselben im letzten Grund konstituieren. Sie sind von höchst verschiedener, ja einander entgegengesetzter und sich gegenseitig zerstörender Natur und kommen keineswegs alle auf einmal von Anfang an zur Geltung, sondern gelangen mit der Zeit auf bestimmte durch äußere Motive gegebene Veranlassungen hin erst zur Wirksamkeit. Der bis zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens gegebene individuelle Charakter eines Menschen braucht sich daher mit dem Naturell durchaus noch nicht völlig zu decken, und die Übereinstimmung seines Charakters in gewissen ihn markierenden Eigenschaften während der ganzen Lebensdauer ist dadurch noch keineswegs gewährleistet. Es können bis dahin noch nicht zur Geltung gekommene Gefühle und Triebe nachträglich in ursprünglicher Weise erregt werden, die dem ganzen Leben eine neue Richtung und einen von dem bisherigen völlig abweichenden Charakter verleihen. Die den individuellen Charakter ausdrückenden Eigenschaften werden durch gewisse Eigentümlichkeiten des Gefühls- und Trieblebens repräsentiert, und die Gestaltung des letzteren ist bestimmten Bedingungen seiner Erregung unterworfen, hängt vom Einfluß seiner Umgebung ab. Es ist nicht anders möglich, als daß erhebliche Veränderungen der Lage auch erhebliche Umgestaltungen des Charakters zur Folge haben werden. Wenn der Charakter eines Menschen von vornherein, aus seinen anfänglichen Lebensäußerungen schon feststände, so würde man imstande sein, danach mit Sicherheit seine Handlungsweise in bestimmten voraussichtlichen Lagen vorher zu bestimmen. SCHOPENHAUER gesteht selbst ein, daß das nicht angeht. Denn er sagt:
    "Schließlich kann keiner wissen, wie ein Anderer und auch nicht, wie er selbst in irgendeiner bestimmten Lage handeln wird, ehe er darin gewesen ist: nur nach besonderer Probe ist er des Anderen und erst dann auch seiner selbst gewiß." (14)
Es können in einem Menschen gewisse Seiten des Gemüts, gewisse Fähigkeiten in einem bestimmten Zeitpunt noch gar nicht entwickelt sein, was erst der Zukunft vorbehalten bleibt. Mit ihrer Entwicklung treten dann mit einem Mal neue Elemente ihres Naturells hervor, die den früheren Charakter ihres Lebens stark modifizieren, wo nicht gar völlig umkehren. Man wird sagen, da ist vor jener besonderen Entwicklung der Charakter noch nicht vollständig gegeben gewesen. Ganz gewiß, aber wo bleibt da die Übereinstimmung desselben während der ganzen Lebenszeit, die doch von SCHOPENHAUER (15) behauptet wird, wenn er sagt:
    "der individuelle Charakter ist angeboren: er ist kein Werk der Kunst oder der dem Zerfall unterworfenen Umstände, sondern das Werk der Natur selbst. Er offenbart sich schon im Kind, zeigt dort im Kleinen, was er künftig im Großen sein wird. Daher legen bei der allergleichsten Erziehung und Umgebung zwei Kinder den grundverschiedensten Charakter auf das Deutlichste an den Tag: es ist derselbe, den sie als Greise tragen werden."
Diese Äußerungen ergeben einen offenkundigen Widerspruch SCHOPENHAUERs mit sich selbst. Und das ist auch sehr natürlich. SCHOPENHAUER bestreitet die Möglichkeit einer Veränderung des individuellen Charakters, weil er denselben in Bezug aus das ganze Leben fälschlich als von Anfang an fertig gegeben voraussetzt, während wie ihn als ein Produkt zu erkennen haben, welches nur allmählich von verschiedenen Faktoren stückweise hervorgebracht wird. SCHOPENHAUER setzt aber deswegen den Charakter als schon fertig im Naturell gegeben voraus, weil er einen unzutreffenden Begriff überhaupt von der Einheit der individuellen menschlichen Erscheinung hegt. Die Einheit des Individuums und die Einheit seiner ganzen Anlage gilt ihm offenbar als unzertrennbare Substanz. Er legt der individuellen Einheit des menschlichen Wesens einen Charakter bei, welchen nur die einfachen Elemente des universellen Daseins von letzter Instanz besitzen. Der Charakter der Einfachheit in diesem Sinne kommt jedoch der menschlichen Individualität nicht zu. Das individuelle menschliche Wesen bildet allerdings eine Einheit, ,aber eine Einheit der Zusammensetzung. Es ist ein aus einer Mannigfaltigkeit von Elementen einfacher Art komponiertes Gebilde. Das Naturell, welches die subjektive Grundlage des Charakters bezeichnet, ist aus Elementen der genannten Art zusammengesetzt, die nur insofern eine Einheit bilden, als sie in ein und demselben menschlichen Individuum vereinigt sind. Sie kommen aber nur einzeln und besonders, wenn die Bedingungen ihrer Wirksamkeit gegeben sind, zur Geltung. Die Möglichkeit eines Wechsels des subjektiven Charakters des bewußten Lebens ist daher von vornherein ganz plausibel und nichts weniger, als unbegreiflich. Schon daß wir es in der realen subjektiven Grundlage des menschlichen Charakters mit einem Kompositionsgebilde zu tun haben, ist ein unzweideutiges Zeichen für die Veränderlichkeit desselben. Denn es gibt keine besondere Kompositionsform im Reich der Natur, welche absolut beständig wäre.

SCHOPENHAUERs Charakterauffassung gehört daher auch zu den "ungelenkigen und plumpen Vorstellungen von menschlichen Charakteren, die nichts als falsche Einheitskonzeptionen sind", von denen DÜHRING in seiner  natürlichen Dialektik (16) handelt und ist ein würdiges Seitenstück zu der oben am Anfang besprochenen Freiheitsidee, bei welcher wir auch eine falsche Vorstellung von der Einheit des menschlichen Willens zugrunde liegend fanden. DÜHRING bemerkt an der genannten Stelle über die metaphysische Verunstaltung des Charakterbegriffs Folgendes:
    "Zuerst sollte eine metaphysische Wesenheit (d. h. der konstante unveränderliche Charakter) uns zur Erkenntnis der (Lebens-)Erscheinungen verhelfen; nun aber sind die Erscheinungen zum Maß des metaphysischen Begriffs geworden, der sich durch diesen Prozeß in eine empirische Hypothese verwandelt hat. Anstatt eine bestimmte Art der Einheit von vornherein vorauszusetzen, schließt man auf eine solche erst aus den gegebenen Tatsachen und legt daher in den Einheitsbegriff nichts hinein, wozu man nicht durch die Erfahrung berechtigt ist." (17)
SCHOPENHAUERs Auffassung hebt den Begriff der  Möglichkeit  geradezu auf. Deswegen hat für ihn auch die psychologische Freiheit keinen Wert, deswegen erklärt er die Reue für nutzlos (18). Wenn in den Eigenschaften und in der Art des Verhaltens, welche das Kind offenbart, sich schon der Charakter ausdrücken soll, welcher es sein ganzes Leben hindurch nicht verlassen wird, so ist hiermit jede Vorstellung einer anderen ihm möglichen Daseinsweise, jedes Bewußtsein eines nach einer anderen Richtung als das bisherige Verhalten bezeichnet, weisenden subjektiven Antriebs, welches im Menschen auftauchen mag, von vornherei zur  Jllusion  gestempelt. Nach SCHOPENHAUER scheint es kein Mittel zu geben, diese Jllusion jemals zu beseitigen. Schade, daß er keinen Zeitpunkt des Lebens anzugeben weiß, in welchem der sogenannte Charakter, den der Mensch sein ganzes Leben hindurch bewahren soll, zur Vollendung gereift, in seiner alle Gedanken an andere Möglichkeiten ausschließenden Abgeschlossenheit dem Subjekt zu Bewußtsein zu gelangen pflegt. Im Augenblick der Geburt scheint man zumindest noch zu allen Hoffnungen und zur Annahme einer unbeschränkten Zahl von Möglichkeiten berechtigt. Hernach aber müßte es doch der SCHOPENHAUERschen Vorstellungsweise gemäß sehr frühzeitig einen Moment geben, wo bei genauer Beobachtung der Gedanke an andere Möglichkeiten ausgeschlossen erscheinen müßte, wo der Mensch in gewissen unverrückbaren und unveränderbaren Anlagen seiner Natur sich einer im Grunde seiner Subjektivität angelegten Fatalität bewußt werden müßte, die jede Hoffnung einer möglichen Umgestaltung seiner bisherigen Beschaffenheit in ihm zunichte machte. So beschaffen müßte die Notwendigkeit sein, dadurch ich mir die Möglichkeit einer anderen Daseinsweise, zu welcher ich vielleicht in einem bestimmten Antrieb mir der realen subjektiven Voraussetzung bewußt wäre, ausgeschlossen denken könnte. Denn der allgemeine Gedanke von der Notwendigkeit allen Geschehens hebt a priori im menschlichen Bewußtsein den anderen von Möglichkeiten bestimmter Art, zu der die Voraussetzungen in Wirklichkeit gegeben sind, niemals auf. Die bloße Vorstellung, daß alles, was meinerseits geschehen wird, mit unausbleiblicher Notwendigkeit aus der jeweiligen Disposition meiner Natur folgt, ist eine leere Antizipation, die keinen ernsthaft Wollenden seine guten Vorsätze fallen lassen läßt. Die Entscheidung einer im Bewußtsein sich vollziehenden Wahl erfolgt auch aufgrund der gegebenen realen Voraussetzungen unausbleiblich so, wie sie geschieht. Aber so etwas, wie eine solche Entscheidung, würde gar nicht stattfinden, wenn nicht durch eine Vermittlung des Bewußtseins der verschiedenen Möglichkeiten, zwischen welchen die Wahl geschwankt hat.
    "Das Urteil, welches stillschweigend in jenem Möglichkeitsbegriff eingeschlossen ist", sagt  Dühring (19), "soll sich ja gar nicht auf die äußeren Bedingungen, sondern einzig und allein auf die allgemeine und unveräußerliche Form in der Entstehung aller Entschlüsse beziehen."

X.

FLOURENS, von welchem oben die Rede war, führt in seiner "Psychologie comparée (20) eine Bemerkung des Akademikers PARISET an, worin die Meinung geäußert wird, daß sich hauptsächlich in den Idioten die ursprünglichen Anlagen, welche die Grundzüge des Charakters ergeben, kund tun.
    "Bei den Idioten", heißt es dort, "sind die Charakterzüge nicht durch die Suggestionen des Geistes maskiert. Das Fehlen von Intelligenz zeigt sich als Erleichterung."
Es darf nun hieraus allerdings nicht gefolgert werden, als ob zur Bildung des eigentlichen Charakters die Intelligenz gar nichts beiträgt. Im Gegenteil, ihre Wirksamkeit ist für die Charakterbildung von hervorragender Bedeutung und SCHOPENHAUERs Sonderung zwischen Charakter und Intelligenz, als ob diese an jenem gar keinen Anteil hätte, muß für durchaus unstatthaft erklärt werden. Allein das bewußte Leben ruht überall auf sensueller Grundlage, und jedenfalls wird eine eigentümliche Anlage der ganzen sinnlichen Sphäre zur Grundvoraussetzung der individuellen Charaktereigentümlichkeit gehören. Die Intelligenz als ein Charakter bildendes Element der ursprünglichen Naturanlage steht entweder im Dienst der Triebe und Leidenschaften und ist den auf sinnlicher Grundlage ruhenden Stimmungen des Gemüts untergeordnet oder sie fungiert als ein diese Faktoren der Charakterbildung beherrschendes und durch seinen Einfluß modifizierendes Prinzip. Uns ist nun die ursprüngliche Naturanlage der individuellen menschlichen Erscheinung nicht anders, als aus dem tatsächlichen Charakter, den die letztere im Leben offenbar, bekannt. Die ursprüngliche Gestaltung der Trieb- und Empfindungsanlagen wird daher nur da am deutlichsten zutage treten, wo der Verstand mit seiner modifizierenden Tätigkeit, so viel wie möglich, zurücktritt oder in Abzug kommt. Die angeführte Bemerkung des Franzosen enthält daher wirklich etwas Wahres. Es ist aber nicht gerade nötig, um zur Vorstellung der elementarsten Charakterbildungen zu gelangen, zu jenen abnormen Erscheinungen die Zuflucht zu nehmen. Es gewährt den tiefsten und sichersten Einblick in die Sache, zu diesem Zweck den Charakter der Tiere in Erwägung zu ziehen, bei denen ja ebenfalls der Verstand eine der Sinnlichkeit untergeordnete Rolle spielt. Die Tiercharaktere müssen noch viel deutlicher und sicherer die ursprüngliche individuelle Anlage des trieb- und sinnenförmigen Daseins erkennen lassen, als die rohesten Wilden unter den Menschen, und können deswegen zur Erklärung der komplizierteren menschlichen Erscheinungen dienen, deren Bewußtsein sich ja auf dieselbe sinnliche Grundlage, wie das tierische, gründet.

Vorherrschende Neigungen und Gemütsstimmungen sind es, was das Fundament des Charakters der einzelnen Tierarten bildet. Die Elemente des Bewußtseins, welche besonders häufig und gewöhnlich in den Individuen einer bestimmten Tiergattung auftauchen, verleihen zu der besonderen äußeren Gestalt, die sie von anderen Tierarten unterscheidet, auch ihrem bewußten Leben einen eigentümlichen Typus. Sie sind meist aber nicht bloß auf Selbsterhaltung gerichtet. Unverkennbar treten diese auf der Sinnlichkeit beruhenden Merkmale des Charakters in den einzelnen Tiergattungen hervor, am Unverkennbarsten in denjenigen Tierklassen, die am freiesten und ungehindertsten "den gewaltigen Lüsten ihrer Brust" fröhnen können und zur Befriedigung derselben am wenigsten der Hilfe des Verstandes bedürfen. Die Gefräßigkeit des Wolfes, die Mordlust des Löwen sind in dieser Beziehung hervorragenden Charaktertypen. Andere Tierklassen, die sich nicht so sehr auf ihre Stärke verlassen können, in denen aber die Begierde ebenso stark, wie in jenen ist, die deswegen in der Konkurrenz mit den Stärken den Anfechtungen derselben ausgesetzt sind und mit größeren Schwierigkeiten ihrer Lebenserhaltung zu kämpfen haben, verraten ihren Charakter, in welchem sich die Begierde mit dem in ihren Dienst gezogenen Verstand kombiniert. Die List des Fuches und die Falschheit der Katze sind hierfür die treffendsten Beispiele. Bei anderen schwächeren Tieren, die nicht sowohl von der feindseligen Verfolgung Anderer ihres Geschlechts leben, als vielmehr den Angriffen von Anderen ausgesetzt sind, kombiniert sich die Furcht mit dem Verstand. Sie tragen, wie z. B. das vom Jäger verfolgte Wild, den Charakter der Furchtsamkeit, dabei aber auch der Klugheit, den sie in den von ihnen zur Sicherung ihres friedlichen Lebens genommenen Maßregeln an den Tag legen. Unter ihnen, die in Gesellschaft Ihresgleichen leben, zeigen sich auch die meisten Symptome gegenseitigen Wohlwollens. Alle diese Charakterzüge finden sich bei den Menschen ebenso gut, wie bei den Tieren, und sind bei jenen nicht anders zu erklären, als bei diesen.

Weil der tierische Charakter ein überwiegend sinnenmäßiger ist, so befindet er sich auch in starker Abhängigkeit vom Einfluß der äußeren Umgebung, mit der ja das Sinnenleben unzertrennlich verwachsen ist. Eine erhebliche Änderung der Lage ruft auch eine bedeutende Umgestaltung des Charakters in verhältnismäßig kurzer Zeit beim Tier hervor. Es ist gleich, ob die Natur selbst oder der Mensch diesen Einfluß auf das Tierreich ausübt. Die wilden, ungezügelten Triebe und Sitten des Tiergeschlechts werden durch die Zucht des Menschen gebändigt und besänftigt. Andererseits wird durch die Veränderung der Lage tatsächlich ganz von selbst in manchen Tieren die Entfaltung einer bisher unentwickelten Naturanlage herbeigeführt, die dann hiermit auch zugleich den bisherigen Charakter aufhebt.

Ist in diesbezüglich das Tier lediglich äußeren Einwirkungen unterworfen, so gestaltet sich die Sache beim Menschen anders. Jener Einfluß kann zwar auch auf ihn von Außen durch Andere Seinesgleichen oder durch die Macht der Verhältnisse geübt werden, namentlich solange er sich noch auf einer unteren Stufe der Entwicklung befindet, wie die Unerwachsenen und die Wilden. Jedoch befähigt die höhere Kraft der Intelligenz den Menschen sowohl zu selbständigen partiellen Umgestaltungen seines ihm angeborenen Naturells, sie setzt ihn aber auch umgekehrt in den Stand, den verändernden Einwirkungen von Außen die Stirn zu bieten und den bisherigen Charakter zu bewahren. Der tierische Verstand ist ohne ein solches Vermögen, das der menschliche besitzt. Der tierische Verstand ist der Abstraktionen nicht fähig und kann sich daher zu keinen allgemeinen, die Einzelheiten des Daseins umfassenden Vorstellungen und Begriffen so erheben, wie der menschliche. Er operiert nur mit Einzelvorstellungen, die ihm gerade augenblicklich die sinnliche Anschauung liefert. Das Tier erinnert sich vergangener Zustände, in denen es sich einmal befunden hat, höchstens, wenn es sich wieder ind diese versetzt findet. Es urteilt und schließt nur so lange, als seine Sinnlichkeit starken Reizen und Antrieben von Außen unterliegt und im Anschluß an die durch dieselben in ihm wachgerufenen Vorstellungen. Sein Denken ist von den momentanen Regungen seiner Triebe und Leidenschaften abhängig und denselben dienstbar. Der menschliche Verstand hingegen ist, wie schon oben angeführt, einer weit umfassenderen Wirksamkeit fähig. Er vermag sich über die momentan gegebenen Anschauungen und die unmittelbar mit denselben verknüpften Einzelvorstellungen hinaus zu allgemeinen Begriffen und Ideen zu erheben, die von ihm gebildet, nur in ihm existieren, sich in ihm reproduzieren und eine Rückwirkung auf sein Triebvermögen auszuüben imstande sind. Das menschliche Bewußtsein braucht nicht an den vereinzelten Interessen haften, die durch die jedesmal auf eine äußere Veranlassung hin gegenwärtig in ihm erregten Triebe vertreten werden. Es kann die gesamten menschlichen Interessen, welche durch die mannigfaltigen Triebe des menschlichen Inneren repräsentiert werden, die ihm aus der Erfahrung bekannt sein müssen, auf ihre gemeinsame Tendenz, nämlich die Selbsterhaltung, miteinander vergleichen und, da sie voneinander widersprechender Natur sind, dadurch eine gesetzmäßige Ordnung unter ihnen stiften, daß er für bestimmte Lagen diesen, für andere jenen den Vorzug erteilt. Das so vom Menschen in seiner Vorstellung nach den Prinzipien des Verstandes, aber aufgrund und der Natur der in ihm angelegten praktischen Potenzen gemäß entworfene Bild einer eigentümlichen Daseinsweise kann, wie schon oben angesprochen ist, in demselben Kausalverhältnis zu seinem Willen stehen, wie die dem Subjekt gegenüberstehende äußere objektive Welt. Mit den aus letzterer stammenden Wilensantrieben wird der Einfluß jener ideellen Welt da am erfolgreichsten konkurrieren, wo diese das menschliche Subjekt durch selbständiges Denken aus einem natürlichen Bedürfnis in sich geschaffen hat. Er wird im Gegensatz zu den männlichen Antrieben da am geringfügigsten ausfallen, wo dem Menschen die praktischen Ideen durch die Mitteilung Anderer wesentlich als etwas Fremdes zu Bewußtsein gekommen sind. Denn dort ist das lebendige Interesse für sie selbstverständlich vorhanden. Hier dagegen kann die überlieferte Vorstellung einer besseren Lebensweise nur so weit etwas ausrichten, als die natürlichen Regungen derjenigen Potenzen, auf die sie sich gründet, mit ihr zufällig übereinkommen. Wenn aber erst einmal das Interesse für jene ideelle Lebensgestaltung, worunter wir nichts anderes als die moralische Gesinnung zu verstehen haben, im menschlichen Busen erwacht ist und Wurzel gefaßt hat, da ist hiermit zugleich auch schon ein umbildender Einfluß auf die ursprünglich mit der Geburt gegeben Triebformation durch die Macht der selbstgebildeten Ideen gewonnen. Die durch letztere beeinflußten natürlichen praktischen Fähigkeiten, die an sie gewöhnten Triebe repräsentieren die besonderen Eigenschaften eines moralischen Charakters, welche man Tugenden nennt, und die sich auch, wie die primitiv-naturwüchsigen Eigenschaften, von Geschlecht auf Geschlecht vererben können. Die Macht der in Bezug auf das inne zu haltende Verhalten selbstgebildeten Vorstellungen, die Macht der praktischen Grundsätze ist es auch unleugbar, was das Leben eines Menschen vor jenen Schwankungen bewahren kann, denen es sonst, wo sie fehlt, infolge der veränderten Einflüsse der Umgebung unausbleiblich anheimgegeben ist; sie ist es, was dem Leben eines Menschen bei allen Veränderungen der ihn umgebenden Verhältnisse einen festen, sich selbst gleichen Charakter verleiht. Das ist es, was man im engeren, aber auch im edelsten Sinn Charakter nennt; im Gegensatz hierzu heißen die schwankenden, grundsatzlosen Geister charakterlos. Es ist aber nicht nötig, daß der Charakter in einem engeren Sinn sich auf eigentlich moralische Grundsätze gründet; er kann auch von unmoralischen ebenso gut ausgehen, oder erkann auf angeborenen, vorherrschenden naturwüchsigen Neigungen beruhen.

XI. Die Schwierigkeit und Seltenheit einer selbständigen Charakterbildung ist nicht zu verkennen. Es ist eine törichte Ansicht und Forderung, daß der Mensch alles über sich vermögen soll, wie es ein törichter Wahn wäre, daß der Mensch es vermöchte, sich zum unumschränkten Herrn über die gesamte Natur zu erheben. Die Natur läßt ihn auch da, wo sein besseres Wollen mit widerstrebenden Triebkräften seines Innern im Kampf liegt, ihre Überlegenheit fühlen, wenn letzte, jenes überwältigend, ihn mit sich fortreißen. DÜHRING weist, als auf ein drastisches Beispiel hierfür, auf das Los der unglücklichen Schiffbrüchigen hin, die zu ihrer Selbsterhaltung zum äußersten Mittel zu greifen gezwungen werdne.
    "Dem quälenden Hunger wird", sagt er, "durch eine Menge von Gründen, die einem geringeren Grad des Triebs gegenüber eine Ausschreitung verhindern würden, nun nicht mehr die Waage gehalten, und sogar der größte Abscheu vor einem kannibalischen Verhalten wird unter der Macht jenes grausamen Stachels überwunden." (21)
Wo dem auf eine bestimmte Art der Lebensgestaltung gerichteten Wollen überlegene Triebe in ein und demselben Subjekt entgegenarbeiten, da wird eine direkte Bekämpfung derselben durch die jener Richtung angehörigen Willenskräfte nicht viel fruchten. In solchen Fällen werden die letzteren nur in denjenigen Lagen zur Wirksamkeit gelangen, die zur Erregung jener widerstrebenden Triebe keine Veranlassung bieten. In solchen Fällen wird der Mensch dauernde Erfolge im Kampf mit sich selbst nur dann erzielen können, wenn er sich zu einem indirekten Verfahren bequemt und seinen Verstand zu Hilfe ruft. Er muß sich eine Einsicht in die Natur der in ihm angelegten Willenskräfte und in die Bedingungen ihrer Erregung verschaffen und seine ganze Lage so einzurichten suchen, daß sie den von ihm begünstigten und seinen Zwecken dienenden Anlagen, so viel wie möglich Vorschub leisten, den entgegengesetzten jedoch, so viel wie möglich Abbrucht tun und Einschränkungen widerfahren lassen. Aber die Versetzung in solche Lagen ist nicht immer und überall möglich. Wo sie jedoch zu bewerkstelligen geht, und wo man sich dieses Mittels bewußt ist, da müssen auch die Momente, wo der Wille dazu vorhanden ist, benutzt werden. Denn, wenn nicht auf diese, auf andere Art und Weise ist gar nichts auszurichten.

Vermöge seines Verstandes wird der Mensch zum Herrscher über die Natur, wie über sich selbst. Das ist die praktische Bedeutung, welche die Selbstkenntnis hat, daß sie eigentlich eine gründliche Umgestaltung des Charakters, eine Verbesserung des Lebens durch eine selbständige Bemühung ermöglicht. Der erste Schritt zur Besserung muß die Erkenntnis seiner selbst sein, d. h. die Erkenntnis der Einem anhaftenden moralischen Fehler und Gebrechen, wie sie auf bestimmten subjektiven Naturanlagen beruhen. Da gibt es keine so "dunklen Punkte des einzelnen Lebens", die, wie SCHLEIERMACHER will (22), "der Mensch am Besten sich selbst verbirgt". Wer bessernd in seine Naturanlagen eingreifen will, der muß sich des Gegenstandes seiner eingreifenden Tätigkeit vor allen Dingen deutlich bewußt sein.

Wieviel jemand über sich selbst auszurichten vermag, das hängt von der Stärke des für dasjenige, was er über sich auszurichten gesonnen ist, in ihm bestehenden Willens, zweitens von der Stärke der dagegen in ihm ankämpfenden Willensrichtungen und drittens von der Länge des Zeitraums ab, der überhaupt für die Durchsetzung jener Absicht offen steht. Auch das letztgenannte Moment ist von wesentlicher Bedeutung und darf nicht unberücksichtigt bleiben. Die Dauer des menschlichen Lebens hat ja ihre bestimmten Grenzen, und, was noch von einem Kind zu erwarten steht, das kann schwerlich noch einem Mann in höheren Jahren zugemutet werden. In der Jugend und im kräftigen Mannesalter ist es keine Torheit, seinen Mut und seine Tatkraft anzufeuern. Mit zunehmenden Jahren aber gewinnt der Mensch auch ein immer deutlicheres und vollständigeres Bewußtsein vom Grad seiner Fähigkeiten, wie er ihn auch anderen zu erkennen gibt. Was er sich selbst zumutet, und was ihm zugemutet werden kann, muß sich am Ende doch in jeder Beziehung nach diesem richten. Und wenn nun der Höhepunkt des Lebens überschritten ist, und naturgemäß eine Abnahme der Kräfte stattfindet, da muß selbstverständlich vieles für ihn zur Unmöglichkeit werden, wofür er früher zumindest noch Chancen hatte. Was in jungen Jahren keine Selbsttäuschung ist, das wird es in einem höheren Lebensalter, und alle ähnlichen von anderer Seite an ein solches gestellten unerfüllbaren Anforderungen können sich nur auf ein unbestimmtes, in voraussetzungslosen Möglichkeiten, umherschweifendes Vorstellen gründen. Oft würde mit Ausschluß aller möglichen Störungen zur Ausmerzung gewisser tief eingewurzelter Charakterfehler eine jahrelang dauernde, strenge Gewöhnung gehören, für welche die Zeit bis zum Tod voraussichtlich nicht einmal ausreichen würde, und deren selbständige Leitung dem Betreffenden oft nicht einmal zugemutet werden könnte. Und dann ist es häufig noch die Frage, ob die Empfänglichkeit für nachhaltige Antriebe zu irgendeiner Charakterveränderung nicht schon gänzlich in jemand erstorben ist, so daß alle Versuche, ihn aufzumuntern, vergeblich bleiben. Denn
    "Sinne, die nicht gehörig betätigt werden, müssen mit der Zeit verkümmern und in der Abfolge der Generationen fast zu einem Nichts einschrumpfen. Triebe und Leidenschaften, für welche keine objektiven Erregungen stattfinden, werden im Laufe der Zeit nicht bloß in den Hintergrund gedrängt, sondern geradezu entwurzelt." (23)
Die Antwort, welche  Rameaus Neffe bei DIDEROT auf die Frage, wie es kommt, daß er bei einem so feinen Gefühl, einer so großen Reizbarkeit für die Schönheiten musikalischer Kunst so blind gegen sittliche Schönheit und so gefühllos für den Reiz der Tugend sein kann, erteilt, ist nicht ungereimt. Er sagt:
    "Es ist offensichtlich, daß einige von ihnen einen Sinn haben, den ich nicht habe, eine Saite, die mir nicht gegeben wurde, eine lose Saite, die gezupft wird und nicht vibriert; vielleicht habe ich immer mit guten Musikern und schlechten Leuten gelebt, so daß es sich ergeben hat, daß mein Ohr sehr gut, mein Herz dagegen taub geworden ist." (24)
Wenn man daran zweifelt, daß solche Fälle überhaupt vorkommen können, so denke man an die zum Verbrechen von Kindheit auf erzogenen entmenschten Seelen, welche zu den Geheimnissen der großen Städte gehören. Man denke auch daran, daß die untersten rohesten Stufen der Menschheit von denen der höchsten, bisher erreichten Kultur durch eine tiefe Kluft getrennt sind, die zumindest von einem entwickelten Individuum jener niemals übersprungen werden kann. Es ist eine ebenso große Unmöglichkeit, daß aus einem wilden Neuseeländert oder Feuerländer ein gesitteter Europäer wird, wie "Blei durch äußere Einwirkung in Gold zu verwandeln, oder eine Eiche durch sorgfältige Pflege dahin zu bringen, daß sie Aprikosen trägt." (25)


XII.

Die moralischen Zumutungen und die moralische und bürgerliche Verantwortlichkeit werden dadurch nicht aufgehoben, daß in einzelnen Fällen unter Umständen der Grad der Empfänglichkeit für moralische Antriebe, wie gesagt, sich auf den Nullpunkt reduzieren kann, wie die Moral darum nicht an ihrer Bedeutung etwas einbüßt und das bürgerliche Gesetz deswegen nicht weniger zu Recht besteht, weil die Vergehungen gegen die Vorschriften beider aus gegebenen Tatsachen mit Notwendigkeit erfolgen. Die Moral liefert das Ideal der Gestaltung sowohl des individuellen, wie des gesellschaftlichen menschlichen Lebens. Als solches weist sie über das, was das Leben in Wirklichkeit ist, hinaus, auf etwas hin, was es, wenn gewisse Bedingungen in Wirklichkeit erfüllt sind, sein kann und sein soll. Das menschliche Bewußtsein kann sich mit der disharmonischen Anlage, mit der der Mensch unmittelbar aus den Händen der Natur zum Leben kommt, nicht befriedigt fühlen, und durch dieses Unbehagen wird es, ohne sich davon durch die abweichenden Bildungen der Wirklichkeit zurückschrecken zu lassen, zur Vorstellung eines harmonischeren Gebildes fortgetrieben. Was kann daran hindern, die Daseinselemente, welche die Natur in unbefriedigender Weise in der Menschheit kombiniert hat, in eine andere wohlgefälligere Ordnung zu setzen, wenn auch zunächst nur in der Vorstellung? Das Unbehagen, welches zur ideellen Konzeption des Lebensideals geführt hat, muß unfehlbar auch zur Verwirklichung desselben anspornen. Daß der Trieb dieses Unbehagens von Manchem gar nicht empfunden wird, weil die Bedingungen zu seiner Erweckung bei ihm fehlen, oder weil er gar nicht mehr in ihm zu erwecken ist, das ist stets aus den besonderen Umständen erklärlich. Darum aber verliert die Moral ansich nichts von ihrer antreibenden Kraft; darum bleibt sie doch immer das höchste Kriterium, an welchem die Höhe und der Wert des einzelnen Daseins zu messen ist; darum behalten doch ihre Forderungen den Charakter gesetzlicher Allgemeinheit, so daß sie an Jedermann, so weit er sich von ihrer Erfüllung auch entfernt findet, ohne Ausnahme gerichtet werden müssen. Vom Standpunkt der Moral-Idee ist Jeder für all sein Tun zum Teil vor sich selbst, zum Teil vor der Gesellschaft verantwortlich. Jeder, in dem die Ideen der Sittlichkeit erwacht sind, wird sich auch als selbständiges Wesen in allen Stücken für moralisch verantwortlich halten. In den Fällen, wo es sich nur um die individuelle Lebensgestaltung handelt, hat er seine Taten nur vor sich selbst zu verantworten. In denjenigen, wo es sich um Pflichten gegen die Gemeinschaft handelt, sowohl vor sich selbst, nämlich vor der Macht der Idee oder vor dem Gewissen, als auch vor der Gemeinschaft. Wenn es nun auch in der Welt noch keine gesellschaftliche Instanz gibt, die ihn für alle seine Handlungen, welche sich auf die Gesellschaft beziehen, verantwortlich machte, so müßte sich doch das in einer höher, freier und feiner organisierten Gesellschaft, als die jetzige ist, ändern. Eine solche würde von jedem Einzelnen für sein Verhalten zu ihren Gliedern in jeder Beziehung Verantwortung zu fordern haben. Bis jetzt hat es notwendigerweise an einer solchen Verantwortlichmachung fehlen müssen, weil sich der ideale Gedanke noch zu wenig in entsprechenden gesellschaftlichen Institutionen verkörpert hat. Bis jetzt aber haben auch die Meisten noch vor sich selbst zu wenig ernsthafte Verantwortung gefühlt.

Das Gefühl der moralischen Verantwortung, welche Jeder vor sich selbst fühlen sollte, die aber nicht Jedermann fühlt, weil nicht Jeder moralische Vorstellungen hegt und moralische Antriebe erfährt, wird auch dadurch nicht aufgehoben, daß sich jemand mit disharmonischen, ihm die Erfüllung seiner Lebensaufgabe erschwerenden Naturanlagen von Geburt versehen weiß. Nur wenn jeder in einer solchen Lage Befindliche dergleichen für unveränderlich halten würde, könnte er sich als unverantwortlich ansehen für all sein Tun und Lassen. Dies wäre jedoch ein Irrtum, der schon oben widerlegt worden ist. Wer moralische Antribe in sich fühlt, fühlt sich jedenfalls auch verantwortlich und hält sich unmöglich für ganz unverbesserlich. Denn in jenen Antrieben ist er sich der Möglichkeit der rechten Handlungsweise seinerseits bewußt, in jenen Antrieben muß er notwendig die Kraft zum Widerstand gegen alle Arten von Ablenkungen in sich verspüren. Klage über angeborene Fehler oder über Fehler der genossenen Erziehung führen, ist entweder Sache der Trägheit oder Sache einer allerdings beklagenswerten Ohnmacht, die oft nicht zu beseitigen ist. Eine besonders bedrängte Lage sollte allerdings sehr zu einem tatkräftigen Aufraffen anspornen. Die selbständige Befreiung aus außergewöhnlicher Not setzt aber ein großartiges Streben und eine außergewöhnliche Kraft voraus, die nicht jedem eignet. Wer aus seiner Not nichts zu machen weiß, der ist schlimm dran; dem mangelt entweder der gehörige Grad an Tatkraft, oder es fehlt ihm an Verstand, der ihn zur Einsicht dessen befähigte, was im gegebenen Fall zu tun ist. Nur zu viele Menschen klagen über ein unabänderliches eisernes Geschick, welches sie belastet, und sieht man zu, so sind der Mittel genug, welche in ihrer Macht stehen und eine Umänderung ermöglichen.

Die politische Macht, welche Verletzungen gegen die bürgerliche Ordnung an ihren Gliedern bestraft, ist hierin zu rechtfertigen und verdient keine Anfechtung in diesem Stück, wenn auch jedes Vergehen dieser Art als eine Tat moralischer Unfreiheit und bürgerlicher Unzurechnungsfähigkeit zu betrachten ist. Die Gesellschaft kann in der Beurteilung eines Verbrechers nicht auf unentwickelte individuelle Standpunkte Rücksichten nehmen. Sie würde sich nur zu ihrem eigenen Schaden herablassen und Großmut üben. Sie muß vin den allgemeinen Prinzipien des Rechts und der Gleichheit ausgehen und voraussetzen, daß jeder Einzelne, der in ihr lebt, reif ist für ein soziales Leben von ihren Anforderungen, daß die Individualität eines Jeden zumindest so weit erzogen und befähigt ist, daß er sich aller Rechtsverletzungen enthält. Indem Einer die Ordnungen der Gesellschaft verletzt, tritt er aus dem natürlichen Zustand des entwickelten Menschen, welcher der der Gesellschaft ist, heraus und geht in den des rohen, unentwickelten Naturmenschen über, welcher der Krieg aller gegen Alle ist, und kann sich daher über die ihm zugefügte Vergeltung nicht beklagen (26). Die Gesellschaft, als moralische Körperschaft, wird auch Großmut, Vergebung und Nachsicht üben können und dürfen, ja sogar auch müssen, wo es geht, aber nur als moralische Körperschaft, was die bestehende nicht ist.
    "Die Großmut", sagt  Dühring,  "ist keine Gerechtigkeit, hat aber ebenfalls ihre naturgesetzlichen Vorbedingungen. So kann sie in echter und ungeheuchelter Weise nur eintreten, wo die verletzte Macht sich wirklich über die Verletzung erhaben weiß und infolgedessen mit Ruhe über sie hinwegzusehen vermag. - Die wohl eingerichtete Gesellschaft, in welcher die Tendenz zum Verbrechen bereits hinreichend zurücktritt, kommt hierdurch immer mehr in die Lage, im Namen und mit Einwilligung ihres verletzten Gliedes Nachsicht zu üben und schließlich das Verbrechen wie eine Krankheit zu behandeln." (27)

XIII.

    "Eine Veränderung, Gewöhnung und Entwicklung der Triebe ist in geringerem Grad für das Einzelleben und in bedeutendem Umfang für die Geschlechterabfolge am meisten aber für das ganze Menschengeschlecht vorhanden",
sagt DÜHRING an einer Stelle seiner neuesten Schrift (28). An einer anderen (29) läßt er sich noch ausführlicher darüber aus, was der Einzelne über sich selbst im Hinblick einer möglichen Umgestaltung seiner Anlagen und seines Charakters über sich vermag. Er schlägt hierfür die Chancen für sehr gering an. Er sagt:
    "Aus dem Mutterschoß geht der Mensch bereits mit einer Ausstattung von Eigenschaften hervor, die in den Gewohnheiten und Sitten der früheren Geschlechter ihren Grund haben"
und er meint an dieser Ausstattung vermag der Mensch nachträglich nicht viel zu ändern.
    "Er mag im Rahmen derselben das beste Teil erwählen, aber er kann die Mängel und Gebrechen nicht nur nicht fortschaffen, sondern wird dieselben zumindest zum Teil noch weiter fortpflanzen".
Das mag für Manchen entmutigend klingen, aber es verhält sich gewiß nicht anders, und es hebt den Fortschritt der Menschheit zu immer höheren Graden der sittlichen Freiheit nicht auf. Für den Fortschritt der ganzen Menschheit kommt, dessen muß man stets gedenken, die Arbeit der Einzelnen in Betracht. Aus den noch so geringen Erfolgen der Individuen summiert sich der Gesamterfolg der Jahrhunderte und der Jahrtausende. Unsere Vorfahren standen einst auf derselben Stufe der Gesittung, welche jetzt die wildesten Völker der Erde einnehmen. Und
    "stände die Welt noch eine halbe Million Jahre hin", können wir mit  Lichtenberg sagen, "so wäre die Zeit, die sie gestanden hat, gerade was eine Stunde im Leben eines Menschen ist. Aus der Art oder Unart dieser Stunde läßt sich wenig oder nichts für künftige Fähigkeiten herleiten." (30)
Wollte jemand wegen der geringen Erfolge, die der Einzelne erzielen kann, die Bemühungen, die mit Bewußtsein für den allgemeinen Fortschritt der Menschheit unternommen werden, für eine Torheit halten und die idealen Vorstellungen, welche weit in die Zukunft weisen, als eitle Schwärmerei ansehen, so würde er eben den Zug nicht spüren, der zum Besseren drängt; so würde er dadurch an den Tag legen, daß er sich keine Rechenschaft darüber zu geben weiß, wie es gekommen ist, daß unser Geschlecht im Laufe der Jahrtausende aus jenen anfänglichen niederen tierähnlichen Zuständen bis zu seiner jetzigen Höhe gelangt ist; er würde aber nicht umhin können, sich an Arbeiten zu beteiligen, deren Erfolge erst einem späteren Geschlecht in reicherem Maß, als ihm zugute kommen werden, ohne daß er eine Ahnung und ein Wissen davon in sich trägt. Woher es kommt, daß wir sowohl unbewußt und unwillkürlich, aber auch bewußt und mit Absicht an der Arbeit für die Zukunft ohne Bedenken teilnehmen: auf diese Frage lautet die Antwort: weil angesichts der Unzulänglichkeit der gegenwärtigen Gestalt der Dinge und angesichts der gegenwärtigen Misére die Vorstellungen von einer besseren Gestaltung, deren Verwirklichung, während eines einzigen Menschenalters unausführbar, nur das Werk mehrerer Generationen sein kann, sich allzuleicht unwillkürlich dem Menschen aufdrängen und ihn mit sich fortreißen. Wer kann verlangen, diese Vorstellungen, die in eine entfernte Zukunft weisen, und zu deren Konzeption ein natürlicher und unwiderstehlicher Trieb hindrängt, zurückzudrängen und sich ideell nur um das zu kümmern, dessen Erfüllung sich von der nächsten Zeit erwarten läßt? Was zunächst anzustreben ist, richtet sich überhaupt auch nach dem, was als absehbares Ziel in weitere Aussicht zu nehmen ist. Wer sich um ein solches gar nicht bekümmert, der legt auch mit seinen kurzsichtigen Bemühungen für die Gegenwart, wenn ihn nicht zufällig ein richtiger Instinkt leitet, keinen Grund für die Zukunft. Es muß als das Vorrecht freierer und tieferer Geister betrachtet werden, die Unzulänglichkeiten der Gegenwart tiefer, als jemand anderer zu durchschauen und die aufgrund des Gegebenen möglichen Gestaltungen der Zukunft weiter zu überblicken. Menschen auf einer niedereren Bewußtseinsstufe empfinden die Unzulänglichkeiten der Gegenwart nicht so tief und nicht in dem Umfang, fühlen sich daher auch mit dem, was die Gegenwart bietet, befriedigter und einen geringeren Trieb zur Fortbildung der Menschheit und bekunden einen geringeren idealen Aufschwung. Sie können den höheren Gedankenflug der superioren Geister nicht verstehen und verhalten sich ganz natürlich indifferent zu dem gewaltigen, von erhabener Leidenschaft getragenen Streben derselben. "Es ist das Adlerauge der Leidenschaften, , sagt HELVETIUS, "die den dunklen Abgrund der Zukunft durchdringen. Die Gleichgültigkeit dagegen wird blind und dumm geboren." (31)

Die höheren Genies der Menschheit müssen, weil sie den Unwert des Gegenwärtigen tiefer durchschauen, sich deswegen nicht auch unglücklicher als andere Menschen verhalten. Der Verkehr mit einer besser gearteten Zukunft, die "Teilnahme an den kommenden Schicksalen" dient ihnen zum Ersatz für dasjenige, was sie noch am Gegenwärtigen vermissen und gereicht ihnen zum Trost und zur Erhebung.
    "Das Leben der Vorstellung", sagt  Dühring, "ist nicht auf das Individuum beschränkt, sondern dehnt sich durch eine Art Teilnahme auf die kommenden Schicksale aus. - Wie arm wäre das Dasein, wenn es auf seine jedesmalige Abgerissenheit beschränkt bliebe und nicht jene Ausblike auf seinen vollendeteren Inhalt gewähren würde!" (32)

LITERATUR - Franz Wollny, Über Freiheit und Charakter des Menschen, Leipzig 1876
    Anmerkungen
    1) Veröffentlicht in den "Recherches expérimentales sur les propriétés et les fonctions du systéme nerveux dans les animaux vertébrés", zweite Auflage, Paris 1842.
    2) Vgl. FLOURENS, Rech. Préf. Seite XVII.
    3) Vgl. den ausführlichen und höchst interessanten Bericht über das an einer Henne gemachte Experiment (Rech. Kapitel III, § 2, Seite 87f).
    4) Vgl. EUGEN DÜHRING, Kursus der Philosophie, Seite 184
    5) Vgl. SCHOPENHAUER, Vierfache Wurzel, § 26, 27.
    6) Siehe EUGEN DÜHRING, Kursus a. a. O., Seite 192
    7) siehe SCHOPENHAUER, Die beiden Grundprobleme der Ethik, Seite 35f.
    8) Vgl. SENECA, Ep. 1. cp. XI
    9) Dieses Kausalverhältnis ist wohl im Allgemeinen als feststehend anzusehen. Die Gesetze der Weitervererbung im Besonderen sind aber noch unenthüllt und werden auch schwerlich jemals enthüllt werden können. Die von SCHOPENHAUER (Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Kapitel 43) ausgesprochene Meinung, daß der Charakter in seinen Grundzügen vom Vater, die Intelligenz hingegen von der Mutter erblich ist, ist gewiß nichts, als ein geistreiches Apercu [geistreiche Bemerkung - wp], welches sich auf wenige vereinzelte Fälle stützt, aber doch schwerlich auf allgemein gesetzliche Bedeutung Anspruch machen dürfte. Sonst müßte gerade das weibliche Geschlecht überhaupt von Anfang an dem männlichen an Intelligenz weit überlegen gewesen sein und sich im Laufe der Geschichte eine dem männlichen überlegene Stellung in der Welt erworben haben, während sich die Tatsachen gerade umgekehrt verhalten.
    10) siehe DÜHRUNG, Kursus a. a. O., Seite 246
    11) siehe DÜHRING, Kursus a. a. O., Seite 395 und 396.
    12) DÜHRING, Geschichte der Philosophie, zweite Auflage, Seite 37f.
    13) siehe DÜHRING, Kursus a. a. O., Seite 127
    14) SCHOPENHAUER, Die beiden Grundprobleme der Ethik, Seite 49
    15) SCHOPENHAUER, Die beiden Grundprobleme der Ethik, Seite 53
    16) DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 187f
    17) DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 187
    18) SCHOPENHAUER, Grundprobleme, a. a. O., Seite 51 unten
    19) DÜHRING, Natürliche Dialektik, Seite 189
    20) FLOURENS, Psychologie comparée, Seite 36
    21) siehe DÜHRING, Kursus a. a. O., Seite 187
    22) siehe SCHLEIERMACHER, Vorrede zu den Monologen, dritte Auflage
    23) siehe DÜHRING, Kursus a. a. O., Seite 152
    24) siehe Oeuvres chois. de Diderot par M. F. Génin, Tome II, Paris 1856, Seite 75 und 76.
    25) SCHOPENHAUER, Grundprobleme der Ethik, Seite 52
    26) Vgl. ROUSSEAU, Du contrat social, Libre II, Chap. V, Paris 1870, Seite 176-77.
    27) siehe DÜHRING, Kursus a. a. O., Seite 236
    28) siehe DÜHRING, Kursus a. a. O., Seite 165
    29) siehe DÜHRING, Kursus a. a. O., Seite 244
    30) siehe LICHTENBERG, Gesammelte Schriften, Bd V, Seite 259.
    31) HELVETIUS, De l'esprit, Seite 251
    32) vgl. DÜHRING, Kursus a. a. O., Seite 364