ra-2ra-2A. RossE. LaskH. Gomperzvon KirchmannF. MünchL. Petrazycki    
 
GREVOR von GLASENAPP
Duplizität im
Ursprung der Moral


"Es muß immer wieder betont werden, daß das Gefühl die Seite unseres Wesens ist, welche allein Werte, also auch sittliche Werte wahrnimmt und mißt und daß nichts im Himmel noch auf Erden einen Wert hat, bevor es nicht von einem genußfähigen Wesen als Lust empfunden worden ist. Wo bliebe also der Wert unserer sittlichen Handlungen, wenn sie uns nie irgendwie zugute kämen?"

"Eine Vergeltung wird im Christentum nicht generell verneint; sie ist einleuchtend und verständlich; sie bildet das rationale Element christlicher Ethik und entspricht in einer veredelten Metamorphose der untertänigen Geschäftsbeziehung, in welcher Inder, Perser, Griechen und Römer zu ihren Göttern standen."


MOTTO: Meine Warnung ist: nicht zu sehr dem Wahlspruch: Simplex sigillum veri [Das Einfache ist Zeichen des Wahren] zu vertrauen."
Hermann Lotze, Streitschriften


I. Die Beobachtung des sittlichen Lebens und die Versuche es zu erklären führen in verschiedenen Formen und Verkleidungen immer wieder auf zweierlei Tatsachen oder innere Erlebnisse zurück: man kann es ein rationales und ein irrationales Element des sittlichen Bewußtseins nennen, oder auch: etwas, was sich begreifen läßt, aber nicht völlig befriedigt, und zweitens etwas unbegreifliches, das jedoch nichtsdestoweniger als Tatsache dasteht und schließlich von unserer Vernunft oder von den Bedürfnissen des Herzens postuliert wird. Wie man sich auch die obersten Grundsätze der Sittlichkeit denken mag; wie sehr man auf die moralische Gesinnung Gewicht legen und damit die Ethik veredeln mag: immer wird unser Gedanke bei der unausweichlichen Frage nach der Verbindlichkeit sittlicher Gebote auf das Verhältnis von Schuld und Sühne, von Verdienst und Lohn rekurrieren. Dem Fehltritt folgt eine Strafe, sei es auch nur die der Selbstverurteilung, so daß das Schlußresultat der Argumentation in einer Handelsbilanz zu bestehen scheint, in einer Abrechnung zwischen dem, was das Subjekt geleistet hat, und dem, was ihm dafür widerfahren soll. An und für sich kann man diese Auffassung gar nicht verächtlich finden. Mögen nun die Philosophen seit KANT - und seit noch früheren Zeiten - einander im Wetteifer überbieten, der Moral ein erhabenes Piedestal [Sockel - wp] zu errichten und jedes Hinschielen nach einem jenseitigen Lohn dadurch zu verdächtigen, daß sie es dem bei der Erreichung irdischer Ziele so verschrieenen wie allgemein wirksamen Egoismus gleichsetzen: niemand von ihnen leugnet doch, daß die Gerechtigkeit eine Tugend und nicht etwa ein Laster ist. Dann ist aber eine solche Abzahlung, je nach Verdienst und Würdigkeit nur recht und billig. Obschon also die Moral nach dieser Seite aus dem Egoismus entspringt, so ist es doch ein Egoismus, der das fremde Recht bedingungslos anerkennt und achtet; und dasjenige in uns, was sich dennoch immer gegen diese merkantile Auffassung sträubt, ist beileibe nicht der Sinn für Gerechtigkeit, sondern eine alltägliche Erfahrung: nämlich daß der Mensch die sittlich billigenswerten Handlungen ohne Rücksicht auf den Erfolg verrichtet; daß jedem von uns in dem Moment, wo er für andere etwas tut, oder wo er sich auch nur für ein Abstraktum - etwa zur Förderung von Kunst und Wissenschaft - bemüht, eine solche Aussicht auf Wiedervergeltung nicht ins Bewußtsein kommt, folglich nicht als Triebfeder anzusehen ist; - daß aber, wo eine solche Rücksicht doch mitwirken sollte, die Handlung wie die Gesinnung dadurch entwertet und zu einer in moralischer Hinsicht fast indifferenten werden würde.

Die Lehre, welche diese Erfahrungstatsache leugnet, die Lehre der alten Sophisten und aller neueren anti-idealistischen Ethiker braucht wohl nicht sehr ausführlich widerlegt zu werden. Freilich ist es ein Syllogismus von fast beleidigender Evidenz, wenn man folgert:
    "Daß ich so gehandelt habe, ist geschehen, weil ich so handeln wollte und nicht etwa, weil ich nicht so handeln wollte. Ich habe also meinen Willen erfüllt. Die Erfüllung meines Willens gereicht mir zur Befriedigung. Meine Handlungsweise, welche sie auch sein mag, ist also immer veranlaßt durch den Trieb micht selbst zu befriedigen, also immer auf egoistische Motive zurückzuführen."
In ähnlicher Weise argumentiert auch MAX STIRNER in seinem bekannten Buch "Der Einzige und sein Eigentum": Der Mensch erweist denen, die ihn umgeben, Wohltaten, weil es ihm angenehm ist, frohe Gesichter um sich zu sehen; usw.

Sehr nahe liegt hier der Einwand: welche Arten von Erfüllungen meines Willens mich denn befriedigen? Die mein eigenes Wohl bezweckenden oder die auf das Wohl anderer gerichteten? und ob die Gesinnung, aus der eine Handlung fließt, wirklich dann ermittelt wird, wenn die nachhinkende Logik über der vollendeten Tatsache zu Gericht sitzt und durch Folgerungen aus den abstrakten Begriffen "Wille, Befriedigung, Kausalität, Motiv, Zweck" das, was in der Seele vorgegangen sein soll, zu ermitteln sucht; - und nicht vielmehr dann, wenn wir die aufrichtige Frage an uns stellen: welche Empfindungen, Vorstellungen und Strebungen tatsächlich die Handlungen einleiteten und begleiteten?

Trockener aber auch wissenschaftlicher ausgedrückt, ist der Hergang beim Zustandekommen jeder moralisch relevanten Handlung folgender: In mir entsteht durch das innere Spiel der Phantasie oder aus äußerem Anlaß die Vorstellung eines Zukünftigen, das zum Unterschied von anderen Bildern der Einbildungskraft als durch meine Macht realisierbar, also möglich erscheint, und für mich ein Gefühlswert, ein Interesse hat, wodurch es mich reizt und meinen Willen zur Ausführung treibt. Zu diesem Tatbestand, der für alle Handlungen überhaupt gilt, tritt auf sittlichem Gebiet noch das Bewußtsein hinzu, daß ich das vorgestellte Zukünftige verwirklichen soll, daß es moralisch geboten ist. Dann mache ich die Handlung zu meinem Zweck. Wie dieser vorgestellte Endzweck es nun anfängt direkt oder durch eine Reihe ihm untergeordneter Mittel (nächster Zwecke) hindurch das Wollen zur Tat werden zu lassen, die Glieder meines Leibes in Bewegung zu setzen, läßt sich nicht weiter definieren, ist aber jedem aus der täglichen Erfahrung hinreichend bekannt. Nun besteht bei den Handlungen, die man selbstlos nennen kann, das merkwürdige darin, daß der Gefühlswert, die Lust, die erlangt werden, oder die Unlust die vermieden werden soll, nicht vor der Tat ins Bewußtsein dringt. Der Imperativ: "Du sollst!" das unbedingte Gebot, das zu tun, was man als recht erkannt hat, ist das einzige, was mit jener Vorstellung des zu verwirklichenden Zukünftigen verbunden ist. Wer einem Armen ein Almosen gibt, einem Kranken Hilfe leistet, einen Ertrinkenden aus dem Wassesr zieht, mag von sehr verschiedenen Triebfedern bewegt worden sein. Stellt er sich eine Vergeltung im Jenseits, im Himmelreich vor, oder den guten Ruf und die Hochachtung seiner Mitmenschen, so hat er, um mit der Bibel zu reden, seinen Lohn dahin. Stellt er sich vor, daß diese Tat seiner Menschenwürde oder seinem Ideal eines allzeit hilfreichen Bürgers entspricht, und er sonst seine Selbstachtung verlieren müßte; so hat der desgleichen "seinen Lohn dahin". Ganz gewiß kommen jedoch auf Fälle vor, wo das, was ihn zur Entscheidung bringt, einfach das Bewußtsein ist, daß er so handeln soll; und dann erst sagen wir: "omne tulit punctum" [aller Beifall ist ihm gewiß - wp], er hat selbstlos gehandelt. Daß er vielleicht nach der Tat Befriedigung empfindet und daraus schließt, er habe aus einem natürlichen Trieb, etwa aus Barmherzigkeit so gehandelt, kommt bei der moralischen Beurteilung nicht in Betracht. Denn was wir erst nachher wissen, haben wir eben vorher nicht gewußt; es konnte also nicht zur bewußten Triebfeder unserer Handlungen werden. Erst wenn eine frühere Erfahrung uns eine solche nachträgliche Befriedigung voraussehen läßt, wäre sie mit zu den Motiven der Handlung zu rechnen; braucht aber auch dann, als ein bloßer vorgestellter Nebenerfolg, nicht das entscheidende Motiv zu sein. - Deshalbt sagt CHRISTOPH SIGWART (Schriften, II. Reihe, Seite 176, Tübingen 1881):
    "Ein bewußter Akt kann ursprünglich immer nur durch etwas, was ins Bewußtsein fällt, determiniert und von anderen bewußten Akten unterschieden sein, nicht durch eine reale Folge, welche unbegreiflicherweise die Naturordnung an denselben knüpft."
Was ich nachträglich empfinde mag mich wohl über die Natur meines Wesens und meiner Triebe belehren, darf aber nicht zur sittlichen Beurteilung meiner Handlung herbeigezogen werden; ganz ebenso, wie auch die strafende Stimme des Gewissens, wenn sie erst nach der tat laut wird, nur für die Zukunft vor Ähnlichem warnt, aber nicht vor der Tat gewirkt hat. Die Selbstprüfung mag im einzelnen Fall oft mißlingen und zur Selbsttäuschung werden, zur selbstgefälligen Rechtfertigung oder grundlosen Selbstanklage; gleichwohl sind diese lebendigen Gefühle das einzige, dessen ich gewiß bin, und aus ihnen allein schließe ich auf die Qualität meiner Handlung, bzw. Gesinnung; nicht aber aus dem, was man mir nachträglich über meine Motive beweisen will.

Einen analogen Standpunkt der Beurteilung nimmt die unparteiische Rechtssprechung ein. Jeder Kriminalrichter weiß von Fällen zu erzählen, wo ein Delinquent ein schwereres Vergehen begangen zu haben glaubte, als er wirklich begangen hatte und indem er durch eine Entstellung der Tatsachen seine Schuld mildern wollte, sich einer schwereren Tat anklagte Er hatte z. B. in einer fremden Waldung Holz gefällt, also einen Forstfrevel begangen, meinte jedoch seine Lage zu verbessern durch die Behauptung, er habe es nicht selbst gefällt, sondern schon von anderen gefälltes Holz genommen, also einen Diebstahl begangen. Dann hat natürlich der Richter durch die Untersuchung den objektiven Tatbestand festzustellen und nur das dem Inquisiten [Angeklagten - wp] zuzurechnen, was er wirklich getan hat, ihn also nicht der auf Diebstahl, sondern der geringeren auf Forstfrevel gesetzten Strafe zu unterziehen; denn: ubi facta, verba tacent [Wenn Fakten sprechen, verstummen die Worte. - wp]. Desgleichen wird der Psychologe sich nicht durch die Wortklaubereien der Sophisten, nocht durch die selbstquälerische Neigung des Hypochonders irre machen lassen und dort, wo die wichtigsten Phänomene des Seelenlebens zu untersuchen sind, allein auf das Selbsterlebte, auf die Stimme des Gewissens achten, so unverfälscht sie sich nur immer heraushören läßt.

Also das Bewußtsein der Tatsache, daß wirklich völlig selbstlose Handlungen vorkommen, macht uns zu stolz, um von einer Moral als System des Austauschs ganz befriedigt zu werden: wir verlangen mehr als Gerechtigkeit. Und die Schwierigkeit, die in der Koinzidenz [Zusammentreffen - wp] der Gerechtigkeit mit einer völlig uninteressierten Gesinnung liegt, löst die Philosophie versuchsweise durch folgende Reflexion:

Es ist ein Unterschied zwischen der Aufdeckung der Motive und begleitenden Gefühle, welche unsere Handlungen zu sittlichen stempeln, - und zwischen einer metaphysischen Deutung des Weltganzen. Mag auch nie die moralisch gute Handlung im Bewußtsein des Subjekts von einer solchen Spekulation auf Rückzahlung begleitet sein: eine vernünftige Erklärung des Sinnes, den menschliche Existenz überhaupt nur haben kann, nötigt doch zu der Annahme, daß die guten Taten schließlich nicht verloren gehen; daß der Mensch, indem er aus selbstloser sittlicher Gesinnung verfährt, dadurch irgendwie sein eigenes Wesen fördert; daß es in irgendeiner Weise das eigene Wohl ist, für welches er damit gesorgt hat. Darum sagt ein türkisches Sprichwort: "Tu das Gute und wirf es ins Meer: sieht es der Fisch nicht, so sieht es der Herr." -

Diese Annahme bleibt selbst dann bestehen, wenn die persönliche oder sogar die individuelle Unsterblichkeit des einzelnen geleugnet wird: selbst für eine Vereinigung und ein Zusammenfließen der gesonderten Existenz mit der Alleinheit des Seienden könnten sittliche Taten und Gesinnungen eine allendliche günstige Nachwirkung haben; denn es muß immer wieder betont werden, daß das Gefühl die Seite unseres Wesens ist, welche allein Werte, also auch sittliche Werte wahrnimmt und mißt und daß nichts im Himmel noch auf Erden einen Wert hat, bevor es nicht von einem genußfähigen Wesen als Lust empfunden worden ist. Wo bliebe also der Wert unserer sittlichen Handlungen, wenn sie uns nie irgendwie zugute kämen?

Hiernach scheint es freilich, als ob wir unser wahres Heil nur um den Preis erreichen, daß wir nicht darauf, sondern auf etwas anderes zielen; und dies ist der Punkt, wo Ethik und Metaphysik sich berühren!

Das rationale Element des sittlichen Lebens, das durch die Idee der Gerechtigkeit und Wiedervergeltung nicht nur beim profanen vulgus [gemeines Volk - wp], nein, auch bei den sublimsten Seele stark mitwirkt, findet so seine dürftige Erklärung in diesem metaphysischen Postulat. Das über ihm stehende höhere irrationale Element ist die staunenswerte Tatsache, daß sittliche Handlungen ohne Rücksicht auf Vergeltung, ohne Rücksicht auf das Wohl der eigenen Person vollbracht werden.

Damit ist das irrationale Element übrigens nur nach der einen Seite gekennzeichnet. Während es sich hier in der Kraft manifestiert, die bloße Gerechtigkeit zu überbieten, scheint es in einer anderen Seelenregung gewissermaßen hinter den Forderungen der einfachen Gerechtigkeit zurückzubleiben, ihnen in ärgerlicher Weise zu widersprechen; wir meinen einen Vorgang im Gemüt, eine Tatsache des Bewußtseins, die bei aufmerksamer Selbstbeobachtung keinem entgeht und sich zu allen Zeiten, bei allen der historischen Forschung zugänglichen Völkern nachweisen läßt: die Tatsache, daß wir uns auch für das verantwortlich fühlen, was wir nicht mit Bewußtsein begangen haben; also die Möglichkeit einer unbewußten Schuld. - Nicht nur wir beten um Vergebung der unbewußten Sünden; nicht bloß von der Kirche wird uns das beständige Armesündergefühl eingeprägt, sondern es ist immer so gewesen, daß der verderbliche Erfolg der Handlungen, wenn er dem Subjekt später zu Bewußtsein kommt, zur Schuld wird und schwer auf ihm lastet. Hier hilft es icht, von einer Verfälschung des empirischen Gewissens oder gar von einem Aberglauben zu reden: ein Aberglaube der allen gemeinsam ist, hört auf ein Aberglaube zu sein und ist als Urtatsache des menschlichen Seelenlebens anzuerkennen. Wer das Faktum leugnen will, dem läßt es sich natürlich nie ad oculos [für das bloße Auge - wp] demonstrieren; man kann nur darauf hinweisen, daß stets so empfunden worden ist: von Rustem, von Ödipus, von Hildubrand. Und wenn heutzutage eine Mutter im Schlaf ihren Säugling erdrückt, so wird, - mag sie nun gläubig oder ungläubig erzogen sein, - sie ein anderes Bewußtsein mit sich herumtragen, als wenn das Kind durch eine einstürzende Zimmerdecke erschlugen würde.

Das Kriminalrecht berücksichtigt bei der Zumessung von Strafen zweierlei: die böse Absicht (den verbrecherischen Dolus [Vorsatz - wp]) und die Größe des angerichteten Schadens (bzw. die Gefährlichkeit der Handlung). Überall nun, wo aus Unaufmerksamkeit (sogenannter Fahrlässigkeit) begangene, also unabsichtliche Handlungen bestraft werden, hat entschieden nicht nur die Rücksicht auf den Schaden die Entwicklung des Rechts beeinflußt, sondern auch diese Idee von einer Schuld, die der Mensch sich damit wirklich aufgeladen hat; woher dann auch die Gesetzgebung vieler Staaten zur Sühne dafür die Kirchenbuße anordnet.

Wenngleich oft lähmend und drückend, wirkt diese unerklärliche psychische Stimmung, dieses erst nach der Tat erwachende Schuldbewußtsein auf der anderen Seite als eine unschätzbare Triebkraft für die Entwicklung der Moral. Gerade die Angst, von der wir befallen werden, nicht etwa unbewußt zu sündigen, wirkt als Antrieb, ohne Unterlaß über sich selbst zu wachen, das Gewissen zu schärfen und immer feiner auszubilden. Andernfalls müßten wir ja die Menschen mit einem stumpfen, tauben Gewissen, mit der "Unschuld des Raubtiergewissens" glücklich preisen.

Diese subjektiv nachweisbare, weil unmittelbar erlebte Tatsache, daß es ein unbewußtes Verschulden gibt, mag in einem höheren Weltplan, den zu durchschauen uns versagt bleibt, ihren Platz haben; bleibt jedoch für das praktische Leben die dunkle Kehrseite des irrationalen Elements der Sittlichkeit, und zeigt uns nur, welche Kluft zwischen dem liegt, was einer sich selbst zurechnen mag und dem, was andere ihm zurechnen dürfen. Denn unsere Urteile über sittlich relevante Handlungen müssen - unbeirrt durch den Gedanken einer supponierten Weltordnung - die a tergo [von hinten - wp] wirkenden Motive und die a fronte [von vorn - wp] wirkenden Zwecke zusammenfallen lassen.

Die Psychologie wird freilich bisweilen den vorgestellten Zweck gesondert betrachten und von ihm verschiedene andere, teils in Gemütserregungen, teils in Charakteranlagen begründete, teils als äußere Ereignisse hinzutretende Motive unterscheiden. - Als SOKRATES den verwundeten ALKIBIADES aus dem Schlachtgewühl forttrug, tat er es, um ihm, dem ALKIBIADES das Leben zu retten. Das war sein Zweck. Man kann aber auch sagen, er tat es, weil der in Gefahr befindliche ALKIBIADES sein Mitgefühl erregte; oder: er tat es, weil er, SOKRATES, von Natur ein menschenfreundliches, aufopferungsfähiges und mutiges Herz hatte; oder er tat es, weil er sah, daß die siegreichen Feinde den ALKIBIADES umringt hatten. Das ist alles richtig, wenn man nach Motiven forscht; daran dachte aber SOKRATES nicht; daher dürfen diese unbewußten Motive nicht mit dem gewollten Zweck vermengt werden.

Wer die Ausführbarkeit und Statthaftigkeit einer Absicht überlegt, wird sowohl dadurch schwankend gemacht, daß die auf ihn einwirkenden Faktoren untereinander vergleichbar sind - (Geld und Gut, freie Zeit, Bequemlichkeit, Gesundheit, Ehre, Ansehen, Kunstgenuß etc. sind alles inkommmensurable [unvergleichbare - wp] Größen) - als auch dadurch, daß die Nachwirkungen seiner Tat und die Nebeneffekte der angewandten Mittel im unberechenbaren Getriebe des Zusammenhangs der Dinge unzählige unerwünschte, ja verderbliche Folgen nach sich ziehen können. Daher sagt GOETHE: der Handelnde hat immer unrecht (nur der Reflektierende hat recht). - Die in uns wimmelnden und wogenden Vorstellungen und Gefühle sind keine wägbaren Stoffe, die schließlich von selbst zur Ruhe kommen; und weder die Wahrscheinlichkeitsrechnung noch Vorsicht würden die Unsicherheit beenden, wenn der Mensch nicht die Kraft hätte, auch seinen eigenen Vorstellungen als Gebieter gegenüber zu treten und durch einen Willensakt, den man "Entschluß" nennt, den gordischen Knoten zu zerhauen. Nur ihm gelingt es, qualitativ verschiedene Kräfte, die sich nie mechanisch addieren und subtrahieren lassen, ins Gleichgewicht zu bringen. Dabei ist sich der Mensch voller Freiheit bewußt, d. h. er ist sich bewußt, daß er sich auch anders hätte entschließen können. Also die Behauptung der Deterministen, die dies bestreiten, die Stimme des Gewissens für Trug erklären und meinen: alle vorangehenden Data, die äußeren Umstände einerseits und die angeborene und gewordene Natur des Menschen andererseits bestimmt restlos jede Handlung - ist bis auf weiteres bloß eine Hypothese, einzig und allein gestützt auf eine Analogie, auf die Gültigkeit des Kausalprinzips in der Körperwelt; - unbewiesen bis jetzt und sicher unbeweisbar, solange wir nicht eine ganz andersartige Einsicht in die Natur der menschlichen Seele erlangen, als wir bisher besitzen. Die andere Ansicht, daß in den menschlichen Handlungen freie Anfänge gegeben sind, die sich in den Ablauf des natürlichen Wirkens einfügen, ohne von etwas Früherem verursacht zu sein; - ist also, obschon auch nur eine Hypothese, doch eine viel bessere Hypothese; denn sie wird nicht nur durch das Gefühl der Verantwortlichkeit, das unseren Handlungen folgt und in der Freiheit allein seine Erklärung findet, postuliert, sondern stützt sich auch auf ein Faktum, auf das unwidersprechliche Bewußtsein der Freiheit unserer Tat, das sie begleitet. Somit wird wohl vorderhand das onus reprobandi [Beweislast - wp] den Deterministen zuschieben zu sein; und der idealistische Philosoph wird die Idee der Willensfreiheit verfechten, selbst auf die Gefahr hin, in einem materialistischen Zeitalter ihr letzter Ritter zu bleiben.

II. Nicht nur die philosophische Spekulation, auch das religiöse Bewußtsein hat es allenthalben zur Unterscheidung dieser zwei Elemente gebracht.

Wohl glaubten manche, die Moral zu jeder Religion in einen feindlichen Gegensatz stellen zu dürfen, und meinten, das Ziel, dem die Entwicklung der Religionen zustrebt, sei eine Auflösung in lauter Moral. Viele Religionen wiederum machen bekanntlich den Anspruch nur aus sich die richtige Moral abzuleiten und perhorreszieren [ablehnen - wp] jede auf einem anderen Boden erwachsene Sittenvorschrift. Offenbar decken sich in Wirklichkeit Religion und Ethik nie, und an der jeweiligen Gestaltung der kirchlichen Lehre und des religiösen Lebens läßt sich ein gewisses Oszillieren [Hin - und Herwandern | wp], ein bald stärkeres bald geringeres Anlehnen der Religion an die Moral beobachten. Die Kirche nimmt bald mehr bald weniger an moralischen Elementen in ihre Forderungen auf. Meist "weniger", d. h. weniger als wünschenswert wäre. So unerläßlich es nämlich für die Religionen ist bei der Ausgestaltung ihres wichtigen Themas, der Lehre vom Ausgleich zwischen diesseits und jenseits, sich auf ein Sittengesetz zu berufen, so schwer fällt es ihnen doch im Drang und Zwang des wirklichen Lebens, die unantastbare Reinheit der sittlichen Lehre zu bewahren und zwischen usus [Brauch - wp] und abusus [Mißbrauch - wp] streng zu unterscheiden. Wir wollen uns den Hergang kurz vergegenwärtigen:

Zu der Zeit, wo es einem Menschen zu Bewußtsein kommt, daß es mit dem Heil seiner Seele schlimm bestellt und er zum Eintritt in die Pforten der Ewigkeit schlecht vorbereitet ist, hat er nicht beliebig große Zeiträume vor sich, um in aller Gemächlichkeit durch gute Taten die früheren Missetaten auszugleichen. Der Tod versteht nicht zu warten und die von der Kirche empfohlene Sinnesänderung, metanoia (Reue), die ja gleich eintreten mag, bleibt eine schöne aber heikle Sache. Gar zu gut weiß der Mensch aus Erfahrung, wie wenig die besten Vorsätze vor den Versuchungen der Wirklichkeit standhalten, als daß er der Tiefe seiner Sinnesänderung ganz trauen dürfte; und ob sie Gelegenheit haben wird sich zu bewähren, ist auch ungewiß. So kommt der sündige Mensch zu dem sehr natürlichen Wunsch, die versäumten guten Taten sofort und in beschleunigtem Tempo nachzuholen. Und dies zu erreichen, haben die meisten Religionen ein ganzes Arsenal von Hilfsmitteln in Bereitschaft. Da gibt es: Opfer, Meditation, Gebet, lesen und absingen heiliger Schriften, Fasten, Almosengeben, Wallfahrten, Bußen und Kasteiungen. Alle sind ursprünglich zu anderem und höherem bestimmt; sie werden jedoch per abusum nebenher auch vielfach benutzt, um vor der großen Abrechnung jenes Manquement [Vergehen - wp] an guten Taten schleunigst zu decken; und schließlich auch dann hilfsweise verwertet, wenn eigentlich kein Grund ist zu befürchten, es werde zu wirklichen guten Taten, d. h. zu einem tugendhaften Lebenswandel Zeit und Gelegenheit mangeln; sie werden ein beliebtes Surrogat der Verdienste, dessen die Mehrzahl der Gläubigen nicht entraten mag.

Der wahrhaft religiöse Sinn sträubt sich natürlich dagegen,, gottesdienstliche Verrichtungen so zu deuten, sie gewissermaßen als Zuschuß zu verwerten, um eine Lücke im Konto zu füllen. Wie oft aber erscheint doch diese leicht zu beschaffende Zumessung zu den übrigen Leistungen dem Menschen ganz willkommen? Man braucht nur den Satz aufzustellen, daß ceteris paribus [unter vergleichbaren Umständen - wp], viel beten besser ist als wenig beten; regelmäßiger Besuch des Gottesdienstes vor dem selteneren Besuch den Vorzug verdient; - und ein erfinderischen Kopf wird nach einigem Ruminieren [Nachsinnen - wp] dieser Dogmen in durchaus konsequenter Weise zur Konstruktion der ingeniösen [geistreichen - wp] buddhistischen Betmühlen fortschreiten, wie sie in Tibet auf passenden Anhöhen aufgestellt werden, d. h. auf den Stellen, wo bei uns Windmühlen stehen. So stark ist der Hang des Menschen auf allen Lebensgebieten und sogar in religiösen Dingen Surrogate für Äquivalente zu nehmen.

Allein selbst in der Entartung, selbst dort, wo der Kultus fast ganz in einem Formeldienst und Zeremonien fossil [urzeitlich - wp] geworden ist, haben die Religionen nicht die Verbindung mit der Moral abgebrochen und sorgen insbesondere dafür, daß das Bewußtsein von jenem irrationalen Element in der Moral wach bleibt.

Die edlen Impulse in uns sind eben nicht jederzeit zur Stelle, wenn die Umstände des Lebens es erfordern. Auch der Quell der Moral gehört zu den intermittierenden [zeitweilig aussetzenden - wp] Gewässern. Darum brauchen wir Prinzipien, die wir ein für allemal anerkennen und die, bis zu einem gewissen Grad, unabhängig von der Stimmung des Augenblicks, zu allzeit elastischen Triebfedern unseres sittlichen Verhaltens werden. Soweit diese Prinzipien dem irrationalen Element der Moral entstammen, kann ihnen die Philosophie natürlich keine Sanktion verschaffen, noch sie klar und faßlich formulieren, eben weil es sich um etwas Irrationales handelt. Wie bisweilen der Astronom die Stelle am Himmelsgewölbe berechnet und andeutet, wo ein Gestirn sein muß, ohne daß sein Teleskop imstände wäre, es sichtbar zu machen, so bescheidet sich hier der Philosoph und deutet nur hin: "Da steckt etwas dahinter!" Den Religionen und der bei ihrer Entwicklung mitwirkenden Phantasie ist es vorbehalten, dem, was an der Moral irrational ist, in mehr oder weniger präzisierten Lehren eine sozusagen körperhafte Gestalt zu geben. Sehen wir zu, welche!

III. In der Religion der klassischen Völker war der kaufmännische Ausgleich zwischen Soll und Haben - das was die Philosophie jetzt als ein schüchternes metaphysisches Postulat der Vernunft vorbringt, - als einfaches und leicht verständliches Verhältnis zwischen Menschen und Göttern ausgesprochen. Es wurde zu den Göttern gebetet, es wurde ihnen geopfert; und ganz unumwunden sagte man, welche Leistungen man dafür von den Göttern erwartete. Wer die Götter selbst beleidigte oder ganz besonders stark ihre Gebote verletzte, dem wurde es, wie dem Tantalus, Sisyphus, Ixion, den Danaiden noch im Jenseits nachgetragen; andere konnten für außerordentliche Verdienste nach dem Tod in den Olymp aufgenommen werden oder sonst eine Auszeichnung erhalten. Das ist alles erklärbar und gerecht.

Daß damit aber doch nicht alle Erlebnisse des sittlichen Bewußtseins erschöpft sind, daß nicht alles an den Taten der Menschen sich auf diese Geschäftsverbindung mit den Göttern reduzieren läßt, dies haben die Alten deutlich gefühlt. Und neben der Idee des Ruhmes, - die ja auch eigentlich nicht aus der Anerkennung durch törichte Menschen entstanden war, vielmehr einen Lohn mit imponderabler [unwägbarer - wp] Münze verhieß, eine Belobigung durch eine ideale, nicht mit weltlicher Machtvollkommenheit ausgestattete Gerichtsinstanz - neben dieser Idee, wissen wir, hatte sich ein anderer Begriff bei ihnen zur Ergänzung des sittlichen Lebens entwickelt: der Begriff des Schicksals (Fatum, Dike), welches von den Göttern unabhängig, ihren Ratschluß in Verwirrung bringt, und, selbst unerforschlich, doch das erklären sollte, was durch die Macht der Götter noch nicht begreiflich schien. Vom Schicksal also - durfte man sich vorstellen - wurde derjenige in seinen Handlungen getrieben, den die Rücksicht auf die Götter, also auch die Rücksicht auf Strafe und Lohn bei sittlich billigenswerten Handlungen nicht leitete, der unabhängig vom Erfolg verfuhr, also nach unseren philosophischen Begriffen rein sittlichen Antrieben gehorchte. Steckt nicht KANTs kategorischer Imperativ schon in undeutlichen Umrissen hinter dieser Verkleidung?

Dieses unerbittliche Fatum ist also in den Äußerungen des sittlichen Lebens für das Altertum das unerklärliche, irrationale Element; nur von der plastischen Phantasie der Griechen gewissermaßen als Gestalt nach außen projiziert. Man sprach davon als von etwas dunklem, unergründlichen und staunte in jenen Zeiten ganz ebenso vor seiner Macht, wie wir staunend vor der Erfahrungstatsache stehen, daß sittliche Handlungen, - nach dem zu urteilen, was im Bewußtsein des Subjekts vorgeht, - ohne Rücksicht auf Vergeltung, ja mit einer extravaganten Aufopferung des eigenen Wohls und Lebens vollbracht werden.

IV. Wesentlich anders als die Griechen und Römer haben sich die Inder in den verschiedenen Phasen religiösen Wachstums ihre Götter vorgestellt. Was jedoch die Rolle betrifft, welche die Götter im sittlichen Leben der Menschen spielen, so läuft es im Großen und Ganzen doch wieder auf ein Vergeltungssystem hinaus, das im Opfer wie im Gebet oft sogar noch mehr den Charakter des Schachers annimmt, als bei den klassischen Völkern; da haben wir also wieder das rationale Element der indischen Sittlichkeit; es ist gerecht, deutlich und nüchtern und sagt, ohne sich auf einen vorausgesetzten metaphysischen Weltzusammenhang zu berufen: "Wie du mir, so ich dir."

So schroff uns auch oft in ihren religiösen Schriften diese Auffassung entgegentritt, so haben wir nichtsdestoweniger hier vor einer Herabwürdigung der Religionen - nicht nur der indischen sondern aller überhaupt - zu warnen und uns klar zu machen, daß der Glaube an einen überirdischen Lohn, jenseitige Vergeltung und göttliche Eingriffe zu einem wirksamen sittlichen Motiv doch nur für denjenigen wird "cui ex meliore luto dedit praecordia Titan" [von Titan ein Herz aus besserem Lehm hergestellt - wp]. Die bloße Fähigkeit, durch solche Verheissungen beeinflußt zu werden, setzt schon eine idealere Beschaffenheit des Gemüts voraus, als die Erfahrungen des materiellen Lebens erklären können. Das Überirdische ist eben eine Macht schließlich nur für den, der den Trieb hat das Irdische abzuschütteln, sich von der sinnenfälligen Wirklichkeit zu lösen; der nicht durchaus mit allen Fibern seiner Seele an der Welt und ihrer Lust hängt. Die Vorstellungen jedoch, die im einzelnen Fall tatsächlich für ein Subjekt zum Impuls sittlicher Handlungen werden, sind mitunter so bizarr, daß sie auch dem besonnenen Beobachter wenig von dieser ihrer edleren Abstammung verraten. Selst wo sich diese Regungen in die Formen von allerlei grobem Volksglauben kleiden, dürfen wir uns über ihren Charakter nicht irre machen lassen. Nehmen wir ein Beispiel! Ein Bauer will auf einem Markt einem Unbekannten ein Stück Vieh verkaufen. Dieser fragt ihn, ob das Vieh einen Fehler hat. Der Bauer möchte gern durch das Verbergen eines Fehlers einen höheren Preis erzielen, stellt jedoch folgende Überlegung an: "Wenn ich sage die Kuh hat keinen Fehler, so wird meine andere Kuh zuhause diesen selben Fehler bekommen oder Wolf wird ihr Kalb holen etc." Und so entschließt sich der Bauer infolge eines in manchen Gegenden existierenden Aberglaubens über sein Tier die Wahrheit zu sagen. Hier darf man seiner Handlung nicht einen sittlichen Wert absprechen, weil sie auf die pure Berechnung des Vorteils und Nachteils zurückzuführen ist; man hat sich vielmehr zu fragen: weshalb fiel dem Bauern gerade ein Aberglauben ein, der ihn auf den Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit leitete? warum ließ er sich nicht lieber durch jenen anderen bekannten Aberglauben bestimmen, wonach man sogar beim Beschwören einer unwahren Behauptung, nur gleichzeitig mit dem Erheben der rechten Hand ebensoviele Finger der linken Hand nach unten zu richten braucht, um wie durch einen Blitzableiter die ungünstigen Wirkungen eines Meineids von sich abzuwenden? Aberglauben gibt es vielerlei; aber weil eben diesem Mann "ex meliore luto dedit praecordia Titan", wurde der eine und nicht der andere im gegebenen Augenblick zur lebendigen Kraft in ihm. Das scheint auch der Sinn des oft mißbrauchten Spruches zu sein: "Denen, die den Herrn lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen"; - also selbst der Aberglaube (Römer 8,28).

Diese ganze Erörterung, welche zeigt, wie bedenklich es ist, die moralische Beurteilung nur auf sogenannte Gesinnungen, nicht auf Handlungen zu gründen, ist von einem religiösen oder, wenn man will, metaphysischen Standpunkt aus angestellt worden. Ein solcher fällt jedoch nie in das Bewußtsein des handelnden Subjekts. Wir haben ihn nunmehr zu verlassen und zum anthropozentrischen zurückzukehren, d. h. uns in das Innere der einzelnen Menschenseele zu versetzen und zu betrachten, wie ihr die Erscheinungen des sittlichen Lebens als eigene Regungen unmittelbar bewußt werden. Das allein ist hier von Interesse. Denn sobald es jemand dahin brächte, die Vorstellungen, die seinen Willen beeinflussen, zugleich von einer außerweltlichen Höhe herab noch als etwas total anderes zu erkennen, als das, was sie zu sein scheinen, so hörten sie eben auf für ihn Motive zu bilden, und es würden andere wiederum seinem eigenen Bewußtsein angehörige Vorstellungen an ihre Stelle treten.

Wir wenden uns daher nach dieser Abschweifung zum zweiten, dem irrationalen Element im sittlichen und religiösen Leben der Inder; es äußerte sich in einer ganz anderen Lehre als bei den Griechen: in der Lehre von der Seelenwanderung. Mit der groben Ausmalung dieser Idee in palpablen [offenbaren - wp] Figuren halten sich die indischen Denker freilich nicht auf; so eine müßige Spielerei kann im Orient wie im Okzident den religiösen Gedanken nur entweihen. Die Inder reden einfach von den "Taten" (karma) und ihrer fortwirkenden Macht. Unter diesen Taten par excellence ist das Verhalten eines Wesens in seinen früheren Existenzen gemeint. Sie wirken fort und bestimmen nicht nur das Geschick, sondern auch die Höhe des sittlichen Charakters, gewissermaßen den Adel der Gesinnung, den ein Mensch in die gegenwärtige Existenz mitbringt. Wo ein Inder diesen "Taten" und ihrem Einfluß nicht gerade die Macht der Götter entgegensetzen will - vielleicht weil er nicht an die Götter glaubt - da setzt er ihnen die einfache, irdisch begreifbare Kausalität entgegen; oder den Satz, daß jeder sich selbst sein Schicksal schafft, seines Glückes Schmied ist (vgl. z. B. Mahabharata XIII, Seite 297f).

Mit dieser Lehre von den "Taten" hat der indische Geist an Kühnheit und Großartigkeit des Denkens nicht nur die Religion der klassischen Nationen, sondern auch jede wissenschaftliche Philosophie überflügelt. Er steht nicht ganz so ratlos vor der rätselhaften Tatsache, daß selbstlose Handlungen vorkommen, daß der kategorische Imperativ eine Macht ist und bleibt, obgleich jetzt fast jeder Philosoph diese Lehre beanstandet. Eben jene früheren "Taten" machen uns zu dem, was wir sind; sie bleiben unser Eigentum, unser Erbteil und wenngleich nichts von ihnen in unserem Bewußtsein übrig ist, können sie doch auf diese mittelbare Weise für uns zu Triebfedern des Handelns werden und uns zu Taten veranlassen, die ohne alle Rücksicht auf Erfolg und auf das bündige Verhältnis zwischen Menschen und Göttern zustande kommen.

So große Bewungerung aber auch die Tiefe und Verwegenheit dieser Spekulation verdient, so bleibt sie doch nur eine supranaturalistische Hypothese; denn von den "Taten" wissen wir nie etwas. Ihre Nachwirkungen ragen also als ein irrationales, durchaus unerklärliche Element in das reale Leben hinein; ebenso wie das verschleierte Fatum.

V. Wenn das irrationale Element der Moral überhaupt zur Entwicklung der griechischen und indischen Religion beigetragen hat, so läßt sich a priori vermuten, daß auch die Vorstellungen beider Völker über das Jenseits von diesem Einfluß nicht unberührt geblieben sind, daß also nicht einzig und allein das andere Element, die Vergeltungsidee sich in ihrer Eschatologie [Lehre von den letzten Dingen - wp] ausprägt. Sonst müßte man erwarten, das Weltgericht unter dem Bild einer großen Abzahlung dargestellt zu finden, wo den Guten und Bösen bei Heller und Pfennig Gerechtigkeit widerfährt. Wirklich bestätigt sich diese Vermutung: das irrationale Element der Moral hat störend in die Triumphe eingegriffen, welche die ausgleichende Gerechtigkeit im Jenseits zu feiern gedachte, und zwar in merkwürdiger, für beide Völker höchst charakteristischer Weise.

Daß im Großen und Gannzen an Strafe und Lohn in jener Welt geglaubt wurde, bezeugt uns die älteste Mythologie mit den oben erwähnten Beispielen besonders raffinierter Quälereien, wie auch viele Aussprüche der aufgeklärtesten klassischen Autoren. So spricht z. B. der platonische SOKRATES im "Phädon" die ganz allgemeine Überzeugung aus: daß unser Ergehen im Jenseits nicht unabhängig ist von unserem Verhalten im Diesseits. In gewissem Sinne finden wir diesen Gedanken auch bei den Buddhisten wieder. Sie haben allerdings später, als ihre Lehre stark zu entarten anfing, in ihr Metaphysik (Abhidharma) das Dogma von zweierlei Höllen aufgenommen; während die heißen Höllen, welche man sich als kreisrunde Scheiben dachte, ihre Opfer, wenn auch nach noch so langer Zeit, schließlich alle frei lassen, hatte das "vatum implacabile genus" [die unerbittliche Natur des Dichters - wp] außerdem noch kalte Höllen erfunden, welche zwischen je drei solcher heißer Höllen gelegen, also dreieckig waren, und in denen die Qual der Verdammten ewig dauern sollte.

Allein von solchen Ausgeburten einer abtrünnigen Phantasie ist in der reinen Lehre BUDDHAs noch nichts zu finden. Die Gerechtigkeit waltet bei ihm insofern als der eine früher der andere später das Nirvana, die Erlösung erlangt. Unausbleiblich entsteht an diesem Punkt die Frage, was das Nirvana ist, worin die Erlösung besteht? Hier nun greift das irrationale Element der Moral ein, indem es der indischen Phantasie Zügel anlegt: jede weitere Spekulation über das Nirvana wird verboten. Weder darf man sagen, lehrt BUDDHA, das Nirvana sei ein "Sein", noch es sei ein "Nichtsein", noch darf man die Behauptung aussprechen, es sei "weder ein Sein noch ein Nicht-Sein". Nur eine so kategorische Weigerung des Religionsstifters etwas über das Jenseits zu offenbaren, vermochte den zu Grübeleien geneigten Inder von dem maßlosesten Phantasmagorien über das verschiedene Schicksal der erlösten Seelen abzuhalten. Unenthüllt liegen im Schoß des Nirvana unendlich viele Möglichkeiten. Dasselbe Ziel erreicht auf einem anderen Weg die brahmanische Theosophie, indem sie das Brahma, den Urquell allen Seins, wohin alles einmal eingeht, als unterschiedslos, qualitätslos (nirgunah) bezeichnet; mit anderen Worten: der Spekulation wird Einhalt geboten.

Die gestaltungskräftige Phantasie des griechischen Volkes duldete keine so harte Fesse: sie stellt das Jenseits als ein Schattenreich dar. In der Schöpfung einer solchen Unterwelt haben die Griechen auf ganz eigentümliche Weise die Notwendigkeit anerkannt, sich zu bescheiden und über das Schicksal der Seelen nach dem Tod nichts Bestimmtes zu wissen. So sehr strebte ihr Geist danach, alles was ihn bewegte und erregte in einer sichtbaren und greifbaren Weise zu verkörpern, daß sogar das negative Resultat, zu dem ein feiner moralischer Instinkt sie hier geführt hatte, die Unmöglichkeit sich über die Fortexistenz nach dem Tod deutliche Vorstellungen zu machen, ja, die Trauer über das Ausbleiben von Nachrichten aus jener Welt, - daß sogar dieser Verzicht auf Erkenntnis, sage ich, sich zu einem phantastischen Bild abrundete, welches aus der Welt des Lichts und der Farben hergnommen war. Der Schatten wird zu einem Symbol der Unmacht, etwas Bestimmtes zu lehren. So wesenlos blaß, zerfließend wie der Schatten ist im Vergleich zum Körper, der ihn wirft; so geringfügig, leider! und unbestimmt ist das, was wir über die Zukunft unserer Seele wissen ... ach ja! nicht wissen, sondern nur ahnen und vermuten; - im Vergleich zu einem kräftig pulsierenden Leben, dessen wir uns jetzt. Das ist, wie mir scheint, der Sinn des griechischen Orkus [Beherrscher der Unterwelt - wp].

VI. In dem umsichtig und symmetrisch geordneten Bau des altiranischen (persischen) Religionssystem des Zoroastrismus herrscht im Ganzen die rationale Vergeltungsmaxime stärker als in irgendeine anderen Glauben: Damit die Seele des Menschen nach dem Tod in den Himmel gelangt, ist es nötig, daß sie im Leben mehr gute als böse Taten vollbracht hat. Am vierten Tag nach dem Tod - belehren uns der Avesta und Minokhired, - bei Anbruch der Morgenröte begibt sich die Seele zum Gericht. Drei Götter, Mithra, Craosha und Rashnu fungieren als Totenrichter und legen die Taten der Seele, gute wie böse, auf eine große Waage. Je nachdem nun die guten Werke oder die Sünden schwerer wiegen, wird die Seele entweder von einem schönen Mädchen, das aus ihren guten Taten entstanden ist, über die Brücke Cinvat (die Milchstraße) durch drei Himmel zu Ahura Mazda geleitet; oder sie wird in die Hölle gestürzt. Bis auf weiteres. Denn beim jüngsten Gericht, bei der Auferstehung der Toten werden auch die in der Hölle befindlichen Seelen nach nochmaliger Läuterung von der Verdammnis erlöst.

Gleichwohl würde man den Geist dieser tiefsinnigen Religion verkennen, wenn man glauben würde, daß in ihr nur das jus strictum, die unbarmherzige Gerechtigkeit zur Geltung käme.

Außer den Göttern der Lichts und der Finsternis werden bei den Iranern noch außerweltliche Gottheiten erwähnt: Zrvan akarana, die unendliche Zeit und Thwasha, der unendliche Raum (nebst seinen Unterabteiltungen). Das waren nicht etwa Attribute anderer Götter, und auch nicht bloß die Repräsentanten einer Zeit- und Raumanschauung, die allem Dasein vorausgehen müssen und daher die Voraussetzung jeder Schöpfung bilden, sondern sie waren wirkliche Schicksalsgötter, welche im religiösen Leben der Iraner eine ähnliche Rolle spielten, wie das Fatum bei den Griechen und Römern. Ihr Name wirt in den Religionsquellen mit dem Wort "bakht", d. h. "Schicksal" übersetzt; und FIRDAUSI, der im Schahname die alte Religion erwähnt, charakterisiert diese beiden Mächte als unentrinnbar, unerbittlich und zugleich unzuverlässig, da sie grundlos den Niedrigen erhöhen und den Hohen erniedrigen. Am bezeichnendsten für ihr Wesen ist jedoch ein negativer Umstand, der uns auf den ersten Blick befremden und an ihrer Macht zweifeln lassen könnte: nämlich daß bei der Gelegenheit, wo alle Götter sonst aufgezählt werden, bei den Opfereinladungen der heiligen Schriften, diese Götter nicht erwähnt werden. Aber sie sind ja das Schicksal, dem sich mit Gebeten und Opfern nichts abzwingen läßt, weil es sich um die Bitten der Menschen schlechterdings nicht kümmert. Wozu soll man sie also einladen?

Noch ein Umstand verdient hier betont zu werden. Falls beim Totengericht die bösen Taten einer Seele auch schwerer wiegen als die guten, so braucht sie nicht immer verloren zu sein: es kann ihr aus einem Vorrat überzähliger, von anderen Menschen vollbrachter guter Taten etwas zugelegt werden; so daß sie doch noch die Seligkeit gewinnt. Etwas ähnliches soll in der indischen Literatur erwähnt werden, aber nur im Catapatha-brahmana, und nur einmal; es war also wohl später entlehnt und gehörte nicht zum eigentlichen brahmanischen Glauben (vgl. ALBRECHT WEBER, Indische Streifen I, Seite 20). Dagegen gab es im Iran sogar einen besonderen Gott als Repräsentanten dieser Schatzkammer aufgehäufter guter Taten, den Gott Micvana. Hätten nun die Überlebenden die Möglichkeit gehabt, diesen Gott durch Gebete oder Opfer zu bestimmen, etwas von seinem Vorrat herauszugeben und einem Verstorbenen zuzulegen, so würde unser Beispiel nicht passen; dann gehörten eben die Gebete und Opfer mit zu den guten Taten, durch welche die Seligkeit des Verstorbenen erkauft wäre. So steht es aber nicht: Micvana ist selbst ein Schicksalsgott, zu dem nicht gebetet wird, und seine Wirksamkeit entzog sich daher gänzlich der menschlichen Berechnung und Beeinflussung. Noch heute wie in uralten Zeiten wird nach dem Tod eines Parsi [Perser in Indien - wp] zu den Göttern Craosha, Rashnu und Arstat, aber nicht zu Micvana gebetet; und die Eingriffe des Schicksals bleiben blind; der eine erntet das Überschüssige von dem was der andere gesät hat.

So äußert sich im religiösen Bewußtsein der Iraner das Bedürfnis nach einem irrationalen Element der Moral, welches die Härte des Vergeltungsprinzips mildert.

Daß selbst die theologische Literatur nicht umhin konnte diesen Glauben zu erwähnen, bezeugt uns, wie stark und allgemein er im Volk gewesen sein muß; denn im Interesse der Priester - der privilegierten Kartellträger zwischen der frevelnden Menschheit und der beleidigten Gottheit, lag es gewiß nicht, solche Lehren zu verbreiten. Freilich haben auch die Schicksalsgötter die bedeutendste Rolle in den weitverbreiteten Sekten des Parsismus und nicht in der orthodoxen Religion gespielt.

VII. Das Christentum geriet bei der konsequenten Ausbildung seiner Lehren, oder vielmehr bei der Selbstbesinnung auf die Bedeutung dessen, was im Neuen Testament niedergelegt ist, wiederum an die Klippe, alle Sittlichkeit in Vergeltungsmaximen aufzulösen; also gerade in das zu verfallen, was durch die Begründung des Christentums vermieden werden sollte. Zwischen Sündern und Gerechten wird immer unterschieden; die Schafe sollen von den Böcken getrennt werden. Nur wenn der Sünder am Ende seinen schlimmen Lohn empfängt und das Wohlverhalten des gottgefälligen Mannes belohnt wird, kann es Gerechtigkeit geben. Eine Vergeltung wird im Christentum nicht generell verneint; sie ist einleuchtend und verständlich; sie bildet das rationale Element christlicher Ethik und entspricht in einer veredelten Metamorphose der untertänigen Geschäftsbeziehung, in welcher Inder, Perser, Griechen und Römer zu ihren Göttern standen; ebenso wie sie andererseits mit der obenerwähnten von der Philosophie vorsichtig supponierten Weltordnung korrespondiert. Man hat das etwas euphemistisch [doppelt gemoppelt - wp] so ausgedrückt, daß an jedes Gebot eine Verheißung geknüpft ist.

Übrigens haben wir schon darauf aufmerksam gemacht, daß es nicht ganz richtig ist, wenn wir das Vertrauen auf jenseitigen Lohn und Strafe völlig der selbstsüchtigen Wahrung unserer Interessen in irdischen Verhältnissen gleichsetzen. Der Unterschied besteht darin, daß ein Mensch, dessen Blick über die Enge des irdischen Horizonts hinausreicht, ein Mensch, in welchem der Glaube an ein Leben nach dem Tod so lebendig ist, daß er als praktisches Regulativ seine Handlungsweise beeinflußt, immer schon ein gewisses Maß an Idealismus und Religiosität besitzen muß, sonst wäre ihm mit Verheißungen über jene Welt in praktischen Fragen nicht beizukommen.

Ein volles Genügen an dieser Lehre von Lohn und Strafe konnte das Christentum jedoch nicht finden, so gerecht sie auch ohne Zweifel war. Wenn jemals die ganze christliche Sittenlehre restlos in dieser Vergeltungstheorie aufgegangen wäre, so hätte sich behaupten lassen, daß der einzelne Mensch, - ob christlich, ob unchristlich, ob religiös, ob irreligiös, - welcher in selbstvergessener Hingabe handelt, ohne im Gefühl oder Bewußtsein durch die entfernteste Rücksich auf Lohn und Ausgleich geleitet zu werden, - höher und dasteht als die Religion selbst von ihm verlangt, daß er also in seiner Person das Ideal religiöser Ethik übertrifft; welches für das Bewußtsein eben immer nur das Ideal eines Spekulanten bliebe.

Zur Ergänzung dieses Mangels und als ein Gegengewicht gegen die bloße Gerechtigkeit hat das Christentum zwei Begriffe entwickelt, die, so grundverschieden sie auch prima facie [auf den ersten Blick - wp] scheinen mögen, doch durchaus zusammengehören. Der eine ist der Begriff der "Erbsünde", das "non posse non peccare" des heiligen AUGUSTINUS von Hippo, zu dessen Ursprung die ersten Kapitel der Genesis eine Art historischen Kommentar liefern: ein Begriff, der in seiner psychischen Wirkung dem obenerwähnten Ergebnis unbefangener Selbstbeobachtung entspricht: Daß nämlich das Gewissen des Menschen auch von den Untaten gepeinigt wird, die er ohne Überlegung, ja sogar ganz unbewußt begangen hat. Nun definieren mehrere Kirchenväter die Erbsünde so, daß in der Person Adams die Personen aller späteren Menschen noch mit eingeschlossen gewesen sind; also in dem Adam sündigte, auch schon wir und alle übrigen Menschen mitgesündigt haben. Die Ansicht ist unwiderlegbar: Da ber jetzt doch die Personen der anderen Menschen von der anderen Person Adams getrennt existieren, so muß man sich fragen, was damit die Kirchenväter eigentlich anderes vorausgesetzt haben, als eine Art Seelenwanderung.

Allein der Christ müßte schier verzweifeln, wenn es nichts weiter als Gerechtigkeit und Erbsünde gäbe und er nicht noch der "Gnade" teilhaftig wäre. Dies ist ein Begrif von eminentestem sittlichem Wert; denn er hat das Verdienst, das ganze Vergeltungssystem zu stören und in Frage zu stellen.

Die "Gnade" ist unergründlich, unerforschlich und wirkt Wunder. Wenn wir wieder Kinder werden und mit kindlichem Gemüt, nicht durch weitausgreifende Rücksichten beeinflußt, gewissermaßen aus einem unbewußten Trieb heraus das Gute tun, dann hat die "Gnade" dieses Wunder im Menschen zustande gebracht. Ohne sie wird wohl niemand selig; aber dieser mächtige Eingriff der Gnade entzieht sich einer solchen Berechnung, wie man sie über Verdienst und Schuld anstellen möchte. Darum bleibt sie auch immer ein geheimnisvolles Gut, das sich nicht wiederum nach einer bestimmten Regel erwerben läßt; und sie bildet das irrationale, unerklärliche Element im sittlichen Leben des Christen. - Also ebenso wie der große Königsberger Philosophie die Unmöglichkeit bekannt, die Verbindlichkeit des kategorischen Imperativs zu beweisen, ja auch den Versuch dazu ablehnte; ebenso steht für den Menschen das Rätsel der Gnade über aller menschlichen Wißbegier als das verborgene Motiv der in einem höheren Sinn sittlichen Handlungen.

Die Religionen des klassischen Altertums, der ältere Brahmanismus und Parsismus enthalten nichts, was der christlichen Gnade genau entspricht; nur der Buddhismus besitzt die Kraft, mit welcher der BUDDHA "das Rad des Gesetzes in Bewegung bringt" und durch eine Verbreitung der guten Lehre vielen zum Heil verhilft, eine schwache Morgenröte des Gnadenbegriffs. Sie ist schwach, denn jeder BUDDHA wirkt ja nicht, indem er für die Menschen den Opfertod erleidet oder sonst auf irgendeine wunderbare mystische Weise: er weckt das Verständnis für seine Lehre einzig durch eine vernünftige Unterweisung. Daß diese heilsame Lehre zu hören aber jedenfalls ein unverdientes Glück, also ein Gnadengeschenk ist, zeigt die Unterscheidung zwischen Paccekabuddhas, die zwar auch die Erlösung erlangen, jedoch nur für sich selbst, und den Weltbuddhas, die sie auch anderen vermitteln. - Die spätere brahmanische Spekulation hat den Begriff der "Gnade" (anuragha) in metaphysische, doch nicht in moralische Erörterungen eingeführt.

VIII. Indem das Christentum bei der Entwicklung ethischer Gedanken sicherer und bestimmter verfuhr, als das ihm vorausgehende griechische und orientalische Altertum, trennte es den Grundbegriff - die Richtung nach oben und unten, die beim fatum und im "karma" noch zur Einheit verschmolzen sind, in ihre Bestandteile oder Kräfte, deren eine den Menschen auf wunderbare Weise zum Heil führt, die andere ihm durch eine Schuld, die es ihm ohne sein Wissen auflädt, Verderben bereitet. Im Fatum ist beides noch in so dunkler Mischung vorhanden, daß niemand sagen darf, welche Macht überwiegt. Dasselbe gilt von den Eingriffen des Schicksals bei den Iranern. Die "Taten" führen den Hindu von Existenz zu Existenz, bald aufwärts, bald abwärts; allein der Zug nach oben, zur Erlösung, überwiegt. - Obschon es nun in der christlichen Lehre heißt, daß viele berufen, aber wenige auserwählt sind, so repräsentiert doch die Gnade entschieden die stärkere Macht; denn sie geht ja von einem alleinigen Gott aus, dem Schöpfer des Himmels und der Erde; und wie sollte der nicht den Satan, den Vater der Erbsünde überwinden? Die Überfülle göttlicher Gnade bringt es sogar dahin, daß selbst menschliches Verdienst einen Abglanz davon an sich tragen kann, wie uns die opera super erogationis, die überverdienstlichen Werke der Heiligen zeigen. Denn "Gnade erweisen" heißt doch vom Standpunkt des Subjekts aus mehr Gutes tun, als man zu tun verpflichtet war.

Man muß sich nicht wundern, wenn Gnostiker, Scholastiker und spätere christliche Philosophen, d. h. Denker, welche sich bemüht haben, der Kirchenlehre eine wissenschaftliche Grundlage zu geben, fast immer den Primat der Gnade gegenüber der Gerechtigkeit aufrecht erhalten und behaupten: die Erlösung und ewige Seligkeit kann nicht durch Tugend erworben werden, d. h. durch Taten, welche der Mensch als freies Wesen mit Bewußtsein ausführt, sondern nur durch eine geheimnisvolle Einwirkung der göttlichen Gnade. Sicherlich liegt dieser Überzeugung der Gedanke zugrunde: vollkommen selbstlose Handlungen seien etwas so Herrliches und Unbegreifliches (eben irrationales), daß der Mensch, welcher sie vollbringt, eine Scheu empfindet, sie der eigenen Kraft zuzuschreiben. Die Gnade hat sie in ihm und durch ihn gewirkt.

Noch viel weniger darf es uns wundern, daß in Indien, wo sich Religion und Philosophie doch im Ganzen viel besser vertrugen, als im christlichen Europa, - da der Brahmanismus, Buddhismus und die Philosophie dieselbe Idee verfechten: nämlich den Gedanken, daß das Heil der Erlösung (nirvana, vielleicht unio mystica mit Gott), nicht durch Tugend erreichbar ist. Denn die Tugend ist mein gegenwärtiges Verdienst; wo bliebe aber dann die blinde Nachwirkung der früheren Existenzen, deren ich mir nicht bewußt bin? In diesem Sinne und wohl auch als Hinweis auf die Überflüssigkeit aller Moral für einen außerweltlichen Standpunkt, nicht aber als sittliche Narkose eines schlaffen Mystizismus ist es aufzufassen, wenn es im Kommentar des Cankara zur Vedanta-Philosophie des BADARAYANA heißt:
    "Für den Wissenden gibt es keine Pflicht ... Durch das Zulegen von Tugenden kommt keine Erlösung zustande: denn sie besteht im Einssein mit dem keiner Zulegung von Vollkommenheit fähigen Brahman; und ebensowenig in der Ablegung von Fehlern: denn das Brahman, mit dem Eins zu sein, das ist, was Erlösung ausmacht, ist ewig rein." (vgl. Paul Deussen, Das System der Vedanta, Leipzig 1893, Seite 435).
In einem ganz ähnlichen Sinn strebt die mystische Sekte der Sufis und ihr großer Dichter DSHELALLEDDIN RUMI nach einer Vertiefung der sonst so seichten mohammedanischen Dogmatik.

So nehmen dann in mehr als einer Hinsicht die "Gnade" und die "Erbsünde" im Christentum eine analoge Stellung ein, wie die Metempsychose [Seelenwanderung - wp] im Brahmanismus und Buddhismus, das Fatum bei den klassischen Völkern, die Schicksalsgottheiten der Iraner und die Annahme absolut selbstloser Zwecke und andererseits die Annahme einer unbewußten Verschuldung im unbefangenen Denken und in verschiedenen philosophischen Systemen.

IX. Das Ergebnis unserer Untersuchung rekapitulierend erinnern wir noch einmal an die Frage, bei welcher sich uns diese Beobachtungen aus dem sittlichen Leben aufdrängen. Es ist dieselbe Frage, die in des Lebens labyrinthisch irrem Lauf immer wieder dem Denker gegenübertritt: die Frage nach dem Grund für die Verbindlichkeit moralischer Vorschriften; die Frage, weshalb ich denn den Geboten der Moral folgen soll?

Alle diejenigen, welche sich bei der Beantwortung dieser Frage, bewußt oder unbewußt, direkt oder indirekt, offen oder verschleiert auf ein Entgelt, eine Renumeration [Rückzahlung - wp] berufen, lehren eine Sittlichkeit, die eigentlich nicht mehr sittlich ist. Die andern hingegen, die Intuitionisten, die von keiner Kompensation etwas wissen wollen, geben in Wahrheit gar keine Antwort auf die Frage. Sie werden, - wie ich früher einmal zu zeigen mich bemüht habe, - ein materielles Prinzip der Ethik überhaupt nie aufstellen können.

Nun hieße es wohl an das Institut der Eideshelfer erinnern, wenn ich mich bei der Diskussion philosophischer Fragen auf diesen Parallelismus mit den wichtigsten Religionen, wie auf einen Beweis berufen wollte. Darauf war es wirklich nicht abgesehen. Die Religionen liefern hier einen Teil des Beobachtungsmaterials; ohne daß deshalb auch nur die Worte "Schicksal", "Seelenwanderung" und "Gnade" Synonyme werden sollen. Sind es doch die verschiedenfarbigen Blüten, die alle aus einem Samenkorn gewachsen sind, aus dem Verlangen die Sittlichkeit zu einer idealen Höhe zu erheben, und sie der Vergröberung zu entziehen, die ihr immer wieder von Seiten der Selbstsuch droht?

Es ringt und strebt der homo religiosus dem gleichen Ziel zu, wie der Philosoph:
    "In allen Zonen liegt die Menschheit auf den Knieen
    Vor einem Göttlichen, das sie empor soll ziehen;
    Ein Kind mit Lächeln fleht, ein anderes mit Geschrei,
    Daß zu der Mutter Arm es aufgenommen sei.
Deutlich erkennbar ist diese Absicht bei SCHOPENHAUER, wenn er "das Mitleid" die einzige Quelle der Moral nennt; und das Mitleid wiederum metaphysisch so zu begreifen sucht, daß jeder - obgleich unbewußt - im andern sich selbst wiedersieht; hiermit also das "Inbegriffensein" aller Wesen in die Alleinheit erkennt; so daß also, wer dem andern weh tut, sich selber Schaden zufügt. Ein Teil eines untrennbaren Ganzen wird aber nicht einem anderen Teil desselben Ganzen Schmerz verursachen wollen; wie wenn die Hand den Fuß schlägt. Ähnlich heißt es im Yoga der Inder in der Bhagavadgita:
    "Denn welcher allerorts den höchsten Gott gefunden
    Der Mann wird durch sich selbst sich selber nicht verwunden."
Es erhellt sich daraus, daß SCHOPENHAUER überhaupt nur das zweite, irrationale sittliche Element als wahrhaft sittlich gelten läßt; daß ihm seine metaphysische Deutung jedoch nur gelingt, indem er es wiederum auf das erstere, rationale, im Grunde genommen eogistische Element zurückführt.

Viele werden sich noch an der Frage versuchen, die den geistvollsten Denker veranlaßt hat, sich im Zirkel zu bewegen.

Wer möchte nicht in das Innere der Dinge dringen! Hier wird man jedoch nicht tiefer gehen können und vor der Tatsache Halt machen müssen, daß am menschlichen Wesen nur der Egoismus vollkommen begreiflich erscheint, und wird folglich auch nicht von uns eine Erklärung des irrationalen Elements erwarten; denn wenn sie uns möglich wäre, so hätten wir es nicht irrational genannt.

Am schönsten und reinsten hat dieses Streben nach einer Idealisierung der Ethik wohl KANT ausgedrückt, indem er fordert, das wahrhaft Sittliche solle ohne Neigung geschehen. Denn er erkennt in der die Handlung begleitenden oder veranlassenden Neigung eine pränumerando [Vorauszahlung - wp] dafür empfangene Zahlung, die uns eben ebensowenig, wie die postnumerando [Nachzahlung - wp] im Jenseits zu erwartende Renumeration leiten darf. Hiermit hat auch KANT das eine sittliche Element vom andern lösen, und als die alleinnige Grundlage der Moral zur Geltung bringen wollen, muß aber freilich gestehen, daß eine in diesem Sinn sittliche Haltung vielleicht noch nie in ihrer vollen Reinheit von einem Menschen vollzogen worden ist. Dem entgegen sieht sein größter Schüler, SCHILLER, die höchste Blüte der Sittlichkeit darin, daß der Mensch aus eigener Neigung sittlich handelt. Er bemüht sich also die beiden tatsächlich so oft auseinander tretenden Elemente total zur Einheit zu verschmelzen; und nach der Regel: "qui bene distinguit, bene docet" [Wer gut unterscheidet, lehrt gut. - wp], liefert er damit nicht gerade ein für die Erkenntnis der Sache fruchtbares Prinzip. Ist es nicht ein Glück, daß wir die Kraft besitzen, vom Wechsel der Stimmungen und Neigungen unabhängig zu sein und sogar "widerwillig" moralischen Gesetzen zu folgen!

Wer nach all dem mit uns die Überzeugung gewonnen hat, daß es hier darauf ankommt, den psychologischen und historischen Tatbestand zu registrieren und disparate Dinge lieber ein für allemal zu trennen, als, dem Zug des Herzens folgend, sie gewaltsam zu vereinigen; - wer immer wieder die Reihe der Philosophen vom indischen und griechischen Altertum bis zu WUNDT, NIETZSCHE und den englischen Utilitariern durchgehend, eingesehen hat, wie aussichtslos und ohnmächtig die Versuche sind, die Sittlichkeit aus einer einzigen Quelle abzuleiten, der wird sich beruhigen und es aufgeben durch Unterdrückung, Totschweigen oder Widerlegen des einen Elements, dem andern allein zur Geltung zu verhelfen; - er wird es aufgeben, in geschäftiger Arbeit am Schreibtisch beide Elemente künstlich zu amalgamieren, oder durch die laute Behaptung ihrer Wesenseinheit, die innere Stimme zu übertönen, die ihm, sobald er vom Schreibtisch aufsteht, doch immer wieder ihre Zweiheit zu Bewußtsein bringt; - er wird es als einen Gewinn ansehen, das, was nun doch einmal verschieden ist, auch geflissentlich getrennt hinzustellen und, auf eine sogenannt einheitliche Anschauung verzichtend, im sittlichen Leben eine Antinomie anzuerkennen. Oder leben nicht etwa alle beide Elemente in uns als nie geschlichteter Konflikt der Stimmungen, und außer uns als eine Menge einander bekämpfender - hier mystischer, dort rationalistischer - Lehrmeinungen und Bekenntnisse? Eine gewisse schwärmerische Anlage der Denker hat das Wort "Dualismus" in einen schlechten Ruf gebracht; aber so wahr es besser ist zwei Dinge deutlich als eines verschwommen zu sehen, wird man besser tun, das Wort auf diesem Gebiet wie auf manch anderem stehen zu lassen, und braucht trotz der Zweiheit weder im Denken noch im praktischen Leben zu verzweifeln.
LITERATUR - Gregor von Glasenapp, Duplizität im Ursprung der Moral, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 112, Leipzig 1898