ra-2ra-2H. LammaschS. Maimonvon KirchmannG. RadbruchM. E. Mayer    
 
LEON PETRAZYCKI
Über die Motive des Handelns
[und über das Wesen der Moral und des Rechts]

"Eine gewiße Stimme wendet sich an uns, spricht als Gewissen zu uns. Diese zu unserem Ich sprechende Stimme stellt sich als von einem höheren Wesen ausgehend dar; die religiöse Psyche der Völker schreibt diese Stimme den Göttern zu, die monotheistischen Religionen Gott, die metaphysische Philosophie schafft für sie metaphysische Personifikationen (die Natur, die Vernunft, der Wille, als metaphysische Wesen, der objektive Geist usw.); die positivistische und skeptische Psyche derjenigen, die jeglichem Mystizismus fernbleiben wollen, schafft doch mystische Personifikationen: der allgemeine Wille als etwas, was über eine höhere Autorität verfügt und über dem Individuum und dem individuellen Willen steht, betrachtet wird."

"Für das Dasein von Pflichten ist es nicht notwendig, daß das Subjekt der Pflicht Vernunft und Wille hat, daß es diese Pflichten kennt oder anerkennt; es ist auch nicht erforderlich, daß dem Subjekt der Pflicht in der Außenwelt irgendein reales lebendiges Wesen entspricht. Denn die Pflichten sind nichts anderes als ideelle Projektionen, die in unserer Psyche entstehen (d. h. in der Psyche dessen, der irgendeinem Menschen, einem Staat, einem Geist, dem Fiskus usw. diese oder jene Pflichten zuschreibt); solchen Projektionen entsprechen Emotionen und Vorstellungen, nicht aber irgendwelche Dinge oder Erscheinungen irgendwo in der Außenwelt."


I. Über die Motive des tierischen
und menschlichen Handelns

Die grundbegriffliche Basis der neueren Psychologie (seit dem 18. Jahrhundert) besteht in der Unterscheidung von drei Grundformen der inneren Erlebnisse: Erkennen (Empfindungen, Vorstellungen), Fühlen (Lust- und Unlusterlebnisse) und Wollen. (1)

Dem entspricht das einfache Schema des psychischen Lebens, das zugleich die Grundfunktion aller drei Elemente in der Ökonomie des Lebens bestimmt:
    "Das Subjekt, Änderungen im Zustand seiner Sensorien bemerkend, infolgedessen entweder Lust oder Unlust fühlend, infolgedessen Änderungen seines Zustandes durch Bewegung bewirkend, hat Sinnesempfindungen, hat Gefühle und macht Willensanstrengungen." (Jodl) 
Das Problem der Triebfedern des Willens wird danach dahin gelöst, daß "Leid und Freude" (Unlust und Lust) den Willen bestimmen". Im allgemeinen entsprechen der obigen Klassifikation die hedonistischen Theorien der Motivation des Handelns.

Da sich danach das Verhalten des Subjekts nicht etwa nach fremdem, sondern nach eigenem "Leid und Freud" richtet, so erscheint unser Handeln und unsere Natur im Licht dieser Auffassung als grundsätzlich egoistisch, was auch manche Forscher konsequent anerkennen und ausdrücklich betonen (vgl. SIGWART, Vorfragen der Ethik, Seite 6; ZIEGLER, Das Gefühl, dritte Auflage, Seite 171), während andere für diejenigen Fälle, wo wir anderen Wohltaten erweisen, weil dieselben für uns einen positiven (d. h. Lust-) Wert haben, bzw. das entgegengesetzte Verhalten uns unangenehm erschiene, den Ausdruck "altruistisch" beibehalten (was übrigens keinen Unterschied in der Sache, sondern nur im Ausdruck bedeutet).

Wir glauben nun Gründe zu der Annahme zu haben, daß alle angeführten Lehren auf Mißverständnissen beruhen.

Der Grundfehler, das  proton pseudos [erster Irrtum, erste Lüge - wp], steckt in der hergebrachten Einteilung der psychischen Elemente. Sei beruht teils auf einer mißverständlichen Deutung gewisser ansich bekannter psychischer Vorgänge, teils auf der Unkenntnis unzähliger anderer Vorgänge und enthält einen sehr wesentlichen und weitgehenden Verstoß gegen die Grundregel der Division [Einteilung - wp], nach der diese adäquat sein soll  (ne sit latior aut angustior divisio [Es sollen weder mehr noch weniger Einteilungsglieder geben, als im Einteilungsganzen vorhanden sind - wp]); sie ist nämlich sie ist nämlich eine  angustior divisio,  d. h. sie ergreift nicht alle psychischen Vorgänge, sondern nur einen Teil derselben.

Die Theorie des Hedonismus und Egoismus ist eine natürliche Folge des betreffenden Fehlers und fällt bei gehöriger Korrektur der psychologischen Grunddivision von selbst zusammen.

Es läßt sich nämlich nachweisen, daß es psychische Vorgänge gibt, die unter keine der drei hergebrachten Rubriken passen und einen besonderen Platz in der psychologischen Grundeinteilung fordern.

Denn während das Empfinden und das Fühlen (in einem technisch-psychologischen Sinn) passive Zustände sind, sich der inneren Erfahrung als eine Erleiden, ein "pati" [Leiden - wp], darstellen, das Wollen, die Willensakte dagegen etwas ihrer Natur nach Aktives bilden, gibt es noch solche einheitlichen psychischen Erlebnisse, die einerseits in einem passiven Affiziertwerden, in einem  pati,  von einer anderen Seite aus betrachtet jedoch in einem aktiven Streben, in einem  agere, movere  bestehen und etwa als motorische, impulsive Erregungen gekennzeichnet werden können.

So eben (als doppelseitig, passiv-aktiv) muß z. B. die Natur der ansich sehr bekannten Dinge, von denen es heißt, daß sie "das Weltgetriebe" bewegen ("der Hunger und die Liebe") gekennzeichnet werden.

Zum Wesen der psychischen Erscheinung, die wir "Hunger" nennen, gehört einerseits ein eigenartiges Erleiden, ein  pati,  andererseits aber und zu gleicher Zeit ein Streben, ein  appetitus ("Appetit"). Dabei ist zu beachten und zu betonen, daß das eigenartige  pati  des Hungers nicht mit Unlustgefühlen zu vermengen ist. Die beim Hunger (bei gewissen Voraussetzungen) vorkommenden Unlustgefühlt sind Begleiterscheinungen, die zum psychologischen Tatbestand des Hungers als solchem überhaupt nicht gehören (und ihre eigenen Ursachen pathologischer Natur haben). Der normale, mäßige und gesunde Hunger wird häufiger durch Gefühle der Lust, als durch diejenigen der Unlust begleitet (vgl. die Höflichkeitsformel "Guten Appetit!"). Die gegenwärtig herrschende Theorie des Hungers nach der er ein Gefühl, und zwar ein Unlustgefühl sein soll, enthält also zwei wesentliche Mißverständnisse:
    1. sie trennt den Appetit vom Hunger, d. h. ignoriert seine aktive Seite;

    2. sie vermengt das eigenartige, von Gefühlen in einem technisch-wissenschaftlichen Sinn grundverschiedene, zum Wesen des Hungers gehörende  pati  mit einer für den Hunger unwesentlichen Begleiterscheinung.
Auf analogen doppelten Mißverständnissen beruhen die herkömmlichen psychologischen Theorien mancher anderen psychischen Erscheinungen, unter anderen auch des Durstes. Auch zum Wesen des Durstes gehört nicht die Unlust, wie es hergebrachtermaßen gelehrt wird (obgleich während des Durstes, oder genauer während gewisser Stadien desselben, Unlustgefühle pathologischen Ursprungs ebenso wie beim Hunger als Begleiterscheinungen vorkommen können), sondern wiederum ein spezifisches  pati  und zugleich ein  ad-petitus,  ein Streben nach ... (vgl. den Ausdruck "dürsten nach etwas"). Ebenso beschaffen ist die "Liebe", die geschlechtliche motorische Erregung.

Wenn wir "genug" gegessen oder getrunken haben, dann schwinden die motorischen, zum Essen oder Trinken anspornenden Erregungen, und wenn wir trotzdem, etwa des psychologischen Experiments wegen, weiter, also schon ohne "Geheiß" seitens des Hunger-Appetits, oder des Durstes, zu essen oder zu trinken fortfahren, so würden wir weitere Beispiele von psychischen Akten der uns hier interessierenden passiv-aktiven Art kennen lernen. Wir werden nämlich eigenartige impulsive Erregungen erleben (und zwar beim Fortsetzen des Essens spezifisch andere als beim Fortsetzen des Trinkens), die im Gegensatz zu den appetitiven, appulsiven [anziehenden - wp], positiv anspornenden Erregungen des Hungers und Durstes, als repulsive, abstoßende, abhaltende Erregungen bezeichnet werden können. Analoge repulsive Erregungen treten in vielen anderen Fällen an die Stelle von appulsiven, wenn diese "befriedigt" (die diesbezüglichen Erregungen durch die Ruhe, den "Frieden" ersetzt) werden, und das betreffende Handeln doch weiter fortgesetzt wird. Wenn ein Raucher versucht, längere Zeit hindurch nicht zu rauchen, wird er eigenartige appetitive motorische Erregungen kennenlernen; wenn jemand aber "zuviel" (natürlich eine sehr relative und subjektive Größe) zu rauchen versucht, wird er wiederum eigenartie repulsive motorische Erregungen erleben. Verschiedenen spezifischen "Appetiten" entsprechen im Fall, daß zuviel des Guten getan wird, als Gegenstücke spezifische für das Maßhalten wirkende repulsive Erregungen.

Dem Essen und Trinken (und vielen anderen Handlungen) entsprechen übrigens nicht nur je zwei Arten spezifischer motorischer Irritationen. So gibt es neben denjenigen repulsiven Erregungen, die gegen das Zuvielessen protestieren, noch andere, gleichfalls repulsive motorische Erregungen, die auch bei einem "leeren Magen" gegen das Essen protestieren, wenn es sich nicht um "geeignete" Gegenstände handelt. Manche darunter sind so heftig und wirken mit solcher Wucht, daß auch ein relativ sehr intensiver Hunger-Appetit daneben als eine verhältnismäßig schwache motorische Erregung erscheint, und es schwer fallen würde, ihnen nicht zu gehorchen; man denke z. B. an den Versuch, Insekten, z. B. Fliegen und Würmer, in dem Mund zu nehmen, zu kauen und zu schlucken. Der Wille dies zu tun, würde wahrscheinlich vor der betreffenden motorischen Erregung kapitulieren, bevor man noch die Mischung aus Würmern und Fliegen an den Mund gebracht hätte. Es gibt aber Dinge, die zu essen (oder zu trinken) noch viel schwerer wäre. Schwache motorische Irritationen derselben Art liegen vor, wenn es z. B. über eine Speise heißt, daß sie "unappetitlich" aussieht, riecht, serviert wird und dgl. Vergleich man die motorischen Irritationen, die durch verschiedene gewöhnlich nicht zur Nahrung verwendete Stoffe oder durch verschiedene ungewöhnliche Eigenschaften der Speisen hervorgerufen werden, so kann man sich überzeugen, daß es nicht nur unzählige Intensitätsstufen, sondern auch viele qualitativ verschiedene Unterarten derselben gibt. Manche von ihnen weisen z. B. einen eigenartigen, in anderen Fällen nicht vorhandenen Mißtrauenscharakter auf. Wenn z. B. der uns vorgesetzte Braten nach Kölnischem Wasser riecht oder sonst einen Wohlgeruch anstatt oder neben dem Bratengeruch verbreitet, oder sich durch eine, wenn auch hübsche, Kombination von Farben (z. B. von Spektralfarben) von normalem Braten unterscheidet, so werden wir einer solchen Speise gegenüber keine appetitive, sondern vielmehr eine repulsive Irritation erleben; diese motorische Erregung wird aber eine ganz andere Qualität haben, als z. B. eine durch den Anblick einer Küchenschabe in der Suppe oder eines schmutzigen Tellers verursachte repulsive Erregung.

Es gibt überhaupt sehr zahlreiche und mannigfaltige Arten, Unterarten usw. von psychischen Vorgängen der uns interessierenden doppelseitigen passiv-aktiven Natur. Unser Tag beginnt mit dem Aufstehen; dem entspricht eine eigenartige (gewöhnlich unmerklich wirkende, mitunter, im Fall des Ungehorsams, sehr intensive) motorische Erregung, die uns zum Aufstehen anspornt. Unser Tag endet mit dem Schlafengehen; dem entspricht wiederum eine spezifische motorische Irritation, die uns zur Annahme einer zum Schlafen geeigneten Position, zum Schließen der Augen usw., zunächst leicht und kaum merklich und dann mit wachsender Intensität - bis zur absoluten Unwiderstehlichkeit, nötigt. Verschiedenen dazwischen liegenden Handlungen, verschiedenen physiologischen Bedürfnissen und ihrer Befriedigung, verschiedenen Beschäftigungen, Gesprächen mit Hausgenossen und sonstigem Verkehr mit anderen entsprechen verschiedene andere motorische Erregungen sehr mannigfacher Qualität und Intensität.

Alle psychischen Vorgänge, die ebenso wie der Hunger, der Durst usw. die doppelseitige, passiv-aktive Natur aufweisen, motorische Irritationen im obigen Sinne sind, fassen wir zu einer einheitlichen psychologischen Grundklasse zusammen, nennen sie "Impulse" oder "Emotionen" (Emotionen in unserem Sinne sind also scharf und grundsätzlich von Gefühlen in einem technisch-psychologischen Sinn zu unterscheiden) und unterscheiden demgemäß nicht drei, sondern vier Grundformen der inneren Erlebnisse und vier Klassen der psychischen Elemente:
    1. Emotionen oder Impulse (passiv-aktive psychische Vorgänge),

    2. und 3. Empfindungen und Gefühle (einseitig passive Erlebnisse),

    4. Willensvorgänge (einseitig aktive Erlebnisse).
Genauer unterscheiden wir:
    1. Die Emotionen als Grundlage und Grundform des (passiv-aktiven) psychischen Lebens;

    2. die Empfindungen, die Gefühle und den Willen als spätere Differenzierungsprodukte der ursprünglichen Emotionen (die Empfindungen und die Gefühle als differenzierte Abzweigungen der passiven, den Willen - der aktiven, motorischen Seite derselben) und als akzessorische Hilfsmittel der emotionalen Anpassung, die teils das Zustandekommen gehöriger Emotionen regeln, insbesondere als Signale zu gehörigen aktuellen motorischen Erregungen fungieren, teils als Mittel der gehörigen an die Umstände angepaßten Ausführung desjenigen bilden, wozu die betreffenden Emotionen anspornen.
Wenn die bisherigen, von der lückenhaften Klassifikation der psychischen Elemente ausgehenden Versuche, das einheitliche Grund- und Urelement des psychischen Lebens zu bestimmen, wie schon oben erwähnt, gescheitert sind, so ist dies nur natürlich und war  a priori  vorauszusehen, denn alle diese Versuche mußten mit absolut untauglichen Mitteln arbeiten. Das psychische Leben ist doppelseitig, passiv-aktiv (ebenso wie die Struktur des Nervensystems doppelseitig, zentripetal-zentrifugal ist) und kann natürlich weder von einem einseitig passiven, noch von einem einseitig aktiven "Grundelement" hergeleitet werden.

Darin steckt unter anderem auch ein genügender Grund um auch die bisherigen Versuche der idealistischen (spiritualistischen) Philosophie, sowohl die intellektuellen, als auch die Gefühls- und die voluntaristischen System als Versuche mit untauglichen Mitteln zu kennzeichnen. Als eine Vorbedingung und zwar eine  conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] jeder Zurückführung des Weltgeschehens überhaupt (also jedes Geschehens) auf ein einheitliches geistiges Prinzip, auf eine einheitliche geistige Grund- und Urform, ist die vorherige Zurückführung unseres inneren Geschehens auf ein solches Prinzip, auf eine solche Grund- und Urform, zu bezeichnen. Die Mittel, welche die Lösung der letzteren, präjudiziellen [richtungsweisenden - wp] und partiellen Aufgabe zu gewähren nicht vermögen, sind  eo ipso [schlechthin - wp] und zwar  a potiori  [der Hauptsache nach - wp] untaugliche Mittel für die Lösung der ersteren Aufgabe.

Man kann im allgemeinen behaupten, daß jede (theoretische) Philosophie, worunter wir eine einheitliche Theorie des Seins, bzw. Geschehens, also des höchsten, alle speziellen Arten des Geschehens in sich schließenden  genus [Allgemeinbegriff - wp] verstehen, begrifflich die Lösung des Problems nach einer einheitlichen Grund- und Urform des psychischen Geschehens voraussetzt, und wenn wir hypothetisch annehmen, daß eine Philosophie im angegebenen Sinn (also im Sinn der allgemeinen Geschehenstheorie) überhaupt möglich ist und jemals erreicht sein wird, so ist leicht  a priori  vorauszusehen, daß dies nicht auf dem Boden der bisher in der Psychologie herrschenden grundbegrifflichen Kategorien, insbesondere nicht unter dem Zeichen des psychologischen Intellektualismus oder Voluntarismus geschehen kann, sondern nur auf dem Boden eines psychologischen Emotionalismus, Impulsionismus oder wie sonst die psychologische Lehre passender genannt sein mag, die in der passiv-aktiven Natur der Vorgänge, wie Hunger, Durst und dgl., die Grund- und Urform des psychischen Geschehens erblickt.

Nach den hergebrachten und herrschenden Ansichten lassen sich, wie schon oben erwähnt, die Motive der menschlichen Handlungen immer auf Lust oder Unlust (oder auf die Vorstellungen möglicher zukünftiger Genüsse oder Leiden) zurückführen: im Streben nach Genuß, nach Glück, im Vermeiden von Leiden - bestehe das allgemeine Gesetz des menschlichen Handelns (hedonistische Theorie).

Nach unserer Überzeugung sind es  niemals  die angeführten (hedonistischen) Faktoren, die unsere Handlungen lenken; die Triebfedern der letzteren sind in Wirklichkeit Impulse, Emotionen im oben bezeichneten Sinn.

Was die Vorstellungen der Lust, als eventueller Folge unseres Verhaltens anbetrifft, so spielen solche, auch wenn sie im konkreten Fall wirklich vorhanden sind, im Motivationsprozeß überhaupt keine Rolle, insofern sie (wie das oft der Fall ist) in uns keine emotionale Erregung hervorrufen, wenn wir ihnen gegenüber gleichgültig, in einem emotionalen Sinn apathisch bleiben.

Sie können auf uns sogar abstoßend wirken, d. h. sie können motorische Erregungen des repulsiven Typus (Abscheu, Widerwille usw.) hervorrufen und somit auf unser Verhalten gerade entgegengesetzt dem, was nach der hedonistischen Theorie allgemeines Gesetz ist, wirken (sie können indirekt ein anti-hedonistisches Verhalten verursachen). Und nur in den Fällen, wo anziehende, appulsive Emotionen entstehen, die aktiv auf die entsprechende Lust gerichtet sind, ist ein "Streben nach Lust" vorhanden. Aber auch im letzteren Fall sind nicht die Vorstellungen hedonistischer Zwecke als solche, sondern eben die anziehenden, appulsiven Emotionen die Triebfedern des Verhaltens.

Dasselbe läßt sich  mutatis mutandis [unter vergleichbaren Umständen - wp] auch von den Vorstellungen zukünftiger Leiden sagen. wenn diese keine Emotionen hervorrufen, so ist ihre Rolle im Motivationsprozeß gleich Null; durch sie werden (mittelbar) anti-hedonistische Handlungen bedingt, d. h. solche, die unmittelbar Leiden zur Folge haben, wenn sie anziehende (appulsive) Emotionen hervorrufen usw.

Insofern aber die Vorstellungen der zukünftigen Lust im Motivationsprozeß doch mitunter eine indirekte Bedeutung haben, indem sie anziehende oder repulsive Emotionen hervorrufen, und zum Zweck unserer Handlungen werden, besitzen sie durchaus nicht das Monopol, die Rolle solcher Zweckvorstellungen zu spielen. Infolge der entscheidenden Bedeutung der Emotionen im Motivationsprozeß, können alle möglichen Vorstellungen der Folgen unseres Handelns in der Motivation eine ebensolche Rolle spielen und ebenso zu Zweckvorstellungen werden, wie die Vorstellungen hedonistischen Inhalts. Hierher gehören vor allen Dingen verschiedene Nützlichkeits- und Schädlichkeitsvorstellungen (utilitaristische Vorstellungen, die nicht mit hedonistische zu verwechseln sind; sodann gehören hierher verschiedene Vorstellungen rein objektiver Folgen, z. B. verschiedener technischer, wissenschaftlicher Erfolge usw. (ohne die Beimischung von Vorstellungen einer Lust oder eines Nutzens für uns oder andere). Diese Arten von Vorstellungen können auch anziehende oder abstoßende Emotionen hervorrufen, und auf unser Verhalten ganz ebenso, wie die hedonistischen und utilitarischen Vorstellungen, bestimmend wirken.

Auch auch hinsichtlich überhaupt aller Vorstellungen der Folgen unserer Handlungen ist zu bemerken, daß sie das Monopol, anziehende und abstoßende Emotionen hervorzurufen, und dadurch unser Verhalten zu bestimmen, nicht besitzen. Es gibt viele andere Vorstellungen, die ganz ebenso wirken, und außer der teleologischen Motivation (der Motivation mit Zweckvorstellungen hedonistischen, anti-hedonistischen, utilitaristischen, anti-utilitaristischen u. a. Inhalts) existieren noch andere Arten von Motivationen, die aus Vorstellungen und Emotionen bestehen.

Uns interessiert hier hauptsächlich eine der Arten dieser Kombinationen, nämlich diejenige, die in der unmittelbaren Verbindung der Vorstellungen gewisser Handlungen mit den auf sie gerichteten Emotionen besteht.

Die Vorstellungen gewisser Handlungen, z. B. des "Verrats", der "Lüge", des "Betruges", des "Mordes", der "Verleumdung" sind in unserer Psyche [Summe aller geistigen Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale - wp] mit abstoßenden Emotionen assoziiert. Wenn uns z. B. der Vorschlag gemacht würde, an einem Betrug teilzunehmen (z. B. gegen Bezahlung), so würden wir einen ähnlichen seelischen Zustand erleben, als wenn uns angeboten würde, verfaultes Fleisch zu essen, eine Spinee oder eine Schlange in die Hand zu nehmen, usw.; in normalen Fällen würden wir abstoßende Emotionen, abstoßende motorische Erregungen erleben. -

Die Vorstellungen anderer Handlungen und Arten des Verhaltens, z. B. der "Barmherzigkeit", der "Demut", der "Treue", der "Redlichkeit", sind in unserer Psyche mit anziehenden Emotionen assoziiert, gleich denjenigen, die in uns durch den Anblick eines reinen und guten Getränks, einer schmackhaften Speise (bei gleichzeitigem Durst, Hunger) hervorgerufen werden.

Die auf einer solchen unmittelbaren Verbindung von Vorstellungen verschiedener Handlungen oder Arten des Verhaltens und anziehenden und abstoßenden Emotionen ruhende Motivation können wir, im Gegensatz zur Zweckmotivation, teleologischen (hedonistischen, utilitarischen und andersartigen) Motivation als prinzipielle bezeichnen. Die Urteile und Überzeugungen, denen solche Assoziationen von Vorstellungen verschiedener Handlungen und repulsiver oder attraktiver Emotionen zugrunde liegen, nennen wir prinzipielle praktische Urteile und Überzeugungen; ihren Inhalt werden wir prinzipielle Regeln des Handelns (zum Unterschied von opportunistischen, utilitaristischen, hedonistischen, "epikuräischen" und anderen Zweckmäßigkeitsregeln) oder, kürzer: Normen nennen.


II. Über das Wesen der ethischen Motivation,
der ethischen Normen und Pflichten.

Es gibt mehrere Arten prinzipieller Motivation, prinzipieller Urteile und Überzeugungen und Normen des Handelns.

So liegen z. B. den sogenannten Anstandsregeln (regulae decori) unmittelbare Assoziationen der Vorstellungen gewisser Körperbewegungen oder anderer Arten des Verhaltens und Emotionen einer besonderen Art, die wir ästhetische nennen wollen zugrunde. Um den Charakter und die (zuweilen unüberwindliche) Macht dieser Emotionen kennen zu lernen, möge man sich, möglichst lebhaft, vorstellen, daß man im Kreise von Bekannten laut einige als "unanständig" geltende Worte aussprechen würde, oder sich in das Tischtuch oder das Kleid der Nachbarin schneuzen würde oder in einer Gesellschaft ohne gewisse "unaussprechliche" Kleidungsstücke oder einfach ohne Krawatte und dgl. erscheinen würde. Für einen Engländer wäre es sogar eine unausführbare Heldentat, Fisch mit dem Messer zu essen. Shocking! Sogar im Fall einer Wette fehlt es ihnen manchmal an Willenskraft, ästhetische, gegen gewisse Unanständigkeiten gerichtete, abstoßende Emotionen zu überwinden, das Bedingte zu erfüllen und so die Wette zu gewinnen. Das Gewicht einiger 100 Pfund Sterling (die Macht der entsprechenden appetitiven Emotion), der Druck der Eitelkeitsemotion (des entsprechenden Strebens, seinen Mut zu beweisen, anderen in Verwunderung zu versetzen usw.) können sich manchmal als ungenügend erweisen, um die Widerstandskraft der abstoßenden ästhetischen Emotion, die der Vorstellung solcher Kleinigkeiten, wie gewisse, an und ür sich unwesentliche Körperbewegungen, das Aussprechen gewisser Wörter in Damengesellschaft etc., assoziiert ist, zu überwinden.

Wenn man solche psychologischen Tatsachen berücksichtigt, so ist es schon  a priori  durchaus wahrscheinlich und natürlich, daß mit den Vorstellungen ernsterer "Sünden" als z. B. das Erscheinen in einer Gesellschaft ohne Krawatte, so z. B. mit der Vorstellung eines Mordes, eines Betruges, einer Fälschung, eines Raubes usw. sich in der Psyche der Menschen solche abstoßenden Emotionen verbinden, die (ganz unabhängig von irgendwelchen hedonistischen, utilitarischen oder anderen teleologischen Zweckmäßigkeitserwägungen) als mehr oder weniger ernste, zuweilen auch ganz unüberwindliche psychische Hindernisse für die entsprechenden Handlungen erscheinen. Wenn die Psychologen, Philosophen, Moralisten, Juristen usw. meinen, es gäbe keine Handlung ohne hedonistische oder utilitarische Motive, so ist das zweifellos ein wesentlicher Irrtum.

Es gibt, wie schon gesagt, mehrere Arten prinzipieller Motivation. Uns interessiert hier speziell eine dieser Arten von Motivation, nämlich - diejenige Art, in der eine Verbindung der Vorstellungen verschiedener Handlungen mit höchst eigenartigen und bemerkenswerten Emotionen zutagetritt, die wir ethische oder Pflichtemotionen nennen wollen; diese Emotionen zeichnen sich durch folgende charakteristischen Eigenschaften aus:

1. Die entsprechenden motorischen Erregungen haben einen besonderen mystisch-autoritativen Charakter; sie stehen unseren anderweitigen emotionalen Erregungen, Bestrebungen, Gelüsten als Impulse mit höherem Aureol [Heiligenschein - wp] und höherer Autorität und gleichsam aus einer unbekannten geheimnisvollen Quelle stammend, entgegen (eine mystische Nuance). Die menschliche Sprache, die Poesie, die Mythologie, die Religion, die metaphysischen philosophischen Systeme reflektieren, deuten und übersetzen diese Charaktereigenschaften der ethischen Emotionen in die Sprache der Vorstellungen in dem Sinne, daß neben unserem "Ich" in solchen Fällen noch ein anderes Wesen vorhanden ist; eine gewiße Stimme wendet sich an uns, spricht zu uns (Ge-wissen, con-scientia, Stimme des Gewissens usw., der "Dämon" des SOKRATES - das metaphysische "Ich", intelligibler Charakter KANTs); diese zu unserem "Ich" sprechende Stimme stellt sich als von einem höheren Wesen ausgehend dar; die religiöse Psyche der Völker schreibt diese Stimme den Göttern zu, die monotheistischen Religionen Gott, die metaphysische Philosophie schafft für sie metaphysische Personifikationen (die "Natur", die "Vernunft", der "Wille", als metaphysische Wesen, der "objektive Geist" usw.); die positivistische und skeptische Psyche derjenigen, die jeglichem Mystizismus fernbleiben wollen, schafft doch mystische Personifikationen: der "Volksgeist", der "allgemeine Wille" einiger Juristen und Moralisten der Gegenwart usw., wobei das "Volk", der "allgemeine Wille" als etwas, was über eine höhere Autorität verfügt und über dem Individuum und dem individuellen Willen usw. steht, betrachtet wird.

2. Sodann ist es für die uns interessierende spezielle Art von Emotionen charakteristisch, daß sie als innerliche Einschränkung der Freiheit erlebt werden, als eigenartiges Hindernis für die freie Auswahl und Erfüllung unserer Neigungen, Wünsche, Ziele, und als fester und unbeugsamer Druck in der Richtung des Verhaltens, mit dessen Vorstellung sich die entsprechenden Emotionen verbinden. Diese charakteristische Eigenschaft der ethischen Emotionen erhält in der gewöhnlichen Sprache, in der Poesie, der Mythologie, der Philosophie, in den Religionen, überhaupt bei der Übersetzung in die Sprache der Vorstellungen, eine solche Gestalt, daß die innere Stimme, oder das höhere Wesen, das zu uns spricht, sich an uns nicht mit Ratschlägen, Bitten usw., sondern mit Befehlen, mit "kategorischen" Vorschriften wendet. Nicht nur in der gewöhnlichen Sprache, sondern auch in der Philosophie, in der Ethik und Rechtswissenschaft ist immer von Befehlen, Geboten und Verboten die Rede; der "Wille", der durch verschiedene Fiktionen hierher übertragen wird, erscheint als vorschreibender, befehlender Wille; das metaphysische "Ich" richtet sich an uns mit dem "kategorischen Imperativ" usw. Diejenigen, an die - in unserer Vorstellung - solche höheren Vorschriften gerichtet sind, erscheinen in einem besonderen Zustand der "Gebundenheit". Daher die Wörter, die diesen Zustand der "Gebundenheit" ausdrücken: "obligare", "obligatio", "Verbindlichkeit". Das entgegengesetzte Handeln stellt sich uns als Verletzung, Zerstörung des Bandes, oder als Überschreitung der Schranke usw. dar, daher das "Verbrechen", "Pflichtverletzung" usw.

Die angeführten bildlichen Ausdrücke, Volksanschauungen und philosophischen Konstruktionen enthalten keine wissenschaftliche Analyse und Theorie der uns interessierenden psychischen Erscheinungen; aber sie sind sehr lehrreich und charakteristisch als Reflexe der eigenartigen Natur der Pflichtemotionen, die einen besonderen Druck nicht nur auf das Verhalten, sondern auch auf die Phantasie, auf die Welt der Vorstellungen und deren Bildungen und Verbindungen ausüben. -

Die prinzipielle Motivation, die auf der Verbindung von Verhaltensvorstellungen mit den oben charakterisierten abstoßenden und anziehenden Emotionen beruth, wollen wir die ethische oder autoritativ-imperative nennen, und die entsprechenden Prinzipien des Handelns - ethische Prinzipien oder Normen.

Insofern den ethischen Bewußtseinsakten mehr oder weniger feste Assoziationen von Vorstellungen des Handelns und abstoßenden oder anziehenden ethischen Emotionen zugrunde liegen, erscheinen und wirken in unserer Psyche bei Entstehen der entsprechenden Vorstellungen auch die entsprechenden Emotionen. Wenn wir uns z. B.  Mord, Verrat  usw. vorstellen, so entstehen sofort auch die damit assoziierten autoritativ-abstoßenden emotionalen Erregungen. Diese psychologische Tatsache hat eine große Bedeutung für das menschliche Handeln (das somit viele autoritative Wächter hat, die sofort auftreten, sobald sie erforderlich sind) und erklärt viele andere interessante Erscheinungen des ethischen Lebens.

Hier ist folgendes zu bemerken:

1. Da mit gewissen Verhaltensvorstellungen autoritative Impulse assoziiert sind und zugleich mit dem Erscheinen der ersteren im Bewußtsein auch die letzteren aktuell werden, so schreiben wir uns die entsprechenden Pflichten nicht nur hinsichtlich der Gegenwart zu, sondern auch hinsichtlich der Vergangenheit und Zukunft. Da z. B. die Vorstellungen von "Lüge", "Betrug" usw. auch dann die ihnen assoziierten autoritativ-abstoßenden Emotionen hervorrufen, wenn wir diese Vorstellungen auf die mehr oder weniger entfernte Zukunft oder Vergangenheit beziehen, z. B. wenn sie als Erinnerungen an unsere früheren Handlungen auftauchen, so projizieren wir die entsprechende Pflicht und das Tadelnswerte ihrer Verletzung auch auf diese Zeit. Dadurch erklären sich, unter anderem, die sogenannten Gewissensbisse (den Erinnyen [Rachefurien - wp] kann man nicht entgehen, sie verfolgen und quälen den Verbrecher ohne Mitleid, wohin er auch fliehen mag).

2. Aus demselben Grund projizieren wir die Pflichten nicht nur auf unser "Ich" (in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft), sondern auch auf andere vorgestellte Wesen in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft; einige ihrer Handlungen halten wir für Erfüllung, andere für eine Verletzung der Pflicht.

Das Licht der erhabenen Autorität der Pflichtemotionen verbreitet sich in der Psyche desjenigen, der die ethischen Akte erlebt, so weit, wie es durch den Inhalt der entsprechenden emotional-intellektuellen Assoziation bestimmt wird, und, wenn die betreffenden emotional-intellektuellen Assoziationen in der Verbindung von nur einer allgemeinen Vorstellung eines gewissen Handelns, z. B. des Betruges, des Mordes, mit der ethischen Emotion bestehen, so stellen sich der Betrug oder Mord als solche als unzulässig, verboten dar nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der unbegrenzten Vergangenheit und Zukunft ("ewig"), nicht nur hier, sondern überall, z. B. im Hades und im Reich der olympischen Götter, nicht nur für unser "Ich", sondern für jeden, wer es auch sei, eventuelle auch für  Zeus, Jehova  usw.

Hier besteht die Quelle und die psychologische Erklärung des bei allen Völkern verbreiteten Glaubens an die objektive, ewige und allgemeine Bedeutung der entsprechenden "Gesetze", an die so allgemeine und absolute Geltung und Herrschaft dieser "Gesetze", daß ihnen auch die Götter unterworfen sind. Die entsprechenden Ansichten haben auch ihre Repräsentanten in verschiedenen metaphysischen Systemen, in der Philosophie der Moral und des Rechts und werden hier verschieden ausgedrückt und begründet.

Neben den Verhaltensvorstellungen als wesentlichen, minimalen, intellektuellen Elementen des Pflichtbewußtseins (solche Vorstellungen wollen wir Vorstellungen der Pflichtobjekte nennen) gibt es noch andere Arten von Vorstellungen, die als assoziative Ergänzungen, als weitere Glieder der Assoziation, zum ethischen Bewußtsein gehören und den Inhalt des letzteren (zu gleicher Zeit auch die Geltungssphäre des entsprechenen "Gesetzes") bestimmen und beschränken können.

Hierher gehören die Vorstellungen der Pflicht-Subjekte, d. h. die Vorstellungen von Menschen oder von Menschenklassen (z. B. Untertanen, Fürsten, Eltern, Kinder, Frauen, Krieger, Priester usw.) oder anderer Wesen (Geister, Götter, Staaten, Kommunen), die das Subjekt zum Prädikat des Sollens bilden ("Kinder sollen den Eltern gehorchen" usw.). Sodann gehören hierher die Vorstellungen der Bedingungen, Hypothesen, d. h. die Vorstellungen verschiedener Umstände, durch welche die Pflicht bedingt wird ("wenn Dir jemand auf die rechte Backe schlägt, dem reiche die linke usw."); solche Umstände nennen wir ethisch-relevante Tatsachen (hierher gehören unter anderen die Bestimmungen der Zeit, des Orts, z. B. "wenn Du im Tempel stehst, so sollst Du ..."; "am heiligen Sabbat soll ...").

Hierher gehören ferner die Vorstellungen solcher Tatsachen, die, wie z. b. von Gott, von Monarchen ausgehende Befehle, Verbote, Sitten der Vorfahren,  mores majorum [Sitte der Vorfahren - wp] usw., den Inhalt der entsprechenden Normen bestimmen und deren Geltung bedingen. Wir sollen z. B. dieses oder jenes tun, weil Gott es befiehlt, weil es so im Evangelium, im Talmud, im Koran, im  Corpus juris [Rechtsordnung - wp] steht, weil das Orakel es so entschieden hat usw. Solche Bestandteile der uns interessierenden intellektuell-emotionalen Gebilde wollen wir Vorstellungen von "normativen Tatsachen" nennen. Die ethischen Meinungen und Überzeugungen, zu deren assoziativem Bestand solche Vorstellungen gehören, wollen wir positive ethische Meinungen, Überzeugungen nennen, ihren Inhalt positive Normen. Die ethischen Überzeugungen ohne solche Vorstellungen fremder Befehle und anderer normativer Tatsachen nennen wir intuitive, ethische Überzeugungen, die entsprechenden Normen intuitive Normen.

Die genannten Kategorien der Elemente ethisch emotional-intellektueller Assoziationen, insbesondere aber die Vorstellungen der normativen Tatsachen, können die Geltung der entsprechenden Normen (in der Physik desjenigen, der sie erlebt) stark einschränken, sie z. B. nur für die Untertanen eines gewissen Monarchen gelten lassen, für die Einwohner eines bestimmten Dorfes, für das Kinderzimmer usw.

Aus der dargelegten Theorie folgt, daß die Pflichten, die wir verschiedenen vorgestellten menschlichen und nicht menschlichen Wesen (der Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit) zuschreiben, durchaus nicht etwas über, in oder bei den Wesen, denen wir solche Pflichten zuschreiben, Befindliches ist; für das Dasein von Pflichten ist es auch nicht notwendig, daß das Subjekt der Pflicht (der Verpflichtete) "Vernunft und Wille" hat, daß es diese Pflichten kennt, anerkennt usw.; es ist auch nicht erforderlich, daß dem Subjekt der Pflicht in der Außenwelt irgendein reales lebendiges Wesen entspricht. Denn, wie aus dem Dargelegten folgt, sind die Pflichten nichts anderes als ideelle Projektionen, die in unserer Psyche entstehen (d. h. in der Psyche dessen, der irgendeinem Menschen, einem Staat, einem Geist, dem Fiskus usw. diese oder jene Pflichten zuschreibt); solchen Projektionen entsprechen die oben beschriebenen Emotionen und Vorstellungen, nicht aber irgendwelche Dinge oder Erscheinungen irgendwo in der Außenwelt, z. B. dort, wo sich der Fiskus oder ein anderes Subjekt befindet, dem wir eine Pflicht zuschreiben.


III. Recht und Moral

Während auf dem Gebiet der Moral gewöhnlich nur von den Pflichtsubjekten und deren Pflichten die Rede ist, handelt es sich auf dem Gebiet des Rechts auf Schritt und Tritt um Berechtigte, um die den Pflichten gegenüberstehenden "Rechte". Es ist bis jetzt der Rechtswissenschaft nicht gelungen, eine befriedigende Lösung der Frage über das Wesen der Rechte zu finden. Einige glauben das Wesen der Rechte im Willen der Berechtigten oder in der ihnen von der "Rechtsordnung" verliehenen "Willensmacht" zu sehen; andere in deren Interessen, die den Schutz der Rechtsordnung genießen; es sind verschiedene und einander widersprechende Modifikationen der Willens- und Interessentheorien vorgeschlagen worden, es sind auch verschiedene andere Versuche gemacht worden, das Wesen der Rechte zu bestimmen; das Problem bleibt aber ein Problem und eine Streitfrage.

An einem anderen Ort (2) habe ich versucht, mittels psychologischer Untersuchung dieser Frage zu beweisen, daß unsere Rechte nicht in unserem Willen oder Interesse, sondern in einer besonderen Art von Pflichten anderer Personen uns gegenüber bestehen, nämlich in den uns zustehenden, uns gehörenden Schulden anderer, in solchen Pflichten, aufgrund deren das, wozu andere verpflichtet sind, uns von ihnen geschuldet wird, gebührt (z. B. als Gewonnenes, als Verdientes, als vertragsmäßig Ausbedungenes usw.).

Die sodann von mir ausgeführte sprachliche Untersuchung zeigte, daß die Sprachen verschiedener Völker damit übereinstimmen. Außer den Worten, die unseren jetzigen Ausdrücken "Recht", "Rechtsanspruch", "Anspruch", "Forderung" entsprechen, oder statt dieser Ausdrücke werden von den Volkssprachen Ausdrücke benutzt, die im Hinweis darauf bestehen, daß der einen Partei die Schuld, die Pflicht der anderen Partei aktiv zusteht, zugeeignet ist und dgl. Eine solches Ausdrucksweise kommt, unter anderem, im russischen Zivilgesetzbuch vor. Dort lautet z. B. der Artikel 402:
    "Obligationen jeder Art gehören zur fahrenden Habe."
Artikel 418 lautet:
    "Schuldhabe ist jede Habe (Vermögen im aktiven Sinn), welche in Schulden auf andere Personen (d. h. lastenden) besteht."
In den altrussischen Rechtsquellen ist einem solchen Sprachgebrauch auf Schritt und Tritt zu begegnen. Den modernen Ausdrücken "sein Recht", "seine Forderung", "Rechte geltend machen" usw. entsprechen dort die Ausdrücke "seine Schuld", "Schulden geltend mache, fordern"; in alten Testamentsurkunden wird der Erbe gebeten: "Schulden einzusammeln, Schulden zu bezahlen", d. h. Aktiva und Passiva zu liquidieren). Dasselbe wiederholt sich in anderen slawischen Sprachen. In der polnischen Sprache sind Ausdrücke üblich wie: "die Bezahlung seiner Schuld fordern", "seine Schuld fordern" und dgl.; in der tschechischen Sprache "viel Geld in Schulden auf anderen Personen haben" und dgl. Durch denselben Sprachgebrauch im Sinne von Verbrechen (die dem Zaren das Recht auch Sühnegelder geben) erklären und dgl.

Dem Ausdruck der "Berechtigte", "Gläubiger", entsprechen in den slawischen Sprachen die Ausdrücke, die das Haben der Schuld bedeuten:  dluznik (polnisch) (3),  dluznjk (tschechisch) (4),  dusznik (serbisch) (5) und dgl.; es läßt sich nachweisen, daß auch in der altrussischen Sprache das Wort  dolschik  für die Bezeichnung des Berechtigten gebraucht wurde; so bedeutet das Wort  dolschnik  in der "Russkaja Prawda"  Gläubiger (Artikel 69); ebenso in dem einer viel späteren Zeit angehörigen Gesetzbuch des Zaren ALEXIS, Kap. 10, 204.

Derselbe Sprachgebrauch herrscht auch in der altgermanischen Rechtssprache. In den altdeutschen Rechtsquellen wird die Berechtigung durch einen Hinweis auf das aktive Haben einer Schuld ausgedrückt und der Gläubiger wird Schuldherr genannt (6). In den schwedischen Rechtsdenkmälern bedeutet das Wort  skuld (skyld) sowohl, Schulden, Pflichten, wie auch (bei einem Hinweis auf die aktive Zugehörigkeit) Rechte, darunter auch die Rechte des sogenannten öffentlichen Rechts; so ist z. B. der König  skyldugher  in Betreff seiner öffentlichen Rechte den Untertanen gegenüber, der Geistliche den Gemeindemitgliedern gegenüber usw. (7) Denselben Sinn haben die Ausdrücke:  skuld, skylda, skyldr, skyldugr  in den alten norwegischen und isländischen Rechtsquellen (8).

In der griechischen und römischen Sprache wiederholt sich dasselbe. Auf griechisch bedeutet  chreos [Erinnerung, Schuld - wp] sowohl die passive, wie auch die aktive Schuld, d. h. das Recht;  chrestos  ist sowohl der Schuldner, wie auch der Gläubiger (9). Auf lateinisch bedeutet  obligatio  sowohl die Schuld wie auch das entsprechende Recht, z. B. in den Ausdrücken  obligationes acquirere (Forderungsrechte erwerben),  amittere (verlieren),  cedere (zedieren) und dgl. Dasselbe läßt sich von den französischen Ausdrücken  dette, obligation (10) sagen. Um anzuzeigen, ob von der Schuld als Belastung oder im Sinne der aktiven Zugehörigkeit, des Rechts die Rede ist, werden im Französischen manchmal die Ausdrücke: passive - aktive Schulden (dettes passives - dettes actives) gebraucht, z. B. Code Artikel 533.

Dieselben Erscheinungen kehren wieder in der italienischen Sprache (11), in der spanischen (obligacion, deuda activa), in der portugiesischen (divida activa, livro de dividas activas e passivas. (12)

Die semitischen Sprachen zeugen von einer ebensolchen Auffassung des Wesens der Rechte seitens der Volkspsyche. So kennt z. B. die althebräische Sprache den Ausdruck  baal chow (Schuldherr, Gläubiger). Das Wort  thwia  bedeutet sowohl die Pflicht, wie das Recht (13).

Auf arabisch heißt eine Geldschuld  dejin.  Mit Hinweis auf die aktive Zugehörigkeit bedeutet dasselbe Wort das entsprechende Recht,  lahu dejn - bei ihm die Schuld, sein Forderungsrecht. Andere Rechtspflichten (darunter die öffentlichen) -  haqq, plur, huquq;  dieselben Ausdrücke mit  li  (oder la - bei, an) bedeuten die entsprechenden Rechte.  Sahib haqq - Schuldherr, Berechtigter (in der Sphäre der öffentlichen und privaten Rechte) (14).

Nach den liebenswürdigen Mitteilungen meiner Herren Kollegen und Schüler erwies es sich, daß dieselbe linguistischen Erscheinungen sich in den Sprachen der mongolischen Rasse wiederholen, z. B. in der chinesischen, koreanischen (auf koreanisch heißt der Schuldner  tzaj-in (Schuldmann), der Gläubiger  tzaj-tschu (Schuldherr) usw.).

Von solche Pflichten, Schulden anderer, die uns aktiv zustehen, als unsere Rechte, Ansprüche, nach denen das, wozu der eine verpflichtet ist, dem anderen geschuldet wird, zukommt, - sind Pflichten einer anderen Art zu unterscheiden, nämlich solche Pflichten (z. B. vollkommen zu sein, Böses mit Gutem zu vergelten und dgl.), die anderen gegenüber frei sind, ihnen als Rechte nicht zustehen, nach denen das, wozu wir verpflichtet sind, nicht als etwas einem anderen Gebührendes im Bewußtsein auftritt.

Es wäre z. B. unsinnig, die Vorschriften des Evangeliums: "Ich aber sage Euch, daß Ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern so Dir jemand einen Streich gibt auf den rechten Backen, dem reiche auch den linken dar"; "Und so jemand mit dir rechten will und Deinen Rock nehmen, dem laßt auch den Mantel" und dgl. in dem Sinne zu deuten, als ob der Beleidiger dadurch einen Anspruch auf das Schlagen der anderen Backe bekäme, als ob dem, der den Rock genommen hat, auch noch, sozusagen als Belohnung, der Mantel des Gekränkten gebührte und dgl.

Weniger unsinnig wäre es schon, solche Pflichten wie demütig, keusch, vollkommen und dgl. zu sein ("Ihr sollt vollkommen sein, wie Euer Vater im Himmel vollkommen ist") - in dem Sinne zu verstehen, daß andere einen Anspruch darauf haben, daß unser Charakter und Betragen solchen Idealen entsprächen, daß die Christen und überhaupt die Menschen die Erfüllung dieser und ähnlicher christlicher und allgemein menschlicher Pflichten beanspruchen könnten. Dennoch aber (abgesehen von den traurigen Folgen der Verbreitung einer solchen Psyche, von der Unmöglichkeit eines sozialen Friedens auf dem Boden einer solchen Ethik usw.) ist zu berücksichtigen, daß Menschen, die vom Geist des Evangeliums durchdrungen sind, schon deshalb frei von einer solchen Auffassung der erwähnten Pflichten sein müssen, weil ihnen auch solche Vorschriften, wie z. B. "was siehst Du aber den Splitter in Deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in Deinem Auge" und dgl. bekannt sind.

Bei einiger Übung im Beobachten und Analysieren der eigenen psychischen Erscheinungen ist es leicht, sich zu überzeugen, daß in unserer Psychik viele Beispiele und Fälle eines solchen Pflichtbewußtseins zu finden sind, wo wir uns für verpflichtet halten, etwas zu tun oder zu unterlassen, aber nicht in dem Sinne, als ob dies notwendig wäre, um irgendjemandes begründeten Anspruch zu befriedigen; ebenso betrachten wir auch viele Pflichten, die wir anderen zuschreiben, als ihre Gewissenssache, bei der jegliche Ansprüche und Forderungen unpassend sind.

Nur in gewissen Fällen, wenn es sich z. B. um die Zahlung des verdienten Lohnes, der ausbedungenen Miete, um den abgemachten Preis für gekaufte Ware und dgl. handelt, erleben wir das Bewußtsein der aktiven Zugehörigkeit unserer Schuld; unsere Leistung erscheint als Erfüllung dessen, was dem anderen von uns gebührt, zusteht. Desgleichen, wenn wir anderen die Pflicht zuschreiben, solche oder andere Prinzipien zu befolgen, leiten wir nur in einigen besonderen Fällen aus diesen Prinzipien Ansprüche für uns oder dritte Personen her; in anderen Fällen aber tun wir es nicht, und wenn andere sich solche Ansprüche zuschreiben, so schockiert uns solches als ungehöriger Eingriff in fremde Gewissensfreiheit usw.

Die Pflichten, die anderen gegenüber im obengenannten Sinne nicht frei sind, Schulden, die anderen zustehen, werden in den Volksgebräuchen oft symbolisch durch die Darstellung des Gebundenseins des einen und des physischen Festhaltens des anderen (aktiven) ausgedrückt; z. B. das Symbol des Zusammenbindens der Hände der sich Verpflichtenden und des Haltens der Schnur seitens des die Schuld Erwerbenden (vgl. HANDABAND der nordgermanischen Urkunden), ebenso der Gebrauch, die Hand zu reichen, als Symbol der Befestigung der entstandenen Schuld an einen anderen, das Symbol, wonach derjenige, der die Verpflichtung auf sich nimmt, am Kleid gehalten wird, und dgl. - haben die Bedeutung, daß dadurch die ideale passiv-aktive Verbindung, die Schuld, die auf dem einen lastet, dem anderen zugehörig ist, veranschaulicht wird.

Die entsprechenden, doppelseitige Bänder bildenden, Schulden wollen wir Rechtsverhältnisse (iuris vinculum, iuris nexus) nennen. Dieselben  vincula,  Rechtsverhältnisse, wollen wir, insofern es sich um ihre Aktivseite, aktive Zugehörigkeit handelt, Rechtsansprüche, Rechte, und - insofern sie vom Standpunkt des Verpflichteten, des Belasteten betrachtet werden - Rechtspflichten nennen.

Pflichten, die anderen gegenüber frei sind, nennen wir moralische, anspruchsfreie Pflichten.

In der Rechtswissenschaft bedürfen wir zugleich mit dem Begriff "Pflichten" noch der Begriffe "Rechtsverhältnis" und "Rechte" (Ansprüche und dgl.). Die Wissenschaft der Moral in unserem Sinne brauch solche Ausdrücke und Begriffe nicht. Die Rechtspsyche ist eine Anspruchspsyche, die moralische ist eine anspruchsfreie Psyche.

Dem Dargelegten entsprechend sind zwei Arten von "Imperativen", Normen, ethischen Prinzipien zu unterscheiden.

Das Wesen der einen Normen (z. B. von der Demut, der Liebe zu den Feinden und dgl.) besteht ausschließlich im autoritativen Bestimmen des pflichtmäßigen Handelns.

Das Wesen der anderen Normen dagegen besteht in zwei Funktionen: einerseits verpflichten sie zu einem gewissen Verhalten, andererseits teilen sie das, was von dem Verpflichteten gefordert wird, einem anderen als ein ihm Zukommendes zu. -

Wenn wir die Normen der ersten Kategorie "Imperative" nennen, so wird das Wesen und die Bedeutung der Normen der anderen Kategorie dadurch nicht genügend charakterisiert, denn ihr Wesen besteht nicht nur im  imperare,  sondern im  imperare + attribuere;  diese Normen kann man, als pendant zum Ausdruck "imperativ", als imperativ-attributive (verpflichtende, bedenkende, anspruchverleihende) bezeichnen. -

Während die imperativen Normen einen einseitigen Charakter haben, indem sie die eine Person belasten, ohne der anderen etwas zuzuteilen, - haben die attributiven Normen einen zweiseitigen Charakter, indem sie gleichzeitig dem einen ein Minus auferlegen und dem anderen ein Plus zuteilen. Die ersteren normieren die Lage nur des Verpflichteten, die zweiten - die Lage zweier Parteien. Für den einen sind sie eine autoritative Vorschrift und das Maß dessen, wozu er verpflichtet ist, was er schuldig ist, für den anderen sind sie ein autoritativer Maßstab dessen, was ihm andere schuldig sind, was ihm von anderen zusteht; was dem einen genommen wird, wird durch die attributive Norm dem anderen zugeteilt.

Die attributiven Normen nennen wir Rechtsnormen.

Die rein imperativen, anspruchsfreien Normen sind sittliche Normen, Moralnormen.

Anschaulich äußere Ausdrücke und Zeugnisse der doppelseitigen, imperativ-attributiven Natur der rechtlichen Normen bilden unter anderem die Aussprüche der Rechtsquellen, die eine Rechtsnorm durch zwei Urteile ausdrücken, ein imperatives, das auf die Pflichten hinweist, und ein attributives, das auf die Zuteilung, den Anspruch, hinweist. So heißt es z. B. im Artikel 574 des russischen Zivilgesetzbuchs, daß die das Vermögen eines anderen schädigende Handlung "einerseits die Pflicht, Schadensersatz zu leisten auferlegt, andererseits das Recht, den Schadenersatz zu fordern, erzeugt".

Ebenso Artikel 74 der "Pskowskaja ssudnaja gramata":
    "Wenn jemand von einem anderen Silber zu bekommen hat (Kapitalforderung) ... so ist es dem einen (er ist verpflichtet), Zinsen zu geben, dem anderen ist es (er ist berechtigt), Zinsen rechnungsmäßig zu bekommen."
Gewöhnlich bedient sich die Rechtssprache der abgekürzten Ausdrucksform der Normen; manche Sätze werden in der einseitig attributiven Form ausgedrückt (sie weisen ausdrücklich nur auf das Recht hin und setzen die entsprechende Pflicht der anderen Partei voraus), andere in der einseitig imperativen (sie weisen auf die Pflicht und ihr Objekt hin und setzen das entsprechende Recht der anderen Partei voraus). Es kommt auch noch eine vierte, nach beiden Seiten abgekürzte, lakonische Form vor, wobei nur auf den Effekt hingewiesen wird, der in einem gewissen Fall eintreten soll (es wird vorausgesetzt, daß die eine Partei den Effekt hervorzurufen verpflichtet ist, die andere darauf ein Recht hat). So lesen wir z. B. in Artikel 4, 5 und 6 des Vertrages des Fürsten MSTISLAW von Smolensk mit Riga, Gotland und den deutschen Städten vom Jahr 1229:
    -4- Wenn jemand einen anderen mit einem Holz schlägt und dieser wird blau oder blutrünstig, so hat er anderthalb Grivnen Silbers zu zahlen (imperative Form).

    -5- Ohrfeigen gegeben, drei Viertel Silbers (doppelt abgekürzte, neutrale Fassung).

    -6- Ist es am Gesandten oder Priester begangen, so bekomme er das Zweifache, doppelte Zahlung (attributive Form).

IV. Moralisches Bewußtsein
und Rechtsbewußtsein

Der oben dargelegte spezifische Unterschied zwischen den rein imperativen (moralischen) und den imperativ-attributiven (Rechts-) Normen und Pflichten beruth auf den entsprechenden spezifischen Unterschieden der emotional-intellektuellen Gebilde, die, wie oben gezeigt, den ethischen Pflichten und Normen überhaupt zugrunde liegen.

Das Bewußtsein der moralischen Pflicht (das moralische Bewußtsein) und das Bewußtsein der Rechtspflicht des einen - des Rechts eines anderen (das Rechtsbewußtsein) - sind solche psychische Erscheinungen, die ihren Bestandteilen (den intellektuellen und emotionalen Elementen) nach viel Gleiches miteinander haben (die gemeinsamen Gattungseigenschaften, vgl. Kap. II), zugleich aber auch wesentliche spezifische Gegensätze aufweisen.

Zum intellektuellen Bestand des imperativ-attributiven ethischen Bewußtseins, des Rechtsbewußtseins (im Sinne unserer Klassifikation), gehören außer den Vorstellungen dessen, was von der einen Partei der anderen gebührt, noch die Vorstellungen dieser beiden Parteien, zweier Subjekte: des Subjekts des Imperativs, des Passivs, des Verpflichteten, und des Subjekts des Attributivs, des Aktivs, des Berechtigten; auf dem Gebiet des Rechts treten die Subjekte immer paarweise auf, während im Reich der Moral nur Verpflichtete zu treffen sind. Was ferner die Vorstellungen der Objekte auf dem Gebiet des Rechtsbewußtseins anbetrifft, d. h. dessen, wozu das Imperativsubjekt dem Attributivsubjekt gegenüber verpflichtet ist, so konkurrieren mit den Vorstellungen von Handlungen (facere), Unterlassungen (non facere) oder Duldungen (pati), wozu die passive Partei verpflichtet ist (mit den Vorstellungen der Pflichtobjekte), die Vorstellungen der Effekte, des Erhaltens, Bekommens (accipere) in einem allgemeinen Sinn, die dem Berechtigten gebühren (der Rechts-Objekte). Wenn z. B. die imperative Partei zehn Mark zu zahlen verpflichtet ist, so daß das Objekt des Sollens in der Zahlung von zehn Mark (decem dare) besteht, so erweist sich als Rechtsobjekt für die andere Partei das Bekommen von zehn Mark (decem accipere);  dieses  gerade steht der attributiven Partei zu,  darauf hat  sie ein Recht (dieses Recht wird durch das entsprechende  Bekommen  befriedigt, auch wenn der Verpflichtete seine Pflicht, das Imperativobjekt, nicht erfüllt und der Berechtigte das ihm Zustehende z. B. durch den Gerichtsvollzieher erhält oder von einem Dritten bezahlt bekommt). Wenn das Pflichtobjekt im Dulden von irgendetwas, z. B. von Leibesstrafen oder anderen Handlungen des Berechtigten besteht, so wird das Attributivobjekt, der Gegenstand des Rechts, im Bestrafen oder in einer anderen entsprechenden Handlung des Rechtssubjekts bestehen (der Vater hat das Recht, sein Kind zu bestrafen, der Staat - den Verbrecher; wer ein Verbrechen begangen hat, ist verpflichtet, solches zu dulden). Auf dem Gebiet des rein imperativen Pflichtbewußtseins sind keine Rechtsobjekte im angeführten Sinne vorhanden, ebenso wie es hier auch keine Rechtssubjekte gibt (so z. B. ist in dem oben zitierten Spruch des Evangeliums von der Pflicht, mit Demut Kränkungen zu ertragen, die Rede, aber es fehlt das Subjekt für das Recht, zu "kränken", die Vorstellung des Rechtssubjekts und Objekts.

Dieser Gegensatz zwischen dem intellektuellen Bestand der Erscheinungen des imperativ-attributiven Bewußtseins und dem des rein imperativen Pflichtbewußtsein sthet im engsten Zusammenhang mit dem spezifischen Gegensatz zwischen den in beiden Fällen wirkenden Pflichtemotionen.

Die Ausdrücke "es gebührt jemandem", "kommt jemandem zu", usw., wie sie gewöhnlich auf dem Gebiet des imperativ-attributiven Pflichtbewußtseins angewandt werden, sind psychologische Symptome einer eigenartigen motorischen Bewegung und Erregung, die gleichsam als eine vom Anspruchssubjekt, vom Subjekt, dem nach unserer Überzeugung etwas gebührt, ausgehende Anziehungskraft, von uns erlebt wird. Denselben psychologischen Sinn haben die Ausdrücke "Forderung", "Anspruch", in der russischen Sprache An-zug (pritiasanje) usw. Es wäre naiv, Ausdrücke, wie "es gebührt", "kommt zu", "An-zug" usw. so zu verstehen, als ob das Zukommende von selbst zum Berechtigten strebt, oder von ihm angezogen wird. Es handelt sich vielmehr um eine entsprechende emotionelle motorische Erregung in der Psyche dessen, der das imperativ-attributive Rechtsbewußtsein erlebt. Ebenso irrtümlich wäre es, die Ausdrücke "Forderung", "Anspruch" in dem Sinn zu verstehen, als ob es sich hier um den "Willen" des Berechtigten handelte, als ob diejenigen, denen wir Rechte zuschreiben, in Wirklichkeit etwas von uns verlangten, auf etwas Anspruch erhöben usw. (Dies kann allerdings zuweilen der Fall sein, darf aber nicht mit dem technischen Sinn der rechtswissenschaftlichen Ausdrücke "Anspruch", "Forderung" usw. verwechselt werden.) Diese Ausdrücke sind nur Übersetzungen der eigentümlichen Eigenschaften jener autoritativ-impulsiven Emotion, auf welcher das imperativ-attributive Pflichtbewußtsein beruth, in die Sprache der Vorstellungen; ihre aktive, motorische Seite hat einen solchen Charakter, daß der entsprechende Impuls als innere Nötigung erlebt wird, das Verhalten dem, was von dem einen autorativ für den anderen gefordert wird, anzupassen, zu unterwerfen.

Es lassen sich übrigens verschiedene Qualitäten der imperativ-attributiven Emotion unterscheiden, je nachdem, was für ein Leisten-Bekommen für den Berechtigten vom Verpflichteten erforderlich ist (je nach der Beschaffenheit des Pflicht- und des Rechtsobjekts).

1. Wenn das Pflichtobjekt in irgendeiner positiven Handlung, positiven Leistung (facere) und folglich das Rechtsobjekt im entsprechenden Erhalten, Bekommen (accipere) besteht, so hat die Pflichtemotion den Charakter einer Nötigung zu der betreffenden Leistung als zu etwas, was der anderen Partei autoritativ zugeteilt und für sie mit höherer Autorität gefordert wird. Entsprechende Rechte können Ansprüche im engeren Sinne oder positive Ansprüche genannt werden.

2. Wenn das Pflichtobjekt in einer Unterlassung (non facere) der anderen Partei gegenüber und folglich das Objekt des Rechts im Nichterdulden der betreffenden Einwirkung (non pati, z. B. in der Unantastbarkeit des Körpers, der Ehre, des Besitzes) besteht, so hat die Pflichtemotion den Charakter des Abwehrens, des Nichtzulassens (repulsio) in die betreffende Sphäre der Freiheit, des Besitzes usw. als solche, die dem Berechtigten autoritativ zugeteilt ist und geschützt wird (Schutzrechte, negative Ansprüche).

3. Wenn das Pflichtobjekt im Dulden (pati) von irgendetwas seitens des Berechtigten, das Rechtsobjekt im entsprechenden Handeln seitens des Berechtigten (facere) besteht, so hat die Pflichtemotion den Charakter einer Nötigung zum Dulden der entsprechenden Einwirkung, als von etwas, was von der Attributiv-Partei aufgrund einer höheren Sanktion und Autorität vollbracht wird. Entsprechende Rechte werden wir Befugnisse nennen.

Für alle die genannten Unterarten des imperativ-attributiven Pflichtbewußtseins und der entsprechenden anziehenden und abstoßenden Emotionen ist der Umstand gleich wesentlich und charakteristisch, daß sie einen autoritativen Charakter mit mystischem Anstrich haben, und diesen Charakter hat nicht nur der an die verpflichtete Partei gerichtete "Imperativ", sondern auch der entsprechende Attributiv; die Berechtigung der Gegenpartei hat auch den Charakter einer höheren Sanktion und Autorität. Dadurch erklärt sich die Tendenz der Volkspsyche, das Verleihen von Rechten, wie auch das Auferlegen von Pflichten, Göttern zuzuschreiben (vgl. Kap. II). Die Rechte, die dem Vater, dem Mann - den Kindern, der Frau gegenüber zustehen, sind ihnen von Göttern verliehen worden usw. Verschiedene philosophische Systeme schreiben das Verleihen von Rechten verschiedenen höheren metaphysischen Wesen zu (z. B. der "Natur", in einem metaphysisch-pantheistischen Sinn, daher der Ausdruck, "das Recht der Natur", der "Vernunft" in einem metaphysischen Sinn usw.) Desgleichen werden zur Erklärung des Ursprungs und der Natur der Rechte der "Volksgeist", der "allgemeine Wille", die "allgemeine Überzeugung und ähnliche Fiktionen herbeigezogen (vgl. Kap. II). Diejenigen, die für die höchste Autorität auf Erden den Staat halten, schreiben dem (fingierten) Willen dieses (als Person vorgestellten) erhabenen Wesens, dem "Staatswillen", die Macht, Rechte zu schaffen und sie an den Menschen verleihen, zu.

Derselben Tendenz, die Rechte auf einen fremden autoritativen Willen zurückzuführen, entspricht in der Rechtswissenschaft ein von den Juristen hoch geschätztes mystisches Wesen: "die Rechtsordnung". In der Rechtsliteratur spielt die "Rechtsordnung" die Rolle eines höheren Wesens, das Rechte schafft, sie den Menschen zuteilt, usw.

Auf dem Gebiet des moralischen, rein imperativen Bewußtseins haben die Pflichtemotionen den Charakter einer mystisch-autoritativen Nötigung zu diesem oder jenem Verhalten als solchem, ohne den Charakter einer autoritativen Zuteilung an die andere Partei (15).
LITERATUR Leon Petrazycki, Über die Motive des Handelns und über das Wesen der Moral und des Rechts, Berlin 1907
    Anmerkungen
    1) Verschiedene von Zeit zu Zeit wiederkehrende Versuche, die psychischen Erscheinungen auf eine geringere Anzahl von Grundelementen, insbesondere auf  ein  einheitliches Grundelement zurückzuführen, sind nur Versuche geblieben (bei denen "stets eine mehr oder weniger bewußte Erschleichung mitläuft, indem die, angeblich aus einer mehr elementaren, abgeleitete Funktion schon von Anfang an stillschweigend als in dieser mitwirkend vorausgesetzt wird" (FRIEDRICH JODL, Lehrbuch der Psychologie, zweite Auflage 1903, Bd. I, Seite 156) und kommen in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Auch von den Streitfragen über die Natur der Gefühle, namentlich davon, ob Lust und Unlust einfache Qualitäten sind und die Mannigfaltigkeit der Gefühle sich durch ihre Kombination mit verschiedenen Erkenntniselementen erklärt, oder ob es verschiedene Qualitäten von Lust und Unlust als solche gibt, kann hier abgesehen werden.
    2) PETRAZYCKI, Grundriß der Rechtsphilosophie (russisch).
    3) Vgl. LINDE, slownik jezyka polskicgo, das Wort  dluznik. 
    4) Vgl. JUNGMANN, slownik cesko-nemecky, das Wort  dluznjk. 
    5) Vgl. BYK, Serbisches Wörterbuch, das betreffende Wort.
    6) GRIMM, Deutsches Wörterbuch, - Schuldherr.
    7) Vgl. AMIRA, Nordgermanisches Obligationenrecht, Bd. I, Seite 32 und folgende.
    8) Vgl. AMIRA, Bd. II, Seite 65 und folgende.
    9) Vgl. die entsprechenden Stellen bei STEPHANUS, Thesaurus Graecae Linguae; PASSOW, Handwörterbuch der griechischen Sprache, die entsprechenden Wörter.
    10) Vgl. z. B. Code civil, Art. 529, 533, 536, 1409, 1567, 2083, 1197 u. a.
    11) Vgl z. B. die Ausdrücke: richiesta d'un debito (Schuld fordern), debito fogno (ein zweifelhaftes Forderungsrecht), aver molti debiti attivi (viele aktive Schulden haben); Codia civile, Art. 418: Sono mobile ... le obligazioni und dgl.
    12) Vgl. auch die englischen Ausdrücke: debts active and passive und dgl.
    13) Vgl. AUBERBACH, Das jüdische Obligationenrecht, Bd. I, Seite 163f.
    14) Die Mitteilungen über den arabischen Sprachgebrauch verdanke ich der Liebenswürdigkeit des Herrn Privatdozenten an der Universität zu St. Petersburg, A. SCHMIDT und des Herrn F. SSARRUF, Lektor der arabischen Sprache, ebd.
    15) Die oben abgebildeten Begriffe des Rechts und der Moral bedeuten eine selbständige, sich nach wissenschaftlich-theoretischen (im "Grundriß der Rechtsphilosophie" genauer dargelegten) Rücksichten richtende Klassifikation der ethischen Erscheinungen. Insbesondere ist diese Klassifikation von dem in der Jurisprudenz üblichen Sprachgebrauch abhängig. Nach diesem Sprachgebrauch wird nur ein relativ geringer Teil derjenigen Erscheinungen, welche wir (zum Teil auch die gemeine Volkssprache, im Gegensatz zur Juristensprache) "Recht" nennen, auch "Recht" genannt. Im "Grundriß der Rechtsphilosophie" werden zwei Einteilungen des Rechts in dem im Text dargestellten allgemeinen Sinn durchgeführt: 1. in intuitives und positives Recht; in offizielle, offiziell im Staat geltendes, und inoffizielles Recht. Das positive offizielle Recht im Staat und das positive zwischenstaatliche (internationale) Recht bilden dasjenige, was die Juristen Recht nennen, das Recht im juristischen Sinne. Die Natur dieses Rechts (im juristischen Sinn) ist bisher der Rechtswissenschaft nicht zu bestimmen gelungen. Unser weiterer Begriff des Rechts in Verbindung mit den angegebenen Einteilungen des Rechts in Unterarten gewährt auch die Möglichkeit, das betreffende Rätsel zu lösen.