tb-1ra-2A. RossE. Laskvon KirchmannW. JamesH. Gomperz    
 
FRITZ MÜNCH
Vom Sinn der Tat (1)

"Nicht zum müßigen Beschauen und Betrachten deiner selbst oder zum Brüten über andächtigen Empfindungen, - nein, zum Handeln bist du da; dein Handeln und allein dein Handeln bestimmt deinen Wert. Diese Grundüberzeugung ist die spezifisch moderne Welt- und Lebensanschauung, wie sie die Renaissance inauguriert hat. Sie steht in bewußtem Gegensatz zu der in ihrer Grundeinstellung ästhetischen Weltbetrachtung des Griechentums, und ist in Fichte ein Produkt des sich auf sich selbst besinnenden Deutschtums. Sie steht erst recht in vollem Gegensatz zum modernen Ästhetentum, den dekadenten Geniefatzken und Formenposeuren, den Kulturschmeckerchen, die ihre Leidenschäftchen an Rosenbändern lenken, den rhythmisierenden Leisetretern, die im Menueschritt über Menschheitsfragen tänzeln."

Die Philosophie JOHANN GOTTLIEB FICHTEs, auf die aus Anlaß der 100. Wiederkehr seines Todestages die Aufmerksamkeit auch weiterer Kreise wieder mit Recht gelenkt worden ist, ist eine  Philosophie der Tat,  der Aktivität und Spontaneität, des Ich und der Persönlichkeit. Zugleich will sie Transzendentalphilosophie sein, d. h. kritische Philosophie, d. h. Philosophie der quaestiones juris, Gültigkeitsphilosophie, Geltungsphilosophie, Wertphilosophie.

An anderer Stelle (2) hab ich von dieser Philosophie gesagt:  "Vor  KANT-FICHTE gab es im letzten Grund nur  Es-Systeme,  d. h. solche Weltanschauungen, deren Grundgedanke war:  es geschieht etwas;  erst seit KANT-FICHTE gibt es ein  Ich-system,  d. h. eine Weltanschauung, deren Grundgedanke ist:  ich tue etwas;  in der also das Subjekt nicht bloß ein besonders qualifiziertes Objekt ist, an und in dem etwas geschieht, sondern wirklich ein  Subjekt, das handelt.  Erst die Einsicht, daß das oberste Prinzip der Philosophie nicht eine "Tatsache" sein kann, die als etwas Totes nie ein lebendig wollendes Subjekt begreiflich machen kann, sondern eine  "Tatforderung",  aus der sich letzten Endes auch erst die Tatsachen als Resultate von  "Tathandlungen"  gemäß der Tatforderung begreifen, überwindet allen Naturalismus und alle ontologische Metaphysik. Daß aber diese Tatforderung keine subjektiv-individuelle, sondern eine überindividuell-sachliche ist, deren Geltung im Subjekt zwar "anhebt", aber nicht "entspringt", hat niemand energischer betont, als FICHTE: "die Hingabe an die Sache um ihrer selbst willen konstituiert erst den Menschen als Menschen."

Wir wollen uns im folgenden die Momente, die in einer geltungsphilosophisch fundierten Tatphilosophie den  Sinn der Tat  konstituieren, analytisch ins Bewußtsein heben und so durch die Tat der  systematischen  Arbeit an denselben Problemen, mit denen FICHTE gerungen hat, den großen Denker ehren, der kein Toter, sondern ein Lebendiger ist und immer bleiben wird.

Der Stationen seines Weges, auf dem sich uns der Sinn der Tat entschleiern soll, sind 6: die "Setzungen"  I  und  II  sollen 2 Vorfragen bejahen, die als umfangende Schalen gleichsam den Kern des Problems umkleiden, "Gedankengang"  III  wird die Schalen öffnen und uns zum Kern hinführen, die "Besinnungen"  IV, V  und  VI  wollen den drei-schichtigen Kern enthüllen: vom Problem der Vernunftkultur durch das Problem des Menschen zum Problem der Tat.


I. Passivismus und Aktivismus

Die "Tat" steht im Gegensatz zu aller Passivität, zu allem Sich-gehen-lassen und Sich-schieben-lassen, zur bloßen Rezeptivität, zum bloßen "Objekt-sein". Was ist sie positiv? Von irgendwelchen metaphysischen Annahmen dogmatischer Art darf zur Beantwortung dieser Frage in einer  kritischen  Philosophie nicht ausgegangen werden. Und ebensowenig kann von der "experimentellen Psychologie" hier der Anfang genommen werden: deren wissenschaftstheoretische Voraussetzungen sind derart kompliziert, daß sie unter keinen Umständen an der Spitze der Behandlung unseres Problems stehen darf. Es bleibt nur die  Selbstbesinnung auf den Sinn des unmittelbaren Selbstbefundes.  Den Ausgang hat die ganz simple Frage zu bilden: als was ist sich das Subjekt als Subjekt im Tun unmittelbar "selbst bewußt"? Die Antwort lautet: ich weiß und setze mich unmittelbar als eine psychophysische Wertwirkungseinheit, d. h. als ein "Wesen", das 1. zu Werten Stellung nimmt, und 2. gemäß dieser Wertstellungnahme in der "Welt" "wirkt".

Sowohl von den Werten, zu denen Stellung genommen wird, wie vom Sinn des Wirkens, wird in den weiteren Abschnitten zu handeln sein. Hier sind zunächst 2 Problemgruppen, die uns am Weiterschreiten hindern könnten, als nicht hierher gehörig in ihre Schranken zu weisen.

Es muß erstens betont werden, daß von allen erkenntnistheoretischen Untersuchungen über  Kausalität  hier abzusehen ist. Die Kausalität ist ein  wissenschafts -theoretischer, in specie  natur -theoretischer Begriff, der als solcher in "subjekttheoretischen Ausführungen über den Selbstbefund der Tat nichts zu suchen hat. Die Kausalverknüpfungen sind nachträgliche erfahrungstheoretische Verarbeitungen des unmittelbaren Sinnbefundes - zum Zweck der "Theorie" des als "Tatsache" Erfahrbaren, in die  zu diesem Zweck  dann auch das Subjekt "als Objekt" einzureihen ist. Aber diese erfahrungstheoretischen Zusammenhänge dürfen von einer kritischen Besinnung nicht als metaphysisch-ontologische Potenzen in den unmittelbaren Befund hineinhypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] werden. Sie haben ihr gutes Recht in der Theorie der "Tatsachen", aber sie erschöpfen auch ihren Sinn und ihre Geltung im Zusammenhang der Erfahrungs- oder Tatsachen-Theorie. Die Tat des Subjekts  als Subjektstat  weiß nichts von ihnen. Ihr ist unmittelbar immanent und evident, daß sie nicht Resultat, sondern Anfang, nicht Produkt, sondern Producens [Hervorbringendes - wp] ist. Der "Eigen-sinn" der Tat ist nur ihr selbst, ihrem "Selbstbewußtsein", zu entnehmen. Ich weiß mich selbst im Tun unmittelbar als "Subjekt" - im Gegensatz zu allen bloßen "Objekten" und zwar als "aktuelles Subjekt", d. h. als eine synthetische Einheit von "Selbststellungen", von "Wertstellungen", die diese Stellung an den Erlebnisinhalten, den Inhalten der Welt überhaupt betätigt. (3)

Eine zweite Bemerkung ist dahingehend zu machen, daß dieser unmittelbare, theoretisch noch nicht "reflektierte" Befund ebensowenig, wie er von seinem erfahrungstheoretischen Eingeordnetsein in eine unendliche Kette von Ursache und Wirkung überhaupt etwas weiß, auch dom Problem der  "psychophysischen Kausalität insbesondere etwas in sich hat, daß er des weiteren nichts weißt von verschiedenen  Seelenvermögen  und einer Zuordnung der Tat an eines unter diesen. Allüberall, wo eine "Volltat", eine vollbewußte Handlung vorliegt, ist das  ganze  Subjekt beteiligt - "in der Tat" gleichgültig gegen die Unterscheidungen, die die "objektivierende" Psychologie vornimmt, um die einzelnen Momente des Tatganzen zwecks theoretischer Übersicht zu klassifizieren und zu gruppieren. Das ist ist als Subjekt der Tat  in  der Tat eine einheitliche Gesamtstellung gegenüber dem gesamten "Nicht-ich".

"Nicht zum müßigen Beschauen und Betrachten deiner selbst oder zum Brüten über andächtigen Empfindungen, - nein, zum Handeln bist du da; dein Handeln und allein dein Handeln bestimmt deinen Wert" (FICHTE). Diese Grundüberzeugung ist die spezifisch moderne Welt- und Lebensanschauung, wie sie die Renaissance inauguriert [vorgezeichnet - wp] hat. Sie steht in bewußtem Gegensatz zu der in ihrer Grundeinstellung ästhetischen Weltbetrachtung des Griechentums, und ist in FICHTE ein Produkt des sich auf sich selbst besinnenden  Deutschtums.  Sie steht erst recht in vollem Gegensatz zum modernen Ästhetentum, den dekadenten "Geniefatzken" und "Formenposeuren", "den Kulturschmeckerchen, die ihre Leidenschäftchen an Rosenbändern lenken", "den rhythmisierenden Leisetretern, die im Menueschritt über Menschheitsfragen tänzeln". (GUSTAV WETHLY) In deiner Arbeit und nur in ihr offenbart sich dein Wert! Das ist zugleich der demokratische Grundgedanke jeder Philosophie "aus Bauernstamm": der echte Adel des Menschen begründet sich nicht in dem: "es geschieht" der Geburt, sondern in seinem positiven Wert für die Kultur; der "Bandwirkersohn von Rammenau" ist "königlichen Geblütes", ohne eins irdischen Adelsbriefes zu bedürfen.


II. Pessimismus und Optimismus

Die Bekenntnis zur "Philosophie der Tat" im Sinne FICHTEs ist ein Bekenntnis zu einem (zwar nicht hedonistischen, wohl aber axiologischen  Optimismus,  der in einem empirischen "Meliorismus" [Weltverbesserei - wp] praktisch in Wirkung tritt. Die Voraussetzung der bewußten tätigen Mitwirkung an der Ausgestaltung der Welt ist die Welt- und Lebens bejahung,  der "Lebens- und Menschheitsglaube", die Überzeugung, daß das Ganze des Weltgeschehens einen positiven Sinn hat, und wir Menschen zur Mitarbeit an der Erfüllung dieses Sinnes berufen und dazu fähig sind. Ist die Welt sinnlos oder gar sinnwidrig, so ist es unsinnig, etwas in ihr zu tun, wo das Handlungsgeschehen dann ja doch nur, infolge der Weltordnung oder vielmehr Weltunordnung, ein Symptom des Unsinns der Welt überhaupt ist: Ohn-sinn und Ohn-macht bedingen sich gegenseitig.

Der Optimismus ist die Geisteshaltung, die bewußt und willentlich an einen absoluten Sinn des Welt- und Menschheitsgeschehens glaubt. Diese Lebenshaltung ist die Grundüberzeugung der LEhre und des Lebens des Schöpfers des Christentums in reiner Gestalt; sie ist "wiedergeboren" in der Assimilation des "Evangeliums", der "frohen Botschaft", die das Deutschtum in LUTHER vollzogen hat. Diese "evangelische Wahrheit" schließt eine Diesseitsbejahung ein und stellt sich bewußt dem asketischen Mönchsideal der Welt flucht  entgegen: wir wollen arbeiten an der Ausgestaltung des "Reiches Gottes  auf Erden".  Und dieser lebensfrohe Glaube steht erst recht im Gegensatz zum welt-verneinenden Quietismus der indischen Philosophie.

Aber ist ein solcher Optimismus angesichts der wirklichen Weltbeschaffenheit möglich? Darauf ist zweierlei zu sagen:
    1. Der radikale  Pessimismus der allen und jeden Sinn in der Welt leugnet, hebt sich selbst auf, da diese seine Behauptung, um den Sinn "wahr" zu besitzen, den "Sinn überhaupt", den sie leugnet, implizit voraussetzt. Auch wer den Sinn leugnet, "stellt sich eben damit in den Sinn", hat den Sinn überhaupt zur "Voraussetzung", soll seine Behauptung "sinnvoll" sein.

    2. Das allerdings ist zuzugeben, daß die inhaltliche Erfüllung dieser Sinnform überhaupt in der Welt, wie wir sie vorfinden, eine unvollkommene ist.
Aber gerade eben deshalb ist die  "Tat"  die Bestimmung des Menschen. Wäre alles so, wie es sein soll, so gäbe es nichts zu tun in der Welt, und alle geschichtliche Arbeit wäre überflüssig; wäre umgekehrt alles sinnlos, so wäre alle geschichtliche Arbeit unmöglich. Weil aber beides nicht der Fall ist, deshalb ist  die geschichtliche Arbeit der Sinn und die Bestimmung des Menschengeschlechts.  Ihre Voraussetzung ist der Glaube an die Realisierbarkeit der Ideale. Und dieser Glaube verliert nicht an Kraft, sondern stählt sich vielmehr gerade dadurch, daß er dem Leid der Welt gegenüber mit dem mutigen, selbstbewußten, alle Unstimmigkeiten des Lebens überwindenden "Dennoch!" TREITSCHKEs beginnt. (4) FICHTE ist in seinem Leben auf Un-sinn und Wider-sinn in Hülle und Fülle gestoßen, aber "trotzdem" war niemand in höherem Maße von der zuversichtlichen Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit durchdrungen, als er. "Mensch sein, heißt: ein Kämpfer sein."


III. "Pragmatismus" und "praktische Vernunft"

"Im Anfang war die Tat." Es gibt eine in die Breite gehende philosophische Strömung der Gegenwart, die sich zu diesem Satz, die sich zum Aktivismus und Optimismus bekennt, der (von JAMES) sogenannte  "Pragmatismus".  Ist dieser der berufene Interpret des Sinnes der Tat und der genuine Nachfolger der Lehren FICHTEs vom "Primat der praktischen Vernunft"? Sehen wir zu.

Der Pragmatismus betont, wie FICHTE, den Tatcharakter aller menschlichen Lebensäußerungen und verlangt daher eine Philosophie, die bewußt" pragmatisch, d. h. aus dem Leben für das Leben" (WILHELM JERUSALEM) philosophiert, statt "scholastisch" in den welt- und lebensfremden Sphären der "reinen Logik" der toten Gewißheit sterilen Formzusammenhängen nachzugrübeln. Für den Pragmatisten ist alle Erkenntnis nur Mittel, sich in der Wirklichkeit zurecht- und die lebenfördernden Maßnahmen ihr gegenüber zu finden. Seine Methode will bewußt "biozentrisch" sein - so radikal, daß er, "gestützt auf die Psychologie des Kindes, die Psychologie der Naturvölker, die Psychologie der Aussage", schon in der Konstatierung von Tatsachen einen "selektiven Prozeß", bestimmt durch unsere "Interessen, Neigungen und Wünsche", vorliegen sieht. Ist diese Position dieselbe, wie die Lehre FICHTEs von der Priorität der "Tatforderung" und "Tathandlung" vor der "Tatsache"?

Berechtigt ist am Pragmatismus ohne Zweifel der Kampf gegen den  Intellektualismus,  gegen die Meinung, die im Denken die einzige Quelle der Kultur sieht, gegen den "Primat des Verstandes", den die Aufklärung vertrat. Aber gerade die  Transzendentalphilosophie  KANTs will ja auch eine Überwindung der "Aufklärung" sein - nicht weniger, als der moderne Pragmatismus und (sei es psychologistische, sei es ontologistische)  Voluntarismus.  Und erst recht fällt es derjenigen modernen Transzendentalphilosophie, die an FICHTE anknüpft, nicht im Traum ein, zum Intellektualismus der Aufklärung zurückzukehren. Im Gegenteil: sie will bewußt "Wertphilosophie" sein (WINDELBAND!) und dabei den ganzen Kosmos von Werten umspannen, nicht nur den Wert "Theorie und Logik"; sie philosophiert bewußt "aus dem Leben für das Leben". Wenn FICHTE sagt: "Auf mein Tun muß all mein Denken sich beziehen, muß sich als, wenn auch entferntes, Mittel für diesen Zweck betrachten lassen; außerdem ist es ein leeres zweckloses Spiel, ist es Kraft- und Zeitverschwendung und Verbildung eines edlen Vermögens, das mir zu einer ganz anderen Absicht gegeben ist" - so drückt denselben Grundgedanken mit Berufung auf FICHTE ein moderner Transzendentalphilosoph aus, wenn er schreibt: "Nicht allein können wir überhaupt bloß theoretisch sein, weil und insofern wir praktisch sind, sondern wir sind auch nur theoretisch, um praktisch sein zu können" (BAUCH) (5). Aber es kommt nun alles darauf an, wie der vieldeutige Begriff des  "Lebens"  (mit dessen Äquivokationen [Mehrdeutigkeiten - wp] in der modernen Literatur ein toller Unfug getrieben wird) näher präzisiert und wie in ihm je der Eigen-sinn von Theorie und Praxis und ihr gegenseitiges Verhältnis näher bestimmt wird.

Der Pragmatismus geht vom  Leben im biologischen Sinn  aus; er will das Erkennen begreifen als eine organische Funktion unter und neben anderen organischen Funktionen der bewußten Lebewesen. Die Transzendentalphilosophie dagegen geht (als "kritische Kulturphilosophie") vom  historisch-kulturellen Leben  aus, hebt dessen Grundwerte oder Ideen ins Bewußtsein und sucht unter diesen die Erkenntnis"funktion" zu begreifen aus ihrer spezifischen Leistung innerhalb des Kosmos der Kultur überhaupt. Als "Wissenschaftslehre" hält sie sich dabei methodisch an diejenige Sphäre des Kultur-Ganzen, in der (gleichsam in "Reinkultur") das Erkennen seinen Niederschlag katexochen [schlechthin, ansich - wp] gefunden hat, nämlich die wirkliche, methodisch bewährte Wissenschaft; in diese stellt sie sich hinein und fragt ihr mittels der transzendentalen Analysis ihren "Eigen-sinn" ab. Der Pragmatist dagegen bildet sich ein, besser zu wissen, was Wissenschaft sei, als die Wissenschaft selbst. Er will sich vor diese stellen, vor alles Erkennen, in das Leben selbst - und merkt dabei gar nicht, daß er, um auch nur von "Leben" oder gar erst von "Lebewesen" sprechen können, eine Unmenge Erkenntnisse (nämlich die Gesamtheit der Erkenntnisse, die etwas als "Lebewesen" anzusprechen gestatten, nebst all dem, was diese Aussagen an logischen "Möglichkeitsbedingungen" voraussetzen) dogmatisch voraussetzt. Er will das Ganze der Erkenntnis aus einem ungeprüft hingenommenen Teile desselben, der biologischen Erkenntnis, begreiflich machen  (Biologismus):  Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht!

Mit diesem circulus vitiosus, der logischen petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp], hängt als weiterer Grundmangel zusammen, der Pragmatist nicht sieht, daß man, um sinnvolle Untersuchungen anstellen, sinnvolle Handlungen vornehmen zu können, immer schon ideale Sinn- oder Sachzusammenhänge, in denen diese "gründen", und aus denen sie als ihrem "Begründungszusammenhang" ihre Geltung und ihren Sinn entnehmen, voraussetzen muß. Nichts anderes aber, als die "Besinnung" auf diese vorausgesetzten "Sinn"zusammenhänge, die auch allem "leben" als "Möglichkeitsbedingung" "zugrunde" liegen, ist  Transzendentalphilosophie.  Wenn also die Transzendentalphilosophie diese als "geltend" vorauszusetzenden Sinn- oder Sachzusammenhänge in ihren formalen Beziehungen untersucht, so tut sie dies nicht aus Welt- und Lebensfremdheit, sondern aus der Einsicht heraus, daß diese Untersuchung der logischen Legitimation für eine  "begründet"  sein wollende Welt- und Lebensanschauung von fundamentaler Wichtigkeit ist. Damit aber verbindet sich die aus der gesamten Wissenschaftsgeschichte belegbare Einsicht, daß nur eine methodisch um ihrer selbst willen betriebene Theorie eine feste Basis auch für die Praxis abzugeben vermag, während eine Theorie, die in ihren theoretischen Untersuchungen sich immer schon von praktischen Motiven leiten läßt, weder als Theorie, noch - eben deshalb - als Grundlage der Praxis etwas taugt. Was von JHERING von der Jurisprudenz, die doch sicher eine Wissenschaft  für  die Praxis ist, sagt: "Das ist auch eine von den guten Lehren, die uns die römische Jurisprudenz gegeben hat, daß die Wissenschaft, um praktisch zu sein, sich nicht auf das Praktische beschränken darf" - das gilt von aller Wissenschaft überhaupt: je theoretisch reiner die Theorie ist, desto praktischer ist sie.

Anders ausgedrückt: die moderne Transzendentalphilosophie will auch der Praxis dienen; aber auf das Tun als  bloßes  Tun kommt es nach ihrer Überzeugung nicht an. Dieses Prädikat kommt auch jedem Verbrecher zu; auf die  Maßstäbe  kommt vielmehr alles an, an denen der Gehalt des Tuns gemessen und gewogen wird, gemäß denen  die "quaestio juris", d. i. die kritische Wertfrage  in bezug auf die Handlung entschieden wird. Jede Tat entnimmt ihren Wert dem Sinnzusammenhang, in dem sie steht, dem sie dient, den sie inhaltlich erfüllt und bestimmt. Eben deshalb kann eine Theorie der Praxis nicht erreicht werden durch genetische Untersuchungen des Seinsbefundes der Praxis als einer Lebensfunktion, sondern nur durch eine kritische Untersuchung des Sinnbestandes, in dem sich die Praxis als eine wertbezogene bewegt, d. h. durch die Untersuchung der  "Vernunft  in der Praxis", der "praktischen Vernunft".'

Der Pragmatismus nennt sich auch "Humanismus" (SCHILLER, Oxford). WINDELBAND hat dagegen mit Recht protestiert und betont, daß das ein Mißbrauch der geistesgeschichtlichen Bedeutung des Wortes sei: die adäquate Bezeichnung müsse "Hominismus" lauten. Denn der Pragmatismus geht nicht vom Menschentum als einem historisch-kulturellen Ideal aus, sondern von der Menschheit als biologisch-soziologischer Gattung. Dagegen kann sich die Transzendentalphilosophie als kritische Wertphilosophie, als "Vernunftkritik", mit Recht Humanismus, "Philosophie der Humanität", nennen. Denn der Terminus  "Humanität"  als der Inbegriff des absolut Wertvollen der Menschlichkeit in harmonischer Einheit ist nichts anderes, als der Begriff der  Vernunft  in seiner Subjektbezogenheit. Was ist unter  "Vernunft"  zu verstehen?


IV. Vernunft, Kultur, Ethik

Das Wort  "Vernunft"  steht schon im gewöhnlichen Sprachgebrauch, wenn man auf dessen Nuancen achtet, in einem gewissen Gegensatz zum Wort  "Verstand".  Der philosophisch unvoreingenommene Gebildete unterscheidet die beiden Ausdrücke so, daß er  "verständig"  den nennt, der für seine Ziele die rechten  Mittel  zu finden und anzuwenden weiß, den Terminus  "vernünftig"  dagegen auf  die Ziele, die Zwecke,  die der Mensch sich setzt, selbst bezieht und auf deren einheitliches Zusammenstimmen untereinander. Ganz analog aber ist die Bedeutung des Wortes "Vernunft" in der modernen Transzendentalphilosophie FICHTEscher Herkunft: KANTs Bestimmung, daß die Vernunft "das Vermögen der  Ideen"  sei, wird hier dahin erweitert:  Vernunft  ist der Inbegriff der absoluten Geltungswerte und ihres einheitlichen Sinnzusammenhangs.'

Dabei müssen genauer 2 Begriffe der "Vernunft" auseinandergehalten werden:
    1.  Vernunft  im objektiven Sinne = "reine" Vernunft, d. h. das System der (von absoluten Grundwerten = schlechthin geltenden Ideen bedingten, daher "idealen") rein sachlichen Sinnzusammenhänge der Weltinhalte überhaupt;

    2.  Vernunft im subjektbezogenen Sinn,  d. h. der Inbegriff dessen, was von der "reinen objektiven Vernunft" in der Menschheitsgeschichte "Bewußtsein und Tat" geworden ist.
Begriff  1  ist die logische Voraussetzung für Begriff  2:  die menschliche Vernunft entnimmt ihre Geltung und ihren Sinn aus ihrer Beziehung auf die "Weltvernunft": das Subjekt ist vernünftig, wenn und sofern es in den reinen Vernunftzusammenhängen steht, sie in sich und durch sich wirken läßt, sie "aktualisiert" und "realisiert".

In diesem subjektbezogenen Begriff der Vernunft aber ist, gemäß der obigen Unterscheidung von  Bewußtsein  und  Tat,  der Unterschied von  "theoretischer"  und  "praktischer" Vernunft  folgendermaßen zu bestimmen. Die absoluten Sinn- oder Wertprinzipien und das von ihnen Konstituierte kann man einerseits auf die ihnen eigenen, ihnen immanenten Zusammenhänge hin untersuchen, unter Absehung von ihrer Beziehung auf und ihrer Bedeutung für menschliches Handeln - ebensogut, wie man die immanent-sachlichen Zusammenhänge von Farben und Tönen untersuchen kann, ohne die physiologischen und psychologischen Bedingungen ihrer Bewußtwerdung ins Auge fassen zu müssen. Das Bewußtsein der schlechthinnigen Zusammenhänge, rein in ihrer Sachlichkeit, gleichgültig dagegen, was sie für das  aktuelle  Subjekt für eine Bedeutsamkeit haben, heißt: "theoretische Vernunft" des Subjekts. Man kann aber die Geltunszusammenhänge auch in ihrer Subjekts- und Handlungsbezogenheit untersuchen, d. h. als "Ideale", die als vorausgesetzte Werte motivierenden Prinzipien in einem einheitlichen Ichzusammenhang des wertbewußten und wertwollenden Subjekts sind. In diesem Sinne ist "praktische" Vernunft gleichbedeutend mit "Humanität". Die Vernunft als solche ist also nur  eine.  Wird sie rein in der ihr immanenten Eigengesetzlichkeit betrachtet, heißt sie  theoretische  Vernunft"; dieselbe Vernunft heißt vom Standpunkt des wertbewußt handelnden Subjekts, als dessen Selbstkonstituierung gemäß ihr:  "praktische Vernunft". 

Eine der Betätigungen der  "praktischen Vernunft"  ist auch das Erkennen des Subjekts als (sinnbezogener)  Subjektsakt  (im Unterschied zur Erkenntnis als dem Inbegriff der  theoretischen  Sachzusammenhänge, auf die sich als eine Sphäre der "objektiven Vernunft" das erkennende Verhalten des Subjekts bezieht, nach denen es sich "richten" muß, um "richtig", d. h. sachlich gerichtet zu sein): es ist die  Aktivität  des Subjekts, sofern sie sich auf den Sinn- oder Wertzusammenhang "Theorie" bezieht und dessen immanent-sachliche Gesetzlichkeit ins Bewußtsein hebt. "Etwas ist  in Wirklichkeit  so", etwas ist  in Wahrheit so",  und "etwas ist  in der Tat  so" werden von der Sprache mit Recht als synonyme Ausdrücke gebracht (wenn auch jeder ein für die genauere erkenntnistheoretische Analyse differentes Moment des einen Gesamtsachverhalts der  Geltung überhaupt  urgiert).

Die Vernunft wird also mitnichten durch das Subjekt geschaffen, von ihm "in die Welt gebracht", sondern sie ist ein System idealer Sinn- und Sachzusammenhänge der Weltinhalte selbst, die dem sich aktiv darum bemühenden Subjekt einleuchten, bewußt werden, die das Subjekt "selbsttätig" nachdenken, "inne werden", nacherleben kann, um sich dann mit Wissen und Wollen in diesen vernünftigen Sinnzusammenhang der Welt zu stellen und an seiner inhaltlichen Erfüllung mitzuarbeiten.  Vernünftig  handeln heißt: sachlich handeln.' Die Vernunft im transzendentalen Sinn ist die absolut-wertbezogene Gegenständlichkeit im Zusammenhang der Weltinhalte überhaupt und als solche "Gegenstand" allen Subjektverhaltens, das "gegenständlich" sein will, das "Geltung" beansprucht.

Das Verhältnis dieses Begriffs der "Vernunft" zum Begriff der  "Kultur ist nun nicht schwer zu bestimmen.  Die Vernunft schafft der Mensch nicht, wohl aber die Kultur.  Auch hier sind 2 Begriffe zu unterscheiden - ganz analog der Unterscheidung bei "Vernunft": die  objektive Kultur  als der Inbegriff der sachlichen Sinnzusammenhänge der "Kulturgüter" und die  Kultur des Subjekts  oder  "Geisteskultur";  und auch hier empfängt der subjektbezogene Begriff aus seiner Beziehung auf den objektiven  seine Geltung,  seinen Sinn und seinen Gehalt. Es kommt also alles darauf an, den Begriff der objektiven Kultur festzulegen. (6)

Kultur gibt es nur im  geschichtlichen  Leben. Die objektive Kultur einer Zeit ist der jeweilige Niederschlag der geschichtlichen Bewegung der Menschheit in bestimmten Wertgebilden und ihrem Zusammenhang untereinander, woraus sich ein Komplex umfassender, inhaltlich bestimmter, ineinander eingreifender "Lebensordnungen" ergibt, innerhalb deren sich das Leben der Individuen einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort abspielt; also inhaltlich bestimmte Erfüllungen, Konkretionen der Grund- und Mittelwerte allen geschichtlichen Lebens, als da sind: Religion, Wissenschaft, Kunst, Moral, Recht, Staat, Wirtschaft, Technik usw. Als was enthüllt sich die so gefaßte "objektive Kultur" der transzendentalen Besinnung auf ihren letzten Sinn, ihren Begriff, ihr sachliches Konstitutionsprinzip? Die Antwort ergibt sich ohne weiteres aus dem oben über den Begriff der Vernunft Gesagten, nämlich:  als empirische, zeitliche Konkretion der reinen, zeitlosen Vernunft. Die Vernunft ist der reine Begriff der Kultur, die Kultur ist die historische Konkretion der Vernunft. 

Diese Kultur ist aber für die Menschheit keine  logische Folge  aus dem Vernunftbegriff, sondern eine  ethische Leistung.  Kultur ist für den Menschen Tat. Der ethische Sinn der Geschichte wäre aufgehoben, wenn sie sich vorausberechnen und voraussagen ließe. Die  historische  Zukunft sieht man nicht voraus, sondern man will sie voraus und schafft sie gemäß diesem Vorauswollen. Aber die Voraussetzung bewußter Mitarbeit an der Kultur ist letzten Endes der Glaube, daß das Kultursystem der jeweiligen Zeit eine Etappe ist in der Verwirklichung des absoluten, zeitlosen Wertesystems, der Vernunft überhaupt als des kosmischen Sinnes des Gesamtgeschehens überhaupt.

Aus dieser Überzeugung heraus fließt für die "Führer der Menschheit" die Pflicht, sich die Kultur ihrer Zeit ausdrücklich in ihrem Geltungs- und Sinnzusammenhang nach ihrer "Begründung" ins Bewußtsein zu heben, um sachlich erfolgreich in ihr und über sie hinaus wirken zu können. Hier ist der Punkt, wo sich die Kulturbedeutung, ja Kulturnotwendigkeit der Philosophie, wie wir sie verstehen, enthüllt: die Philosophie bringt (als  "Historiokritizismus")  durch transzendentale Analysis und geschichtskritische Synthesis die Kultur zur Besinnung, d. h. auf ihren Begriff, die Vernunft und damit erst zu sich selbst.  Die Philosophie ist das Selbstbewußtsein der Vernunft und damit der Kultur als deren Konkretion in der historischen Entwicklung (Theorie der Kulturvernunft).  Das ist die spezifische Leistung des Philosophen im funktionellen Zusammenhang der Kulturzwecke innerhalb der menschlichen Gesellschaft an oberster Stelle; er ist eben deshalb der verantwortungsvollste Beruf, den es gibt. Diese Auffassung des Philosophen hat FICHTE vorbildlich gelebt.

Die historische Einsicht in die zeitliche und räumliche Verschiedenheit der Lebensordnungen, die als solche faktisch das Leben der Zeitgenossen und Gemeinschaftsglieder bestimmen, befreit vom  Dogmatismus  der eigenen Zeit. Aber sie führt zum  Historismus und Relativismus,  wenn sie nicht durch die transzendentale Einsicht vertieft wird, daß  ein  Gesamtzusammenhang,  ein  Logos,  eine  Vernunft diese gesamte Mannigfaltigkeit beherrscht und sie zu einer synthetischen Einheit konstituiert: die historische Kultur als der "objektive Geist" (im Sinne HEGEL) ist der "absolute Geist", d. h. die eine zeitlose Vernunft der Welt, in ihrer Brechung im Prisma des endlich-zeitlichen, in der geschichtlichen Bewegung (seinem Seinssubstrat nach) selbst darin stehenden Menschheitsbewußtseins. Das Kultursystem einer bestimmten Zeit ist nicht  das  absolute System in seiner Vollendung; aber es ist auch nicht bloß relativ: es ist das, was vom absoluten Wertesystem bis dato Bewußtsein und Tat geworden ist und fortwährend wird, was aber einer Weiterführung auf jenes im Unendlichen liegende Ziel bedürftig und fähig ist.

Daraus aber ergibt sich nun als Sinn aller  Ethik  als der Lehre von den aus der "Bestimmung des Menschen" fließenden Idealen dies: daß das menschliche Handeln die Aufgabe hat,  die Vernunft zu verwirklichen,  die absoluten Werte und ihren absoluten Zusammenhang zu "aktualisieren" und zu "realisieren". Der  ethische Imperativ  (der "reinen Vernunft" an die "Subjektsvernunft") lautet demnach: Handle geschichtlich wertvoll, indem Du an Deiner Stelle (in Deinem Gemeinwesen zu Deiner Zeit) und gemäß Deinen Kräften an der Setzung und Erfüllung absoluter Werte gewissenhaft mitwirkst! Oder, wie EUCKEN es formuliert: "Das Handeln findet nunmehr sein Hauptziel darin, für den Fortgang der  weltgeschichtlichen  Bewegung zu arbeiten; sich ihren Aufgaben unterzuordnen, das wird zum Kern der Ethik".

 Gesinnung - Tat - Werk  sind die 3 Momente, in die sich jede vollwertige ethische Handlung zerlegt: die "Tat" ist die Überführung des Wertes aus der Form der bloßen "Gesinnung" (des "Gewissens") innerhalb der Subjektssphäre in die Objektssphäre, in der sie als "Werk" weiter wirkt. Erkenntnis und Tat, theoretische und praktische Vernunft, sind eins in der lebendigen  Überzeugung:  sie erkennt und anerkennt den sachlichen Geltungszusammenhang als das durch die Handlung zu verwirklichende Ideal. Diese in der Tat sich bekundende Wertüberzeugung ist die Erscheinungsform der  Persönlichkeit  als der gemäß absoluten Wertsetzungen konstituierten Individualität. Wie in der Naturwissenschaft der Gedanke der  Substanz demjenigen der  Kon stanz (Invarianz) der Naturgesetze hat weichen müssen, so ist der geltungsphilosophische Sinngehalt dessen, was man die Substanz, den "Kern", der Persönlichkeit zu nennen pflegt, die  Konstanz ihrer Werthandlungsprinzipien  und deren Einheit, ihr  "Charakter". 

Der ethische Imperativ gilt aber, wie für die Individuen, so auch für die  Völker.  Ist vom Standpunkt des Individuums die historische Tat die Mittlerin zwischen den absoluten Werten und der Wirklichkeit, so stellt sich diese Vermittlung vom Standpunkt der völkischen Gemeinschaft und für diese dar als die  Herausbildung  ihrer nationalen Eigenart. Der geschichtsphilosophische Begriff (Ideal) der Nationalität verhält sich zum soziologischen der Sozietät, wie der ethische Begriff (Ideal) der Personalität zum biologischen der Individualität.' Jede Personalität ist eine individuale, jede Nationalität eine soziale Ausprägung der "Humanität". In beiden Sphären hebt erst die einheitlich in sich geschlossene und als solche bewußte Konstitution gemäß absoluten Werten diese Inhaltskomplexe aus der Welt des bloß Seienden (der seinswissenschaftlichen Betrachtung) in das Reich des Geltens (der sinnwissenschaftlichen Betrachtung).


V. Das "aktuelle Subjekt" und die "Ideen"

Wir greifen zurück auf das oben über das "aktuelle Subjekt" Gesagte: Wir erleben und leben uns selbst unmittelbar als eine synthetische Einheit von Wertstellungen. Diese sind zunächst solche  biologischer Art:  es sind die  "Lebenswerte"  der Selbst- und Arterhaltung, die primär unsere wertend-handelnde Stellungnahme zur Welt und in der Welt bedingen. Das "aktuelle Subjekt" ist zunächst ein "biologisches Subjekt". Aber dieser "natürliche" Zustand des Subjekts ist nur eine Vor- und Unterstufe des "historischen" Zustandes: das "biologische Subjekt" geht aufgrund der historischen Entwicklung der Menschheit in das  "historische Subjekt"  über. (7) Im Laufe dieser historischen Entwicklung treten nämlich neben und über die bloßen "Lebenswerte", diese nicht vernichtend, wohl aber sie in einem umfassenderen Sinnzusammenhang "aufhebend", die  "Kulturwerte".  Dem biologischen Begriff des Lebens tritt ein höherer Begriff, das Leben im "geistigen" Sinne, d. h.  das historisch-kulturelle Leben  gegenüber. Als historische Wesen stehen wir in einem ungemein komplizierten System von in- und übereinander greifenden Sinnsphären, zu denen allen wir fortwährend wertend und handelnd Stellung nehmen.

Innerhalb des  "aktuellen Subjekts"  sind also das  "biologische Subjekt"  und das  "historische Subjekt"  zu unterscheiden: es sind  2  sich umgreifende Sphären, die fortwährend ineinander wirken, deren konstituierende Prinzipien aber von verschiedener geltungstheoretischer Dignität sind. Der Unterschied ist der von  relativen  (oder subjektiven), d. h. an das empirische Sein des Subjekts in ihrer Geltung gebundenen (wie z. B. bei den  ökonomischen)  Werten, und  absoluten  (oder  objektiven),  d. h. eigengründigen Werten: Es gibt Werte, wie z. B. Wahrheit, Gutheit, Schönheit, die, nachdem sie einmal zum Bewußtsein gelangt sind, ihre Geltung nicht mehr aus dem Subjekt, in dem sie zum Bewußtsein gelangt, noch aus der Art, wie sie zum Bewußtsein gelangt sind, entnehmen, sondern kraft Eigenrechts schlechthinnige Werte zu sein beanspruchen, "ursprüngliche" Stamm- und Grundprinzipien, die ihrerseits an das Subjekt den Anspruch stellen, ihnen gemäß die Weltinhalte synthetisch verknüpft zu denken und sich beim Handeln nach diesen "Synthesisprinzipien a priori" zu richten.  Solche "Grund"werte nennen wir "Ideen".  Diese Ideen bringen erst in die unendliche Mannigfaltigkeit des historischen Geschehens die Sinneinheit "Kultur" hinein.

Durch Hingabe an diese überindividuellen, übersozialen, überzeitlichen Ideen konstituiert sich das historische Subjekt zum  Ideenmenschen,  zur  "transzendentalen Persönlichkeit"  und wird damit zu einem Bürger der "intelligiblen Welt", der "Geisteswelt", des "Reichs der Zwecke", des "dritten Reichs", des Reichs der absoluten Wertzusammenhänge, des "Reiches der Vernunft", des "Reiches Gottes". Die empirische Erscheinung dieser überempirischen Stellung des Menschen ist das  "kritische Selbstbewußtsein",  (die "transzendentale Apperzeption" in subjektbezogenem Sinne), dessen eigentlicher Kern das "Geltungsbewußtsein", das "Wertbewußtsein" ist. Das kritische Selbstbewußtsein ist dasjenige Moment am individuellen Subjekt, durch welches dieses in die transzendentale, d. h. reine Geltungs-Sphäre hinaufragt.

Die "Bestimmung" des  Ideenmenschen  ist diese: die ewigen, zeitlosen Werte ins Bewußtsein zu heben und in die Tat umzusetzen. Der moderne Mensch steht allein auf sich selbst. Aber dieses "Ich", auf dem er steht, in dem er als "Selbstzweck" gründet, das seinen "Kern" ausmacht, ist weder konstituiert durch die biologische Organisation der zoologischen Gattung "homo sapiens", noch durch den soziologischen Allgemeinbegriff des "animal sociale", sondern durch die transzendentale, d. h. gegenständlichkeits- oder absolut-ideenbezogene Konstitution des historisch-ethischen Subjekts zu einer eigengründigen Persönlichkeit gemäßt den Geltungsbedingungen der Möglichkeit von Kultur als Vernunftkonkretion überhaupt. Auf dieser Höhenstufe des "Lebens in den Ideen und aus den Ideen heraus" ist das persönlichste Handeln zugleich das sachlichste. Das tritt am reinsten im Wesen des  Genies  zutage, dem es eigentümlich ist, durch seine subjektiven Akte objektive Werte zu setzen, in dessen Subjektsbewußtsein die objektiven Geltungszusammenhänge überhaupt zum Bewußtsein kommen. Die ideenbezogene Sachlichkeit ist allein kulturschaffend. "Was liegt an Zarathustra"! (NIETZSCHE). Die  "Un-endlichkeit"  des idealen, ideenbezogenen Strebens der Subjekte hat den letzten "Grund" ihrer Sinnvollheit, die logische "Möglichkeitsbedingung" ihrer als eines Logoskonstitutes in der  "Vollendlichkeit"  (RICKERT) der Idee in sich selbst.

Daß aber die Fähigkeit des Subjekts, sich Ideen hinzugehen, ihnen sein Leben zu weihen, besteht, das belegen die Biographien aller großen Männer. Diese "Freiheit zum Wert um des Wertes willen" ist - keine  Tatsache;  wäre sie dies, sie wäre keine echte Freiheit, da "tatsächliche Freiheit" für die erkenntnistheoretische, die geltungstheoretische Besinnung (auf den Sinn von "Tatsache" einerseits, von "Freiheit" andererseits) ein Widerspruch in sich selbst ist. Sie ist mehr als eine "bloße" Tatsache: sie ist eine  "Tatforderung",  aber eine Tatforderung, der durch  "Tathandlungen"  Genüge geleistet werden kann, eine  erfüllbare Tatforderung.  "Freiheit" (im Sinne der Transzendentalphilosophie) und "praktische Vernunft" ist gleichbedeutend. "Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß."

Der Mensch ist nicht der Schöpfer der Vernunft, er ist ihr Ausführungsorgan: der "Diener der Vernunft". Dieses "Diener" bedeutet aber mitnichten einen "Sklaven", der heteronomen Autoritäten sich fügen muß; sondern er dient in demselben Sinne, in dem der absolut-souveräne Herrscher "Diener des Staates" ist kraft autonomer Selbstbestimmung. Der "Ideenmensch" ist:  Diener der Vernunft in der Kultur,  aber er ist zugleich:  Herr der Kultur in der Vernunft. 


VI. Die "Tathandlung"

Die Struktur der  "analytischen Methode"  ist auf allen Gebieten so: Ein Erlebniskomplex als Problem ist der  Ausgang,  ein Sinngefüge, aus dem es sich  begreift  und seine  Begründung  entnimmt, die  Voraussetzung,  die Bestimmung dieses Sinngefüges für diesen Fall das  Ziel,  dessen Erreichung die  Lösung  des Problems ermöglicht.

Die Analyse des uns hier beschäftigenden Problems  "Vom Sinn der Tat"  ist zu Ende: wir haben den Gesamtsinnzusammenhang eruiert, in dem die Tat als sinnvolle steht, und aus dem sich die "Begründung" der in ihr vorliegenden Konkretion ergibt:  die Kultur als die Verwirklichung der Vernunft,  innerhalb der die Menschheit die Bestimmung hat, die absoluten Werte ins Bewußtsein zu heben und durch die Tat in die Wirklichkeit überzuführen. Der "Sinn der Tat" begreift sich aus dem Sinn des Menschenlebens, dieser aus dem Sinn der Welt überhaupt als eines "Kosmos von Ideen". Eine Handlung, die sich in diesen Sinnzusammenhang stellt und aus ihm heraus wirkt, ist eine "begründete" Tat, der deshalb der definitive Erfolg gehören muß kraft des sachlichen Sinnzusammenhangs. Im konkreten Sinn der Tat vereinigt sich die logisch-erkenntnistheoretische  Voraus-setzung der Vernunftform  mit der ethisch-geschichtsphilosophischen  End-setzung der Vernunfterfüllung.  Die "Tathandlung" schlägt die Brücke zwischen dem Sinnzusammenhang "Welt" und dem Sinnzusammenhang "Mensch".

Wir nennen in emphatischem Sinn eine Handlung: "eine Tat!" wenn wir ihren Vernunftgehalt, ihr "gegenständliches" Heraustreten aus dem bloß "zuständlichen" Fluß des Geschehens betonen wollen, wobei die Höchstleistung dann vorliegt, wenn das durch die Handlung Gewirkte, ihr "Werk", eine  epochale  Bedeutsamkeit hat. Die Tat in diesem Sinne, das "epochale Werk" hat den gesamten historio-kritischen Vernunftextrakt der bisherigen Menschheitsentwicklung als Gehalt in sich; ihr Sinn ist die Konkretion der zeitlosen Vernunft in der zeitlichen Kultur, ihr Ergebnis Wirklichkeit gewordene Vernunft, konkrete Vernunft, ein Baustein zum "Reiche Gottes auf Erden". Eine solche Tat kann auch in Büchern vorliegen, z. B. in KANTs Vernunftkritik. Eine "Tathandlung" im prägnanten Sinne kann ferner, um das noch ausdrücklich zu betonen, auch im Leben der "Helden des Alltags" gegeben sein, von denen keine allen-gemeine Geschichtswissenschaft berichtet, die aber durch individuale Tiefenwirkung ersetzen, was ihnen an sozialer Breitenwirkung abgeht. Die vernunftdurchdrungene Tat setzt ein überzeitliches Postulat in ein zeitliches Resultat um. Sie holt "selbsttätig" die Werte vom Himmel auf die Erde herab. In einer solchen "Tathandlung" ist Gott Mensch und Mensch Gott: sie fließt aus dem Urgrund und Ursinn der Welt überhaupt. In ihr steigt der Mensch durch Freiheit zur Unsterblichkeit und Ewigkeit empor.
LITERATUR - Fritz Münch, Vom Sinn der Tat - eine "subjekttheoretische" Analyse, Logos, Bd. 6, Tübingen 1917
    Anmerkungen
    1) Nachstehende Gedankengänge sind der Inhalt eines Vortrages, den ich zur Feier von FICHTEs 100. Todestag in der philosophischen Gesellschaft zu Jena gehalten habe. Mich dünkt, daß sie auch in der  gegenwärtigen Zeitlage  an "Aktualität" nichts verloren haben. Absichtlich lasse ich alles so stehen, wie ich es damals gesagt habe.
    2) MÜNCH, Erlebnis und Geltung - eine systematische Untersuchung zur Transzendentalphilosophie als Weltanschauung, Berlin 1913
    3) Es ist ein Fichtebekenner unter den modernen Philosophen, HUGO MÜNSTERBERG, der diesen Punkt mit aller Energie hervorgehoben hat.
    4) Vgl. dazu E. W. MAYER, Der christliche Gottesglaube, Straßburg 1904
    5) Über das Verhältnis von Pragmatismus und Transzendentalphilosophie vgl. jetzt auch BRUNO BAUCH, Ein modernes Problem in der antiken Philosophie, Logos, Bd. 5, Heft 2.
    6) Vgl. dazu meine Abhandlung "Kultur und Recht", Zeitschrift für Rechtsphilosophie, Jahrgang 1, Heft 4; darin Kapitel I: "Der Sinn der Kultur".
    7) Es ist der transzendental-historische Sinn aller  Erziehung,  im "biologischen Subjekt" das "historische Subjekt" zu "entbinden" (SOKRATES!), es durch Anregung der absolut-wertbezogenen Selbsttätigkeit "entspringen" zu lassen.