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ADOLPH von HEYDEBRECK
Über den Begriff
der unbewußten Vorstellung

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"Es gibt also halbbewußte Vorstellungen, d. h. solche, in denen sich Bewußtsein und Vorstellung nicht vollständig decken, in denen sie mithin schon zum Teil auseinander fallen."

"Aber nicht nur auf allen Gebieten der  Assoziation  zeigt sich das Unbewußte von weitestgehendem Einfluß, auch innerhalb des  Logischen,  wo das Bewußtsein doch recht eigentlich zuhause zu sein und ausschließlich zu herrschen scheint, spielt es seine Rolle. Zunächst und vorwiegend im ungeschulten Denken. Selten weiß sich dieses völlig Rechenschaft zu geben von dem Weg, auf dem es zu seinen Resultaten gelangt, weil bei mangelnder Reflexion die logischen Vermittlungen, die an sich ja nicht fehlen können, großenteils unbewußt bleiben. Daher die Schwierigkeit, den ungeschulten, sich selbst so nennenden gesunden Verstand von der Irrigkeit einer einmal gefaßten Meinung zu überzeugen."

"Es bedarf schon einer gesteigerten Reflexion, einer gewissen philosophischen Besinnung, um überhaupt die subjektive Natur der Wahrnehmung deutlich zu erkennen, um uns aus dem träumerischen Zustand des gewöhnlichen Bewußtseins zu erheben, dem Wahrnehmungsbilder und wahrgenommene Dinge ineinander schwimmen, das direkt unter den Objekten zu verkehren, sie unmittelbar gegenwärtig zu haben meint."


Meine Herren!

Es ist eine in der Entwicklung der Wissenschaften häufig wiederkehrende Erscheinung, daß man, auf einem gewissen Punkt angelangt, wo es mit den bisherigen gemeinverständlichen Prinzipien nicht mehr gehen will, zu ganz neuen, meist seltsamen Begriffen seine Zuflucht nimmt, mit deren Hilfe oft in kurzer Zeit die erstaunlichsten Resultate erzielt werden, die sich daher schnell in der betreffenden Wissenschaft einbürgern, obgleich sie, in sich selbst betrachtet, einen Widersinn zu enthalten, mit der gesunden Vernunft sich kaum zu vertragen scheinen. Auch pflegt es bald ihretwegen großen Streit zu setzen, indem die einen, auf ihre anscheinende Undenkbarkeit verweisend, sie gänzlich verbannt, die andern, auf ihre Brauchbarkeit und Unentbehrlichkeit pochen, sie ohne weiteres, wie sie da sind, beibehalten und allgemein anerkannt wissen wollen, zu beliebigem Gebrauch innerhalb wie außerhalb des Gebietes, dem sie entsprungen sind. Beides offenbar mit Unrecht. Denn einerseits bürgt ja wohl der Erfolg dafür, daß sie mindestens einen Kern von Wahrheit enthalten werden, den man nicht wegwerfen darf seiner vielleicht widerspruchsvollen Hülle wegen und andererseits liegt es doch wieder im Interesse, wo nicht der Spezialwissenschaft, die allenfalls auch ohne das auskommen kann, so doch der allgemeinen Menschenvernunft und der Wissenschaft überhaupt, in ihren Voraussetzungen nichts Unklares oder gar Widersprechendes zu dulden und nur mit streng gefaßten, vollkommen durchsichtigen, in sich möglichen Begriffen zu operieren. Jedenfalls also muß die zweifelhafte Vorstellung einer strengen vorurteilsfreien Prüfung unterzogen und entweder aus widerspruchsfrei beglaubigt, oder, ihrer unlogischen Hülle entkleidet, entsprechend transformiert und umgearbeitet werden, ehe sie darauf Anspruch machen kann, für allgemein wahr und objektiv begründet zu gelten. Stellenweise ist diese unumgängliche, obwohl meist mühsame und schwierige Arbeit bereits getan ist. So hat sich z. B. der anfänglich angefochtene Begriff der Gravitation als logisch berechtigt erwiesen, der angebliche Widerspruch darin als nur scheinbar, herrührend von einer willkürlichen Beschränkung im Begriff der mechanischen Kraft. So ist das Unendlich-Kleine in der Mathematik, mit dem man sich lange vergeblich herumgeschlagen hat, endlich als formell-absurd beiseite gestellt und durch den Begriff der Grenze ersetzt worden, der den Wahrheitsgehalt jener Vorstellung in adäquater, logisch geläuterter Form enthält. In anderen Fällen dagegen und zum Teil gerade den interessantesten und wichtigsten, harrt die Aufgabe noch der Lösung, wie beim uralten, lange Zeit verschollen gewesenen, für die moderne Naturwissenschaft wieder unentbehrlich gewordenen Atom-Begriff, von dem immer noch nicht zu sagen ist, was eigentlich dahinter steckt.

Und so schwebt der Streit auch noch über eine andere problematische Vorstellung neueren Datums, die in der gesamten Psychologie und namentlich auf dem der Natur- und Geisteswissenschaft gemeinsamen Gebiet der Theorie der Sinneswahrnehmung eine hervorragende Rolle zu spielen begonnen hat, ja, obgleich selbst noch keineswegs allgemein anerkannt, schon zu neuen metaphysischen Lehrgebäuden die Grundlage hat abgeben müssen, - die daher wohl geeignet erscheint, die Aufmerksamkeit jedes Denkenden und speziell des Philosophen vorzugsweise zu beschäftigen, - ich meine den Begriff der "unbewußten Vorstellung".

Wenn ich es nun unternehme, im Folgenden eine Kritik dieses höchst schwierigen Begriffes zu liefern, so kann ich selbstverständlich nicht gemeint sein, hier etwas Abschließendes und Erschöpfendes zu bieten; doch hoffe ich, bei der Darlegung meiner Auffassung die Hauptpunkte wenigstens zur Sprache zu bringen, auf die es ankommt und mit meinem Versuch den Weg zu bezeichnen, auf dem die definitive Lösung zu finden ist.

Unbewußte Vorstellung - das klingt ja freilich befremdend genug und für den unbefangenen Verstand höchst verdächtig, nicht viel besser als ein hölzernes Eisen. Denn Vorstellungen außerhalb meines Bewußtseins kann ich mir allerdings ja wohl denken, nämlich in anderen Subjekten und deren Bewußtsein, aber  meine  Vorstellungen und doch  mir  unbewußt? Vorstellungen und überall in gar keinem Bewußtsein? - Vor allen Dingen also, wie kommen wir zu diesem seltsamen Begriff? Was für Tatsachen, welchem Rässonnement verdankt er seine Entstehung? - Suchen wir uns in Kürze davon Rechenschaft zu geben.

Wäre der Inhalt des Bewußtseins ein konstanter, in absoluter, gleichmäßiger Klarheit unveränderlich gegenwärtiger, so fehlte wohl jede Veranlassung, die notwendige Zusammengehörigkeit von Vorstellung und Bewußtsein zu bezweifeln. Nun sind aber unsere Vorstellungen in stetem Wandel und in einer unaufhörlichen Bewegung begriffen, zu der das Bewußtsein sich durchaus nicht gleichmäßig verhält, indem es dieselbe zwar teilweise dirigiert und stets gleichen Schrittes begleitet und leitet, teilweise aber ihr nur mühsam folgt und von einem gleichsam voraneilenden Zug der Vorstellungen, die sich selbständig, wie von eigener Kraft getrieben, vorwärts bewegen, oft widerwillig die unerwartetsten Wege entlang geführt wird.

Ergibt sich also hier schon eine gewisse Divergenz zwischen Bewußtsein und Vorstellungstätigkeit, so tritt dieselbe noch deutlicher hervor und steigert sich bis zur beginnenden Trennung bei den einzelnen ruhig verharrenden Vorstellungen und dem Modus ihrer Gegenwart im Bewußtsein. Die eine nämlich steht klar bis ins Einzelste vor dem inneren Auge, während über anderen gleichsam ein Nebel zu liegen scheint, durch den sie nur mehr oder weniger undeutlich hindurchschimmern. Nun ist aber das Bewußtsein doch eben die Klarheit selbst und an sich keiner Abstufung fähig; der Grund für eine solche kann nur in seinem verschiedenen Verhältnis zu etwas anderem selbständig Existierenden liegen. -

Einen  hellen Punkt gibt es, mit dem das Bewußtsein gesetzt und aufgehoben ist, das Ich, in dem Vorstellungsakt und Bewußtsein absolut und notwendig zusammenfallen. Nur nach der Tiefe und Weite, in der von diesem Punkt aus sich die Klarheit über alle anderen verbreitet, unterscheidet ein Bewußtsein sich vom andern und nur der Umfang, in dem eine Vorstellung an derselben teilnimmt, bestimmt den Grad ihres Bewußtseins. Wäre mit der Existenz der Vorstellung eo ipso [ganz von selbst - wp] Bewußtheit verbunden, so müßte mit der Veränderung ihres Bewußtseins die Vorstellung selbst sich ändern und mit dem Entstehen der Klarheit der Inhalt entstehen. Nun unterscheiden wir aber ganz bestimmt den Akt der Aufklärung vom Akt der Bildung einer Vorstellung, der sich bei vollständig gleichmäßiger Klarheit vollziehen kann, und meinen, während wir ihn uns klar machen, den Inhalt intakt zu lassen. Auch gelingt diese Verdeutlichung ja durchaus nicht immer, und gerade deswegen nicht, weil leicht beim Bemühen, lediglich das Bewußtsein zu steigern, unwillkürlich die bildenden Kräfte in Tätigkeit geraten, da wir dann schließlich eine andere Vorstellung ins Bewußtsein bekommen als die gemeinte. - Es gibt also halbbewußte Vorstellungen, d. h. solche, in denen sich Bewußtsein und Vorstellung nicht vollständig decken, in denen sie mithin schon zum Teil auseinander fallen.

Wenn aber bei den erwähnten Erscheinungen beide doch immer noch gewissermaßen verbunden auftreten, so fehlt es keineswegs auch an solchen, die eine absolute Trennung beweisen. Freilich wird sich im Bewußtsein nichts finden, woran direkt die absolute Unbewußtheit zu beobachten wäre, wie das beim Halbbewußtsein der Fall ist; denn es liegt im Begriff des Unbewußten, kein Gegenstand innerer Wahrnehmung zu sein. - Auf die Existenz einer unbewußten Vorstellung wird daher stets nur geschlossen werden können aus irgendetwas im Bewußtsein Vorhandenen, das dieselbe als seine Bedingung voraussetzt. - Vorstellungen können nun Bedingungen für andere Vorstellungen oder auch für Willensregungen, Gefühle und Affekte sein. Findet sich also ein Bewußtseinsinhalt, der nach bekannten Gesetzen eine Vorstellung als seine Bedingung voraussetzt und diese Bedingungsvorstellung ist im Bewußtsein nicht anzutreffen, so muß, scheint es, auf ihre Existenz außerhalb des Bewußtseins geschlossen werden.

Was zunächst die Empfindungseffekte betrifft, so finden sich allenthalben die zahlreichsten Beispiele. So scheint eine Klasse physischer Empfindungen, sofern sie sich an bloße Vorstellungen knüpfen, nicht unmittelbar aus den im Bewußtsein gewöhnlich vorhandenen, sondern aus anderen an jene sich anschließenden zu entspringen, die in der Regel unbewußt bleiben, aber auch wohl gelegentlich, wenn sich die Aufmerksamkeit gerade darauf richtet, ins Bewußtsein treten, da sich dann der Zusammenhang direkt beobachten läßt. So kommt beim Ekel z. B., wie KANT bemerkt hat, außer der Vorstellung des ekelhaften Gegenstandes die meist unbewußt bleibende des Genießens desselben ins Spiel, beim Schwindel die des Herabstürzens etc. - Auf seelischem Gebiet erwähne ich die nicht minder bekannten und häufigen Fälle eines Gefühls de Abneigung, des Mißtrauens, der Furcht, von dessen Gründen man sich aus dem Bewußtseinsinhalt keine Rechenschaft zu geben weiß, das daher eine sich unbewußt sich vollziehende Vorstellungstätigkeit voraussetzt, deren Wirkung es bildet. Auch das ganze Gebiet der ästhetischen Empfindungen gehört hierher und die Aufgabe von Kunstkritik und Ästhetik besteht zum Teil eben darin, die von der bewußten Vorstellung, z. B. einem Gemälde, zu einem Gefühlseffekt leitende, meist unbewußt bleibende und oft schwer zu entdeckende Vorstellungskette ans Licht zu ziehen. -

Einen Übergang von den reinen Empfindungs- zu den reinen Vorstellungseffekten bilden die unbestimmten Denkgefühle, wenn ich sie so nennen darf, wie das Bekanntvorkommen eines sonst fremden Gegenstandes und umgekehrt. Ich sehe unvermutet jemanden als Erwachsenen wieder, den ich nur als Kind gekannt habe. Er erscheint mir völlig fremd und allem ungleich, was ich zur Zeit im Gedächtnis habe und doch wird mir der bestimmte Eindruck, ich müßte ihn kennen, als sei die gegebene Vorstellung irgendetwas ähnlich, ich weiß nur nicht was. Dieses Gefühl kann offenbar nur einer sich schon anbahnenden realen Beziehung beider Vorstellungen in meinem Geist seinen Grund haben und die zu vergleichende unbewußte Vorstellung muß schon irgendwie vorhanden sein, um diese dem Effekt der bewußten Vorstellung analoge Wirkung auszuüben. Solche Fälle sind besonders schlagend, weil die unbewußte Bedingungsvorstellung dabei geradezu als fehlend vermißt und, falls es gelingt, sie zu Bewußtsein zu bringen, mit Bestimmtheit als der gesuchte Grund der Empfindung erkannt wird, ohne daß es dazu einer wissenschaftlichen Reflexion bedürfte.

Ich komme nun zu denjenigen Erscheinungen dieser Art, welche für die ganze Wissenschaft, namentlich für Psychologie und Erkenntnistheorie von der tiefgreifendsten Bedeutung sind, zu den reinen Vorstellungseffekten, die sich aus dem, was im Bewußtsein vorgeht, allein nicht erklären lassen.

Unsere Vorstellungen bedürfen als wechselnde Zustände unseres Geistes, wie alles andere Geschehen, einer kausalen Begründung, warum sie gerade so, gerade jetzt, gerade in diesem Zusammenhang auftreten. Für die Ordnung der sinnlichen Wahrnehmungen pflegen wir uns auf das wechselnde, nach den Gesetzen der materiellen Welt sich regelnde Verhältnisse unseres Leibes zu den umgebenden Körpern zu berufen. Alle anderen Vorstellungen aber, die nicht wie diese als unmittelbar von den äußeren Dingen abhängig gedacht werden können, müssen ihren Grund in Zuständen des geistigen Subjekts und zwar in dessen Vorstellungszuständen haben, eine Vorstellung sich immer auf eine andere und wäre es zuletzt eine Wahrnehmung gründen. -

So bilden unsere sämtlichen Vorstellungen mannigfach geordnete Reihen und Komplexe, deren Gesetz in den Regeln der sogenannten Ideenassoziation und der logischen Gedankenverknüpfung seinen Ausdruck findet, die jeden Vorgang innerhalb der Vorstellungswelt beherrschen wie die mechanischen Gesetze in der materiellen. Die einen bewußten Vorstellungszustand vermittelnde Kausalreihe nun ist durchaus nicht immer vollständig im Bewußtsein vorhanden. Die Lücke verlangt ihre Ausfüllung und zwar durch Vorstellung; die ergänzende Vorstellung muß irgendwie existieren, im Bewußtsein existiert sie nicht, also außerhalb des Bewußtseins, d. h. als unbewußte Vorstellung. Das ist der einfache, anscheinend unanfechtbare Schluß, durch den wir auf die Annahme einer schier ins Unendliche gehenden unbewußten Geistestätigkeit geführt werden, gegen welche die bewußte fast verschwindend erscheint, die an jener ihre eigentliche Grundlage besitzt und durch sie erst durchgehende Einheit und wahren Zusammenhang gewinnt. Von den unzähligen hierher gehörenden Erscheinungen hebe ich einige der auffallendsten heraus.

Alltäglich und allbekannt ist das Phänomen des sogenannten "Einfalls", d. h. des abrupten und scheinbar unmotivierten Auftretens einer Vorstellung mitten in einem völlig heterogenen Zusammenhang. Besinnt man sich, so wird man meistens den wahrscheinlichen Ausgangspunkt für die Reihe, deren Endglied der "Einfall" bildet, in einer oft weit zurückliegenden bewußten Vorstellung finden, von der sich jene als eine bald ins Unbewußte sich verlierende Nebentätigkeit abzweigte, während der bewußte Gedankenlauf, seinem eigenen Zusammenhang folgend, weiter ging, bis er, beendet oder ins Stocken geraten, der inzwischen entwickelten Endvorstellung der unbewußten Reihe Gelegenheit bot, nun ihrerseits ins Bewußtsein zu treten. -

Ein anderer Fall: Wenn wir das Anfangsglied einer Reihe als solches im Bewußtsein haben, springt der Gedanke häufig über die Zwischenglieder hinweg und direkt zum Endglied. Zum Beispiel, es weckt eine Wahrnehmung unmittelbar eine Erinnerung, die sich aber nach dem inneren Zusammenhang nicht direkt an jene anschließen kann, sondern durch dazwischen tretende Vorstellungen vermittelt werden muß, dieselben also als unbewußt voraussetzt. Oder: wir folgen mit dem inneren Auge einer spontan sich fortspinnenden Vorstellungskette und die Aufmerksamkeit springt einen Augenblick ab, so finden wir beim Zurückkehren die Bewegung nicht unterbrochen, sondern nach ihrem inneren Gesetz fortgeschritten und an einem neuen Punkt angelangt, zu dem wir uns den Übergang aus dem zuletzt Bewußten meist noch ergänzen und nachkonstruieren können, wie die Lücke einer Kurve. In solchen Reihen bewegen sich z. B. die Erinnerungsbilder, die wir stets, sobald wir nur die Aufmerksamkeit darauf spannen, in einem ununterbrochenen, mit unglaublicher Rapidität nach allen Assoziationen sich auseinander entwickelnden Zug erblicken, von dem wir nicht annehmen können, daß er stillsteht, wenn wir ihn aus dem Auge verlieren, da wir ihn während der Betrachtung bei momentaner Abwendung nie stocken sehen, der vielmehr, wie es scheint, für unser bewußtes Vorstellen einen fortlaufenden Unterstrom bildet und nur stellenweise gelegentlich zutage tritt. Dergleichen meist im Unbewußten verlaufende kontinuierliche Reihen mögen auch die freien Phantasmen bilden, die ja auch sonst mit den Erinnerungsbildern die meiste Ähnlichkeit besitzen. -

Überhaupt aber stehen unsere Vorstellungen sämtlich, näher oder ferner miteinander verwandt, gruppenweise in einem vielfach verflochtenen Zusammenhang dergestalt, daß keine einzelne erregt werden kann, ohne daß ganze Gruppen anderer mit in Bewegung geraten, was sich dadurch kund tut, daß erst die nächstverwandten, dann mit abnehmender Deutlichkeit fernere und fernere hervortreten, in einer Auswahl und Reihenfolge, die, nicht ein für alle Mal bestimmt, von dem jedesmal vorhandenen sonstigen Vorstellungszustand mit abhängt. Nur bleibt dieser Vorgang gewöhnlich so gut wie im Dunkeln, wenn wir, in einem bestimmten Gedankengang begriffen, unter möglichster Fernhaltung jeder Nebenvorstellung, von einer Hauptvorstellung zur anderen in vorgezeichneter Richtung fortschreiten; und selbst bei eigens darauf gerichteter Reflexion kommt er meistens nur sehr unvollkommen zu Bewußtsein und läßt sich kaum über die ersten Stadien hinaus verfolgen. Steht aber eine dieser Nebenvorstellungen mir irgend einer anderen in naher Beziehung, die ihrerseits beim eben vorhandenen geistigen Gesamtzustand nur einer geringen Anregung bedarf, um ins Bewußtsein zu treten, so geschieht es, daß wir indirekt zu unserem Staunen von einem weiteren Umfang einer unbewußten Vorstellungsbewegung unterrichtet werden, von der wir uns nichts träumen ließen. Ich gebe zur Veranschaulichung ein Beispiel aus eigener Erfahrung. Ich hatte von einem aus der Menagerie entsprungenen Jaguar gelesen. Die Geschichte interessierte mich und ich merkte sie mir zu gelegentlicher Mitteilung. Nach einiger Zeit befinde ich micht mit einem Bekannten im Gespräch; es fällt das Wort "Türke", sogleich tritt mir der Jaguar ins Gedächtnis und ich erzähle meine Geschichte. Unmittelbar konnte ich bei "Türke" nicht an den entsprungenen Jaguar denken. Aber der Zusammenhang ist wohl klar: "Türke" weckte in mir dunkel die ganze Sphäre des Fremdländischen, Exotischen - etwa Orient - Palmen - wilde Tiere - Löwe - Leopard - Jaguar - und hervortrat die Erinnerung. - So regt also jedes Wort wie der Stein im Wasser die Ringe, neben der Hauptvorstellung ganze Sphären verwandter Vorstellungen auf, diese andere und wieder andere in stets weit sich ausbreitender Bewegung. Und von diesem ganzen, vielleicht unsere gesamte Vorstellungswelt allmählich in Mitleidenschaft ziehenden Vorgang - denn wie weit die Bewegung sich eigentlich fortpflanzt und wann sie zum Stillstand kommt, kann niemand sagen - haben wir im Bewußtsein entweder gar nichts oder nur den allerersten Anfang nebst einem undefinierbaren Gefühl eigentümlicher Vorstellungserregung, das im gewöhnlichen Denken vielleicht mehr als klare Begriffe dazu dient, die einzelnen bewußten Vorstellungen zu charakterisieren.

Aber nicht nur auf allen Gebieten der  Assoziation  zeigt sich das Unbewußte von weitestgehendem Einfluß, auch innerhalb des  Logischen,  wo das Bewußtsein doch recht eigentlich zuhause zu sein und ausschließlich zu herrschen scheint, spielt es seine Rolle. - Zunächst und vorwiegend im ungeschulten Denken. Selten weiß sich dieses völlig Rechenschaft zu geben von dem Weg, auf dem es zu seinen Resultaten gelangt, weil bei mangelnder Reflexion die logischen Vermittlungen, die an sich ja nicht fehlen können, großenteils unbewußt bleiben. Daher die Schwierigkeit, den ungeschulten, sich selbst so nennenden gesunden Verstand von der Irrigkeit einer einmal gefaßten Meinung zu überzeugen. Denn, gelingt es nicht, die subjektiven Gründe des Urteils aufzuspüren und ihm selbst vor Augen zu bringen, so bleibt alles Vernunftsprechen vergeblich. Die Ursache fährt fort im Dunkeln zu wirken und die fragliche Vorstellung mit der Gewalt unmittelbarer Überzeugung ins Bewußtsein zu drängen, aller Gegenrede zum Trotz. Jedoch auch der geschulte Denker pflegt, wenn ihm der Gegenstand erst geläufig geworden ist und er es durch Übung in der erforderlichen logischen Spezialtätigkeit zur Virtuosität gebracht hat, schnell und sicher, aber auch fast ganz unbewußt zu operieren, obwohl er stets imstande sein wird, sich sein Verfahren nachträglich klar zu machen und logisch zu rechtfertigen. Bei neuen und schwierigen Aufgaben dagegen, wo es noch keine erprobte Methode, keine ausgebildete Routine gibt, wird sich auch der kultivierteste Verstand mehr oder weniger in die Lage des natürlichen Denkens beim Rätselraten versetzt sehen. Er vertieft sich in die Bedingungen der Lösung und bald geht das bewußte Sinne in einen Zustand träumerischen Grübelns über, wo im Bewußtsein nur ein allgemeines Gefühl der Anspannung bleibt und des Durcheinanderarbeitens der Gedanken, ein nicht zu fassendes, nicht zu verfolgendes Vorstellungschaos, aus dem nur ab und zu einzelne Bilder, abgerissene Stücke von Gedankenketten auftauchen, bis plötzlich blitzartig die Lösung dasteht, dem Denker selbst überraschend. Und das Bemühen, den Gedankengang nachträglich zu Bewußtsein zu bringen, ist keineswegs immer von Erfolg, so wenig, daß häufig neu entdeckte, wichtige Wahrheiten mit falschen oder doch mangelhaften Beweisen versehen in die Welt treten und es oft lange Zeit braucht, die wahre, im Geist des Entdeckers wirksam gewesene, ihm selbst teilweise verborgen gebliebene Vermittlung ans Licht zu ziehen. Und überhaupt scheint im lebendigen Denken das Bewußtsein gewissermaßen immer nachzuhinken, da bei jeder neuen, den Gedanken eigentlich fördernden Wendung jener Vorgang des grüblerischen Versinkens im Kleinen sich wiederholt und der Schritt immer schon getan ist, wenn sich das Bewußtsein einstellt. Man geht daher wohl nicht zu weit mit der Behauptung, daß in praxi auch die logische Tätigkeit stets einen mehr oder minder großen Beisatz von Unbewußtem enthält, nur daß der rückblickenden Ruhe- und Sammelpunkte bald weniger sind und bald mehr, daß sie hier zufällig zerstreut liegen, dort, methodisch verteilt, die logische Kette in ihrer Gliederung hervortreten lassen. -

Soviel vom  freien,  eigentlich sogenannten Vorstellen. -

Wenden wir uns nun dem Fundament unseres Denkens, der  sinnlichen Anschauung,  der  Wahrnehmung  zu. - Wie stellt sich da die Sache? - Auf den ersten Blick scheint hier für die Einmischung eines Unbewußten überhaupt kein Raum zu sein. Denn einmal zeichnen sich die Wahrnehmungsvorstellungen vor allen anderen durch die feste Klarheit aus, in der sie dem Bewußtsein gegenwärtig sind und jede Unbestimmtheit in ihnen führt sich nicht sowohl auf einen Mangel an Bewußtheit, als auf die objektive Unvollkommenheit, sei es des Gegenstandes, sei es des Organs und seines Verhältnisses zum Objekt zurück, gehört also zum äußerlich bedingten Inhalt und nicht zur Bewußtseinsform der Vorstellung. Und andererseits sind zwar auch die Wahrnehmungen einem steten Wechsel unterworfen, folgen einander in den mannigfaltigsten Reihen und treten zu den verschiedenartigsten Komplexen zusammen, das Gesetz ihres Zusammenhanges aber ist kein inneres, sie bedingen einander nicht als Vorstellungen, sondern hängen insgesamt direkt von den Dingen ab, nämlich von dem nach mechanischen Gesetzen wechselnden Verhältnis unseres Leibes zur Körperwelt. Jener Schluß also, der auf dem Gebiet des freien Vorstellens durch Ergänzung der im Bewußtsein lückenhaft gegegeben Kausalreihe auf unbewußte Vorstellungen führte, kann hier nicht stattfinden, wo die Vorstellung überhaupt nur als Wirkung, nicht als Ursache auftritt. - So scheint es auf den ersten Blick. - Eine genauere und tiefere Untersuchung indessen hat gerade auf diesem Gebiet zur Annahme einer Wirksamkeit des Unbewußten geführt, gegen welche die innerhalb des freien Vorstellens unwesentlich und sekundär erscheint. Der neueren Philosophie, KANT vor allem und seinen Ausläufern, namentlich SCHOPENHAUER, gebührt hier das Verdienst, der tieferen Auffassung die Bahn gebrochen zu haben, auf der dann neuerdings auch die Physiologie in ihren namhaftesten Vertretern anhand der Beobachtung und des Experiments erfolgreich zur Erklärung des Einzelnen fortgeschritten ist. Für die naive Anschauung des gemeinen Verstandes ist die Wahrnehmung ohne weiteres durch die Dinge gegeben, die ihre Eigenschaften direkt in uns abdrücken; ja es bedarf schon einer gesteigerten Reflexion, einer gewissen philosophischen Besinnung, um überhaupt die subjektive Natur der Wahrnehmung deutlich zu erkennen, um uns aus dem träumerischen Zustand des gewöhnlichen Bewußtseins zu erheben, dem Wahrnehmungsbilder und wahrgenommene Dinge ineinander schwimmen, das direkt unter den Objekten zu verkehren, sie unmittelbar gegenwärtig zu haben meint. In dieser Verworrenheit hat zuerst KANT entscheidend Klarheit gestiftet, indem er zuerst die in der Sinneswahrnehmung eigentümlich verflochtenen disparaten Elemente der Empfindung und Vorstellung fest voneinander gesondert und den an sich einleuchtenden Satz allgemein zu Bewußtsein und zur Anerkennung gebracht hat, daß nur der Empfindungsgehalt als wirklich gegeben, d. h. als unmittelbar aus dem Seinsverhältnis unserer selbst und der Außenwelt resultierend betrachtet werden kann, der Vorstellungsgehalt als solcher dagegen allein auf das Subjekt und dessen geistiges Vermögen zurückzuführen ist. -

Sofern nun die Sinneswahrnehmung Vorstellung ist und zwar auf Erkenntnis zielende und in gewissem Sinne auch unzweifelhaft Erkenntnis enthaltende Vorstellung, ist sie dem Gesetz des Erkennens unterworfen und kann sich der Frage nach dem Erkenntnisgrund nicht entziehen. Da eine Wahrnehmung aber keine an sich einleuchtende Wahrheit darstellt, wie etwa ein logisches oder mathematisches Axiom, so muß sie ihren Erkenntnisgrund außer sich haben, kann also nur als Resultat eines mentalen Prozesses gedacht werden, der jenen Grund in sich enthält. Es findet sich im Akt des Wahrnehmens im Bewußtsein, auch bei gespanntester Aufmerksamkeit, von so einem Prozeß keine Spur, vielmehr ist eben die Unmittelbarkeit, mit der die sinnliche Vorstellung sich uns aufdrängt, ohne denknotwendig zu sein, ihr charakteristisches Merkmal. Der fragliche Prozeß muß sich also unbewußt vollziehn und so haben wir eine unbewußte Geistestätigkeit als ideelle Ursache der Wahrnehmung, die wesentlich und regelmäßig unbewußt ist, während wir nur auf solche geführt wurden, die neben ihrem bewußten Vorkommen gelegentlich auch unbewußt stattfanden. -

Demgemäß müssen dann alle Versuch, die Sinnesvorstellungen als solche äußerlich zu begründen, zurückgewiesen werden, ob man sie nun empiristisch und materialistisch von den Dingen in den Geist hineingeschoben oder mystisch und idealistisch durch einen anderen Geist in uns hineingedacht sein läßt und es muß als Grundsatz festgehalten werden, daß einer Intelligenz eine Vorstellung nur durch Anregung ihrer eigenen Tätigkeit beigebracht und in letzter Linie nur dadurch gegeben werden, daß sie sie sich selbst gibt.

Und so zeigt sich denn auch in der Tat auf dem Gebiet des sinnlichen Wahrnehmens bei näherem Eingehen eine Fülle von Erscheinungen, die ganz bestimmt auf eine Menge unbewußt sich vollziehender Denkoperationen hinweisen, welche den bewußten vollkommen analog sind. Auf Einzelheiten kann ich mich hier nicht einlassen und verweise deswegen auf die Lehrbücher der Physiologie. Nur im Allgemeinen will ich bemerken, daß vor allem die Sinnestäuschungen hier von Wichtigkeit sind, da sie uns, ähnlich wie Unregelmäßigkeiten der organischen Funktionen, einen Einblick in die Werkstätte der wirkenden Kräfte gewähren, der uns bei normaler Tätigkeit versagt ist, uns indirekt auf empirischem Weg den Beweis liefern für die a priorische Behauptung, daß man es beim Wahrnehmen mit dem Resultat einer Denktätigkeit zu tun hat, denn nur das Denken kann irren und nicht das Sein und wo Irrtum und Täuschung ist, da muß Schluß sein und Urteil. Ganz besonders interessant aber und für das ganze Verhältnis des bewußten und unbewußten Vorstellens bedeutend werden diese Erscheinungen durch den Umstand, daß wir nicht nur, wie beim Wahrnehmen überhaupt, die unbewußte Tätigkeit dabei nicht zu belauschen imstande sind, sondern hier sogar das unbewußte Denken mit seinen Resultaten in direkten Gegensatz zum bewußten tritt und keine Korrektur seitens desselben annimmt; denn die Täuschung besteht fort, wenn wir sie auch als solche erkannt und die Gründe entdeckt haben, welche sie veranlassen, zum stärksten Beweis dafür, daß der der Wahrnehmung zugrunde liegende Denkakt dem Bewußtsein absolut entrückt ist.
LITERATUR - Adolph von Heydebreck, Über den Begriff der unbewußten Vorstellung, Vortrag gehalten am 27. Oktober 1883 mit der dabei stattgehabten Diskussion, Philosophische Vorträge der Philosophischen Gesellschaft Berlin, Neue Folge Heft 7, Halle/Saale 1884