NietzscheF. MauthnerF. Rittelmeyer | ||||
Nietzsche als Erzieher
Vielleicht ist diese auffallende Tatsache für NIETZSCHE rühmlich und seiner erzieherischen Wirkung zuträglich. Vielleicht beweist und fördert nichts mehr sein wahres Erziehertum, als daß man ihn nicht in der üblichen Weise zum Pädagogen stempelt und das goldene Korn seiner lebensvollen Gedanken auf unseren alexandrinischen Wissenschaftsmühlen in gelehrten Mehlstaub verwandelt. Oder ist NIETZSCHE, über den man vielfach schon hinauszusein sich einbildet, immer noch zu "unzeitgemäß", um in einer auf die Praxis angewiesenen Wissenschaft schon ernstliche Beachtung und Verwertung finden zu können? Wie man diese Fragen beantworten mag, - daß NIETZSCHE ein Erzieher größten Stils tatsächlich ist, darüber kann für den, der NIETZSCHE und das Wesen der Erziehung kennt, kein Zweifel bestehen. Worin liegt das Wesen der Erziehung? Wir überschätzen im allgemeinen auch heute noch - trotz SCHOPENHAUER und NIETZSCHE - viel zu sehr das Denken. Wir stecken immer noch tief im Intellektualismus - trotz alles Pragmatismus, Voluntarismus und Aktivismus. Zu stark lock und blendet uns immer noch die lichte Oberfläche der geistigen Welt, in der unser Sein und Trachten zum Wort und Gedanken wird, als daß wir über der Lust an ihrer Helligkeit nicht immer wieder der dunklen, dämmerhaften Tiefe vergessen sollten, aus der all unser Denken hervorsteigt. Und doch birgt diese dunkle Tiefe alles Wesentliche und eigentliche Wirksame unsere ewig rätselhaften Seins. Auf jeden Fall gilt dies von der Erziehung. Die Erfahrung belehrt uns allstündlich darüber, daß das, was den wahren Erzieher ausmacht, nicht ein Denken und Wissen ist, sondern ein "dahinter" liegendes Sein, nicht ein von Prüfungskommissionen durch Fragen und Antworten Feststellbares, sondern etwas im Leben, im Umgang mit lebendigen Menschen sich Erprobendes und Beweisendes. Durch Gedanken und Worte wird niemand erzogen, so tief und wahr und schön sie sein mögen. Das, was erzieht, ist immer nur die lebendige Ganzheit des Menschen, die Persönlichkeit. Gewiß, sie drückt sich bi zu einem gewissen Grad in Gedanken und Worten aus. Aber wenn diese Gedanken und Worte erzieherisch wirken, so tun sie es nicht an und für sich, sondern nur insofern sie Ausdrucksmittel einer wahrhaft erzieherischen Persönlichkeit sind. Diese ist und bleibt das eigentlich Wirkende. Wer über sie nicht verfügt, der mag ein guter Lehrer und selbst - wie z. B. ROUSSEAU - erin großer Erziehungswissenschaftler und Erziehungsschriftsteller sein, ein Erzieher, im echten Sinne des Wortes, ist er nicht. Was nun die erzieherische Persönlichkeit ausmacht, wie sie es anfängt, erzieherisch zu wirken, das ist im Grunde ihr selbst so geheimnisvoll wie uns, die wir ihre Wirkung erfahren oder beobachten. Wir werden es begrifflich nie völlig erfassen und erklären können, worauf der stille und doch so unwiderstehliche Zwang beruth, den der echte Erzieher auf seinen Zögling und, in geringerem Maße, auf jeden ihm nahe kommenden Menschen unwillkürlich ausübt, - ein Zwang, der nicht als drückend und beengend empfunden und daher auch nicht gehaßt wird wie der rohe äußere Zwang, sondern den jeder sittlich Strebende gern hat und sucht, weil er wohl bändigt, aber auch belebt, fesselt, aber auch frei macht. Der geborene Erzieher - denn man muß zum Erzieher geboren sein, so gewiß auch alle Erziehung Selbsterziehung voraussetzt - erhebt den Zögling gleichsam über sich selbst, indem er durch seine Einwirkung den höheren Seelenkräften des Zöglings, d. h. den Kräften, die dieser selbst als die höheren empfindet, die Herrschaft über die niederen gibt oder sichert. Natürlich kann diese adelnde Einwirkung nur den Empfänglichen tief und dauernd beeinflussen. Den ALKIBIADES vermochte auch SOKRATES nicht zur Selbstbeherrschung zu erziehen und vor dem Verderben zu erretten. Aber was der geniale Unband gleichwohl seinem großen, wunderlichen Erzieher zu verdanken hat, das zeigt uns die Lobrede, die ihn PLATO im "Gastmahl" auf den geliebten Lehrmeister halten läßt. Ganz ohne Wirkung bleibt die eigentümliche Ausstrahlung sittlicher Energie, in der sich das echte Erziehertum beweist und betätigt, wohl bei niemand. NIETZSCHE besaßt diese sittliche Strahlungsenergie von klein auf. Natürlich, wir werden ja nur, was wir sind. Er hatte daher auch schon als Kind einen gewissen, etwas unkindlich anmutenden erzieherischen Hang, den er vor allem an sich selbst und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester befriedigte. Diese berichtet selbst davon in dem hübschen Kapitel ihrer Biographie "Fritz als Erzieher". Hier erzählt sie auch ein Beispiel von jenem stillen sittlichen Einfluß, den NIETZSCHE schon als Knabe durch seinen Blick und seine bloße Gegenwart auszuüben vermochte: seine Mitschüler unterdrückten beim Anfertigen der schriftlichen Arbeiten mit Rücksicht auf ihn die üblichen Äußerungen der Rohheit, mit der Begründung: "Ach, er sieht einen so an, da bleibt einem das Wort im Munde stecken." Es ist klar, der bürgerliche Beruf eines so Veranlagten, wenn er einen Beruf wählte, konnte nur der des Erziehers sein. Die "pädagogisch-anthropagogische Leidenschaft in Kopf und Herzen", wie NIETZSCHE seinen herrschenden Trieb in einem Brief an ROHDE nennt, wies ihm den Lebensweg. Er wurde in Basel Lehrer, Universitäts- und Gymnasiallehrer, und hat als solcher sein angeborenes Erziehertum nach allen Nachrichten, die wir besitzen, aufs schönste bewährt. JAKOB BURCKHARDT erklärte, einen solchen Lehrer würden die Basler nicht wiederbekommen, und was BERNOULLI von NIETZSCHEs Schülern erzählt, bestätigt, was ja kaum der Bestätigung bedarf: daß NIETZSCHE auch auf dem Lehrstuhl und vor der Klasse jenen zugleich anspornenden und bändigenden Einfluß ausübte, den der echte Erzieher, selbst ohne daß er es weiß und will, auf seine Zöglinge ausübt. Am fühlbarsten aber macht uns diesen adelnden Einfluß NIETZSCHEs auf seine Mitmenschen sein Briefwechsel mit seinen Freunden. DEUSSEN nennt ihn ausdrücklich seinen Erzieher, und was ROHDE einmal ausspricht, er fühle sich durch ein Zusammensein mit ihm stets für eine Zeit lang in einen höheren Rang erhoben und gleichsam geistig geadelt, das haben die übrigen Freunde zum Teil ebenfalls ausgesprochen und sicherlich alle empfunden. Aber wenn das echte Erziehertum an der Persönlichkeit haftet, ist dann nicht NIETZSCHEs Erziehertum mit ihm gestorben und begraben? Sicherlich nicht. Viele haben es erfahren und bezeugt, daß vom jungen und einsamen NIETZSCHE noch heute die tiefsten und nachhaltigsten Wirkungen ausgehen. Denn dieser große Erzieher hat es ja verstanden, wie nur ganz wenige vor ihm, mit seinen "geschriebenen und gemalten Gedanken" sich selber, sein Wesen, seine Persönlichkeit hineinzubannen in seine Bücher, so daß er selbst in ihnen weiterlebt und weiterwirkt. Gewiß, jeder, der zu schreiben versteht, stellt irgendwie auch sich selbst dar, wenn er seine Sache darstellt. Aber um die eigene Persönlichkeit in abstrakten Gedankengängen so wahr und wirkungsmächtig auf Papier zu zaubern, wie es NIETZSCHE getan hat, dazu bedurfte es der ganzen Seelenkenntnis und lyrischen Sprachkunst NIETZSCHEs. Also der Erzieher NIETZSCHE, wie wir ihn verstehen, ist nicht tot. Er lebt in den Werken fort, für die er zuletzt allein noch lebte; ja, er gelangt erst in ihnen zu der Wirkung, die er erstrebte und die zu üben er berufen war. O des großen Verwandlungswunders, für das unser Auge meist so stumpf bleibt! Der lebendige Mensch, dessen Blick und Stimme nur zu wenig Mitlebenden gelangt, er setzt sich selbst in gedruckte Buchstaben um und gewinnt in dieser Verwandlung das Auge und Ohr, das Herz und den Sinn von Tausenden und aber Tausenden! NIETZSCHE haßte alles Literatentum. Der Gedanke, daß sein Zarathustra "Literatur" sei, erregte ihm Übelkeit. Er wußte, daß echtes Erziehertum Ausfluß der lebendigen Persönlichkeit, kein Wort- und Gedankengemächt ist, und er war daher wie jeder echte Erzieher und Menschenbildner ein Menschenfischer: mit seinen Schriften, die so voll bunten, lockenden Zaubers sind, suchte er Jünger zu gewinnen, Menschen, denen er sein Innerstes und Bestes, sein Heiligstes und Höchstes ins Herz geben könnte, damit sie es weitergäben an andere und so von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz sich fortpflanzte, was ihn in seinen guten Stunden beseelte. Daher hegte er auch immer wieder den Plan, irgendwo an einem abgelegenen Ort nach der Weise der altgriechischen Philosophen eine Art Schule der Weisheit zu gründen, wo er Menschen, nicht Büchern seine innersten Gedanken anvertrauen und echte Erzieher erziehen könnte. Aber andererseits wußte er auch, welche Macht das geschriebene Wort haben kann, wenn es im tiefsten Sinne wahr ist, wenn es mit Blut geschrieben und daher Geist und Leben ist. Das Buch gibt dem Menschen die tausend Zungen, die sich der fromme Dichter wünscht, um Gott zu preisen, und so vertausendfacht es die Wirkung der Persönlichkeit des Schreibenden, gesetzt nur, daß diese in den Blättern wirklich enthalten ist. Dazu kommt, daß ein Mensch von der zarten, reizbaren und zurückhaltenden Art NIETZSCHEs sich auf dem Papier, dem idealen, bloß gedachten Zögling und Jünger gegenüber, weit unbefangener und daher im Grunde wahrer gibt als im Verkehr mit wirklichen Menschen, auf die er unwillkürlich und unausbleiblich Rücksicht nimmt und deren Gegenwirkung daher seine Selbstentfaltung und Selbstdarstellung einschränkt. Es gibt Künstlernaturen in Fülle, die ihr innerstes, eigentliches Sein nur in einsamem Schaffen, im Hinblick auf ein gedachtes Publikum, ganz zum Ausdruck zu bringen vermögen und die daher gerade mit ihrer Persönlichkeit in ihren Werken viel stärker auf andere, verwandte Seelen wirken als im persönlichen Umgang. Zu ihnen gehört NIETZSCHE. Seine geistige und sittliche Leidenschaft wird erst ganz frei im Verkehr mit gedachten Menschen, die keine Rücksichten verlangen und so entfaltet sich seine ganze sittliche und erzieherische Kraft erst in seinen Schriften, in denen sein Ethos wie eine vom Winde nicht bewegte Flamme steil zum Himmel emporlodert. NIETZSCHE war ein geborener Bergsteiger und Höhenwanderer des Geistes. Höher und höher klomm er empor im Gebirge der Erkenntnis und immer mehr weitete sich sein Gesichtskreis. In demselben Maß aber wuchs auch der ideale Kreis seines erzieherischen, menschenbildnerischen Wirkens. Zuerst - in den Unzeitgemäßen Betrachtungen - wandte er sich als Bußprediger und Kulturlehrer an die Deutschen, dann - in den Aphorismenbüchern der mittleren Periode seines Schaffens - galt sein zielsuchendes Denken dem guten Europäer, und endlich, seit dem Zarathustra, wuchs er, in seinem eigenen Denken und Wollen, empor zum Lehrer und Erzieher der Menschheit. NIETZSCHE gehörte bei all seiner Nervenschwäche und menschlichen Gebrechlichkeit zu den innerlichst starken Naturen faustischen Charakters, die jeder Widerstand und Mißerfolg nur stärker macht und auf dem eingeschlagenen Weg vorwärtstreibt. Je mehr ihm das Schicksal versagte, umso mehr forderte er von ihm, umso höher türmte er sein Ideal, umso weiter schoß er den Pfeil seiner Sehnsucht. Daher ist auch die Krankheit, die ihn so hart angriff und schließlich überwältigte, wahrlich kein Einwand gegen sein Erziehertum. Sie macht die stählerne und stählende Energie, die in diesem anfälligen, gemarterten Leib mächtig war, nur noch fühlbarer und wirksamer. Aber verbietet uns nicht die innere Zerspaltenheit NIETZSCHEs, die Widersprüchlichkeit und Romantik seines Seins und Denkens, ihn als wahren Erzieher anzusehen und hinzustellen? Muß nicht der Erzieher mit sich eins sein und wissen, was er will? Und kann der wissen, was er will, in dessen Brust zwei, nein, viele Seelen wohnen? Dieser Einwand hat Gewicht, sicherlich. Er entscheidet für viele gegen NIETZSCHE als Erzieher; für alle die nämlich, die seelisch zu einfach gebaut sind, um ein so vielfaches, buntes, an Gegensätzlichkeiten reiches Seelenwesen wie das NIETZSCHEs als lebendige Einheit und Ganzheit empfinden und erfassen zu können. Für alle diese ist NIETZSCHE kein Erzieher. Für sie kann er kein Erzieher sein, wie er in einem früheren Zeitalter, sagen wir, um nicht zu weit zurückzugreifen, im 17. Jahrhundert, für niemand ein Erzieher hätte sein können. Es gibt und gab überhaupt niemals einen Erzieher für alle, gesetzt nur, daß wir das Wort in unserem Sinne nehmen. Äußere Zucht freilich macht keine Unterschiede, wie sie keine voraussetzt. Persönlich-sittliche Beeinflussung dagegen ist stets durch eine gewisse Seelenverwandtschaft bedingt. Einen Zuchtmeister kann man in jedem Feldwebel finden. Zu einem Erzieher aber muß man "gehören". NIETZSCHE wußte das und hat es oft ausgesprochen, ja, er hat vor sich selber gewarnt: "Ich bin ein Gesetz nur für die Meinen, ich bin kein Gesetz für alle", spricht Zarathustra. Wer aufgrund seiner seelischen Anlage nicht zu NIETZSCHE "gehört", der stößt sich unfehlbar an manchen Einzelheiten in seiner Gedankenwelt, eben weil sie ihm Einzelheiten bleiben. Für die Seinen dagegen verschwinden die befremdenden und anstößigen Einzelheiten in der lebendigen Ganzheit der Persönlichkeit, wie die einzelnen Dissonanzen im Ganzen einer Tondichtung. Die ärgsten Schroffheiten, Verzerrungen und Widersprüche in seinen Schriften werden dem, der sie als Äußerungen seiner Persönlichkeit versteht, nicht nur erträglich, als Ausdruck des Menschlichen-Allzumenschlichen in ihm, sondern sie erscheinen ihm zum Teil sogar sittlich wertvoll und verehrungswürdig, weil er in und hinter ihnen die Kraft der Selbstüberwindung spürt, die NIETZSCHE - mehr vielleicht als irgendein Denker vor ihm - besessen und in seinem Denken betätigt hat. Wir sagten es schon: nicht der Gedanke ansich hat erzieherische Kraft, sondern die seelische Wesenheit, die Gesinnung, die sich in ihm ausdrückt. So kann es vorkommen, und es kommt im geistigen Umgang mit NIETZSCHE oft vor, daß man den Gedanken selbst verneint und von sich weist, die Gesinnung aber, die ihn hervortreibt, bejaht und auf sich wirken läßt. Es gibt eine zweifache Art der Idealbildung, je nach der Stellungnahme der Seele zu sich selber. Die eine entstammt dem Gefühl der eigenen Kraft und Fülle, die andere dem des inneren Mangels. Jene ist eine Form der Selbstliebe und Selbstbejahung, diese ein Ausdruck der Selbstkritik und Selbstüberwindung. Die erste denkt und setzt das eigene Sein oder doch dessen zentrale, beherrschende Kräfte, in der Vollkommenheit, die zweite verklärt und verherrlicht das, was im eigenen Wesen nicht stark und herrschend, aber doch darin vorhanden ist, so daß es als wertvoll empfunden werden kann (denn was wir nicht in irgendeinem Grad in uns tragen, können wir nicht verstehen und lieben). Welche Art der Idealbildung die wertvollere ist, ist nicht leicht zu entscheiden. Die Sehnsucht malt ohne Zweifel mit glänzenderen Farben als der Besitz, dafür aber ist sie weit mehr in Gefahr, zu übertreiben und sich ins Wesenlose zu verlieren. Bei NIETZSCHE, wie wohl bei jedem vielspältigen Menschenwesen, finden wir beide Arten der Idealbildung unaufhörlich miteinander wechselnd und einander widersprechend, einander ergänzend und sich ineinander verwebend. Keine reizvollere Aufgabe für einen Psychologen und Dichter - denn dichterische Begabung gehört dazu - als dieses feine, bunte Gespinst aus den Goldfäden des Selbstgefühls und der Sehnsucht zu erforschen und aufzulösen. ERNST BERTRAM hat sie in seinem "Nietzsche" aufs schönste gelöst. Die strahlende und zündende Energie der Idealbildung in NIETZSCHEs Schriften ist gewaltig. Es spricht daraus eine sittliche Leidenschaft, eine Hoheit, Wucht und Größe der Empfindung und des Urteils, daß wir uns dadurch, aller zeitlichen und sachlichen Unterschiede vergessend, an die größten Gesetzgeber und Sittenlehrer der Vergangenheit, an MOSES und die Propheten erinnert fühlen. Diese Stimme, die oft so klar und kühl und ruhig klingt, die so süß zu singen, so schalmeienweich zu klagen weiß, sie ertönt auch wie ein Sturmwind, wie das Brausen eines Wasserfalls, der alles, was er erfaßt, mit sich fortreißt, dem fernen, unendlichen Meer zu. So leuchtend nun bei NIETZSCHE die Sehnsucht zu malen versteht und so stark daher die sittlich anfeuernde Kraft oft gerade seiner "geschriebenen und gemalten" Selbstüberwindungen ist, - um NIETZSCHE als Erzieher recht faßbar zu machen, tut man doch gut, sich nach Möglichkeit (soweit man die beiden Arten der Idealbildung voneinander sondern kann) an die Seiten und Richtungen seines Philosophierens zu halten, die eine Bejahung und Steigerung seines eigenen, innersten Wesens darstellen und in denen mithin sein idealbildendes Denken mit seinem Sein und Leben in Übereinstimmung ist. Nach diesem Grundsatz läßt sich, wie mir scheint, NIETZSCHEs erzieherisches Wirken und Lehren in vier Hauptlinien verfolgen, die freilich hier nur angedeutet werden können. 1. NIETZSCHE, der Immoralist, ist als Persönlichkeit einer der stärksten Lehrer des sittlichen Ernstes und des recht verstandenen kategorischen Imperativs. Man sehe sich sein Leben an! Wann hätte dieser Mann nicht mit äußerste Härte gegen sich selbst seine Pflicht erfüllt, seine Pflicht, die Aufgabe, die er sich selbst setzte, die seine innerste Natur, "der Tyrann in ihm", sein Genius, ihm setzte? Wann wäre er abgeirrt vom schmalen, harten Weg zur Höhe, den zu gehen er sich berufen fühlte? Wann hätte er je nach Glück getrachtet, nach dem Gemeinen, das uns alle bändigt, und nicht einzig nach seinem Werke? Gab es je eine großartigere Verachtung all dessen, was das Erdensein angenehm und behaglich macht, als sie der Lehrer des Übermenschen durch die Tat gezeigt hat? Und was er unnachsichtig von sich selbst forderte und sich selbst abgewann, das forderte er auch von anderen, Verachtung der Gefahr, des Behagens, des "Fliegenglücks", um dessentwillen, was dem Menschenleben Wert, Würde und Größe gibt und das Dasein rechtfertigt. Was dieses Wert-und-Würde-Verleihende ist, das kann seinem Inhalt nach so wenig allgemeingültig bestimmt werden wie der Inhalt des kategorischen Imperativs. Jeder trägt nach seinem eigenen Gefühl und Urteil Höheres und Niederes in sich, und NIETZSCHE, der große Antiphilister und Lehrer der faustischen Moral, fordert, daß er das Niedere dem Höheren zum Opfer bringe und unterwerfe. "Wirf den Helden in deiner Seele nicht weg!" das ist die Mahnung, die dem, der NIETZSCHE wirklich kennt, aus allen seinen Schriften zuerst und am stärksten entgegenschallt. Wer so geartet ist, daß dieser Klang in seinem Herzen keinen Widerhall weckt, für den hat NIETZSCHE nicht geschrieben und gelebt, er wird keine Zeile des Zarathustra verstehen. Wie not aber tut dem mammonistisch entarteten, genüßlichen, leichtfertig in den Tag hineinlebenden Geschlecht unserer Zeit die Erziehung durch diesen stählernen und stählenden, heroischen Geist, der nichts mehr haßt und verachtet als Weichlichkeit, Schwächlichkeit und Verzärtelung und der einen CESARE BORGIA preist, nur weil er kein Zärtling und Schwächling war! 2. NIETZSCHE ist ferner in Leben und Lehre ein Erzieher zu lebendiger Bildung, und das ist heute wohl die faßbarste und zeitgemäßeste Seite seines erzieherischen Denkens. In Pforta philologisch-historisch erzogen, erwuchs er als Student in wenigen Semestern zu einem geachteten Altertumsforscher und wurde mit 24 Jahren Professor der klassischen Philologie in Basel. Aber war viel zu schöpferisch und zukunftsträchtig, um in der Betrachtung und Rekonstruktion der Vergangenheit Genüge finden zu können. Aus dem philologischen Kritiker wurde bald der Kritiker der Philologie, aus der Erforscher der alten Geschichte der Erforscher der historischen Krankheit. Er löste sich innerlich und dann auch äußerlich von der Philologie, wobei ihm die ablehnende Haltung seiner Berufsgenossen und schwere körperliche Leiden zu Hilfe kamen und ging in die Berge auf die Suche "nach sich selbst". Das Wanderer- und Denkerdasein, das er seitdem, fern von Akademien und Bibliotheken, führte, erinnert wieder an frühere stärker aus sich selbst lebende Zeiten und ist ein großartiges Muster für jeden, der den Historismus unserer Zeit als eine Krankheit und ein Zeichen des Niedergangs empfindet. Gibt und gab es je einen Philologen, einen bedeutenden Philologen, der das Philologentum so völlig in sich und seinem Schaffen überwunden hätte? NIETZSCHE ist auch in diesem Punkt mit sich in Übereinstimmung geblieben, seitdem er sich selbst entdeckt hatte: er hat, was er lebte, in Lehre umgesetzt und seine Lehre durch sein Leben bekräftigt. Was er in den Unzeitgemäßen Betrachtungen, aber auch an vielen Stellen seiner späteren Schriften, so leidenschaftlich bekämpft, ist eben das, was - wir sehen es nicht ohne Bangen - SPENGLER als das Schicksal hinstellt, dem wir unweigerlich verfallen seien: das Alexandrinertum, eine erschöpfte Kultur, die nicht mehr die Kraft hat zu eigenen Hervorbringungen und sich daher darauf beschränkt, die Hervorbringungen früherer, zeugungskräftigerer Zeiten zu studieren und nachzubilden, um mit erborgtem und nachgemachtem Zierrat die Armut und Blöße des eigenen Daseins zu verhüllen. NIETZSCHE hat als erster dieses Schicksal, das uns bedroht, gesehen und damit SPENGLER den Weg bereitet. Aber - das ist der Unterschied - der große Unzeitgemäße ergibt sich der Zeit und dem Schicksal nicht, sondern, wie er sich selbst aus dem Alexandrinertum herausgerettet hat, so ruft er auch die Seinen zum Kampf gegen die unfruchtbare Gelehrtenkultur, die auf unseren höheren Schulen der Jugend, der Trägerin der Zukunft, die "historische Krankheit" frühzeitig einimpft und die etwa hervorbrechenden Keime eines Neuen mit Wissenskram und gelehrtem Staub überschüttet und erstickt. NIETZSCHE ersehnt und erstrebt demgegenüber eine lebendige Bildung, eine Bildung, die nicht Wissen ist, sondern Tat, nicht Nachahmung, sondern Schöpfung, nicht Betrachtung und Erforschung der Vergangenheit, sondern Gestaltung der Gegenwart. NIETZSCHEs erzieherische Wirkung in dieser Hinsicht ist außerordentlich groß. Wer sie erfährt, der blickt mit einem neuen Auge auf die Bildungsfragen der Zeit und geht mit einem neuen Sinn und Willen an das Geschäft der Jugenderziehung oder der eigenen Ausbildung und Weiterbildung heran. Und hier drängt die veränderte innere Einstellung ohne weiteres zur Reform der äußeren Einrichtungen. Aus NIETZSCHEs schöpferischer und Richtung gebender Kritik der neuzeitlichen Kultur und Bildung läßt sich ein Programm zur Umgestaltung unseres gesamten Bildungswesens ableiten, und es ist an der Zeit, daß wir dieses Programm entwickeln und ausführen. 3. Kennt man NIETZSCHE als Antialexandriner und Erzieher zu lebendiger Bildung immer noch viel zu wenig, so ist der Verkünder der Umwertung aller Werte, der Herrenmoral und des Übermenschen in aller Munde. Hier schlägt auch wirklich das innerste Herz der NIETZSCHEschen Weisheitslehre. Will man den ganzen Reichtum seines idealbildenden Denkens in eine Formel fassen, so muß man ihn den Philosophen des Aristokratismus nennen. Hier aber, wo NIETZSCHEs tiefstes Trachten und Sehnen zum Ausdruck kommt, ist er auch am stärksten verwechselt und mißverstanden worden. Denn hier laufen die beiden Arten der Idealbildung oft verwirrend durcheinander und widereinander, so daß es eines tieferen Sicheinfühlens in den Kern seiner Persönlichkeit bedarf, um, unbeirrt durch die Widersprüche, sein zielsuchendes und zielsetzendes Denken fühlend zu erfassen. Wer dazu imstande ist, der kommt nicht in die Gefahr, diesen zartfühlendsten und zuchtvollsten aller Menschen für einen Lehrer der Roheit und Zügellosigkeit zu halten. NIETZSCHE preist die rohe, ungebändigte Kraft der "blonden Bestie" nur im Gegensatz zur Schwäche des entarteten, niedergehenden Geschlechts, das zum Guten wie zum Bösen nicht mehr stark genug ist. Was ihn im Tiefsten treibt bei all seinen Werturteilen und Wertsetzungen- das verstehen wir seit SPENGLERs Auftreten weit besser als vorher -, ist ein instinktmäßiges Grausen vor dem "Untergang des Abendlandes", oder, wie er selbst sagt, der Menschheit. Was SPENGLER wie ein Dämon der Erkenntnis mit kühler Klarheit schaut und darstellt, das ist für den durchaus ethisch und erzieherisch gerichteten Geist NIETZSCHEs ein Schreckbild, das ihn versteinern würde, wenn er ihm nicht ein Hochbild der sittlichen Sehnsucht entgegenstellte, dessen Anblick ihn stärkt und bei allen Zweifeln seine Hoffnung lebendig erhält. Dem "letzten Menschen", der nur noch "blinzelt", stellt er den Übermenschen entgegen, der die Stärke der blonden Bestie mit höchster Geistigkeit und Güte vereinigt. Weil NIETZSCHE die ungeheure Gefahr des Niedergangs der ihm überschaubaren Menschheit erblickt, bekämpft er mit allen Kräften nicht nur das immer mehr sich ausbreitende Alexandrinertum, sondern auch die immer weiter fortschreitende Demokratisierung Europas. Das Gerede der "libres penseurs, der unverbesserlichen Flachköpfe und Hanswürste der modernen Ideen", vermochte diesen tiefen Geist nicht zu täuschen; er wußte, Demokratisierung führt eine Gesellschaft, ein Volk, eine Kultur nicht hinaus, sondern hinab. Sie ist ja Gleichmacherei, Einebnung der Höhen des Menschentums, Aufkommen der Mittelmäßigkeit, Sieg der Zahl über den Wert, des Gemeinen über das Ungemeine, Seltene und Hervorragende. Gerade an diesem aber und nur an diesem ist NIETZSCHE gelegen. Er sucht die Seinen nicht in der Menge. Den Viel-zu-Vielen hat der Individualist und Aristokrat nichts zu sagen. Wer aber wirklich Individuum ist und seine Einzigkeit und Besonderheit fühlt, der findet in NIETZSCHE einen Erzieher ohnegleichen. So hat noch niemand der jungen Seele, die sich selber sucht, zugesprochen wie der Verfasser der dritten unzeitgemäßen Betrachtung, so ernst und mahnend und zugleich so mütterlich liebevoll und ermutigend. Hier, wenn irgendwo auf bedrucktem Papier, waltet die "Genialität des Herzens", die den Erzieher vor allem auszeichnet und ihn vom Zuchtmeister unterscheidet. Wahrlich, wer diese Worte mit dürstender Seele in sich getrunken hat, der hat in seinem Herzen eine ewige Dankbarkeit gegen den Seelenleiter und Seelenbefreier, der sie geschrieben hat. Der Individualismus NIETZSCHEs ist nicht naturalistisch geartet, sondern ethisch. Er hat nichts zu tun mit dem Libertinismus, der dem kategorischen Imperativ der Pflicht den Optativ [Konjunktiv, Wunschform - wp] des Herzens und der Sinne entgegenstellt. Nur dem Adler in der Brust des Edlen löst Zarathustra die Kette, nicht den wilden Hunden, die in den Kellerräumen der Seele heulen. Die biologisch begründete Moral, die NIETZSCHE der überlieferten Moral, wie er sie auffaßt, gegenüberstellt, ist nicht ein Zugeständnis an das Menschlich-Allzumenschliche, sondern die Forderung des Übermenschlichen. Nicht ein "Du darfst" setzt er dem alten "Du sollst nicht" entgegen, sondern ein "Du sollst", ein Gebot, das ganz und gar nicht leichter zu erfüllen ist als das Verbot der alten Moral. NIETZSCHE bindet, indem er befreit. Er ist ja der Erzieher zur Vornehmheit. Vornehmheit aber ist tiefstes Verpflichtetsein. "Gemeine Naturen", sagt der im letzten Grund NIETZSCHE so geistesverwandte SCHILLER, "zahlen mit dem, was sie tun, edle mit dem, was sie sind". Auf das persönliche Sein bezieht sich die Forderung der aristokratischen Moral; sich selbst wichtig zu nehmen, aus sich etwas zu machen, die eigene Persönlichkeit unermüdlich auszubilden, dazu fühlt sich der vornehme Mensch in NIETZSCHEs Auffassung nicht etwa berechtigt, sondern verpflichtet. In diesem Sinne spricht NIETZSCHE die Selbstsucht oder besser die Selbstliebe und Selbstbejahung - im Gegensatz zur buddhistischen Selbstverneinung und zur christlichen Selbstverleugnung - heilig. Wir täten wahrlich gut, wir Deutschen von heute, bei NIETZSCHE in die Schule der Vornehmheit zu gehen und da die edle, die Goethische Selbstsucht zu lernen, damit wir nicht ganz der gemeinen Selbstsucht verfallen und über der Jagd nach den Dingen und dem Ding der Dinge, dem Geld, uns selbst, unsere Persönlichkeit und den Adel unseres Menschentums verlieren. Es ist die größte erzieherische Bedeutung NIETZSCHEs, in einer Zeit der höchsten Sachkultur die Kultur der Persönlichkeit als oberste Aufgabe gepredigt und dem Menschen sein wahres Ziel und seine Würde wiedergegeben zu haben. Jede Zeile NIETZSCHEs ruft dem Leser zu: Es kommt zuletzt nicht darauf an, was du kannst und leistest, sondern wie du bist. Was hülfe es dem Menschen, wenn er - technisch - die ganze Welt gewönne und äußerlich zum Paradies machte und wäre nicht mehr wert, in diesem Paradies zu leben! Das vornehme Dasein ist repräsentativ. Der vornehme Mensch stellt sich selbst und in sich seine Kaste, seinen Stand dar. Dieser Idee der Repräsentation gibt der Lehrer des Aristokratismus den weitesten Umfang. Der "höhere Mensch", an den er sich wendet, ist Vertreter der Menschheit. Die Gattung in sich zu lieben und zu fördern, ist das vornehmste und größte Gebot, das der neue Gesetzgeber den Seinen verkündet. Damit gelangen wir zum größten erzieherischen Gedanken NIETZSCHEs, dessen Tragweite heute noch gar nicht zu ermessen ist: der Höherzüchtung der Menschheit. Über die Realisierbarkeit dieser Idee läßt sich streiten, gesetzt nur, daß man sie nicht rein zoologisch als Heranzüchtung einer neuen Art faßt, in welchem Fall sie alle Bedeutung und Triebkraft verliert. Es liegt nicht außerhalb des Bereichs der Möglichkeit, daß uns die Wissenschaft, die uns die Natur unterwirft, innerhalb gewisser Grenzen auch zu Herren der eigenen Natur macht und uns befähigt, die Entwicklung des Menschen der Macht des Zufalls, der sie bisher unterworfen war, zu entreißen. Wie dem auch sein mag, psychologisch betrachtet, als Ausgeburt sittlichen Sehnens und Strebens, ist der Übermensch der Idee des sündlosen, engelartigen Seins zu vergleichen, das die christliche Religion dem Frommen nach dem Tod verheißt. Sie ist - für den Gegner jeder Hinterwelt und Überwelt - der denkbar höchste Ausdruck jenes Ungenügens an sich selber und jenes Über-sich-Hinausstrebens, das NIETZSCHEs innerstes Wesen war und das keiner faustischen Seele fremd ist. Hat NIETZSCHE auch als Erzieher zur Vornehmheit sein Idea gelebt? War er auch in dieser Hinsicht, was er lehrte? Er hat sich selbst, seine Person seinem Werk geopfert, das ist wahr. Aber ebenso gewiß ist, daß er in seinem Werk sich selbst, seine Person dargestellt hat. Zu dieser Selbstdarstellung fühlte er sich innerlichst getrieben und verpflichtet. Selbstdarstellung aber, als Pflicht empfunden, ist Kern und Wesen der aristokratischen Existenz. NIETZSCHE empfand sein Dasein und Schaffen als repräsentativ. Er wußte in seinen guten Stunden, daß in seinem Fühlen und Denken die Menschheit sich reckte und streckte, daß er "für viele etwas tue", wenn er so lebe und sich forme und verzeichne. (1) Was ihn hinderte, seinem Lebensideal, so wie etwa GOETHE, ganz zu entsprechen, was das Stück décadence, das er in sich zu tragen sich bewußt war. NIETZSCHE ist Zarathustra, gewiß, aber nicht in allem. Zum ganzen Zarathustra mangelte ihm die natürliche Stärke und Gesundheit, deren sich Zarathustra erfreut. Wie aber hat er gerungen, um dessen, was krank an ihm war, Herr zu werden und zu bleiben! 4. Das zeigt sich am schönsten in der Weltanschauung und Gesamtabschätzung des Lebens, die dieser Märtyrer der Idee sich abgewann. Und das ist die letzte der Hauptrichtungen, in denen NIETZSCHEs Sein und Denken vorbildlich und erzieherisch ist. NIETZSCHE war der Anlage nach Pessimist. Als Knabe schon, das erzählt er selbst, machte er eine "rabenschwarze" Musik und bei keinem Dichter oder Philosophen meint er Gedanken und Worte gefunden zu haben, die "so sehr aus dem Abgrund des letzten Neinsagens herauskämen", in dem er selber zeitweilig gesessen habe. (2) Zu dieser Anlage kam ein Schicksal von ausgesuchter Schwere. Was hat dieser seelisch zarte, leidensfähige Mann nicht alles aushalten müssen an Krankheit und Entbehrung (er redet von seiner "Hundestall-Existenz"), Mühsal und Einsamkeit, Unverstandensein und Verkennung! Man lese seine Briefe, vor allem die an OVERBECK, und man wird jenen "Abgrund des letzten Neinsagens" gähnen sehen und begreiflich finden. Und doch wurde er als Denker nicht zum "tragischen Brummbär", sondern sprach das Lachen heilig und wies die Schwermut zur Hölle. "Kein Schmerz", das durfte er sagen, "hat vermocht und soll vermögen, mit zu einem falschen Zeugnis über das Leben, wie ich es erkenne, zu verführen": Seine persönlichen üblen Erfahrungen strich er, soweit er sie nicht "in Gold umzuwandeln" vermochte, bei seinem Gesamturteil über das Leben als unwesentlich durch. So rang der rabenschwarze Pessimist sich durch zu einem leuchtenden Optimismus, so klomme er empor aus dem Abgrund des letzten Neinsagens zur höchsten Höhe der Bejahung, auf der er "vor Sonnenaufgang" dem Himmel über sich ein Preislied sang, wie es schöner nie gesungen worden ist.
Der Optimismus NIETZSCHEs ist heroisch wie sein ganzes Sein und Leben und hat ebendamit eine gewaltige ethische und erzieherische Bedeutung. Der Pessimismus unserer angekränkeltn Zeit kann wie alle Schwermut und Seelenmüdigkeit nicht überwunden werden durch den billigen Optimismus der Flachköpfe und Heiterlinge, die den Leidensabgrund der Welt nicht kennen oder schwächlich davor die Augen verschließen. Diesem Optimismus des Philisters gegenüber preist und predigt NIETZSCHE stets den Pessimismus. Aber über diesen berechtigten Pessimismus erhebt er sich wie über einen notwendigen Zwischenstandpunkt zur Höhe seiner Schicksalsliebe - amor fati nannte er es - und seines Glaubens an das Leben und überwindet damit den Weltschmerz und die Lebensverneinung nicht nur für sich selbst, sondern auch für alle, die seiner Art sind und seiner Führung folgen. NIETZSCHEs Schicksalsliebe und Lebensglaube ist Religion, kein Zweifel. Die Preislieder auf Welt und Leben, die er gesungen, sind, ganz in der Tiefe betrachtet, nichts anderes und wirken auf den Empfänglichen auch nicht anders als die Palmen, in denen der israelitische Fromme das Lob Gottes sang. "Himmel über mir, du reiner, du Lichtabgrund" ... spricht im Grunde dasselbe Empfinden und Erleben aus wie "Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen!" Das Ja und Amen NIETZSCHEs, das aus dem Abgrund des letzten Neinsagens sich triumphierend emporschwingt zum wolkenlosen Himmel, es ist so deutsch wie im Grunde all sein Dichten und Trachten. DÜRER und LUTHER, GOETHE und SCHILLER, BACH und BEETHOVEN, KLEIST und HEBBEL und KLINGER - und wieviele wären noch zu nennen! - sie alle haben mit dem Teufel der Schwermut gerungen bis aufs Blut und haben obsiegt und ihr Ja und Amen gesungen. Aber keiner von ihnen hat tiefer gelitten, und keiner hat sich höher emporgeschwungen über die Leidenstiefe als FRIEDRICH NIETZSCHE. |