p-4cr-2G. TeichmüllerA. DyroffO. A. FriedrichsE. Schrader    
 
HANS CORNELIUS
Versuch einer Theorie
der Existentialurteile


"Als Existentialurteile werden wir vorläufig jedenfalls alle diejenigen Erkenntnisse und Aussagen zu erklären haben, welche in irgendeiner Weise das  Dasein  eines denkbaren Inhalts betreffen: gleichviel ob das gegenwärtige Dasein eines solchen Inhaltes  als  Inhalt unseres Bewußtseins erkannt oder ein gegenwärtiges, vergangenes oder zukünftiges Dasein desselben in irgendeinem anderen Sinn behauptet (oder geleugnet) wird. Die  endgültige  Definition der Existentialurteile wird hiernach davon abhängen, ob und in welcher Weise es gelingt, diesen Begriff des Daseins näher zu bestimmen."

"Aufgrund dieser Ansicht, welche hinter der Wahrnehmung unserer Empfindungsinhalte noch irgendeine Wahrnehmung außerpsychischer Objekte vermutete, die äußere Wahrnehmung zu einer minderwertigenn Erkenntnisquelle gestempelt werden. Sieht man von jener vermeintlichen Wahrnehmung der äußeren Ursachen unserer Empfindungen ab, so fehlt offenbar jeder Grund, der äußeren Wahrnehmung eine geringere Zuverlässigkeit zuzusprechen als der inneren: die physischen Phänomene sind als solche ebenso real wie die psychischen und die Wahrnehmung der ersteren ebenso untrüglich wie die der letzteren. Wir dürfen daher nicht die physischen Phänomene als bloße Vorstellungsinhalte, als etwas minder Wirkliches ansehen; vielmehr besitzen wir in den physischen wie in den psychischen Phänomenen, in der äußeren wie in der inneren Wahrnehmung durchaus gleichgeordnete und keiner Täuschung ausgesetzte Grundlagen und Quellen der Erkenntnis."


Einleitung

Eine Untersuchung, welche das Wesen der Existentialurteile zum Gegenstand hat, kann der Natur der Sache nach nicht von einer erschöpfenden Definition dieser Urteile ausgehen; bestenfalls wird eine solche den Schlußstein der Untersuchung bilden können. Dagegen werden wir auf jeden Fall von vornherein eine  vorläufige  Bestimmung des Sinnes geben müssen, in welchem wir das Wort Existentialurteil verstanden wissen wollen. Um von dieser vorläufigen zu einer endgültigen Begriffsbestimmung zu gelangen, werden wir uns zu überzeugen haben, ob die vorläufig abgegrenzte Urteilsklasse eine  natürliche  Klasse bildet - d. h. ob sich durch die Statuierung einer solchen Klasse eine  Vereinfachung in der Beschreibung  der Urteilsphänomene erzielen läßt - ob eventuell auch andere, der gegebenen Bestimmung nach nicht zu den Existentialurteilen zählende Erkenntnisse, dieser Klasse zweckmäßig, d. h. mit Rücksicht auf das soeben hervorgehobene Ziel aller Theorienbildung, zuzuordnen, oder ob vielleicht die zunächst unter dem Namen Existentialurteile zusammengefaßten Erkenntnisse mit Rücksicht auf eben jenes Ziel zweckmäßig in mehrere koordinierte Klassen zu gruppieren sind. Die Frage, ob die Existentialurteile überhaupt als besondere Kklasse aus der Gesamtheit der Urteile auszusondern, oder ob in letzter Instanz alle Urteile naturgemäß als Existentialurteile zu betrachten sind, wird offenbar durch eine solche Untersuchung ihre Antwort finden; wie auch umgekehrt jeder Versuch, welcher sich direkt auf die Beantwortung der letzteren Frage richtet, die zuerst angedeuteten Fragen mitbeantworten müßte. Wenn ich nicht von der eben berührten Fragestellung - welche man als die allgemeine Frage nach dem Wesen der Urteilstätigkeit mit dem  principium divisionis  [Prinzip der Teilung - wp] der Urteile aufzufassen hätte - sondern von der spezielleren Frage nach der Natur der Existentialurteile ausgehe, so geschieht dies einerseits mit Rücksicht auf die historische Entwicklung des Urteilsproblems, in welcher bekanntlich die Frage nach der Natur der im engeren Sinne so genannten Existentialurteile die wichtigste Rolle gespielt hat, andererseits aber deshalb, weil sich von dieser Fragestellung aus die Beweisführung erheblich einfacher gestaltet. Wenn wir den Begriff des Urteils im weitesten Sinne fassen, indem wir nicht nur die Aussagesätze und überhaupt die in irgendeiner Form zum Ausdruck gelangenden Urteile, sondern auch die zugrunde liegenden elementaren Erkenntnisakte als Urteile bezeichnen, so werden wir als Existentialurteile vorläufig jedenfalls alle diejenigen Erkenntnisse und Aussagen zu erklären haben, welche in irgendeiner Weise das  Dasein  eines denkbaren Inhalts betreffen: gleichviel ob das gegenwärtige Dasein eines solchen Inhaltes  als  Inhalt unseres Bewußtseins erkannt oder ein gegenwärtiges, vergangenes oder zukünftiges Dasein desselben in irgendeinem anderen Sinn behauptet (oder geleugnet) wird. Die  endgültige  Definition der Existentialurteile wird hiernach davon abhängen, ob und in welcher Weise es gelingt, diesen Begriff des Daseins näher zu bestimmen. Wir werden im ersten Kapitel die Tätigkeit, vermöge deren wir das Dasein der gegenwärtigen Inhalte unseres Bewußtseins direkt erkennen so wie die Formen betrachten, in welchen wir solche Erkenntnisse zum Ausdruck bringen können. Den Gegenstand der übrigen Kapitel bildet die Art und Weise, wie von nicht direkt als gegenwärtig erkannten Inhalten in irgendeinem Sinn Existenz erkannt oder ausgesagt werden kann. Damit wir über einen dem Bewußtsein nicht gegenwärtigen Inhalt irgendwie urteilen können, muß derselbe stets durch einen gegenwärtigen Inhalt  vertreten  sein. Da eine solche Vertretung in der Regel auf der Beziehung beruth, welche zwischen einem Inhalt und dem  Phantasma  dieses Inhalts besteht, so war zunächst eben diese Beziehung näher zu erörtern (Kapitel II); aufgrund dieser Erörterung konnte der Sinn der Behauptungen, welche die Existenz nicht gegenwärtiger Inhalte betreffen und damit der allgemeine Begriff der Existentialurteile festgestellt und zugleich eine Einteilung der letzteren gewonnen werden (Kapitel III). Die Auffassung der Existentialurteile, zu welcher wir auf diese Weise gelangen, unterscheidet sich erheblich von der am weitesten verbreiteten Ansicht über die Natur dieser Urteile. Es erschien daher - zur Erklärung dieser Differenz und zur Abwehr etwaiger aus derselben zu folgenden Einwände - erforderlich, auf die genannte Ansicht näher einzugehen und die Punkte zur Sprache zu bringen, in welchen dieselbe den Tatsachen nicht zu entsprechen scheint (Kapitel IV). Das letzte (V.) Kapitel ist der Betrachtung einer besonderen Klasse von Existentialurteilen: der  Gedächtnisurteile,  gewidmet. Die Theorie dieser Urteile erhielt ihre Stelle erst nach Beendigung der soeben erwähnten Polemik aus dem Grund, weil einzig die dort bekämpfte Ansicht der Erkenntnis der Natur der Gedächtnisurteile bisher im Weg gestanden zu haben schien. In der Tat unterscheidet sich die vorgetragene Auffassung der Gedächtnisurteile nur in einem - freilich wie ich glaube sehr wesentlichen - Punkte von derjenigen Theorie, welche aufgrund jener Ansicht vom konsequentesten und scharfsinnigsten Vertreter derselben aufgestellt worden ist. Die Tatsache, daß die meisten Streitigkeiten auf philosphischem Gebiet durch den Mangel einer einheitlichen und nicht mißzuverstehenden Terminologie bedingt sind, legte die Vermutung nahe, daß auch die bestehenden Meinungsdifferenzen über die Natur der Urteilstätigkeit im wesentlichen diesem Mangel ihren Ursprung verdanken. Ich habe aus diesem Grund im Folgenden mein Hauptaugenmerk auf die Festlegung und konsequente Anwendung unzweideutig definierter Bezeichnungen für die psychologischen Grundbegriffe gerichtet. Der Wunsch, meinen Betrachtungen eine möglichst allgemeinverständliche Form zu geben, veranlaßte mich, diese Bezeichnungen im allgemeinen der hergebrachten Auffassungsweise der psychischen Tatsachen - der "atomistischen" oder "Mosaik"-Psychologie im Sinne von JAMES und AVENARIUS - anzupassen.


I. Wahrnehmung und Wahrnehmungsurteil

1. Der Begriff der "Wahrnehmung" ist so wenig als die übrigen psychologischen Grundbegriffe eindeutig definiert. Am wenigsten vieldeutig wird der Ausdruck  innere Wahrnehmung  angewendet, dessen Sinn nur insofern nicht völlig bestimmt ist, als über die Grenze zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung keine allgemeine Übereinstimmung herrscht. Indessen steht so viel fest, daß die Wahrnehmung psychischer Phänomene (1) - also z. B. die Wahrnehmung von Erkenntnis- und Willensakten - zur inneren Wahrnehmung zu rechnen ist. Welchen Sinn hier das Wort  Wahrnehmung  hat, darüber dürfte keine Meinungsverschiedenheit möglich sein: das Wahrnehmen ist offenbar nichts anderes als das Vorfinden, Innewerden oder Bemerken eines tatsächlich sich vollziehenden derartigen Phänomens in unserem Bewußtsein. Eine  Definition  des Wahrnehmens soll hiermit natürlich nicht gegeben sein; die angeführten Synonyma werden jedoch genügen, jedermann auf diejenige Tatsache seines psychischen Lebens hinzuweisen, welche wir mit dem Wort "Wahrnehmen" bezeichnen wollen.

Erklären wir in Übereinstimmung mit einer ziemlich verbreiteten Terminologie die innere Wahrnehmung allgemein als die Wahrnehmung  psychischer  Phänomene, so erscheint es nur konsequent, die äußere Wahrnehmung als die entsprechende Wahrnehmung  physischer  Phänomene zu definieren. Wenn nach dieser Definition die innere und die äußere Wahrnehmung sich nur durch die wahrgenommenen  Inhalte  unterscheiden, so wird über die Bedeutung des Wortes "Wahrnehmung" auch bei der äußeren Wahrnehmung kein Zweifel bestehen können: auch hier ist das Wahrnehmen nichts anderes als das Vorfinden, Innewerden oder Bemerken eines gegenwärtig als Inhalt unseres Bewußtseins vorhanden physischen Phänomens.

Ich gebrauche diese Ausdrücke  physisches und psychisches Phänomen  im Sinne der von BRENTANO durch Beispiele erläuterten Unterscheidung. Es scheint mir nicht überflüssig hervorzuheben, daß die genannten Ausdrücke durchaus keine andere Bedeutung haben sollen, als diejenige einer bequemen Bezeichnung für die beiden durch BRENTANOs Beispiele bestimmten Klassen von Erscheinungen. Insbesondere darf mit dem Ausdruck "physisches Phänomen" nicht der Gedanke an "außer-psychische" Existenzen, an die Objekte im Sinn der Physik verbunden werden: das physische Phänomen bezeichnet stets nur Empfindungs- oder entsprechenden Vorstellungsinhalt als solchen, nicht aber irgendeine äußere Ursache, einen Reiz, welcher diesen Inhalt hervorbrint - oder gar den physiologischen Prozeß, der der betreffenden Vorstellung in unserem peripherischen oder zentralen Nervensystem entspricht. Das physische Phänomen "Ton" ist nur der empfundene Ton als solcher, nicht aber die Luftwelle, welche diese Empfindung veranlaßt. (2) Ebenso soll mit der Beschränkung der Bezeichnung psychische Phänomene auf die von BRENTANO bezeichnete Erscheinungsklasse nicht etwa angedeutet sein, daß wir nur diese, nicht aber die physischen Phänomene als etwas Psychisches zu betrachten hätten: vielmehr sind offenbar auch die letzteren wesentlich psychische Inhalte, da sie,  als  Phänomene, nur innerhalb eines wahrnehmenden Bewußtseins denkbar sind. Es entspricht eben BRENTANOs Unterscheidung zwischen physischen und psychischen Phänomenen keineswegs der sonst durch den Gegensatz von physisch und psychisch bezeichneten Unterscheidung zwischen Natur und geistigem leben, den Gebieten der Naturwissenschaft und der Psychologie. (3)

Gemäß der hier gegebenen Erklärung des Begriffs physischer Phänomene dürfen wir bei der äußeren Wahrnehmung nicht an ein vermeintliches Wahrnehmen irgendwelcher "außerpsychischen Objekte" denken. Wenn wir von der Wahrnehmung eines physischen Phänomens sprechen, so können wir nach dem Vorigen eben nur das Bemerken dieses Phänomens als solchem meinen, nicht aber irgendeinen bewußten oder unbewußten Schluß auf eine Ursache dieses Phänomens, einen Reiz, eine Substanz oder ein Ding-ansich. Die Ablehnung dieser Schlüsse bedarf heute keiner Rechtfertigung mehr, (4) muß aber im Gegensatz zu der weitverbreiteten metaphysischen Auffassung des Begriffs der äußeren Wahrnehmung ausdrücklich betont werden. Diese metaphysische Deutung der äußeren Wahrnehmung dürfte hauptsächlich der Unklarheit ihren Ursprung verdanken, welche am Wort "außen" haftet. Indem man "außerhalb des Körpers" und "außerhalb des Bewußtseins" (der Seele) nicht hinreichend unterschied - eine Unterlassung, die durch die Annahme eines Sitzes der Seele innerhalb des Körpers gerechtfertigt erschien - wurde man naturgemäß dazu geführt, die außerhalb des Körpers gelegenen physischen Ursachen der Gehirnerregungen auch als außerhalb des Bewußtseins liegende Ursachen der entsprechenden Bewußtseinsvorgänge anzusehen. Die aus dieser Ansicht erwachsenen endlosen erkenntnistheoretischen Streitigkeiten, die konseqenterweise schließlich zur Auffassung der Welt als einer Halluzination (5) führen mußten, sind allbekannt; daß dieselbe auch für die Entwicklung der Psychologie des Urteils nicht eben förderlich war, werden unsere folgenden Betrachtungen mehrfach erkennen lassen. Insbesondere konnte nur aufgrund dieser Ansicht, welche hinter der Wahrnehmung unserer Empfindungsinhalte noch irgendeine Wahrnehmung außerpsychischer Objekte vermutete, die äußere Wahrnehmung zu einer  minderwertigen Erkenntnisquelle  gestempelt werden. Sieht man von jener vermeintlichen Wahrnehmung der "äußeren Ursachen" unserer Empfindungen ab, so fehlt offenbar jeder Grund, der äußeren Wahrnehmung eine geringere Zuverlässigkeit zuzusprechen als der inneren: die physischen Phänomene sind als solche ebenso real wie die psychischen und die Wahrnehmung der ersteren ebenso untrüglich wie die der letzteren. Wir dürfen daher nicht die physischen Phänomene als "bloße" Vorstellungsinhalte, als etwas minder Wirkliches ansehen; vielmehr besitzen wir in den physischen wie in den psychischen Phänomenen, in der äußeren wie in der inneren Wahrnehmung durchaus gleichgeordnete und keiner Täuschung ausgesetzte Grundlagen und Quellen der Erkenntnis. Ja, wenn wir die Schwierigkeiten der Beobachtung psychischer Phänomene in Betracht ziehen, werden wir kaum anstehen, im Gegensatz zu den hergebrachten philosophischen Anschauungen - aber im Einklang mit denjenigen der exakten Wissenschaften - geradezu die äußere Wahrnehmung als die sicherste Erkenntnisquelle zu betrachten.

Ebensowenig wie mit der im Vorigen zurückgewiesenen Auffassung der äußeren Wahrnehmung, nach welcher diese sich auf Imaginäres beziehen würde, darf unsere Definition dieses Begriffs mit einer anderen weitverbreiteten Auslegung desselben verwechselt werden, die vor der ersteren zwar den Vorzug hat, auf rein tatsächliche Daten gegründet zu sein, aber trotzdem nicht von Unklarheiten frei ist. Ich meine die Auslegung der äußeren Wahrnehmung als der Wahrnehmung von tastbaren (der Muskelenergie Widerstand leistenden) Objekten. Dieser Gebrauch des Wortes  Wahrnehmung  ist insofern nicht  eindeutig,  als die Wahrnehmung von Tastinhalten  durch den Tastsinn selbst  offenbar keiner Täuschung unterliegt, während die Wahrnehmung tastbarer Objekte durch andere Sinne stets nur aufgrund erfahrungsmäßiger  Assoziationen  erfolgt und sich daher nicht mit unmittelbarer Evidenz vollziehen kann. Auf den Sinn des Begriffs äußerer Objekte, welcher diesem Gebrauch des Ausdrucks "äußere Wahrnehmung" zugrunde liegt, werden wir an einer späteren Stelle zurückkommen; für den Augenblick mag es genügen, auf die Verschiedenheit unserer Definition der äußeren Wahrnehmung von der soeben erwähnten hingewiesen zu haben.

Daß das Prädikat "außen" bei unserem Begriff der äußeren Wahrnehmung im  übertragenen  Sinn zu verstehen ist, indem die Eigenschaft einzelner physischer Phänomene, ihrer Natur nach als außerhalb des Körpers, bzw. des wahrnehmenden Organs befindlich vorgestellt zu werden, zur Benennung sämtlicher physischer Phänomene als äußerer Phänomene Anlaß gibt, wird nicht zu Mißverständnissen führen. Wir befinden uns hier wie so häufig in dem Fall, zugunsten einer hergebrachten bequemen Terminologie bei der wissenschafftlichen Definition entsprechenden Begriffs gewisse Abweichungen vom gewöhnlichen Sprachgebrauch dulden zu müssen, die stets unschädlich bleiben, wenn sie sich auf unzweideutige Definitionen gründen.

2. Daß wir das Wahrnehmen eines Phänomens von seinem bloßen Vorhandensein im Bewußtsein durch eine besondere Bezeichnung unterscheiden, rechtfertigt sich dadurch, daß allgemein das Vorhandensein eines Inhalts im Bewußtsein noch nicht das Bemerken desselben bedingt. In einer Mehrheit gleichzeitiger oder sukzessiver Empfindungen oder sonstiger Inhalte können je nach der Richtung und Konzentration unserer Aufmerksamkeit die Komponenten entweder unbemerkt bleiben, oder aber einzelne wahrgenommen werden (6). Da dieser Gegensatz zwischen bemerkten und unbemerkten Inhalten sich nicht nur bei Empfindungen, sondern ganz ebenso auch bei Phantasievorstellungen (Erinnerungsbildern) findet, (7) so müssen wir konsequenterweise auch von einem  Wahrnehmen der Phantasievorstellungen  sprechen, - eine Terminologie, die zwar in der Definition der äußeren Wahrnehmung als der Wahrnehmung von physischen Phänomenen im allgemeinen bereits gegeben ist, da zu den physischen Phänomenen nach BRENTANOs Definition auch Phantasievorstellungen gehören, die aber wegen ihres Gegensatzes zum gewöhnlichen Sprachgebrauch besonders hervorgehoben werden muß (8).

Es mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, daß von einer  Wahrnehmung  der Phantasievorstellungen gesprochen werden soll, wenn ich etwa willkürlich irgendeine Gestalt, eine Melodie in meiner Phantasie  erzeuge.  Indessen kann jedenfalls zunächst bei Phantasievorstellungen, welche nicht willkürlich erzeugt werden, sondern ohne unser Zutun sich unserer Aufmerksamkeit aufdrängen - mögen es Gedächtnisinhalte oder Neubildungen sein - kein Zweifel darüber bestehen, daß sie in völlig analoger Weise bemerkt werden wie Empfindungsinhalte: sie tauchen aus dem Gesamtbewußtseinsinhalte hervor und machen sich bemerkbar, ganz ebenso wie bisweilen ein Ton, der schon eine Zeitlang unbemerkt erklang, plötzlich unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht oder eine neu auftretende Empfindung uns von unserer bisherigen Gedankentätigkeit ablenkt. Auch im übrigen besteht zwischen beiden Arten von Inhalten vollständige Analogie. Die Summe der unbemerkten Gedächtnisvorstellungen beeinflußt die Färbung einer gegenwärtig im Vordergrund unseres Bewußtseins stehenden Empfindung gerade so wie es gleichzeitige unbemerkte Empfindungen vermögen; in derselben Weise aber wird auch der Gefühlston einer gegenwärtig bemerkten Phantasievorstellung durch den gleichzeitigen Empfindungszustand wesentlich bedingt. (9) Auch was die Erregung unserer Aufmerksamkeit angeht, können nicht nur Empfindungen untereinander, sondern auch Phantasievorstellungen mit Empfindungen untereinander, sondern auch Phantasievorstellungen mit Empfindungen in Konkurrenz treten: die Phantasmen ziehen in der Tat nicht selten unser Interesse weit stärker auf sich als die gleichzeitigen Empfindungen (10). Kurz, es besteht, was die Wahrnehmungsvorgänge betrifft, zwischen Empfindungen und unwillkürlich auftretenden Phantasmen keinerlei wesentlicher Unterschied.

Wird dies aber bezüglich der unabhängig von unserer Aktivität auftretenden Phantasmen zugegeben, so ist daraus die Konsequenz für die willkürlich hervorgerufenen Phantasievorstellungen leicht zu ziehen. Betrachten wir, um den Unterschied zwischen der Wahrnehmung unabhängig von unserem Willen auftretender und willkürlich erzeugter Inhalte klarer zu erkennen, zunächst den Fall, daß wir eine  Empfindung  willkürlich erzeugen, so sehen wir sofort, daß sich unsere Wahrnehmung des willkürlich erzeugten Empfindungsinhaltes in nichts von der Wahrnehmung einer ohne unser Zutun auftretenden Empfindung unterscheidet; ob ich den Ton  a  selbst singe oder von einer anderen Stimme gesungen höre, kann auf meinen Wahrnehmungsakt, soweit derselbe eben diesen Ton betrifft, höchstens den Einfluß haben, daß ich im ersten Fall von vornherein  erwarte,  im nächsten Augenblick den Ton  a  zu hören; ein Unterschied, der offenbar durchaus unwesentlich ist, da er mit dem vorausgesetzten Unterschied in der Erzeugung der wahrgenommenen Inhalte nicht in einem konstanten Zusammenhang steht. Ganz in derselben Weise wird aber auch jeder willkürlich erzeugte Phantasie-Inhalt, sobald er überhaupt fertig gebildet ist, als solcher bemerkt und von anderen unterschieden, ohne daß sich in der Wahrnehmung desselben ein Unterschied gegenüber derjenigen der unwillkürlich bemerkten Inhalte zeigte. Was im ersten Augenblick ein Widerstreben gegen die Bezeichnung jenes Bemerkens als einer Wahrnehmung der Phantasievorstellung hervorruft, ist wohl nur die naheliegende Verwechslung des Willensaktes, welcher zur Erzeugung der Phantasievorstellung führt mit der Wahrnehmung des erzeugten Vorstellungsinhaltes selbst. Wenn ich zum erstenmal, um JOHN STUART MILLs bekanntes Beispiel zu gebrauchen, die Vorstellung eines goldenen Berges bilde, so finde ich diese allerdings nicht in meinem Bewußtseinsinhalt vor und mein Bemühen, das genannte Phantasiebild wahrzunehmen, kann daher nicht mit dem Bemühen verglichen werden, durch welches wir die Teilempfindungen eines Empfindungsganzen (etwa die Obertöne eines Klangs) zu erkennen suchen. Sobald es mir aber gelungen ist, die verlangte Vorstellung zu bilden, ist sie als Teil meines Bewußtseinsinhaltes nunmehr tatsächlich vorhanden und ich nehme sie dann in derselben Weise wahr, wie ich jeden anderen vorhandenen Teilinhalt wahrnehmen kann.

3. Das Wahrnehmen eines Inhaltes ist nach dem vorigen dem unbemerkten Vorhandensein dieses Inhaltes im Bewußtseinsganzen entgegengesetzt: die Wahrnehmung ist daher identisch mit der (willkürlichen oder unwillkürlichen)  Analyse  unseres jeweiligen Bewußtseinsinhaltes in seine sukzessiven oder gleichzeitigen Komponenten. Da ich die Tatsachen der Analyse an anderer Stelle (11) beschrieben habe, beschränke ich mich darauf, von denselben hier nur diejenigen nochmals hervorzuheben, welche für die Theorie der Wahrnehmungsurteile von besonderer Bedeutung sind.

Die erste dieser Tatsachen ist die, daß primär nicht die einzelnen Teilinhalte, sondern gewisse  Komplexe  derselben als einheitliche Gesamtvorstellungen wahrgenommen werden, welche eventuell bei wiederholtem Auftreten bzw. längerer Dauer in ihre sukzessiven oder gleichzeitigen Teilinhalte zerlegt werden. Da die Analyse gleichzeitiger Teilinhalte sich in letzter Instanz auf die Analyse sukzessiver Inhalte zurückführen läßt, (12) diese aber nichts anderes ist als die  Unterscheidung  des jeweilig gegenwärtigen Bewußtseinsinhaltes vom vorhergegangenen, so folgt, daß die Wahrnehmung eines Inhaltes stets in der Unterscheidung desselben vom vorher wahrgenommenen Gesamtinhalt besteht. Die Richtigkeit dieses Satzes ist, auch abgesehen von der letzten Schlußfolgerung, von selbst klar, wo es sich um das Bemerken  neu  auftretender Inhalte handelt; ebenso leicht erkennt man dieselbe aber auch in den Fällen, wo es sich um das Bemerken eines vorher bereits vorhandenen aber nicht einzeln wahrgenommenen Teilinhaltes handelt, wenn man bedenkt, daß mit dem Bemerken dieses Inhaltes stets ein  Unterschied  des neuen Wahrnehmungsinhaltes vom vorhergegangenen gegeben ist. Daß übrigens zur Charakterisierung eines jeden Vorstellungsinhaltes als solchen seine Unterscheidung von einem vorhergegangenen Inhalt erfordert wird, ist ohne weiteres deutlich: um zu urteilen, "ich höre", muß das Hören von einem anderen Bewußtseinszustand bereits unterschieden sein. (13)

Der psychische Akt, in welchem wir sukzessive Inhalte unterscheiden, setzt zunächst eine Folge solcher Inhalte voraus. War der erste dieser Inhalte nicht einzeln bemerkt (was mit seinem Vorhandensein im Bewußtsein sehr wohl verträglich ist), so wird erst durch die Wahrnehmung des zweiten Inhaltes eine indirekte Erkenntnis des ersteren vermittelt. Sobald der zweite Inhalt gegenwärtig ist - und bevor dies eintritt, kann offenbar von der Unterscheidung beider nicht die Rede sein - ist der erste Inhalt als solcher  vergangen.  Damit die Unterscheidung trotzdem vollzogen werden kann, ist eine  Fortwirkung  des ersten Inhaltes erforderlich, welche man als die Aufbewahrung desselben im Gedächtnis bezeichnet. Da die Unterscheidung sowohl die zeitliche Stellung beider Inhalte als auch deren qualitative Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit betrifft, so müssen bei der Aufbewahrung im Gedächtnis zwei Bedingungen erfüllt sein: es muß nicht nur möglich sein aus der Fortwirkung des vergangenen Inhaltes zu erkennen, daß dieselbe als  Fortwirkung  eines solchen angesehen werden muß, sondern sie muß auch die Eigenschaften desselben in gewisser Weise reproduzieren, ohne daß sie doch die sämtlichen Merkmale des vergangenen Inhaltes an sich tragen kann, da dieser ja sonst selbst noch fortdauern würde. Der zweiten Funktion des Gedächtnisses entspricht die Tatsache, daß ein vom vergangenen Inhalt verschiedenes, aber dessen Eigenschaften mehr oder minder deutlich widerspiegelndes  Abbild  desselben im Bewußtseinsinhalt zurückbleibt; die erste Funktion erfüllt dasselbe dadurch, daß diesem Abbild die  zeitliche Relation  anhaftet, so daß das zeitliche Unterscheidungsurteil sich aus dem Gedächtnisbild ebenso unmittelbar ergibt, wie das qualitative Vergleichungsurteil, sobald überhaupt die sukzessive Analyse, die Unterscheidung der beiden einander ablösenden Inhalte vollzogen wird. Für die Charakterisierung des zweiten Inhaltes ist als wesentlich zu beachten, daß er in erster Linie als von dem vorhergehenden Inhalt  verschieden  aufgefaßt wird, daß er also, wie ich dieses Verhältnis an anderer Stelle bezeichnet habe, durch den vorhergegangenen Inhalt eine bestimmte  Färbung  erhält: eine Tatsache, die sich allgemein am einfachsten in der Weise beschreiben läßt, daß man die Erinnerungsbilder der vorhergegangenen Inhalte als Teilinhalte der gegenwärtigen Gesamtvorstellung betrachtet, die den Charakter der letzteren ebenso wesentlich mitbestimmen, wie die Obertöne den Charakter des Klangs. (14)

4. In eben dieser Beziehung des gegenwärtig wahrgenommenen Inhaltes zum vorhergehenden Gesamtinhalt und dadurch mittelbar zu den früheren Inhalten überhaupt ist offenbar zugleich alles enthalten, was zur Charakterisierung des gegenwärtigen Inhaltes dienen kann: jede Benennung (15), überhaupt aber jede mehr oder minder genaue Kenntnis (16) über den gegenwärtigen Inhalt im Gegensatz zur bloßen Wahrnehmung desselben kann sich nur auf seine Relationen zu früheren Inhalten beziehen, kann nur in einer Erkenntnis seines Zusammenhangs mit unseren im Gedächtnis aufbewahrten Daten bestehen. Wenn wir dadurch, daß wir einen zusammengesetzten Empfindungsinhalt analysieren, eine genauere Kenntnis desselben erlangen, so besteht diese Kenntnis offenbar darin, daß nach vollzogener Analyse die Relationen dieses zusammengesetzen Inhaltes zu seinen nunmehr einzeln erkannten Teilinhalten bekannt sind. Ganz in derselben Weise aber erhalten wir auch jede andere genauere Kenntnis des gegenwärtigen Inhaltes, jede Kenntnis über seine Stellung zum Zusammenhang unseres psychischen Lebens dadurch, daß wir die  Relationen  erkennen, in welchen er zu vergangenen Inhalten steht. Ein Beispiel mag zur näheren Erläuterng des Gesagten dienen. Wenn ein Ton erklingt, so vermag der musikalisch Geübte, nachdem der Ton verklungen ist, das Erinnerungsbild desselben seiner Höhe nach im Gedächtnis zu behalten und den Ton singend zu reproduzieren; der Unmusikalische dagegen wird im allgemeinen dieses Vermögen nicht besitzen: er wird sich zwar erinnern, daß er einen Ton gehört hat, aber sein Erinnerungsbild wird nicht dieselbe Bestimmtheit besitzen, wie das des Musikers - er wird nicht angeben können, ob er selbst oder ein anderer beim Versuch, den gehörten Ton nachzusingen, die Höhe desselben richtig trifft oder nicht. Der Musiker hatte somit beim Hören des Tones eine genauere Kenntnis desselben erlangt als der Unmusikalische. Worin besteht diese genauere Kenntnis? Offenbar darin, daß der Musiker beim Erklingen des Tones alsbald die Beziehungen desselben zu den Erinnerungsbildern früher gehörter Töne bemerkte, vielleicht aufgrund derselben alsbald den Ton zu  benennen  vermochte, während der Unmusikalische, welchem die Beziehungen der Töne zueinander nicht geläufig sind, keine derartigen bestimmten Relationen zu den Erinnerungsbildern früherer Tonempfindungen erkannt hatte. Dem letzteren mögen im allgemeinen die Unterschiede der höchsten, der tiefsten und einer mittleren Tonregion bekannt sein und er wird daher beim Hören des Tones die Zugehörigkeit desselben zu einer dieser Regionen bemerken und diese Erfahrung bei der Erinnerung an den Ton mitreproduzieren; die genaueren Relationen aber, aufgrund deren der Musiker ein genaueres Erinnerungsbild des Tons behält, werden ihm für gewöhnlich nicht erkennbar sein. Ein ganz analoger Fall liegt offenbar bei der Benennung und Erinnerung von Farbqualitäten vor, nur daß hier die sprachlichen Bezeichnungen für die weiteren Grenzen gelten, die etwa den Unterschieden von hoher, mittlerer und tiefer Lage im Tongebiet entsprechen, während für die feineren Nuancen hier nur in seltenen Fällen besondere Namen existieren. Nur der Geübte wird sich auch hier der wahrgenommenen Qualität annähernd treu erinnern, während der Ungeübte außerordentlich weit fehlzugreifen pflegt - wie jeder Anfänger in der Malerei zu erfahren Gelegenheit hat.

Wie für die Unterscheidung und Benennung von Empfindungsqualitäten, so gilt die gleiche Regel auch für die Erkenntnis aller anderen Vergleichungssrelationen, welche zwischen unseren Vorstellungsinhalten bestehen; so für Intensitätsbeziehungen, räumliche und zeitliche Distanzen usw. Je eingehender wir diese verschiedenen Relationen des jeweils wahrgenommenen Inhalts zu den früher wahrgenommenen Inhalten zu analysieren lernen, umso genauere Kenntnis gewinnen wir über den wahrgenommenen Inhalt. Insbesondere verschärft diese Kenntnis wesentlich das  Gedächtnisbild  desselben, wie bereits die obigen Beispiele zeigten. Wie für die Analyse der Empfindungen, so läßt sich auch für diese  Analyse  (17)  der Relationen  erfahrungsmäßig der Satz behaupten, daß nichts erinnert wird, was nicht bemerkt worden ist. Die Charakterisierung einer Gedächtnisvorstellung als des adäquaten Bildes einer vergangenen Wahrnehmung hängt daher - von der Begründung des Gedächtnisurteils als solchem zunächst abgesehen - wesentlich davon ab, inwieweit seinerzeit die Relationen des jetzt erinnerten Inhaltes zu den bereits vorhandenen Gedächtnisbildern früherer Inhalt bemerkt worden waren. Sind die Relationen des erinnerten Inhaltes zu irgendwelchen bereits bekannten Inhalten, die als feste Ausgangspunkte dienen können, genau erkannt worden und daher reproduzierbar, so läßt sich entscheiden, ob eine gegenwärtige Vorstellung als genaues Abbild des vergangenen Inhaltes dienen kann; sind dieselben nicht genau, sondern nur innerhalb gewisser Grenzen bekannt, so wird auch jedes Urteil über die Genauigkeit des Gedächtnisbildes innerhalb dieser Grenzen schwanken. Hiermit soll nicht geleugnet sein, daß jede Vorstellung, die wir als Gedächtnisvorstellung ansprechen können, überhaupt jede Phantasievorstellung  ansich  völlig bestimmt ist; aber wir können entsprechend den angeführten Tatsachen eine und dieselbe Gedächtnisvorstellung als  Abbild  mehrerer verschiedener Inhalte betrachten, wenn die Unterschiede der Relationen dieser Inhalte zu anderen bekannten Inhalten und somit ihre gegenseitigen Unterschiede nicht bemerkt worden sind. Es liegt also hier ein Seitenstück (genauer gesprochen der allgemeinere Fall) zu jener unwillkürlichen sinnlichen  Abstraktionstätigkeit  (18) vor, die ihren Grund in einem Mangel der Analyse eines zusammengesetzten Empfindungsinhaltes hat: wie das Gedächtnisbild eines nicht analysierten Empfindungsganzen vieldeutig ist, weil die Gedächtnisbilder ähnlicher Komplexe nicht unterschieden werden, so ist auch das Gedächtnisbild jedes einzelnen, gleichviel ob einfachen oder zusammengesetzten Inhaltes vieldeutig, weil die Gedächtnisbilder ähnlicher Inhalte mangels genauer Kenntnis der Relationen dieser Inhalte nicht scharf getrennt erscheinen. (19)

Die genauere Beschreibung der hier erwähnten Tatsachen würde uns tiefer in das Gebiet der Abstraktionstheorie führen, als es für unseren Zweck erforderlich ist. Die Konsequenzen aber, welche sich aus denselben für die Theorie der Wahrnehmungsurteile ergeben, werden wir alsbald zu erörtern haben.

5. Für die Wahrnehmung eines Inhaltes als solchem ist offenbar die Analyse seiner Relationen nicht erforderlich. Nur die am wenigsten determinierte Erkenntnis einer gewissen Beziehung desselben zu früheren Inhalten: die Erkenntnis seiner  Verschiedenheit  vom vorhergehenden Inhalt muß vorliegen, damit überhaupt von einer Wahrnehmung des betreffenden Inhaltes gesprochen werden kann. Es ist dies die einfachste Kenntnis, welche wir innerhalb des Zusammenhangs unseres psychischen Lebens von einem Inhalt gewinnen können: wo immer von einem solchen Zusammenhang die Rede sein soll, kann es eben keine Kenntnis einzelner Teile ohne jede Beziehung auf die vorhergegangenen geben.

Wir wollen uns zunächst auf die Betrachtung dieser einfachsten Kenntnisnahme vom Dasein eines Inhaltes beschränken. Da mit derselben ein Wissen, somit im weiteren Sinne (20) des Wortes ein  Urteil  gewonnen wird, so wollen wir den Akt dieser Kenntnisnahme als das  elementare Wahrnehmungsurteil  bezeichnen, welches den betreffenden Inhalt zum Gegenstand hat. Insofern dieses Urteil das  Dasein  des wahrgenommenen Inhaltes als solchem konstatiert, werden wir dasselbe zu den  Existentialurteilen  zu zählen haben. Es bedarf nach unseren früheren Erörterungen wohl nicht mehr des besonderen Hinweises, daß unter diesem Wahrnehmungsurteil im Falle der äußeren Wahrnehmung nicht dasjenige Urteil verstanden werden darf, welches man gewöhnlich mit der äußeren Wahrnehmung für verbunden hält. Das elementare Wahrnehmungsurteil ist bei der äußeren wie bei der inneren Wahrnehmung nichts anderes als die Erkenntnis des gegenwärtigen Bewußtseinsinhaltes als solchem - mag sich derselbe aus psychischen Phänomenen, aus Empfindungen oder Phantasmen zusammensetzen.

Das elementare Wahrnehmungsurteil, welches die innere Wahrnehmung bedingt, ist offenbar identisch mit demjenigen Urteil, von welchem BRENTANO nachgewiesen hat, daß es mit jeder Vorstellung verbunden auftritt (21); denn auch dieses bezieht sich einzig auf die Wahrnehmung des betreffenden psychischen Phänomens als solchem, ohne irgendwelche an dasselbe geknüpfte Assoziationen (Benennungen, Vergleichungen etc.) Rücksicht zu nehmen. Unsere Betrachtungen zeigen, daß auch mit der Wahrnehmung  physischer  Phänomene eine völlig entsprechende Erkenntnis verbunden ist. Daß die letztere der auf die psychischen Phänomene gerichteten völlig koordiniert und nur durch ihren Inhalt von derselben verschieden erscheint, daß insbesondere das Urteil der äußeren Wahrnehmung dem der inneren an Gewißheit völlig gleich steht, mag mit Bezugnahme auf unsere weiter oben gewonnenen Resultate hier nochmals hervorgehoben werden.

Wenn wir sagen, das elementare Wahrnehmungsurteil konstatiert die  Existenz  des gegenwärtigen Bewußtseinsinhaltes, so gebrauchen wir das Wort "Existenz" in dem Sinne, welchen HUME mit demselben verbindet. "Es gibt", sagt HUME (22) "keinerlei Vorstellungsinhalt" - mit diesem Wort dürfen wir nach modernem Sprachgebrauch die beiden Ausdrücke HUMEs "impression" und "idea" wohl unbedenklich übersetzen - "von welchem wir irgendein Bewußtsein oder Gedächtnis haben, welcher nicht als  existierend  vorgestellt würde und es ist ersichtlich, daß aus diesem Bewußtsein die vollkommenste Vorstellung und Überzeugung des  Seins  abgeleitet ist". "Was immer wir auffassen, fassen wir als ein Existierendes auf". Diese Sätze zeigen deutlich, daß HUME unter Existenz eben die Existenz der Vorstellungsinhalte als solcher versteht, wie sie im elementaren Wahrnehmungsurteil erkannt wird. Wir werden später auf eine andere Deutung des Existenzbegriffs einzugehen haben; für die nächsten Betrachtungen aber werden wir an der eben erwähnten HUMEschen Erklärung dieses Wortes festhalten.

Eben die von HUME hervorgehobene untrennbare Verbindung der Erkenntnis der Existenz eines Inhaltes mit dem Auftreten dieses Inhaltes im Bewußtsein ist es, die die Untrüglichkeit des elementarenn Wahrnehmungsurteils bedingt: mit dem Erscheinen eines Inhaltes (im Gegensatz zu seinem Vorhandensein als unbemerkte Komponente des Gesamtinhalts oder aber zu seiner Abwesenheit) ist die untrügliche Erkenntnis seiner Existenz gegeben. Jenes "Erscheinen" aber ist  identisch mit demjenigen Prozeß, welchen die Psychologie als das Vorgestelltwerden  (23)  eines Inhaltes im weiteren Sinn des Wortes bezeichnet. 

Da die  Äquivokationen  [Mehrdeutigkeiten - wp] des Wortes "Vorstellen" mancherlei Irrungen in der Psychologie des Urteils veranlaßt haben, so müssen wir hier, um nicht Mißverständnissen ausgesetzt zu sein, die verschiedenen Bedeutungen desselben auseinanderhalten. Das Wort  Vorstellen  wird in drei verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Erstens in einem weiteren Sinn zur Bezeichnung derjenigen psychischen Tätigkeit, in welcher bei den Akten des Empfindens, (24) des Erinnerns und des Einbildens unsere Beziehung zu den jeweiligen Bewußtseinsinhalten besteht. In dieser Bedeutung des Wortes ist  vorgestellt werden  soviel wie  erscheinen,  "Vorstellung" und "Vorstellungsinhalt" soviel wir "Phänomen". In einer zweiten engeren Bedeutung wird das Wort "Vorstellen" von der Tätigkeit gebraucht, welche bei den Akten des Erinnerns und Einbildens  im Gegensatz  zum Empfinden die Beziehung unseres Bewußtseins auf seinen Inhalt ausmacht.  Vorstellung  ist also hier gleichbedeutend mit Phantasievorstellung im Gegensatz zur "wirklichen" Empfindung. Die Verwechslung dieser engeren Bedeutung des Wortes mit der zuerst genannten hat zu einem im Folgenden zu besprechenden Irrtum Anlaß gegeben; auch mag dieselbe nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dem Begriff des Vorstellungsinhaltes und damit der "Welt als Vorstellung" den unverdienten Beigeschmack des Unwirklichen, Schattenhaften zu geben. Endlich wird das Wort "Vorstellen" in einem noch engeren Sinn zur Bezeichnung derjenigen Aktivität verwendet, welche zur  willkürlichen Bildung  einer (zunächst nur durch Worte oder andere Symbole angedeuteten) Phantasievorstellung erfordert wird.

Wir werden im Folgenden das Wort Vorstellen stets in der ersten, weiteren Bedeutung gebrauchen, soweit nicht besonders auf eine der anderen Bedeutungen hingewiesen wird. Da man von Vorstellen in diesem Sinne niemals mit Bezug auf unbemerkte Teilinhalte, sondern stets nur mit Bezug auf  bemerkte  Inhalte spricht, (25) so ist  Vorgestelltwerden  offenbar identisch mit unserem Begriff des  Wahrgenommenwerdens.  Hiermit ist aber sofort weiter klar, daß eine Unterscheidung des elementaren Wahrnehmungsurteils vom vorstellenden Akt in diesem Sinne ein Pleonasmus [Doppelmoppel - wp] wäre: wenn es kein Phänomen gibt, welches Gegenstand der vorstellenden Tätigkeit werden könnte, ohne daß es zugleich als solches auch Gegenstand der Erkenntnis würde, so besteht zwischen der Beziehung unseres Bewußtseins auf sein Objekt, welche wir Vorstellen nennen und derjenigen, welche wir die Erkenntnis der Existenz dieses Bewußtseinsobjekts nennen, keinerlei Unterschied. Wenn BRENTANO einen solchen Unterschied zu finden glaubt, (26) so hat er offenbar die  zweite  Bedeutung des Wortes "Vorstellen" im Auge; da jedoch dieses Wort im übrigen von ihm stets in der zuerst angeführten Bedeutung gebraucht wird, (27) so gehen wir wohl nicht fehl, wenn wir vermuten, daß er sich in diesem Punkt durch die Äquivokation des genannten Wortes hat irreführen lassen.

Die Ausdrücke  Vorstellung  und  Urteil  im Sinne des elementaren Wahrnehmungsurteils sind hiernach synonym. Die gleichzeitige Verwendung beider mag sich indessen dadurch rechtfertigen, daß das Interesse vorwiegend bald die vorgestellten Inhalte, bald die darauf bezügliche psychische Tätigkeit treffen kann, was die genannten verschiedenen Bezeichnungen anzudeuten nicht ungeeignet erscheinen. Weniger mißverständlich wäre die Anwendung der Worte "Wahrnehmung" und "Wahrnehmungsinhalt" anstelle von "Vorstellung" und "Vorstellungsinhalt".

Mit der Erkenntnis der Identität von Vorstellen und Wahrnehmen erledigt sich von selbst die gelegentlich von MEINONG (28) aufgeworfene Frage, "ob alles Urteilen sich auf Vorstellen gründet oder zugunsten der inneren Wahrnehmung eine Ausnahme in Anspruch zu nehmen sei in dem Sinne, daß das Urteil sogleich auf die psychische Wirklichkeit gerichtet gedacht und so das Dazwischenschieben besonderer Vorstellungen entbehrlich würde". Nach den soeben durchgeführten Betrachtungen macht es überhaupt keinen Unterschied, ob sich die  vorstellende  oder die  erkennende  (urteilende) Tätigkeit den zu einer bestimmten Zeit vorhandenen psychischen Phänomenen zuwendet: beides sind nur verschiedene Bezeichnungen für dieselbe Tatsache - immer vorausgesetzt, daß das Wort  Vorstellung  im bezeichneten Sinn angewendet wird. Darüber aber, daß MEINONG dasselbe an der angeführten STelle in diesem Sinn aufgefaßt wissen will, scheint mir ein Zweifel nicht bestehen zu können. Daß ein Gleiches wie für die innere, natürlich auch für die äußere Wahrnehmung gilt, bedarf nicht des Beweises.

6. Wenn es Urteile gibt, welche nur das Dasein eines Inhaltes anerkennen, ohne eine Verbindung von Subjekts- und Prädikatsvorstellung zu behaupten: wenn es also im Sinne der BRENTANO'schen Lehre  eingliedrige  Urteile gibt, so sind sicher die hier besprochenen Erkenntnisse, die elementaren Wahrnehmungsurteile als Repräsentanten dieser Urteilsklasse zu betrachten; einfachere Existentialurteile als diese sind nicht denkbar. In der Tat scheint nach unseren bisherigen Betrachtungen nichts im Wege zu stehen, daß dieselben als eingliedrige Urteile erklärt werden: sie behaupten nur die Existenz der wahrgenommenen Inhalte als solcher, ohne irgendwelche prädikative Aussagen über dieselben zu machen. Versuchen wir jedoch ein elementares Wahrnehmungsurteil  sprachlich  in eingliedriger Form wiederzugeben, so zeigt sich alsbald, daß dieser Ausdruck des Urteils nicht ohne prädikative Bestimmung gelingt.

Ein Beispiel mag diese Tatsache verdeutlichen. Während ich diese Zeilen schreibe, erklingt aus dem Nachbarhaus plötzlich und kräftig der Violinton  a1.  Ich nehme diesen Ton wahr, er unterbricht die bisherige Stille, mein Bewußtseinsinhalt ist alteriert und in den Vordergrund tritt für den Augenblick der Violinton  a1,  der meine Aufmerksamkeit - sehr gegen meinen Wunsch - auf sich zieht. Wie habe ich dieses Wahrnehmungsurteil sprachlich zu formulieren?

Als das Nächstliegende könnte es wohl erscheinen, dasselbe in dem Satz "dies ist der Violinton a1" oder, als Existentialurteil, "der Vorstellungsinhalt Violinton a1  ist"  auszudrücken. Allein man bemerkt sofort, daß diese Formulierung in keinem Fall als eingliedriges Urteil angesprochen werden kann: der gegenwärtig wahrgenommene Inhalt ist in derselben bereits  benannt,  wozu der (willkürliche oder unwilkürliche)  Vergleich  desselben mit den Erinnerungsbildern früher gehörter Töne erfordert wird, dessen Resultat eine Prädizierung ist - mag auch das Prädikat grammatisch nicht als solches erscheinen. Will man das elementare Wahrnehmungsurteil rein zum Ausdruck bringen, so muß offenbar jede derartige Relationserkenntnis verschwiegen werden. Die Ausdrücke "ich höre" oder "ein Ton  ist"  genügen dieser Forderung natürlich nicht besser als die obige Formulierung: denn auch hier wird die, freilich minder bestimmte, durch die Bedeutung der Worte "hören" und "Ton" wiedergegebene Relation des gegenwärtigen Inhaltes zu früheren Wahrnehmungen im Urteil mitbehaptet. In den reinen Ausdruck des elementaren Wahrnehmungsurteils darf vielmehr überhaupt keinerlei direkte oder indirekte  Benennung  des Vorstellungsinhaltes eingehen; nur die Bezeichnung des Inhaltes als eines  gegenwärtigen,  wie sie im Demonstrativpronomen gegeben ist, kann hier zugelassen werden. Der adäquate Ausdruck des Wahrnehmungsurteils ist also offenbar nur der  erste  Teil des oben formulierten zweigliedrigen Urteils, die Aussage "dies ist" - mit welcher aber, da es kein "dies" gibt, welches nicht im früher erklärten Sinn existierte, das bloße Aussprechen des Demonstrativums selbst (29) völlig gleichbedeutend ist.

Nur dieser gänzlich unbestimmte Ausdrck des elementaren Wahrnehmungsurteils kann somit als eingliedriges Urteil gelten; jede bestimmtere Formulierung enthält eine Prädikation und ist somit, wenn auch nicht immer grammatisch, so doch dem zugrunde liegenden Akt nach, also  logisch  als zweigliedriges Urteil zu betrachten. Andererseits erscheint aber auch der genannte eingliedrige Ausdruck des elementaren Wahrnehmungsurteils nur als ein Notbehelf: das Wesen der Wahrnehmung besteht ja, wie wir sahen, in erster Linie nicht in einer Affirmation des gegenwärtigen Inhalts, sondern sind seiner  Abhebung  vom vorhergehenden - jener konnte als solcher überhaupt nur dadurch erkannt werden, daß er sich vom vorhergehenden Inhalt unterschied. Wollen wir diese Beziehung, welche im Demonstrativum allerdings implizit ausgedrückt ist, explizit wiedergeben, so müssen wir das elementare Wahrnehmungsurteil in dem Satz, "dies ist  ein anderes als zuvor"  oder kurz "dies ist ein anderes" aussprechen. Diese Formulierung läßt deutlich erkennen, daß auch dem elementaren Wahrnehmungsurteil eine Zweiheit von Fundamenten zugrunde liegt, daß es eine Beziehung zwischen zwei Vorstellungsinhalten Zum Gegenstand hat; eine Tatsache, die wir bereits oben als notwendige Folge des Zusammenhangs unseres psychischen Lebens erkannt haben.

7. Die bestimmteren Wahrnehmungsurteile, (30) in welchen der wahrgenommene Inhalt in irgendeiner Weise  benannt  erscheint, setzen, wie bemerkt, außer der Wahrnehmung dieses Inhaltes selbst die Wahrnehmung einer Relation desselben zu früher wahrgenommenen Inhalten voraus (31). Solche Relationen können mehr oder minder genau erkannt werden, entsprechend der Tatsache, daß das Gedächtnisbild der betreffenden früheren Wahrnehmung mehr oder minder genau determiniert sein kann: mögen die genannten Relationen ansich völlig bestimmt sein, so ist damit eben doch noch keineswegs gegeben, daß wir dieselben auch vollkommen bestimmt erkennen, so daß wir in jedem Fall mit Sicherheit sagen könnten, ob eine gegenwärtige Gedächtnisvorstellung genau der früheren Wahrnehmung entspricht, auf welche wir sie beziehen. Diese oben bereits erwähnte Vieldeutigkeit der Gedächtnisbilder teilt sich naturgemäß auch den an dieselbe assoziierten  Worten  mit. Während aber mit fortschreitender Übung unsere Fähigkeit, die Gedächtnisbilder ähnlicher Eindrücke zu sondern, sich mehr und mehr verfeinert, behalten die Worte im allgemeinen die einmal angenommene, in den Sprachgebrauch übergegangene Vieldeutigkeit bei, solange wir nicht durch besondere (willkürliche) Festsetzungen den Assoziationsbereich derselben verengen. Da Festsetzungen dieser Art nur zu besonderen Zweck und innerhalb bestimmter Gebiete gemacht zu werden pflegen, so schwankt für gewöhnlich die Bedeutung der Worte, welche als Benennungen von Vorstellungsinhalten auftreten, in viel weiteren Grenzen als die Genauigkeit unseres Gedächtnisses für diese Inhalte.

Diese Tatsachen müssen wir berücksichtigen, wenn wir die wahre Bedeutung der bestimmter formulierten Wahrnehmungsurteile und das Wesen der psychischen Tätigkeit klar erkennen wollen, welche denselben zugrunde liegt.

Auch bei diesen Wahrnehmungsurteilen muß selbstredend den ersten Schritt das elementare Wahrnehmungsurteil bilden, welches den gegenwärtigen Inhalt als solchen von vorher wahrgenommenen unterscheidet. An dieses elementare Wahrnehmungsurteil schließt sich (bei einigermaßen entwickelten intellektuellen Fähigkeiten wohl meist unwillkürlich) der Vergleich mit anderen, mehr oder minder ähnlichen Gedächtnisinhalten an, auf welche die Aufmerksamkeit assoziativ durch die erstere Wahrnehmung hingelenkt wird. Was die eigentliche Materie der Aussage über die Wahrnehmung bildet, ist offenbar  dieser ganze Vorgang,  eventuell eine mehrfach vor- und rückwärts vollzogene Wiederholung des gleichen Aktes. Wir finden erstens den Inhalt vor, welcher in der zweigliedrigen Form des gesprochenen Wahrnehmungsurteils als Subjekt erscheint, bzw. durch das Demonstrativ repräsentiert wird; von diesem wandert die Aufmerksamkeit auf einen anderen, ihm mehr oder minder ähnlichen Gedächtnisinhalt - ein Vorgang, welchen man eben als assoziative Hervorrufung des letzteren Inhaltes zu bezeichnen pflegt. Der  Vergleichungssakt  dieser beiden Inhalte ist nichts anderes als das Bemerken des jeweiligen bestimmten psychischen Vorgangs, welchen wir hier im allgemeinen als Wandern der Aufmerksamkeit bezeichnet haben: die Vergleichungssrelation ist die psychische Komplexion, welche sich aus dem ersten Inhalt, der genannten psychischen Tätigkeit und dem assoziierten Inhalt zusammensetzt, vom Standpunkt des zuletzt wahrgenommenen Inhalts aus betrachtet. (32) Was zu diesem Vorgang noch hinzutreten muß, um den sprachlichen Ausdruck des Wahrnehmungsurteils zu ermöglichen, ist das Vorfinden der assoziativen Verbindungen gewisser sprachlicher Ausdrücke mit den zum Vergleich herangezogenen Gedächtnisbildern und dem Vergleichungsakt selbst: Ausdrücke, welche dadurch als Symbole der genannten Phänomene dienen, daß sie ihrerseits, wo wir sie aussprechen hören, assoziativ unsere Aufmerksamkeit auf die entsprechenden Phänomene hinlenken.

Hiernach setzt sich also z. B. das Wahrnehmungsurteil "dies ist rot", wie es durch den Anblick eines roten Gegenstandes veranlaßt wird, aus folgenden Schritten zusammen. Zunächst vollzieht sich das elementare Wahrnehmungsurteil, welches sprachlich durch das Demonstrativum Ausdruck findet; an dieses anschließend wird das  elementare  Vergleichungsurteil vollzogen, psychologisch zu definieren als das Bemerken des speziellen psychischen Phänomens, welches den Übergang vom wahrgenommenen Inhalt zu den Gedächtnisbildern ähnlicher Inhalte bildet. Das Vorfinden der Benennung der letzteren, der Assoziation eines benennenden Wortes an dieselben macht den letzten wesentlichen Schritt des Urteils aus.

Da das Urteil erst zum Ausdruck gelangt, nachdem der zugrunde liegende psychische Akt sich bis zum Ende vollzogen hat, so braucht die Reihenfolge der sprachlichen Ausdrücke für das Prädikat und den Vergleichungsakt nicht mit der Reihenfolge der Wahrnehmung der entsprechenden Phänomene zusammenzufallen. Tatsächlich ist jene Reihenfolge in den meisten Sprachen nicht fest bestimmt. Auch im übrigen kann der sprachliche Ausdruck der Wahrnehmungsurteile sehr verschiedenartige Formen annehmen. Die Form von Existentialsätzen zwar, welche nach BRENTANO und MARTY das eigentliche Wesen der Wahrnehmungsurteile wiedergegeben würde, dürfte denselben wohl nur ausnahmsweise gegeben werden: Formulierungen, wie "rot ist", "Blitzen ist", tun nicht nur der Sprache, sondern, wie die vorigen Betrachtungen erkennen lassen, auch der logischen Bedeutung der betreffenden Urteile Gewalt an. Hingegen finden sich eine Menge anderweitiger Variationen der sprachlichen Formulierung. Zunächst kann sowohl der Ausdruck des ersten elementaren Wahrnehmungsurteils, als auch der des Vergleichungsurteiles wegfallen, wie in den Ausrufen "Feuer!" "Der Storch!" (33) welche statt sämtlicher Schritte des Urteils nur das Prädikatswort geben. Diese Vernachlässigung wird offenbar durch die  interjektionsartige Betonung  des gesprochenen Wortes hinreichend ausgeglichen, die, wie jede Interjektion, das elementare Wahrnehmungsurteil zum Ausdruck bringt; das Vergleichungsurteil aber wird vom Hörer von selbst ergänzt, wenn er in der genannten Weise auf die  beiden  Fundamente der Vergleichungsrelation hingewiesen wird. Nicht völlig verschwiegen, aber minder deutlich hervorgehoben wird das elementare Wahrnehmungsurteil in denjenigen  Impersonalsätzen welche Wahrnehmungsurteile zum Ausdruck bringen. Eine Komplikation kann dadurch eintreten, daß das Subjekt im gesprochenen Aussagesatz bereits benannt erscheint, womit offenbar ein erstes, minder bestimmtes Vergleichungsurteil bereits vorausgesetzt und mitbehauptet ist.

Das elementare Vergleichungsurteil findet im Allgemeien seinen Ausdruck durch die mit dem Prädikat verbundene Verbalendung oder durch die Kopula; doch ist der Ausdruck desselben nicht unbedingt erforderlich, wie schon die obigen Beispiele zeigten. Manche Sprachen, wie die semitischen, vernachlässigen ihn bei Urteilen der hier besprochenen Art regelmäßig; auch in denjenigen Sprachen, welche sich der Kopula in der Regel bedienen, wird diese nicht selten unterdrückt.

Endlich kann gegenüber der oben zitierten Normalform, in welcher die als Prädikat erscheinende relative Bestimmung der Subjektsvorstellung in  ein  Wort zusammengezogen ist, eine Änderung dadurch eintreten, daß dieselbe auch der sprachlichen Form nach als  relative  Bestimmung auftritt. Statt zu sagen, dies ist der Ton  a,  kann ich, vielleicht durch besondere Umstände veranlaßt, ihn dadurch bezeichnen, daß ich sage, er ist die Quint von  d,  die kleine Terz von  fis;  statt zu sagen, dieser Mensch ist ein Zwerg, kann ich seine Größe dadurch bezeichnen, daß ich sage, er ist nicht größer als ein sechsjähriges Kind; statt beim Betrachten der Landkarte zu sagen, Rom liegt unter dem 42 ° nördlicher Breite, kann ich angeben, daß es 6° südlicher liegt als München. Solche auch der Form nach relative Prädikationen können bald bestimmter, bald minder bestimmt sein, als die zuerst genannten. Aber offenbar ist ihr Unterschied von diesen nur ein formeller und erstreckt sich nicht auf den zugrunde liegenden psychischen Akt, da ja, wie wir gesehen haben, auch die einfachste prädikative Bestimmung eines Inhalts stets nur durch die Angabe einer Relation desselben zu anderen Inhalten geleistet weren kann. Die Unterscheidung, welche man zwischen  absoluten und relativen Attributen  gemacht hat, kann demnach nicht als eine sachliche Unterscheidung gelten: wenn HOBBES es allgemein für inkorrekt erklärt, von einer "Substanz" das Ergebnis der Vergleichung mit einer andern als besonderes Attribut auszusagen, so übersieht er, daß auch die scheinbar absoluten Prädikate nur durch eine solche Vergleichung gewonnen werden können. Seine Behauptung ist dahin einzuschränken, daß es für inkorrekt erklärt werden mß, von einem Ding relative Attribute auszusagen, welche in einem andern (dem Wesen nach, wie wir sahen, stets gleichfalls relativen) schon vorher ausgesagten Attribute implizit mitausgesagt sind. Habe ich einen Gegenstand von roter Farbe, so hat es keinen Sinn, demselben das Attribut "von blau verschieden" noch besonders zuzusprechen, nachdem ihm bereits das Prädikat rot zuerkannt ist, da mit dem letzteren die Verschiedenheit von blau gegeben ist. Aber ganz das Gleiche läßt sich von jedem, gleichviel ob "relativen" oder scheinbar absoluten Prädikat behaupten, welches aus den bereits bekannten Prädikaten des vorgelegten Inhaltes analytisch folg. Weiß ich z. B. schon, daß das vorgelegte Objekt eine ellipsoide Form hat, so hat es keinen Sinn mehr, besonders zu behaupten, daß es eine gekrümmte Oberfläche besitzt; dagegen hat es noch sehr wohl einen Sinn, auszusagen, daß das Objekt einem Ei oder einer Kugel ähnlich ist, ebenso im zuerst genannten Fall, daß der Gegenstand einem zinnoberroten ähnlich, von einem fuchsinroten verschieden ist.

Hiernach werden wir auch die Unterscheidung, daß in den sogenannten Relationsurteilen die Prädikate der Subjektvorstellung  äußerlich  bleiben, während in den Benennungs-, Eigenschafts- und Tätigkeitsurteilen zwischen Subjekt und Prädikat eine innere Einheit besteht (34), nur als eine formelle Unterscheidung betrachten können - mindestens soweit dieselbe die Wahrnehmungsurteile betrifft. Der Satz "diese Flechte ist schwefelgelb" (35) drückt offenbar keinen anderen Urteilsakt aus, als der Satz "die Farbe dieser Flechte ist der des Schwefels ähnlich": die Vergleichung mit dem Schwefe kommt freilich dem Subjekt nicht zu, wie es als einzelnes gedacht (wahrgenommen) wird, aber die Beurteilung seiner Farbe läßt sich eben ohne jeden Vergleich mit anderen mehr oder weniger bestimmt bezeichneten Inhalten nicht leisten.

Welche der verschiedenen sprachlichen Formen der Ausdruck des Urteils annimmt, dürfte in vielen Fällen davon abhängen, ob und inwieweit wir die einzelnen Schritte des Urteilsaktes  bemerken.  Daß übrigens diese Schritte, auch wo sie nicht einzelne bemerkt werden, sondern sich unbemerkt und gewohnheitsmäßig vollziehen, für das Zustandekommen des Urteils darum nicht minder wesentlich sind, bedarf wohl keines besonderen Nachweises.

8. Was die Schullogik nicht eben treffend als  Verbindung der Vorstellungen (Begriffe) im Urteil  bezeichnet, ist offenbar bei Wahrnehmungsurteilen eben jenes "in Beziehung setzen" von Subjekts- und Prädikatsvorstellung, welches wir als das elementare Vergleichungsurteil bezeichnet haben. Auch den erklärenden Urteilen liegt, soweit sie sich auf sinnlich anschauliche Inhalte beziehen, stets ein derartiges Vergleichungsurteil zugrunde: während ich urteile, "Blut ist rot", schwebt mir zunächst das Phantasma "Blut" vor, dessen Übereinstimmung (Ähnlichkeit) mit den Phantasmen anderer als "Rot" bekannter Farbwahrnemungen ich konstatiere. In welcher Weise das erster Phantasma zugleich als Vertreter einer Reihe früher wahrgenommener und in Zukunft wahrzunehmender Inhalte dient und in welcher Weise erklärende Urteile über nicht anschauliche Inhalte sich jederzeit auf solche über anschauliche Inhalte zurückführen lassen, darf hier als bekannt vorausgesetzt werden. Wir können daher aufgrund der durchgeführten Betrachtungen allgemein behaupten, daß die in den erklärenden wie in den Wahrnehmungsurteilen ausgesagte Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat nichts anderes ist, als das Resultat des  vergleichenden Aktes,  aufgrund dessen wir die mehr oder weniger genaue Übereinstimmung des durch das Prädikatswort bezeichneten Inhaltes mit dem durch das Subjektswort bezeichneten erkannt haben.

Die Definition des Urteils als  synthesis noematon hosper hen onton  [Synthese von Gedanken die gleichsam eines sind. - wp] kann demnach nichts anderes bedeuten als diejenige  Zusammenstellung von Gedankeninhalten,  mit welcher wir sagen wollen, daß diese Inhalte miteinander (in irgendeiner Beziehung) übereinstimmen und daher (in eben dieser Beziehung) als  ein und dasselbe  betrachtet werden können. der Deutung jenes aristotelischen Ausdrucks als Verbindung von Vorstellungen zu einer komplexen Vorstellung, wie sie sich bei englischen und den durch diese beeinflußten nichtenglischen Philosophen vielfach findet, (36) liegt eine handgreiflich falsche Übersetzung zugrunde.

Demgemäß werden wir natürlich nicht zugeben können, daß in der Frage und im negativen Urteil dieselbe "Vorstellungsverbindung" vorliegt wie im positiven Urteil (37). Allerdings sind es dieselben  Worte,  welche in der Frage wie in der Antwort verknüpft werden. Aber die Frage nach einem zu fällenden Wahrnehmungsurteil z. B. hat offenbar stets nur den Sinn, den Hörer auf die durch die angewendeten Benennungen bezeichneten Vorstellungen hinzuweisen und ihn zu veranlassen, das elementare Vergleichungsurteil zwischen denselben zu vollziehen. Daß dieses Urteil mit dem Hören der Frage noch nicht  eo ipso  [schlechthin - wp] vollzogen ist, liegt daran, daß in der Frage, wie in jedem sprachlichen Ausdruck, der Natur der Sache nach nur  Symbole  für die zu vergleichenden Vorstellungen gegeben werden können, zwischen welchen natürlich keine Vergleichung zu vollziehen ist, daher dann die Frage eine beliebige Relation  fingieren  kann. Erst indem der Hörer die in der Frage nur angezeigten Vorstellungen tatsächlich wahrnimmt und vergleicht, d. h. die tatsächlich zwischen ihnen bestehende Relation bemerkt, urteilt er: nach der Art des Übergangs, welchen er zwischen den bezeichneten Inhalten wahrnimmt, fällt sein Urteil, die Antwort auf die gestellte Frage positiv oder negativ aus.

Nur mit Bezug auf eine gestellte Frage kann das Urteil den Sinn einer Bejahung oder Verneinung enthalten. Wen zwei Vorstellungen aus irgendeinem Grund verglichen werden und als Relation derselben nicht Gleichheit (Ähnlichkeit), sondern eine erhebliche Verschiedenheit wahrgenommen wird, so wird das Urteil, falls keine Frage nach der Gleichheit beider Inhalte vorlag, stets die positive Form einer Behauptung der  Verschiedenheit  beider Inhalte annehmen. Nur wenn jene Frage, gleichviel ob ausdrücklich oder implizit gestellt war, kann anstelle des positiven Verschiedenheitsurteils "A ist ein anderes als B" das negative Urteil "A ist nicht gleich B" treten; denn dieses Urteil sagt ausdrücklich, daß die Relation beider Inhalte eine andere ist als die Gleichheitsrelation; um aber diesen Gegensatz zu konstatieren, mußte offenbar die Gleichheitsrelation vorgestellt gewesen sein, da andernfalls kein Vergleich zwischen dieser und der tatsächlich vorgefundenen Relation zustande gekommen wäre. Diese Konstatierung des wahrgenommenen Unterschieds  im  Gegensatz zu einer fingierten anderen Relation entspricht aber offenbar gerade dem oben dargelegten Mechanismus von Frage und Antwort.

Wollte man diese negativen Wahrnehmungsurteile in existentialer Form ausdrücken, so müßte hiernach die Gleichheitsrelation zwischen den wahrgenommenen Inhalten die Materie des Existentialurteils bilden: die (der Kopula der Frage entsprechende) in der Frage fingierte Gleichheitsrelation findet sich beim wirklichen Vergleichen der angezeigten Inhalte nicht vor - sie existiert nicht.

9. Während beim elementaren Wahrnehmungsurteil keine  Möglichkeit des Irrtums  gegeben war, gibt bei dem hier in Rede stehenden Urteilen die mehrfach erwähnte Ungenauigkeit der Gedächtnisbilder Gelegenheit zu Täuschungen. Die Vieldeutigkeit der sprachlichen Benennungen verringert freilich diese Gefahr insofern, als die dadurch bedingte Ungenauigkeit des Ausdrucks ein tatsächlich unrichtiges Urteil in einer Form wiederzugeben gestattet, welche zugleicht als Ausdruck des richtigen Urteils gedeutet werden kann. Sehe ich z. B. eine Farbe und glaube deren Gleichheit mit einer früher gesehenen Nuance, etwa einem bestimmten Zinnoberrot zu erkennen, so kann die Aussage "dies ist zinnoberrot" auch dann wahr bleiben, wenn mein zum Vergleich herangezogenes Gedächtnisbild  nicht  mit jener bestimmten Nuance übereinstimmt, weil eben der Ausdruck "zinnoberrot" außer jener bestimmten früher gesehenen Farbe noch eine große Zahl anderer ähnlicher Schattierungen umfaßt.  Falsche  Aussagen dieser Art werden bei normal Sehenden und mit den sprachlichen Ausdrücken hinreichend Vertrauten kaum vorkommen, wenn nicht etwa besondere Umstände - ungewohnte Beleuchtung und dgl. - das Urteil erschweren. Weit mehr Übung erfordert das richtige Urteilen in Gebieten, wo die Bezeichnungen der qualitativen Unterschiede genauer fixiert sind, wie z. B. im Tongebiet, so wie in den Fällen, wo nicht ein einziges, sondern eine größere Reihe nur durch eine eingehende Analyse zu gewinnender Urteile notwendig ist, um die Übereinstimmung der Subjekts- und Prädikatsvorstellung zu erkennen. Wenn ich einen gegenwärtig erklingenden Ton als den Ton  a  beurteile, so kann ich dadurch irren, daß mein Gedächtnisbild des früher mit  a  bezeichneten Tones im weiter oben erörterten Sinne nicht scharf genug ist. Sehe ich die Abbildung einer gothischen Kirche und urteile, daß dieselbe ein Bild des Ulmer Münsters ist, so kann ich dadurch irren, daß mein Gedächtnisbild des Ulmer Münsters infolge mangelhafter Analyse nicht scharf genug ist, um die Abweichungen des vorliegenden Bildes vom Original, für dessen Kopie ich es halte, zu erkennen.

Die Frage nach der Wahrheit  eines Wahrnehmungsurteiles kann sich demgemäß darauf beziehen, ob die Gedächtnisbilder der Phänomene, zu welchen ich das gegenwärtig wahrgenommene Phänomen in Relation setze, jene Phänomene wirklich und vollständig repräsentieren. Insofern kann also sehr wohl nach der Wahrheit eines rein subjektiven Urteils gefragt werden, bei welchem von "objektiver" Gültigkeit überhaupt keine Rede sein kann. Habe ich z. B. ein subjektives Klingen im Ohr, welches niemandem als mir selbst wahrnehmbar ist, als den Ton  fis  beurteilt, so ist offenbar die Frage nach der Wahrheit dieses Urteils durchaus nicht sinnlos, während die Frage nach der objektiven Gültigkeit desselben nicht gestellt werden kann, da hier weder über äußere Objekte, noch über Beziehungen solcher Vorstellungsinhalte geurteilt wird, welche mehr als einem Subjekt zugänglich sind, so daß das Urteil mehr als bloß subjektive Bedeutung hätte.

Die Frage nach der Wahrheit des  mitgeteilten  Wahrnehmungsurteils aber kann sich weiterhin noch darauf richten, ob die Worte, deren sich der Sprechende bedient, von ihm in dem Sinne angewendet werden, welcher ihnen nach dem allgemeinen Gebrauch oder in Gemäßheit ausdrücklich getroffener Festsetzungen entspricht: das Urteil kann richtig gefällt und doch unrichtig ausgedrückt werden, wenn die sprachlichen Benennungen für die verglichenen Vorstellungen nicht hinreichend fest an dieselben assoziiert sind. Die Vieldeutigkeit der sprachlichen Bezeichnungen kann zu solchen Irrungen seitens des Urteilenden offenbar bei Wahrnehmungsurteilen nicht führen; umso leichter wird sie den Hörer zu Mißverständnissen veranlassen und dem Urteilenden selbst gefährlich werden, sobald er aufgrund der sprachlich formulierten Urteile Schlüsse zu ziehen unternimmt.

10. Die Resultate dieses Kapitels lassen sich kurz folgendermaßen zusammenfassen.

Wir bezeichneten als  Wahrnehmung  das Bemerken eines Bewußtseinsinhaltes, gleichviel ob derselbe zu den psychischen oder den physischen Phänomenen nach BRENTANOs Unterscheidung zu zählen ist; wobei wir indessen ausdrücklich bemerkten, daß bei der Wahrnehmung eines physischen Phänomens - der "äußeren" Wahrnehmung - an kein Urteil über einen mit dem gegenwärtigen Inhalt irgendwie verbundenen anderweitigen Inhalt gedacht werden soll, eine Bemerkung, die im Hinblick auf den bisherigen Gebrauch des Ausdrucks "äußere Wahrnehmung" notwendig erschien. Aufgrund dieser Definition ergaben sich die innere und äußere Wahrnehmung als vollkommen koordiniert; beide Arten der Wahrnehmung sind einzig durch ihre Inhalte unterschieden. Insbesondere folgte hieraus weiter, daß die äußere Wahrnehmung in gleicher Weise untrüglich ist wie die innere: die direkte Erkenntnis unserer Bewußtseinsinhalte ist nur dem  Mangel  der Analyse, nicht einem  unrichtigen  Erkennen entgegengesetzt. Da zu den physischen Phänomenen nicht nur die Empfindungs-, sondern auch die Phantasie-Inhalte gehören, so mußten wir folgerichtig den Begriff der Wahrnehmung auch auf das Bemerken von Phantasmen ausdehnen.

Wir fanden weiter, daß zum Bemerken eines Inhaltes innerhalb des Zusammenhangs unseres psychischen Lebens stets seine Abhebung vom vorhergehenden Inhalt unseres Bewußtseins erforderlich ist; das (elementare) Wahrnehmungsurteil besteht somit wesentlich in der Erkenntnis des gegenwärtigen Inhaltes als eines vom vorhergehenden Inhalt verschiedenen. Diese Erkenntnis aber ist von der Tatsache des Vorfindens des betreffenden Inhaltes, seinem Erscheinen oder  Vorgestelltwerden  in der üblichen weiteren Bedeutung des letzteren Wortes nicht unterschieden; wir konnten daher einer Trennung des Urteilsaktes im elementaren Wahrnehmungsurteil vom vorstellenden Akt nicht zustimmen. Die Frage, ob bei der inneren Wahrnehmung das Urteil sich direkt auf die psychische Wirklichkeit oder erst sekundär auf diese durch Vermittlung einer Vorstellung beziehe, erschien demgemäß als gegenstandslos. Die weitere Frage, ob das elementare Wahrnehmungsurteil als  eingliedriges  Urteil zu betrachten ist, wurde im negativen Sinn entschieden: dasselbe enthält zwar keine vergleichende Ineinssetzung zweier Vorstellungsinhalte, wohl aber eine Unterscheidung solcher, ist also wie die gewöhnlichen zweigliedrigen Urteile ein auf eine Zweiheit von Fundamenten gegründetes Relationsurteil.

Dem in bestimmerer Form mitgeteilten Wahrnehmungsurteil, in welches eine  Benennung  des wahrgenommenen Inhaltes eingeht, liegt außer jener Unterscheidung noch eine Vergleichung des gegenwärtig wahrgenommenen Inhaltes mit den Inhalten früherer Wahrnehmungen zugrunde: die Wahrnehmung der betreffenden Gleichheits- oder Ähnlichkeitsrelation ist in diesem Fall der Akt, welcher das gesprochene Urteil veranlaßt und in demselben zum Ausdruck gebracht wird. Da - von Nominaldefinitionen abgesehen - jede Benennung und Prädikation eine solche Vergleichung erfordert, so konnte  kein Unterschied zwischen absoluten und relativen Prädikaten  anerkannt werden. In eben jener Vergleichung fanden wir dasjenige Moment, welches das Urteil von der  Frage  unterscheidet. Die beim elementaren Wahrnehmungsurteil ausgeschlossene Möglichkeit des Irrtums endlich erschien bei den vergleichenden Wahrnehmungsurteilen dadurch gegeben, daß bei mangelhafter Analyse der Relationen eines wahrgenommenen Inhaltes das Gedächtnisbild desselben mit einer gewissen Ungenauigkeit behaftet bleibt, infolge deren die Relation des gegenwärtigen Inhaltes zum früher wahrgenommenen mehr oder weniger mangelhaft erkannt wird.


II. Empfindung und
Phantasievorstellung

11. In einem engen Zusammenhang mit der im Beginn des vorigen Kapitels festgesetzten Terminologie steht eine weitere terminologische Bestimmung, welche wir für das Folgende treffen wollen und welche ebenso wie jene den Zweck hat, gewisse durch den bisherigen schwankenden Sprachgebrauch bedingte Unklarheiten auszuschließen. Diese Bestimmung hat zwar in gleicher Weise auf die Inhalte der inneren wie der äußeren Wahrnehmung Bezug, läßt sich jedoch an denen der äußeren am leichtesten darlegen, daher wir unsere Betrachtung zunächst auf die letzteren beschränken wollen.

Wir wollen unter dem  Inhalt unseres Empfindens,  entsprechend den oben bei der Erläuterung des Begriffs der äßeren Wahrnehmung gemachten Bemerkungen, nichts anderes verstehen, als das jeweils gegenwärtige, empfundene physische Phänomen als solches: wir wollen also z. B. unter dem Inhalt unserer Gesichtsempfindung nicht irgeneine "objektives Ding", weder im Sinn eines  tastbaren  Objekts, noch im Sinn einer metaphysischen Substanz, ebensowenig aber auch die Erregung unseres Sehnerven oder der entsprechenden Teile des Zentralorgans verstehen, sondern einfach das  Gesichtsbild als solches,  das gegenwärtig gesehene Nebeneinander gefärbter Flächen. In analoger Weise wollen wir unter dem  Inhalt einer Phantasie- oder Gedächtnisvorstellung  niemals dasjenige Objekt verstehen, welches dieser Phantasie- oder Gedächtnisvorstellung, wie man zu sagen pflegt, in Wirklichkeit entsprechen würde, bzw. entspricht oder entsprochen hat, sondern stets nur das  gegenwärtige Phantasma selbst.  Sage ich also z. B., ich erinnere mich einer Melodie, so ist der Inhalt meiner Gedächtnisvorstellung nicht die früher gehörte Melodie, sondern mein gegenwärtiges  Erinnerungsbild  derselben.

Daß allgemein das Phantasma nicht mit dem entsprechenden Objekt - der Summe der entsprechenden Empfindungsinhalte - identisch, sondern  toto genere  [völlig - wp] davon verschieden ist: daß sich also ein bloß vorgestellter Ton von einem wirklich gegenwärtig gehörten, ein bloß vorgestellter Taler von einem tatsächlich gegenwärtig gesehenen und getasteten Taler unterscheidet, bedarf keines Beweises. Wie auch dieser Unterschied des Näheren bestimmen mag - daß er vorhanden ist, darüber kann niemand im Zweifel sein. Unsere Festsetzung bezweckt nichts anderes, als auf diese tatsächliche Verschiedenheit immerwährend hinzuweisen, den inhaltlichen Unterschied zwischen Empfindung und entsprechender Gedächtnis- oder Phantasievorstellung zu betonen. Folgt man ohne Rücksicht auf diesen Unterschied dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, indem man in den jeweils entsprechenden Fällen wirklicher Empfindung und bloßer Phantasievorstellung von einer Beziehung unserer vorstellenden Tätigkeit auf  denselben  Inhalt spricht, so macht man sich einer Äquivokation [Wort mit mehreren Bedeutungen - wp] schuldig, analog etwa, wie wenn jemand, der sich vom Dasein eines Dings zugleich durch den Gesichts- und den Tastsinn überzeugt, den Inhalt seiner Gesichtsempfindung für identisch mit demjenigen seiner Tastempfindung erklären würde. Daß eine solche Redeweise  ansich  keinen Widerspruch enthält und somit wie jede willkürliche widerspruchsfreie Terminologie ihren guten Sinn haben würde, ist selbstverständlich; allein dieselbe ist nicht mehr zulässig, sobald der Begriff des Vorstellungsinhaltes anderweitig in der Art fixiert ist, daß die Unterschiede der vorstellenden Tätigkeit allgemein durch solche der Inhalte deternimiert werden (wie z. B. beim Wahrnehmen von Gesichtsempfindungen auf der einen, Gehörsempfindungen auf der anderen Seite). Wollte man dennoch für den vorliegenden Fall vom letzteren Sprachgebrauch abgehen und den Unterschied zwischen dem Empfinden eines Inhaltes und dem Vorstellen des entsprechenden Phantasmas nicht auf einen Unterschied der in beiden Fällen wahrgenommenen Inhalte, sondern auf einen solche der psychischen Tätigkeit zurückführen - wozu übrigens, wie wir sehen werden, keinerlei sachlicher Grund vorliegt - so müßten mindestens zugleich alle Analogien, welche sonst zwischen Empfinden und bloßem Vorstellen bestehen, entsprechend umgedeutet werden; in keinem Fall aber dürfte, was vom "bloßen Vorstellen" erwiesen ist, auch von der Vorstellungstätigkeit im weiteren Sinn behauptet werden, welche die Empfindungstätigkeit mit einschließt.

12. Während das tatsächliche Bestehen eines Unterschiedes zwischen Empfindung und entsprechendem Phantasma einer Erklärung nicht bedarf, werden wir dagegen die Frage nicht abweisen können, worauf denn eben jenes  Entsprechen  beider Arten von Inhalten beruth, aufgrund dessen sich diese zu zusammengehörigen Paaren ordnen. Am nächsten liegt es wohl, die Beziehung der zusammengehörigen Inhalte beider Gattungen unter die Relation der  Ähnlichkeit  zu subsumieren. Daß dies zulässig ist, erscheint nicht zweifelhaft: jedermann wird eine  gewisse  Ähnlichkeit zwischen Empfindung und entsprechendem Phantasma zugeben. Allein diese Ähnlichkeit ist so völlig verschieden von jeder anderen Art der Ähnlichkeit (wie sie sich zwischen Empfindungen  untereinander  findet), daß man sich jedenfalls sehr hüten muß, irgendwelche Analogien von sonstigen Ähnlichkeitsrelationen auf diese zu übertragen.

Die weiteste Verbreitung hat die Ansicht gefunden, daß die Beziehung beider Arten von Inhalten im wesentlichen als  Unterschied in der Stärke und Lebhaftigkeit  zu betrachten ist. So findet BERKELEY (38) die Empfindungen "stärker, lebhafter und bestimmter" als die Phantasievorstellungen; HUME (39) erwähnt als den ersten Umstand, der sich ihm bei der Betrachtung von Wahrnehmungsinhalten aufdrängt, die große Ähnlichkeit zwischen Empfindungen und Phantasievorstellungen "in jeder anderen Hinsicht, außer in Bezug auf den Grad ihrer Stärke und Lebhaftigkeit". Dieselbe Ansicht findet sich bei neueren englischen Psychologen, so namentlich bei BAIN (40) wieder.

Daß diese Zurückführung des Unterschiedes zwischen Empfindung und Phantasievorstellung auf Intensitätsdifferenzen mit einer gewissen Unklarheit behaftet ist, wird jedermann alsbald erkennen, wenn er etwa die darauf bezüglichen Auseinandersetzungen HUMEs mit Aufmerksamkeit verfolgt. Die Ausdrücke  Stärke  und  Lebhaftigkeit  (force and vivacity) sind keineswegs durch sich selbst ohne weiteres klar, und HUME hat es unterlassen, sie hinreichend genau zu bestimmen. Wenn er sich dahin ausspricht, daß "die Vorstellung von Rot, die wir im Dunkeln bilden und der entsprechende Eindruck, welcher unser Auge im Tageslicht trifft, sich nur dem Grad, nicht der Natur nach unterscheiden" (41), so scheint er vorauszusetzen, daß dieser Gegensatz zwischen Unterschieden des Grades und der Natur ohne eine weitere Erklärung verstanden wird. Demnach liegt es wohl am nächsten, jene Ausdrücke in dem gewöhnlich mit denselben verbundenen Sinn zu deuten, also die Unterschiede der Natur als solche der Qualität, diejenigen des Grades als solche der Intensität in der üblichen Bedeutung dieser Worte zu verstehen. Allein einmal würde alsdann, wenn wir die Stärke z. b. eines Tones abnehmen lassen, schließlich ein Punkt erreicht werden müssen, wo der Ton zur Phantasievorstellung und zwar folgerichtig zur Phantasievorstellung von maximaler Stärke wird, was doch nicht mit der Erfahrung übereinstimmt; andererseits würde die von HUME später erwähnte Tatsache, daß den verschiedenen "Schattierungen derselben Farbe" verschiedene Phantasmen entsprechen (42), zu einem  regressus in infinitum  [Zirkelschluß - wp] führen, wenn jede Phantasievorstellung nur als schwächere Empfindung zu betrachten wäre, da ihr alsdann ja offenbar wiederum eine andere noch schwächere Empfindung als Gedächtnisbild korrespondieren müßte (43). Ferner läßt sich die immer wiederkehrende Behauptung HUMEs, daß die Ideen der Einbildung schwächer und dunkler sind als diejenigen der  Empfindung  und des  Gedächtnisses,  (44) nicht wohl mit der angegebenen Erklärung des Unterschiedes zwischen Empfindung und Phantasma vereinigen; denn wenn allgemein diese nur in Bezug auf ihre Stärke und Lebhaftigkeit unterscheiden, wie sollen sich dann die Gedächtnisvorstellungen abermals vor den bloßen Einbildungsvorstellungen durch das gleiche Merkmal auszeichnen, da doch das Erinnerungsbild einer einfachen Empfindung und das von jeder Erinnerung unabhängig vorgestellte Phantasmata derselben, wie HUME ausdrücklich anerkennt (45), sich in nichts unterscheiden? Wir werden auf diesen Punkt später gelegentlich zurückzukommen haben; wie sich aber auch der hier anscheinend vorliegende Widerspruch mag lösen lassen, jedenfalls zeigt derselbe deutlich die Unklarheit der angegebenen Bestimmung der Beziehung von Empfindung und Phantasma.

Etwas bestimmter erklärt BAIN den behaupteten Unterschied der Stärke und Lebhaftigkeit, indem er den Unterschied in der Größe der entsprechenden  Wirkungen  - z. B. der Speichelabsonderung beim wirklichen Schmecken und beim bloßen Vorstellen eines Geschmacks - als Maß für den genannten Intensitätsunterschied aufstellt. (46) Daß aber hiermit eine  psychologisch  brauchbare Bestimmung dieses Unterschiedes gewonnen wäre, wird niemand aufrechterhalten wollen. Bestimmter scheint ein anderes Merkmal den genannten Unterschied zu charakterisieren: die mit Lebhaftigkeit, Intensität, Stärke bezeichnete Wirkung soll sich nach BAIN darin zeigen, daß die Empfindungen eine Superiorität [Vorherrschaft - wp] in Bezug auf den  Grad des Bewußtseins  besitzen. "Wenn eine Empfindung auftaucht, so zeigen die Phantasmen ihre Schwäche dadurch, daß sie sich der Aufmerksamkeit entziehen, sie können nicht in den Vordergrund kommen, bis die Empfindung aufhört oder irgendwie zurücktritt." (47) Wir werden indessen weiter unten sehen, daß diese Bestimmung nicht aufrechterhalten werden kann.

Klarer als die angeführten Autoren spricht sich über die Natur jenes Unterschiedes der Stärke und Lebhaftigkeit MEINONG (48) aus. Nachdem er eine Reihe von Inkonsequenzen erörtert hat, zu welchen die Behauptung eines bloßen Intensitätsunterschiedes im gewöhnlichen Sinne zwischen Empfindung und Phantasievorstellung führt, gelangt er dazu, diesen Unterschied als einen solchen in der  Intensität des vorstellenden Aktes,  nicht des vorgestellten Inhaltes zu erklären; eine Ansicht, welcher auch HUME mehrfach nahe kommt, ohne sie jedoch deutlich zu formulieren.

13. Wenn diese Erklärung, auf welche sich MEINONG durch Exklusion hingedrängt sieht, wirklich als adäquater Ausdruck der Tatsachen zu betrachten wäre, so könnte offenbar unsere Festsetzung, die den Unterschied zwischen Empfindung und Phantasievorstellung für einen  inhaltlichen  erklärt, nicht aufrechterhalten werden. Indessen lassen einerseits die zu Anfang dieses Kapitels angestellten Betrachtungen mit einiger Wahrscheinlichkeit vermuten, daß die Frage, ob jener Unterschied als ein solcher des Inhaltes oder der psychischen Tätigkeit zu betrachten ist, wesentlich eine  terminologische  Frage ist, deren Entscheidung in letzter Instanz aus Zweckmäßigkeitsgründen erfolgen muß; so daß wir von vornherein allen Argumenten, welche die eine oder die andere Ansicht als die allein richtige erweisen wollen, mit einem gewissen Mißtrauen begegnen dürfen. Andererseits scheinen mir der Ansicht MEINONGs, daß Empfindung und Phantasievorstellung sich nur durch die Intensität des auf denselben Inhalt gerichteten psychischen Aktes unterscheiden sollen, nicht unerhebliche Bedenken entgegenzustehen. Da nämlich MEINONG auch das Hinlenken der Aufmerksamkeit auf einen Inhalt als Intensitätssteigerung des vorstellenden Aktes erklärt, so scheint es, daß die Intensität, mit welcher ein Phantasma vorgestellt wird, größer sein muß als diejenige der gleichzeitigen Empfindungen, sobald das Phantasma die Aufmerksamkeit stärker auf sich zieht als diese. Demnach müßte, wenn MEINONGs Ansicht zutrifft, ein Phantasma, welches die Aufmerksamkeit stärker als die gleichzeitigen Empfindungen auf sich lenkt, für eine  Empfindung  gehalten werden - oder aber das tatsächliche Vorkommen solcher Phantasmen in Abrede gestellt werden. Die erste dieser beiden Eventualitäten widerspricht offenbar der Erfahrung. Dagegen würde die zweite der oben zitierten Ansicht BAINs entsprechen, deren nahe Verwandtschaft mit einer bereits von BERKELEY (49) aufgestellten, neuerdings von STOUT (50) reproduzierten Theorie in die Augen springt. Nach BERKELEY unterscheiden sich Empfindungen und Phantasmen dadurch, daß die ersteren unabhängig von unserem Willen auftreten, während die letzteren nach Belieben hervorgebracht und unterdrückt werden können. STOUT ergänzt diese Unterscheidung durch die Bemerkung, den Phantasmen fehle die Beständigkeit, welche den Sinnesempfindungen zukommt: "Sobald die Aufmerksamkeit auf eine Phantasievorstellung nachläßt, wird diese Vorstellung fast unmittelbar verwischt". Daß hier unter Aufmerksamkeit die  willkürliche  Aufmerksamkeit gemeint ist, ergibt der alsbald folgende Gegensatz: "eine Sinnesempfindung dagegen besitzt Beständigkeit unabhängig von unserer subjektiven Aktivität". Ähnlich drückt sich auch BAIN aus: während eine Empfindung einen dauernden und festen Eindruck macht, ist die Phantasievorstellung unbeständig, entschwindet leicht dem Blick und erfordert eine Anstrengung, um wieder hervorgerufen zu werden (51).

So unbestreitbar richtig diese Behauptungen für eine große Zahl von Fällen sind, so lassen sich doch ebensoviele Fälle namhaft machen, in welchen dieselben ganz und gar nicht zutreffen. Oder wem von uns ist es nicht schon begegnet, daß ihn das Erinnerungsbild einer Melodie, eines Zitates unablässig verfolgte und es ihm mit dem besten Willen nicht gelang, dasselbe abzuschütteln? Drängen sich nicht die Phantasievorstellungen, welche Todesangst oder freudige Hoffnung in uns erregen, mit gleicher oder größerer Intensität in den Vordergrund, als irgendwelche gleichzeitige Empfindungen? Oder wen hat nicht schon der Gedanke an vergangene oder zu erwartende Ereignisse oder eine sonstige geistige Beschäftigung von der Betrachtung eines Gemäldes, vom Hören eines Musikstückes, also von der Aufmerksamkeit auf sinnliche Empfindungen abgelenkt? Diese Beispiele werden genügen, die beschränkte Gültigkeit der erwähnten Theorien zu erweisen. Wie es Empfindungen gibt, welche nur mit Mühe bemerkt werden und beim Nachlassen der Aufmerksamkeit sofort zurücktreten (Obertöne z. B.), so gibt es Phantasievorstellungen, welche nur mit Anstrengung wahrgenommen und festgehalten werden können; ebenso aber wie andere Empfindungen sich oft gegen unseren Willen der Wahrnehmung aufdrängen, so nimmt auch ein anderer Teil der Phantasievorstellungen je nach den Umständen unserer Aufmerksamkeit voll in Anspruch und läßt alle gleichzeitigen Sinnesempfindungen in den Hintergrund treten.

Wenn es aber vielleicht gelingen mag, auch diese Tatsachen mit der Theorie MEINONGs in Einklang zu bringen, so kann diese dennoch, wie mir scheint, aus einem anderen Grund nicht für bewiesen gelten. Betrachten wir, um über diesen für unsere Aufgabe so wesentlichen Punkt volle Klarheit zu gewinnen, einen Augenblick den Beweisgang, auf welchen sich die Behauptung MEINONGs stützt.

MEINONG geht bei seinem Beweis von der Tatsache aus, daß sich Empfindungen und elementare Einbildungsvorstellungen zu zusammengehörigen Paaren ordnen; die Vermutung (52), daß als Prinzip dieser Zusammengehörigkeit  Inhaltsgleichheit  zu betrachten sei, sucht er zunächst durch eine Betrachtung der Erinnerungsurteile zu stützen. Die Erinnerungsurteile können, wenn man die genauere Bestimmung der Distanz des erinnerten Ereignisses von der Gegenwart vernachlässigt, in Form des Satzes "A war" ausgesprochen werden, indem man den Inhalt derselben mit Ausnahme der Zeitbestimmung in das Symbol  A  zusammendrängt; "wobei für den Urteilenden das  A  natürlich den Inhalt einer Einbildungsvorstellung ausmacht, welche ihm zur Zeit des Urteils gegenwärtig ist, aber etwas vielleicht längst vergangenes "treffen" soll. Dieses "Treffen", fährt MEINONG fort, ist geleistet, wenn auch die zur bezüglichen vergangenen Zeit stattgehabte Wahrnehmungsvorstellung das  A  zum Inhalt hatte."

Betrachten wir diesen ersten Schritt des Beweisganges, welcher die Voraussetzung aller weiteren Schritte bildet, so muß sofort auffallen, daß hier der Inhalt der vergangenen Wahrnehmungsvorstellung - Empfindung nach unserer Terminologie - durch  dasselbe Symbol  bezeichnet wird, wie der Inhalt der gegenwärtigen Phantasievorstellung  bereits vorausgesetzt  wird. MEINONG folgt hier dem gewöhnlichen, früher erwähnten Sprachgebrauch, nach welchem sich Empfindung und "bloße Vorstellung" auf  denselben  Inhalt beziehen. Nach unserer Terminologie würde der Inhalt der Erinnerungsvorstellung, welche zu dem Urteil "A war" veranlaßt, wenn durch  A  der einst wahrgenommene Empfindungsinhalt bezeichnet sein soll, eben  nicht  durch  A,  sondern nur durch ein  anderes  Symbol bezeichnet werden dürfen - etwa durch  a,  wenn wir allgemein Empfindungsinhalt und entsprechendes Phantasma durch entsprechende große und kleine lateinische Buchstaben symbolisieren wollen. Daß jene Voraussetzung MEINONGs notwendig wieder zu dem Schluß führen muß, daß Empfindung und Phantasma inhaltlich übereinstimmen, ist selbstverständlich; aber es ist offenbar, daß auch in diesem Schluß, wenn er nicht durch Äquivokation gewonnen sein soll, das Wort  Inhalt  in demselben Sinn wie zuvor angewendet sein muß, so daß also tatsächlich kein Schluß, sondern ein Zirkel vorliegt. Führt man dagegen jene Voraussetzung, daß die Zusammengehörigkeit von Empfindung und Phantasievorstellung auf Inhaltsgleichheit beruth,  nicht  ein, d. h. setzt man voraus, daß beide sich möglicherweise inhaltlich unterscheiden, so ändert sich auch der Schluß: die Behauptung "A war" kann als Gedächtnisurteil nur richtig sein, wenn sie sich auf die  entsprechende  Erinnerungsvorstellung  a  stützt. Aufgrund dieser Erkenntnis aber läßt sich über Gleichheit oder Ungleichheit beider Inhalte ganz und gar nichts beweisen.

Der Schluß MEINONGs, daß jedes Gedächtnisurteil, welches aufgrund einer gewissen Phantasievorstellung in ebenso einfacher und unmittelbarer Weise gefällt wird, als das Wahrnehmungsurteil aufgrund der zugeordneten Wahrnehmungsvorstellung, in demselben Maße falsch sein muß, wie die zugeordneten Inhalte verschieden, ist somit nicht anzuerkennen, da er sich auf die durchaus willkürliche Voraussetzung gründet, daß beide Arten von Inhalten tatsächlich zusammenfallen. Da auf eben diesem Schluß die folgende Beweisführung MEINONGs zugunsten der oben erwähnten Ansicht beruth, so dürfen wir dieselbe hiermit als widerlegt betrachten: das schließlich durch Exklusion gewonnene Resultat, daß Empfindung und bloße Vorstellung sich nur durch die verschiedene Intensität des vorstellenden Aktes, nicht aber inhaltlich unterscheiden, erscheint als Konsequenz der von Anfang an gemachten  Voraussetzung  der inhaltlichen Übereinstimmung beider, ist also auf eine  petitio principii  [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] gegründet.

14. Die Schwäche der sämtlichen angeführten Theorien liegt darin, daß sie erstens von vornherein die Ähnlichkeit zwischen Empfindung und entsprechender Phantasievorstellung mehr als billig betonen, zweitens aber diese Ähnlichkeit aus denselben Bedingungen erklären wollen, welche für die verschiedenen Arten der Ähnlichkeit zwischen  Empfindungs inhalten maßgebend sind. Was den ersteren Punkt betrifft, so ist zu bemerken, daß die behauptete außerordentliche Ähnlichkeit beider Arten von Inhalten, welcher Art sie schließlich auch sein mag, keineswegs so direkt in der täglichen Erfahrung zu erkennen ist, wie es HUMEs Worte vermuten lassen. Wenigstens geben andere Psychologen ihren diesbezüglichen Beobachtungen einen sehr abweichenden Ausdruck.
    "Jedermann bemerkt den Unterschied zwischen der wirklichen Anschauung der Sonne und der nur in seinem Gedächtnis befindlichen Vorstellung; beide sind so verschieden, wie es kaum bei anderen Vorstellungen angetroffen wird." (53)

    "Die Vorstellung des hellsten Glanzes leuchtet nicht, die des stärksten Schalles klingt nicht, die der größten Qual tut nicht weh." (54)

    "Die Vorstellung des stärksten Kanonendonners hat noch nicht die Intensität des Tones, den ein auf Wasser fallendes Haar hervorruft." (55)
Äußerungen dieser Art lassen sicherlich die Ansicht, daß Empfindungs- und Phantasieinhalt sich dem Wesen nach und nicht bloß durch ein Mehr oder Weniger unterscheiden, nicht a priori unannehmbar erscheinen.  Wenn  sie sich aber durch ein Mehr oder Weniger unterschieden, so kann dieses Mehr oder Weniger keinesfalls ein solches sein, welches auch innerhalb der  einzelnen  Gebiete der Empfindungs- bzw. Phantasieinhalte eine Verschiedenheit des Grades oder der Qualität bedingt, da es eben in diesem Fall nicht als Unterscheidungsmerkmal beider Klassen angesehen werden könnte. Aus diesem Grund können Intensitäts- wie Qualitätsunterschiede in dem Sinne, in welchem diese beiden Ausdrücke auf dem Gebiet der Sinneseindrücke gebraucht werden, nicht zur Erklärung des Unterschiedes jener beiden entsprechenden Arten von Inhalten dienen. Vielmehr muß, wenn überhaupt Empfindung und Phantasievorstellung durch einen Klassenunterschied getrennt sind, dieser Unterschied offenbar von einer Art sein, wie er sich innerhalb jedes einzelnen dieser Gebiet überhaupt nicht vorfindet. Mit anderen Worten: die Relation zwischen Empfindungs- und entsprechendem Empfindungsinhalt muß eine  Relation sui generis  [individueller Art - wp] sein und kann mit keiner anderweitig bekannten Relationsart zusammenfallen. Natürlich werden wir sie den  Vergleichungsrelationen  zuzuzählen haben, und es steht nichts im Weg, sie als eine Art von Ähnlichkeit zu bezeichnen; aber eben diese Art der Ähnlichkeit ist nicht auf eine der sonst bekannten Arten zurückzuführen. Wer die Möglichkeit eines  qualitativen  Unterschiedes zwischen empfundenem und erinnertem Ton nicht zugibt, weil beide eine gleiche Höhe besitzen, vergißt, daß nur innerhalb des Gebietes der  Tonempfindungen allein  alle Qualitätsunterschiede einfacher Töne sich auf Höhenunterschiede zurückführen lassen: der tatsächlich bestehende Unterschied zwischen Empfindungs- und entsprechendem Erinnerungsinhalt bei  gleicher  Höhe zeigt, daß jene Zurückführung bei Ausdehnung der Betrachtung auf beide Inhaltsgebiete nicht mehr gelingen kann.

Ergibt sich somit, bei Zugrundelegung des üblichen Begriffes der Vorstellungstätigkeit, als adäquate Bestimmung des Unterschiedes zwischen Empfindung und entsprechendem Phantasma die Bezeichnung desselben als eines eigenartigen qualitativen inhaltlichen Unterschiedes, so wird unsere ursprüngliche Frage nach dem Prinzip der Zusammengehörigkeit der jeweils entsprechenden Inhalte von neuem gestellt werden müssen. Denn wenn nicht qualitative Übereinstimmung der Grund ist, der uns diese Zusammengehörigkeit behaupten läßt, so scheint nicht abzusehen zu sein, in welcher Weise die Abbildung eines Empfindungsinhaltes durch einen  toto genere  davon verschiedenen Einbildungsinhalt noch erfolgen kann. Indessen ist diese Schwierigkeit nur eine scheinbare. Sowenig es eine qualitative Übereinstimmung ist, aufgrund deren wir die qualitativ verschiedenen Töne doch alle als Töne bezeichnen, sowenig bedarf es qualitativer Gleichheit, um die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit von Empfindung und entsprechendem Phantasma zu begründen. Vielmehr ergibt sich diese Zusammengehörigkeit aus der allgemeinen Erfahrungstatsache, daß  keine  Empfindung ohne das entsprechende Phantasma wahrgenommen wird,' unmittelbar und natürlich. Wenn ich einen Ton höre, so ist mir während der Dauer dieses Tones nicht nur der Ton als Empfindungsinhalt, sondern stets auch das Erinnerungsbild des bisher verflossenen Teils der Empfindung gegenwärtig: ich nenne den Ton konstant, wenn dieses Erinnerungsbild übereinstimmt mit demjenigen, welches die gegenwärtig noch fortdauernde Empfindung in jedem Augenblick hinterläßt und kann jene Konstanz nur aus dieser Übereinstimmung erkennen. Die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit von Empfindung und entsprechendem Phantasma ist somit eine der ersten Tatsachen des psychischen Lebens, welche schon unseren elementarsten Erkenntnissen zugrunde liegt und daher einer weiteren Erklärung weder fähig noch bedürftig erscheint.

15. Aus der hier gegebenen psychologischen Bestimmung der Zusammengehörigkeit von Empfindung und Phantasma einerseits, ihres Unterschiedes andererseits folgt an und für sich noch nicht die Notwendigkeit, die übliche  physiologische  Erklärung des Zusammenhangs der einander entsprechenden Phänomene dieser beiden Klassen aufzugeben. Mögen immerhin die gleichen Gehirnpartien beim Auftreten der Empfindung wie des Erinnerungsbildes erregt sein und der Unterschied der entsprechenden Vorgänge im Gehirn nur als Unterschied in der Intensität ein und desselben physiologischen Prozesses anzusprechen sein - vorausgesetzt, daß mit diesem Ausdruck überhaupt ein bestimmter Sinn verbunden werden kann - so folgt daraus noch ganz und gar nicht, daß auch die Unterschiede der entsprechenden Bewußtseinsinhalte nur Intensitätsunterschiede im psychologischen Sinn sein müßten; vielmehr ist die Annahme bloß intensiver Unterschiede der Gehirnprozesse mit der Tatsache eines weitgehenden qualitativen Unterschiedes zwischen den entsprechenden Wahrnehmungsinhalten sehr wohl vereinbar.

Indessen möchte doch der zuletzt angestellten Betrachtung eine andere Hypothese über die zugrunde liegenden physiologischen Vorgänge besser entsprechen. Da, wie bemerkt, stets zugleich mit der Empfindung das entsprechende Erinnerungsbild im Bewußtsein erscheint, nicht aber umgekehrt durch die Erinnerung die wirkliche Empfindung wieder hervorgerufen wird, so liegt die Vermutung nicht weit, daß sich unter den jeweils bei der Empfindung in Tätigkeit versetzten Teilen des zentralen Nervensystems eine bestimmte (kortikale[Hirnrinde - wp]) Partie findet, deren Erregung das Auftreten des Phantasmas bedingt, die also geradezu als Organ der Phantasievorstellungen zu bezeichnen wäre, während ein  anderer  Teil des Zentrums  zugleich  erregt werden muß, um die entsprechende Empfindung zu erzeugen: so daß also der physiologische Prozeß beim Vorstellen eines Phantasmas von demjenigen beim Erscheinen des entsprechenden Empfindungsinhaltes sich durch das  Fehlen der Erregung eines Teils  der gesamten bei letzterem Vorgang in Tätigkeit versetzten Nervensubstanz unterscheiden würde. Es würde also ein Teil  C1  des Zentralorgans den Inbegriff derjenigen Nervensubstanz bilden, deren Erregung der Erinnerung und Einbildung entspricht; während ein anderer (vielleicht subkortikaler) Teil  C2  des Zentralorganes, dessen partielle Erregung aber stets die gleichzeitige Erregung des entsprechenden Teils von  C1  zur Folge hat, als Organ der Empfindungen zu bezeichnen wäre. Dadurch, daß  C1  stets zugleich mit  C2  erregt würde, erklärte sich dann das stete Auftreten des Phantasmas neben der Empfindung; würde aus pathologischen Gründen  C2  ohne  C1  erregt werden, so wäre ein Zustand extremer  Seelenblindheit  die Folge, indem die Empfindungen ohne Erinnerung auftreten würden. Indem ferner das normalerweise nur durch eine peripherische Reizung zu erregende System  C2  in pathologischen Fällen ohne eine solche Reizung in Tätigkeit versetzt werden könnte, würde sich das Auftreten von  Halluzinationen  erklären - falls diese nicht allgemein als irrig beurteilte Phantasmen zu betrachten sind. (56)

Eine weitere Ausbildung dieser Hypothese soll hier nicht versucht werden.

16. Die durchgeführten Betrachtungen dürften genügen, die zu Anfang des Kapitels getroffene terminologische Festsetzung zu begründen und vor Einwürfen zu sichern. Wie der Unterschied zwischen Sehen und Hören allgemein auf einen Unterschied der betreffenden Empfindungsinhalte zurückgeführt wird, so erschien es nur konsequent, auch den Unterschied zwischen Empfinden und bloßem Vorstellen als einen inhaltlichen zu erklären, da alle charakteristischen Merkmale, welche den inhaltlich verschiedenen Arten der Empfindungstätigkeit gemeinsam sind, sich auch bei der Tätigkeit des Vorstellens in Phantasie und Gedächtnis wiederfinden. Offenbar war es die Tatsache des paarweisen Entsprechens von Empfindungs- und Phantasieinhalten, die dazu führte, Empfinden und bloßes Vorstellen als verschiedenartige auf  denselben  Inhalt gerichtete psychische Tätigkeiten aufzufassen - eine Auffassung, die ihren konsequentesten Ausdruck in der von MEINONG vertretenen Behauptung gefunden hat, daß beide, inhaltlich gleich, sich nur durch die Intensität des vorstellenden Aktes unterscheiden. Wir konnten die für diese Ansicht vorgebrachten Gründe nicht als beweiskräftig erkennen, gelangten vielmehr im Gegensatz zu dieser und anderen verwandten Ansichten zu der Überzeugung, daß der Unterschied von Empfindung und entsprechender Phantasievorstellung als ein eigenartiger qualitativer inhaltlicher Unterschied zu bezeichnen und die Erkenntnis der Zusammengehörigkeit beider aber als eine einfache und nicht weiter zurückführbare, aller sinnlichen Erkenntnis überhaupt zugrunde liegende Tatsache unseres psychischen Lebens zu betrachten ist.

Die Äquivokation, welche durch unsere Festsetzung vermieden werden soll, findet sich an alle Benennungen wahrnehmbarer Gegenstände geknüpft: die Sprache macht keinen Unterschied zwischen dem Gegenstand, den ich mittels meiner Sinne gegenwärtig wahrnehme und dem Phantasma dieses Gegenstandes, welches mir bei der Erinnerung an denselben erscheint. Die Gründe dieser Tatsache zu untersuchen, ist hier nicht unsere Aufgabe; konstatieren aber müssen wir dieselbe, um die Irrtümer zu vermeiden, zu welchen die Vernachlässigung des Unterschiedes beider Arten von Inhalten führt. Irrtümer dieser Art sind es allem Anschein nach gewesen, welche von den Zeiten HUMEs bis auf den heutigen Tag keine Einigung über die Frage nach der Natur der Existentialurteile und der Urteilstätigkeit im allgemeinen haben erzielen lassen. Nur weil man zwischen der Empfindung, welche das gegenwärtig wahrgenommene Objekt erregt, und der bloße Vorstellung dieses Objektes nicht hinreichend unterschied, sah man sich genötigt, zur Erklärung des Urteils, welches die reale Existenz eines gegenwärtig bloß vorgestellten Objektes behauptet, zu einer besonderen Art der Auffassung des vorgestellten Inhaltes, einem an diesen Inhalt geknüpften, auf denselben gerichteten "Glauben" seine Zuflucht zu nehmen. Beachtet man, daß der Gegensatz zwischen realer Existenz und bloßer Vorstellung eines Gegenstandes sich auf den vorgefundenen tatsächlichen Gegensatz zwischen Empfindungs- und Phantasieinhalt gründet, so wird man begreifen, daß eine Theorie, die den letzteren Gegensatz vernachlässigt, den ersteren nicht mehr zu erklären vermag. Am deutlichsten tritt jener verhängnisvolle Irrtum in der Voraussetzung zutage, von welcher HUME in seinen Betrachtungen über das Existentialurteil ausgeht, der Voraussetzung nämlich, daß es möglich sei, einen Gegenstand  als existierend vorzustellen.  Die Konsequenzen dieses Irrtums werden wir in einem späteren Kapitel eingehend zu betrachten haben.

Ebenso wie im Vorigen zwischen Empfindungs- und Phantasieinhalt als qualitativ verschiedenen Arten  physischer  Phänomene unterschieden haben, muß auch zwischen tatsächlich sich vollziehenden und bloß in der Phantasie vorgestellten psychischen Phänomenen unterschieden werden. (57) Auch hier ist der behauptete Unterschied wohl ohne weiteres klar: wenn ich gegenwärtig zornig, traurig oder froh bin, so erlebe ich psychische Zustände, die verschieden von den Zuständen sind, in welchen ich mir frührer Zustände des Zorns, der Trauer, der Freude erinnernd vergegenwärtige. Einer eingehenderen Diskussion dieses Unterschiedes, welche manche interessanten Probleme berühren müßte, können wir uns für den gegenwärtigen Zweck enthalten, da die Verwechslung beider Arten psychischer Inhalte nicht wie die der entsprechenden physischen Phänomene auf die Theorie des Urteils von nachteiligem Einfluß gewesen ist.

LITERATUR: Hans Cornelius, Versuch einer Theorie der Existentialurteile, München 1894
    Anmerkungen
    1) Im Sinne der BRENTANO'schen Terminologie (Psychologie vom empirischen Standpunkt, Seite 103 und 104).
    2) Vgl. meinen Artikel "Über Verschmelzung und Analyse", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 16, Seite 407
    3) Wäre Physik die Wissenschaft von den physischen, Psychologie die von den psychischen Phänomenen, so wäre nicht nur die Psychophysik (als Wissenschaft von physischen Phänomenen) von der Psychologie zu trennen und der Physik zuzuweisen, sondern es müßte der letzteren auch die Betrachtung der Phantasmen von Sinnesempfindungen zufallen, die ja (BRENTANO, Psychologie, Seite 104) gleichfalls zu den physischen Phänomenen gehören.
    4) Ich verweise auf AVENARIUS, Der menschliche Weltbegriff; SCHUPPE, Erkenntnistheoretische Logik, Seite 26g; JAMES, Psychologie II, Seite 31f und 111f
    5) Wie sie z. B. TAINE verteidigt.
    6) Vgl. meine beiden Artikel "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie", Bd. 16 (Über Verschmelzung und Analyse I), Seite 404f und Bd. 17 (Über Verschmelzung und Analyse II), Seite 30f
    7) Siehe ebenda Vierteljahrsschrift Bd. 17, Seite 65
    8) Der MEINONG'schen Terminologie, nach welcher nur Empfindungen als Wahrnehmungsvorstellungen zu bezeichnen sind, können wir uns hiernach nicht anschließen.
    9) CORNELIUS, Vierteljahrsschrift, Bd. 17, Seite 70
    10) Vgl. unten Kapitel II.
    11) In den oben zitierten Artikeln über "Verschmelzung und Analyse"
    12) CORNELIUS, Vierteljahrsschrift Bd. 17, Seite 49f
    13) CORNELIUS, Vierteljahrsschrift Bd. 16, Seite 414
    14) CORNELIUS, Vierteljahrsschrift Bd. 17, Seite 69f
    15) Abgesehen natürlich von der erstmaligen Assoziation einer Benennung an den dadurch benannten Inhalt - der Nominaldefinition des benennenden Wortes.
    16) "Knowledge about" [Wissen über - wp] im Gegensatz zur bloßen "acquaintance with" [Bekanntschaft mit - wp] einem Objekt; JAMES, Psychologie, Bd. 1, Seite 221, Bd. 2, Seite 2.
    17) Der von der ursprünglichen Definition als "Erkenntnis der Mehrheit" abweichende Gebrauch dieses Wortes dürfte sich aus dem Zusammenhang hinreichend klar ergeben.
    18) Vgl. CORNELIUS, Vierteljahrsschrift Bd. 17, Seite 35
    19) Die "vagueness" [Vagheit - wp] der Phantasmen (JAMES, Psychologie II, Seite 45) dürfte hauptsächlich diesem Umstand zuzuschreiben sein.
    20) Dem Sinn, in welchem BRENTANO das Wort "Urteil" gebraucht; vgl. die Einleitung.
    21) BRENTANO, Psychologie etc. Seite 182f
    22) DAVID HUME, Treatise on human nature, Vol. 1, Seite 370
    23) BRENTANOs Psychologie, besonders Seite 106, Zeile 15 von oben
    24) Daß ich von den  impressions  nach HUMEs Terminologie hier nur die Empfindungen, nicht aber die Wahrnehmung psychischer Phänomene aufführe, geschieht aufgrund meiner früher (Vierteljahrsschrift, Bd. 16, Seite 409) verteidigten These, nach welcher psychische Phänomene stets nur im Gedächtnis Objekte eines Vorstellens werden können. Die im Text gegebene Darlegung ist übrigens (wie auch alles Folgende) von dieser These völlig unabhängig.
    25) Vgl. CORNELIUS, Verschmelzung und Analyse, Vierteljahrsschrift, Bd. 17, Seite 52
    26) BRENTANO, Psychologie, Seite 266f; vgl. unten Kapitel IV
    27) Siehe besonders die oben zitierte Stelle seiner Psychologie, Seite 106, sowie Seite 261, letzter Absatz.
    28) MEINONG, Über Begriff und Eigenschaften der Empfindung, 3. Artikel, Seite 21, Fußnote
    29) Vgl. HILLEBRAND, Die neuen Theorien der kategorischen Schlüsse, Seite 96: "Das Demonstrativum zeigt bereits an, daß die Subjektsmaterie anerkannt wird."
    30) Wie wir kurz diejenigen Urteile bezeichnen wollen, in deren sprachlichem Ausdruck als Subjekt eine gegenwärtig bemerkte Vorstellung - gleichviel ob "impression" oder "idea" - fungiert.
    31) Vgl. MEINONG, Hume-Studien II, Zur Relationstheorie, Seite 167
    32) MEINONGs Abhandlung, Zur Psychologie der Komplexionen und Relationen, Zeitschrift für Psychologie Bd. 2, Seite 254
    33) Vgl. SIGWARTs Logik I, Seite 61.
    34) SIGWART, Logik I, Seite 81.
    35) SIGWART,Logik I, Seite 71.
    36) vgl. Kapitel IV
    37) wie es die genannten Philosophen behaupten; siehe Kapitel IV.
    38) BERKELEY, Prinzipien der menschlichen Erkennenis, Kap. XXX
    39) HUME, Treatise on human nature, ed. by GREEN and GROSE, Bd. 1, Seite 312
    40) BAIN, The emotions and the will, Bd. 3, Seite 563f
    41) HUME, a. a. O., Seite 313
    42) HUME, a. a. O., Seite 315
    43) Über diese und andere unannehmbare Konsequenzen der erwähnten Ansicht vgl. besonders den zweiten von MEINONGs Artikeln "Über Begriff und Eigenschaften der Empfindung", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 12, Seite 477f
    44) HUME, a. a. O., Seite 317f, 386f und öfter
    45) HUME, a. a. O., Seite 386
    46) BAIN, The emotions and the will, Bd. 3, Seite 565
    47) "Until the sensation ceases  or is somehow in abeyance"  [Bis das Gefühl nicht mehr oder irgendwie in der Schwebe ist. - wp] Eine genauere Analyse der Tatsache, die durch den letzteren im Deutschen kaum exakt wiederzugebenden Ausdruck bezeichnet wird, würde BAIN voraussichtlich zu einer Änderung seiner Ansicht geführt haben.
    48) MEINONG, Vierteljahrsschrift, Bd. 12, Seite 477f und Bd. 13, Seite 1f
    49) BERKELEY, a. a. O., Kap. XXVIII und XXIX.
    50) GEORGE FREDERICK STOUT in seinem Artikel "Belief", Mind XIV, Seite 449f
    51) BAIN, a. a. O. Seite 566
    52) MEINONG, Vierteljahrsschrift etc., Bd. 12, Seite 490
    53) LOCKE, Untersuchungen über den menschlichen Verstand, Buch IV, Kap. 11, § 5
    54) LOTZE, Grundzüge der Psychologie, Seite 16
    55) MEYNERT, Tageblatt der 54. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, Salzburg 1881.
    56) Wie GRASHEY (Münchner medizinische Wochenschrift vom 28. Februar 1893, Seite 174f) dieselben erklärt.
    57) Da im Deutschen nicht, entsprechend den HUMEschen Ausdrücken  impression  und  idea,  einfache Ausdrücke zur Bezeichnung des Gegensatzes zwischen dem gegenwärtigen psychischen Phänomen und dessen Erinnerungsbild existieren, so mag im Folgenden dieser Gegensatz stets durch die auf die  physischen  Phänomene bezüglichen Ausdrücke mitbezeichnet sein.