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WILHELM WUNDT
Über den Zusammenhang der
Philosophie mit der Zeitgeschichte
(1)

"Kein sprechenderes Zeugnis gibt es für lebendig gewordene philosophische Ideen, als jenes denkwürdige Aktenstück, welches die gesetzgeberischen Handlungen der Revolution eröffnet: die Deklaration der Menschenrechte von 1789. Diese Erklärung gleicht mehr einem philosophischen Glaubensbekenntnis als der Einleitung zu einer Staatsverfassung."

"Unsere Nation wurde in der Schule des Leidens und der Erniedrigung, die ihr die Ära der napoleonischen Eroberungen brachte, zu einem politischen Gesamtbewußtsein erweckt, vor dem die subjektive Gefühlsschwärmerei der Romantik ebenso wie die egoistische Moral der Verstandesaufklärung wie Spreu vor dem Sturm verwehen mußten."

Feuerbachs logische und psychologische Einsicht bewahrt ihn vor dem naivem Materialismus jener Systeme; aber darin ist er ganz mit ihnen einig, daß der natürliche, sinnliche Mensch der einzige Inhalt und Zweck der Welt, und daß alles Übersinnliche ein leeres Idol, eine von den wahren Quellen unseres Daseins ablenkende Selbsttäuschung ist."

Wenn die akademische Sitte dem Rektor des neuen Universitätsjahres die Pflicht auferlegt, mit einem Vortrag aus seinem besonderen Lehrgebiet sein Amt anzutreten, so wird dem Einzelnen diese feierliche Gelegenheit zumeist ein willkommener Anlaß sein, um auf solche Aufgaben und Ergebnisse der ihm anvertrauten Wissenschaft hinzuweisen, die durch ihren hervorragenden praktischen Wert ein allgemeineres Interesse erheischen [verlangen - wp]. Leicht wird es dem Vertreter einer Einzelwissenschaft, einem derart berechtigten Wunsch zu genügen. Ist es doch die Vorbereitung zu einem der Allgemeinheit dienenden Lebensberuf, in der sich alle Fachwissenschaften schließlich zu einem gemeinsamen Zweck vereinigen. Die Philosophie muß, wie es scheint, diesem Vorteil entsagen. Ohne sichtbaren äußeren Nutzen, nur einem intellektuellen Bedürfnis dienend, scheint sie einsam ihren Weg zu verfolgen. Begreiflich daher, daß sie in unserer die Ausbildung nutzbringender Fähigkeiten über alles schätzenden Zeit wohl Manchem als ein Überlebnis aus vergangenen Tagen gilt, an dessen Stelle für die Gegenwart Naturwissenschaft und Geschichte getreten sind. Unter den Philosophen selbst aber ist die Vorstellung noch immer nicht ausgestorben, daß es sich bei der Philosophie um eine, über allem Wechsel der Zeiten erhabene, von allen äußeren Einflüssen unabhängige Betrachtungsweise der Dinge handelt, entweder, wie die Urheber der spekulativen Systeme im Anfang unseres Jahrhunderts glaubten, dazu bestimmt, über alle anderen Wissenschaften zu herrschen, oder, wie einer der populärsten Denker der jüngsten Vergangenheit sich bescheidener ausdrückte, entsprungen aus dem Privilegium des menschlichen Geistes, Nutzloses hervorzubringen.

Ich teile weder die eine noch die andere dieser Meinungen. Mag unsere Wissenschaft an unmittelbarer Bedeutung für die einzelnen Fragen des intellektuellen Interesses und des praktischen Nutzens zweifellos hinter der Gesamtheit der besonderen Wissensgebiete zurücktreten, so steht sie, wie ich glaube, in einer umso innigeren Verbindung mit dem geistigen Leben im Ganzen, dergestalt, daß die philosophischen Ideen überall von der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung getragen sind und nicht selten ihrerseits wieder bestimmend auf dieselbe zurückwirken. Der hauptsächliche Wert der Geschichte der Philosophie scheint mir daher darin zu liegen, daß die philosophischen Ideenentwicklungen ebensowohl ein Abbild des geistigen Lebens der verschiedenen Zeitalter sind, wie sie einen fortlaufenden Kommentar zu demselben bilden. Denn indem die Philosophie auch die dunkleren Stimmungen und Strebungen des Zeitgeistes in die Sphäre der Reflexion erhebt, behalten die Antworten, die sie auf ihre Probleme findet, so verfehlt sie uns ansich betrachtet erscheinen mögen, immer ihren geschichtlichen Wert, als Ausdruck von Anschauungen, welche als lebendige Faktoren des Zeitbewußtseins die Handlungen der Einzelnen wie der Völker bestimmt haben.

Unsere Zeit rühmt sich ihres Sinnes für geschichtliche Betrachtung auf allen Gebieten. So erschien es mir dann als eine für den heutigen Zweck nicht unangemessene Aufgabe, auf diesen Zusammenhang der Philosophie mit der Zeitgeschichte einen kurzen Blick zu werfen. Um aber diese Aufgabe nicht in allzu abstrakte Betrachtungen zu verflüchtigen, sei es mir vergönnt, sie einzuschränken auf eine aus dem Interesse wie der Zeit nach näher gelegene Periode, auf das zurückgelegte Jahrhundert, und auf eine einzelne Frage von überwiegend praktischer Bedeutung, auf das sittliche Problem.

Wohl ist das Jahr, in dem wir leben, dazu angetan, auch den Philosophen zu Jahrhundertbetrachtungen aufzufordern. In der großen Staatsumwälzung des Jahres 1789 haben philosophische Ideen einen Sieg errungen, wie ihn gewaltiger die neuere Geschichte nicht gesehen hat. Nicht als ob die Revolution in der ihr vorausgegangene Philosophie ihre letzte Ursache hätte: die politischen Ereignisse und die sie begleitende revolutionäre Ideenbewegung sind vielmehr Erzeugnisse derselben, unaufhaltsam dem Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung zuführenden geschichtlichen Bedingungen. Aber die Philosophie hat die Gedanken hervorgebracht, welche die Revolution beseelten. Bei den Philosophen sind die Redner und Gesetzgeber der Revolution in die Schule gegangen. Zwischen den Parteien der Revolutionszeit wurden die Kämpfe ausgefochten, welche die philosophischen Richtungen des 18. Jahrhunderts entzweit hatten. So sind die welterschütternden Taten der Revolution die lebendig gewordenen philosophischen Ideen des vorangegangenen Zeitalters.

Kein sprechenderes Zeugnis gibt es für diesen Zusammenhang, als jenes denkwürdige Aktenstück, welches die gesetzgeberischen Handlungen der Revolution eröffnet, die Deklaration der Menschenrechte von 1789. In unseren Augen gleicht diese Erklärung mehr einem philosophischen Glaubensbekenntnis als der Einleitung zu einer Staatsverfassung. Aber die Urheber derselben waren - und darin folgten sie dem Vorbild ihrer philosophischen Lehrer - der festen Überzeugung, daß es vor allem Not tut, die Menschen über Natur und Wesen ihrer Rechte [wt-hamaier] aufzuklären; dann werde sich nicht nur die richtige Staatsverfassung von selbst ergeben, sondern es wird auch jene Einsicht unausbleiblich die Einzelnen in vortreffliche Staatsbürger umwandeln.

Die Menschenrechte von 1789 sind das sittliche Glaubensbekenntnis der Revolution. Sie enthalten die Prinzipien, in denen die Parteien der Revolution trotz sonstiger Gegensätze einig waren, und die alle folgenden Gesetzgebungsakte beherrschten. Daß alle Menschen gleiche, unveräußerliche Rechte besitzen, daß die Freiheit des Einzelnen keine Schranken hat als diejenigen, die durch die gleichen Rechte der Andern und durch die Notwendigkeit, die Freiheit Aller zu sichern, erfordert werden, daß endlich der einzige Zweck der politischen Gemeinschaft die Erhaltung dieser natürlichen Rechte ist, - diese Sätze galten jener Zeit für so überzeugend, daß wohl da und dort Zweifel über die Zweckmäßigkeit ihrer Aufnahme in eine Verfassung, kaum solche über ihren Inhalt laut geworden sind.

Innerhalb dieser Prinzipien blieb freilich dem Widerstreit einzelner Richtungen und mit ihm der Verbindung widerstreitender Anschauungen noch ein weiter Spielraum. Das Verfassungswerk von 1791, das die praktische Anwendung der "Deklaration der Menschenrechte" sein sollte, zeigt in der Tat deutlich die Spuren der drei philosophischen Schulen, die an der Vorbereitung der Revolution mitgearbeitet haben. An LOCKE und MONTESQUIEU knüpfte die Durchführung der Teilung der Gewalten im Staat an. Auf ROUSSEAU ging all das zurück, was zur Verwirklichung der absoluten Rechtsgleichheit der Bürger führen sollte; im Anschluß an ihn gewann zugleich der Gedanke der Unveräußerlichkeit der Rechte die besondere Bedeutung, daß die freiwillige Zustimmung Aller, an die man die Entstehung des Staates gebunden dachte, streng genommen als unerläßlich auch zu jeder einzelnen politischen Maßregel angesehen wurde. Mit HELVETIUS und HOLBACH endlich, den fortschrittlichen Schülern VOLTAIREs, ersetzte man den für eine politische Schöpfung unbrauchbaren idealen Naturzustand ROUSSEAUs, auf den dieser selbst in seinem "contrat social" zu Teil schon verzichtet hatte, durch einen Zustand vollkommenster Kultur. Dieser, angeblich herbeigeführt durch die eingetretene Einsicht des Menschen in sein wahres Wesen und seine natürlichen Rechte, wurde dann aber mittels einer der merkwürdigen Fiktionen, von denen die Zeit so reich ist, meist zugleich als übereinstimmend mit dem wahren Naturzustand angesehen.

Gemeinsam ist allen diesen Richtungen die Auffassung, daß der Staat ein willkürliches Erzeugnis, ein von den Einzelnen geschlossener Vertrag ist, dessen einziger Zweck im Schutz der Rechte der Individuen besteht. Von ROUSSEAU stammt jene Begeisterung für die Idee der absoluten Freiheit der Persönlichkeit, welche der Revolution ihre unüberwindliche Macht verlieh und zugleich allen ihren Verfassungsentwürfen den Fluch der Undurchführbarkeit anheftete. War doch der Begriff der Volkssouveränität hier derart auf die Spitze getrieben, daß daran nicht nur MONTESQUIEUs Teilung der Gewalten, sondern überhaupt jede Staatsordnung scheitern mußte. Der Atheismus und Materialismus eines HELVETIUS und HOLBACH, der in der Abschaffung des höchsten Wesens und dem Kultus der Vernunft einen schnell vorübergehenden Triumph erlebte, vermochte es mit der Freiheitsbegeisterung und der rednerischen Kunst ROUSSEAUs nicht aufzunehmen. Aber in einem Punkt trug er doch über diesen den Sieg davon. ROUSSEAU hatte überall auf die edlen Eigenschaften der Menschen gebaut, die aus einem natürlichen Gefühl ihren Ursprung nehmen. Die Kultur hat nach ihm vornehmlich deshalb das Übel in die Welt gebracht, weil sie auf der Reflexion, auf dem Nachdenken über Mittel und Zwecke beruth, welches unvermeidlich den unedlen Trieben, die aus dem Eigennutz entspringen, über die besseren, die auf einem natürlichen Gefühl beruhen, zum Sieg verhelfen soll. Das war ein Zug, in welchem die Philosophie ROUSSEAUs dem Zeitalter der Aufklärung schnurstracks widerstrebte, und hier kamen demselben die Wortführer des Materialismus um so willfähriger entgegen. Der Mensch ist ihnen eine Maschine, die auf das vollkommenste mit der Reflexion ausgestattet ist, einer Eigenschaft, der wir, mag sie theoretisch noch so dunkel sein, praktisch alles verdanken, was wir sind. Nicht aus dem Denken stammt daher nach diesen Philosophen das Übel in der Welt, sondern aus einem Mangel oder aus seiner unzulänglichen Anwendung.
    "Aus dem Irrtum, aus der Unwissenheit der natürlichen Ursachen", sagt Holbach in seinem System der Natur, "sind die Fehler und Laster der Einzelnen ebenso wie alle politischen Übel hervorgegangen. Durch den Irrtum sind die Menschen in Sklaverei verfallen; durch ihn haben sie sich anderen Menschen unterworfen, die sie für Götter auf Erden hielten. Wenn man den Menschen zur Natur, das heißt zur Einsicht in sein wahres Wesen und in das Wesen der natürlichen Ursachen zurückführt, so werden sich daher die Nebel von selbst zerstreuen, die ihn den Weg zur Tugend und zur wahren Glückseligkeit nicht finden ließen."
Zwei Bestandteile sind es, durch welche diese Vorstellungen mit der das ganze vorige Jahrhundert beherrschenden Lebensanschauung zusammenhängen. Der erste ist ein unbeschränkter Individualismus. Nur die einzelne Persönlichkeit ist nach dieser Philosophie ein wirkliches Wesen; nur ihre Zwecke haben einen realen Wert. Der Staat ist, wie ihn THOMAS HOBBES genannt hatte, ein "künstlicher Körper", von den Einzelnen willkürlich und nur zu ihren persönlichen Zwecken ins Leben gerufen. Der zweite Bestandteil ist ein einseitiger Intellektualismus. Das Jahrhundert der Aufklärung glaubte im vernünftigen Denken, in der allen Vorurteilen entsagenden Reflexion über die Dinge nicht bloß das Heilmittel für alle Übel und das Hilfsmittel zur Erreichung eines vollkommenen Zustandes, sondern auch diejenige Tätigkeit des Geistes gefunden zu haben, aus welcher sich der ganze Reichtum des wirklichen Lebens ableiten läßt. Die sittlichen Triebe wurden auf eine klug berechnende Überlegung des eigenen Vorteils, Recht und Sitte auf eine zu wechselseitigem Schutz gestiftete Vereinbarung zurückgeführt. Alles Unheil verrotteter politischer Zustände sollte aus intellektuellen Irrtümern entspringen; als das einzige Heil gegen solche Mängel galt daher die wachsende Verbreitung der Einsicht, die Aufklärung der Menschen über das, was ihnen nützlich und schädlich ist.

Zu diesen fast philosophischen Richtungen des Jahrhunderts gemeinsamen Anschauungen fügte aber die Ethik der Revolution noch einen dritten Bestandteil, der zumindest in der hier auftretenden einseitigen Ausprägung nur ihr eigen ist. Er besteht darin, daß in dieser Ethik nur der Begriff des Rechts der *Persönlichkeit zum Ausdruck gelangt. Die "Deklaration der Menschenrechte" sagt, daß die Rechte der Freiheit, des Eigentums, der Sicherheit und des Widerstandes gegen Unterdrückung für alle Menschen gleich und unveräußerlich sind. Von Pflichten ist in diesem Aktenstück nicht die Rede; nur stillschweigend sind solche vorausgesetzt, indem als einzige Schranke der individuellen Freiheit die gleichen Rechte der Nebenmenschen anerkannt werden. Damit sollen aber nicht etwa bloß rechtsphilosophische Maximen aufgestellt werden, sondern in jenen Grundgedanken enthalten die Menschenrechte von 1789 in verdichteter Form den wesentlichen Inhalt der ethischen Systeme ihrer Zeit. In dieser ganzen Ethik hat überhaupt nur der Begriff des Rechts einen positiven Inhalt, derjenige der Pflicht ist bloß negativ bestimmt, als Pflicht, solche Handlungen zu unterlassen, welche die Rechte Anderer kränken. Nur das Recht besteht - dahin führt folgerichtig diese Anschauung - im Handeln [radbruch], die Pflicht einzig und allein im Unterlassen rechtswidriger Handlungen. Schon ROUSSEAU hatte in seinem Èmile gegen die Pädagogen geeifert, welche bei der Erziehung immer wieder das Wort Pflicht im Mund führen. Dieses Wort, welches nur den Gedanken der Abhängigkeit und Unterwürfigkeit vor die Seele führt, sollte nach seiner Meinung ganz und gar aus der Sprache des Kindes verbannt bleiben. Darum handelten die Gesetzgeber von 1789 völlig im Sinne des Philosophen, als sie einen schüchternen Vorschlag, die Aufzählung der Menschenrechte durch eine Erwähnung der bürgerlichen Pflichten zu ergänzen, mit überwältigender Mehrheit niederstimmten.

Man wird nicht anstehen, in dieser ausschließlichen Hervorhebung des Rechtsbegriffs denjenigen Zug der revolutrionären Ethik zu erblicken, in welchem sie gegen jenes System des politischen Despotismus, der nur Pflichten der Untertanen, Rechte allein für die bevorzugten Stände anerkennt, ihren energischen Widerspruch erhebt. Zugleich aber ist, abgesehen von diesen besonderen Zeitbedingungen, der einseitige Rechtsbegriff dieser Ethik die folgerichtige Anwendung des sie mit ihrer ganzen Zeit beherrschenden extremen Individualismus. Wenn alle Zwecke menschlichen Handelns in der Befriedigung der Glücksbedürfnisse der Einzelnen aufgehen, so kann auch der positive Inhalt alles sittlichen Strebens in nichts anderem bestehen als in einem Schutz und der Förderung der individuellen Interessen. Jeder wird dann vornehmlich das Interesse zu fördern suchen, das ihm am nächsten liegt, nämlich sein eigenes. Für die Pflicht bleibt nur die negative Bestimmung über, daß niemand seinen eigenen Vorteil auf Kosten der gleichen Rechte anderer erstreben soll, und für diese Regel läßt sich wiederum keine bessere Begründung finden als die Erwägung, daß der eigene Vorteil am sichersten dann geschützt ist, wenn soviel wie möglich der Vorteil anderer geschont bleibt. So wird unvermeidlich die Selbstsucht zur Grundlage der Sittlichkeit.

Hier aber widerstreitet diese Ethik offenkundig dem Zeugnis des sittlichen Gewissens, wie es sich in den sittlichen Lebensanschauungen aller Zeiten siegreich Geltung verschafft hat, nach welchem Zeugnis dem selbstlosen Handeln allein ein sittlicher Wert zukommt, und dieser Wert wieder umso höher geschätzt wird, je mehr das eigene Wohl freiwillig dem Wohl der Nebenmenschen geopfert wird. Auch der Individualismus des vorigen Jahrhunderts hat sich diesem Zeugnis nicht verschließen können. So bietet sich uns dann das merkwürdige Schauspiel dar, daß nahezu gleichzeitig mit dem Ausbruch der französischen Revolution, aber freilich unter dem Einfluß abweichender nationaler Kulturbedingungen, eine sittliche Weltanschauung entsteht, die, in vollem Gegensatz zu jener Ethik der Menschenrechte, die Idee der Pflicht zum Grund- und Eckstein aller Sittlichkeit macht.

Ein Jahr vor dem Ausbruch der französischen Revolution erschien KANTs "Kritik der praktischen Vernunft", ein Buch, von dem vielleicht mit größerem Recht als von dem theoretischen Hauptwerk des gleichen Philosophen gesagt werden kann, daß es eine Umwälzung in der geistigen Welt bedeutete. Vom äußersten Nordosten Deutschlands, von einem Mann, der durch seinen Beruf dem öffentlichen Leben fern stand, war dieses Werk ausgegangen. Dennoch würde es verfehlt sein, wollte man in ihm die Schöpfung eines einsamen Denkers erblicken, der sich des Zusammenhangs mit den Gesinnungen seiner Zeit völlig entäußert hat. Genau das Gegenteil ist richtig. Wie die französische Revolution die in Taten umgesetzte Philosophie der französischen Aufklärung, so ist KANTs Ethik das in Philosophie umgewandelte Staats- und Pflichtbewußtsein der Monarchie FRIEDRICHs des Großen. Schon den Zeitgenossen würde dieser Zusammenhang vielleicht erkennbar gewesen sein, hätten sie den Einblick in die Gesinnungen des großen Königs gehabt, den wir durch die Vermittlung seiner gesammelten Werke heute besitzen. In wiederholten Ausführungen ist FRIEDRICH in seinen Schriften auf die ethischen Fragen zurückgekommen. Vielleicht hat ihn kein Problem häufiger und anhaltender beschäftigt als dieses, und immer wieder bewegen sich seine Gedanken umd den Begriff der Pflicht. Seine Pflicht zu tun ist ihm das Höchste für den Menschen; selbstlos, ohne Aussicht auf Wiedervergeltung der Pflicht zu genügen, ist allein des sittlichen Menschen würdig. Die Größe der Pflicht aber bemißt sich nach der äußeren Lebensstellung. Wem Gott viel gegeben, von dem darf er viel verlangen. Darum sind die Pflichten des Fürsten umso vieles schwerer als die des Untertanen.
    "Unsere Pflicht ist es, gerecht und wohltätig zu sein; man mag uns Beifall zollen, aber es ist zuviel, elende Erdenwürmer zu loben, die nur während eines Augenblicks existieren und dann für immer verschwinden."
Es ist dies dieselbe Begeisterung für die Pflicht, ohne Rücksicht auf das eigene Wohl oder Weh, wie sie uns in KANTs Worten entgegentritt:
    "Pflicht! Du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir faßt, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohst, was natürliche Abneiung im Gemüt erregt, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, vor dem alle Neigungen verstummen!"
KANT hat die philosophischen Gedanken FRIEDRICHs nicht gekannt, wie wir sie heute kennen; aber vor seinen Augen stand das lebendige Bild einer Staatsordnung, in welcher Jeder, vom unumschränkten Herrscher bis herab zum kleinen Beamten und zum gemeinen Soldaten, ohne Widerrede, ohne zu fragen, ob etwa Leistung und Gegenleistung miteinander im Gleichgewicht stehen, dem Gebot der Pflicht gehorcht.

In einer Frage nur waren der König und der Philosoph nicht gleicher Meinung, in der Frage nach dem Grund der sittlichen Pflichtgebote. FRIEDRICH war ein Schüler der französischen Aufklärungsphilosophie, und in seinen späteren Lebensjahren erschien ihm mehr und mehr die Metaphysik der materialistischen Systeme als die wahrscheinlichste, so sehr er auch zeitlebens die atheistischen Behauptungen eines HELVETIUS und HOLBACH bestritt. Demgemäß glaubte er im Sinne jener Systeme alle Moral aus der Selbstliebe ableiten zu können. Freilich gewann bei ihm dieser Begriff der Selbstliebe eine völlig veränderte Bedeutung. Während den französischen Philosophen alles egoistische Streben in einem Trieb nach sinnlichen Lustgefühlen aufging, erblickt FRIEDRICH das höchste Glück in jener Ruhe der Seele, die aus einem reinen Gewissen und aus dem Bewußtsein treuer Pflichterfüllung entspringt. Die richtig geleitete Selbstliebe wird daher, wie er meint, die vorübergehenden äußeren Glücksgüter den dauernden der Ehre, des Ruhms und der aus der Aufopferung für Andere entspringenden Selbstbefriedigung hintansetzen. So steht FRIEDRICH nicht allzu fern jener stoischen Glücksverachtung, die sein Vorbild, der Philosoph unter den römischen Kaisern, MARK AUREL als die Summe menschlicher Weisheit gepriesen hatte.

Aber wenn er auch glaubte, zwischen den Grundsätzen der stoischen Moral und dem Prinzip EPIKURs, dem egoistischen Glückseligkeitstrieb, eine Art Verbindung herstellen zu können, so täuschte sich sein in philosophischen Dingen tiefer blickende Zeitgenosse, KANT, nicht über die innere Unvereinbarkeit einer auf den strengen Pflichtbegriff gegründeten sittlichen Lebensanschauung mit jeder Art von Eudämonismus. So liegt dann der Schwerpunkt der kantischen Ethik und zugleich ihr Gegensatz zur Reflexionsmoral der vorangegangenen Zeit in der Hervorhebung der Unbedingtheit des Pflichtgebots. Das Sittengesetz liegt in uns, nicht außerhalb von uns. Entspringnd aus der allen sinnlichen Bedingungen des Daseins vorausgehenden Freiheit des Wollens, kann es nicht von Überlegungen des Nutzens, ja nicht einmal von Wünschen und Neigungen abhängig gemacht werden. Nicht die Reflexion, nicht der Trieb, sondern das Gewissen soll unser Gesetzgeber sein. Nach der Pflichterfüllung allein, und umso mehr, wenn die Pflicht im Widerstreit mit den sinnlichen Neigungen liegt, bemißt sich daher der Wert unserer Handlungen.

Kein größerer Gegensatz läßt sich denken als der zwischen dieser Ethik KANTs und jener sittlichen Anschauung, welche in der Erklärung der Menschenrechte ihren Ausdruck fand. Hier gibt es nur Rechte, und diese Rechte werden in ihrer Geltungsweise bestimmt durch das gesellige Zusammenleben der Menschen; dort gibt es nur ein Pflichtgebot, und dieses Pflichtgebot gilt unumschränkt, unabhängig von allen besonderen Bedingungen unseres Daseins. Die Menschenrechte sind aus der verständlichen Überlegung über die Bedürfnisse unseres sinnlichen Lebens hervorgegangen; das Pflichtgebot KANTs liegt vor jeder Reflexion in uns: es ist das vornehmste Zeugnis unseres übersinnlichen Ursprungs.

Aber das Jahrhundert fordert überall seinen Tribut. In einem Punkt wirkte der Geist dieses Zeitalters auch in der kantischen Ethik fort. Der einzige eigentliche Gegenstand des sittlichen Handelns bleibt ihr der einzelne Mensch. Wo es sich daher um die Untersuchung der Bedingungen der sittlichen Gemeinschaft handelt, da kehr KANT zu den Voraussetzungen zurück, auf denen die Philosophie der französischen Aufklärung ihr ethisch-politisches Gebäude errichtet hatte. Diese Voraussetzungen werden von ihm da und dort ermäßigt, aber sie werden nirgends in einer wesentlichen Beziehung verändert. Auch nach KANT ist der Staat aus einer ursprünglichen Vertragsschließung hervorgegangen, oder er muß zumindest so betrachtet werden, als liege ihm ein Vertrag zugrunde. Nicht weniger kehren in der kantischen Rechtslehre die dem vorigen Jahrhundert geläufigen, ganz freilich auch heute noch nicht verschwundenen Fiktionen wieder: die Ableitung allen Eigentums aus einer ursprünglichen Besitzergreifng von Seiten der Einzelnen, der richterlichen Gewalt aus der natürlichen Neigung des Menschen dem gewalttätigen Streit durch die Wahl eines Schiedsrichters vorzubeugen usw. Auch nach KANT soll der Staatsvertrag die Gleichheit der Rechte Aller erfordern, wenngleich nachträglich diese Folgerung vorsicht auf die Untertanenrechte eingeschränkt, nicht mit den Ethikern der Revolution auf die Souveränitätsrechte erweitert wird. So gibt überall, wo die ethischen Prinzipien für die Fragen der sittlichen Gemeinschaft fruchtbar werden sollten, der kategorische Imperativ der Pflicht an die Ideen von ROUSSEAUs contrat social seine Herrschaft ab. Wird auch der Begriff der Pflicht nicht, wie es bei ROUSSEAU geschehen war, geflissentlich unterdrückt, so tritt er doch ganz von selbst hinter der Erörterung der individuellen Rechte in die Stellung eines bloß begrenzenden Hilfsbegriffs zurück. Man begreift, daß KANT im Bann dieser Anschauung die Republik, der er allerdings prinzipiell die konstitutionelle Monarchie gleichstellt, deshalb für die vollkommenste Staatsform erklären mußte, weil sie der Herrschaft Aller möglichst nahe kommt und man versteht sein Urteil über die französische Revolution, die er gelegentlich als das größte Ereignis der Zeit begrüßt, weil sie das Streben eines großen Volkes nach einer naturrechtlichen, auf den ewigen Prinzipien der Freiheit und Rechtsgleichheit beruhenden Verfassung offenbart hat.

So auffallend aber der Gegensatz ist, in dem durch diese Hintansetzung des Pflichtbegriffs die Rechtslehre KANTs zu seiner ethischen Grundanschauung steht, ist es doch unverkennbar die schon der letzteren eigentümlichen Beschränkung des Pflichtbewußtseins auf das subjektive Gewissen, die notwendig allen Anwendungen der Ethik auf das Problem der sittlichen Gemeinschaft jene Wendung geben mußte. Bezieht sich das Sittengebot ursprünglich nur auf die individuelle Persönlichkeit, so können alle Anwendungen desselben auf das Zusammenleben der Menschen nur den Charakter von Hilfsnormen an sich tragen, welche die Geltung jenes Gebotes innerhalb der zufälligen Bedingungen der sinnlichen Existenz regeln sollen. Die Familie, der Staat, die sittliche und humane Gemeinschaft werden zu bloßen Hilfsmitteln für die Entwicklung der individuellen Sittlichkeit; nirgends erscheinen sie als selbständige, geschweige denn als ursprünglich der Einzelpersönlichkeit übergeordnete Träger sittlicher Zwecke.

So treten uns als letztes Ergebnis der ethischen Selbstbesinnung des vorigen Jahrhunderts zwei Lebensanschauungen entgegen, von denen die eine einseitig auf die Idee des persönlichen Rechts, die andere ebenso einseitig auf die Idee der persönlichen Pflicht gegründet ist. Beide aber hängen in ihrer Wurzel zusammen. Diese Wurzel ist der Individualismus, die ausschließliche Geltendmachung der Einzelpersönlichkeit als des eigentlichen Gegenstands sittlicher Zwecke. Es liegt mir fern, das 18. Jahrhundert um dieser Beschränkung willen gering zu achten. In seiner Beschränkung liegt zugleich seine Stärke. Die Anerkennung des Wertes der individuellen Persönlichkeit als solcher, welche die christliche Ethik auf rein geistigem Gebiet zur Geltung gebracht hat, auch für das äußere Leben sicherzustellen, das war ein Gewinn, der um den Preis jener Irrtümer und Mängel, die einseitigen Gedankenrichtungen immer anhaften, nicht zu teuer erkauft war. Uns aber, die wir uns im Besitz der Güter wissen, die das Zeitalter der Aufklärung mit heißen Mühen erstritten hat, uns kann es nicht mehr zweifelhaft sein, daß, wenn die Philosophie dieser Zeit bei den Problemen der sittlichen Gemeinschaft überall nur mit geschichtlich wie psychologisch gleich unhaltbaren Konstruktionen sich zu helfen wußte, dieser Mangel im beschränkten Individualismus des Jahrhunderts seine letzte Quelle hat. Wahrlich, wenn es noch eines historischen Belegs für diese Folgerung bedürfte, so würde er, wie ich meine, in der Tatsache liegen, daß zwei so von Grund auf verschiedene Anschauungen, wie die revolutionäre Ethik der Franzosen und die aus dem deutschen Geist der friderizianischen Epoche geborene Sittenlehre KANTs, in der Frage nach dem sittlichen Wesen von Staat und Gesellschaft den wirklichen Gegenstand der sittlichen Pflicht, die sittliche Gemeinschaft selbst, so gut wie ganz aus dem Auge verlieren.

So übernimmt die neue Zeit mit der Erbschaft der Vergangenheit zugleich eine der wichtigsten ethischen Aufgaben. Diese Aufgabe, an der, wie ich glaube, unser Jahrhundert bis zum heutigen Tag gearbeitet hat und noch arbeitet, besteht in der Überwindung des Individualismus, in der Begründung einer sittlichen Weltanschauung, welche den Wert der einzelnen Persönlichkeit anerkennt, ohne darum den selbständigen Wert der sittlichen Gemeinschaft preizugeben. Wie hat das Jahrhundert dieser Aufgabe zu genügen vermocht, in deren Stellung es das vorangegangene gleichzeitig bekämpft und ergänzt?

Daß neue Ideenrichtungen sich nicht unvermittelt Bahn brechen, ist uns eine geläufige Erfahrung. Seltsamer erscheint es, wenn die neue Richtung aus der alten hervorgeht, indem diese selbst durch die Steigerung und Vertiefung ihres Prinzips in ihr Gegenteil umschlägt. Dennoch ist dies im vorliegenden Fall nicht nur der wirkliche geschichtliche Verlauf, sondern es ist vielleicht der psychologisch begreiflichste.

Der Philosophie der Aufklärung war der individuelle Mensch der letzte Zweck allen Denkens und Handelns. Dieser Mensch galt ihr aber immer und überall als derselbe. Sie forderte gleiche Rechte für Alle nicht im Mindesten deshalb, weil sie voraussetzte, daß die intellektuellen und sittlichen Eigenschaften der Menschen ganz und gar übereinstimmen. Diese Eigenschaften können, so meinte man, unterdrückt, verkehrt angewandt, nie aber wesentlich verändert werden. So schuf man sich einen abstrakten Menschen, der unabhängig von allen geschichtlichen Bedingungen existieren und für den überall dieselben Regeln der Sitte, des Rechts, der staatlichen Ordnung gültig sein sollen. Das Extrem dieser Anschauung wird auch hier durch die revolutionäre Ethik der Franzosen vertreten.
    "Alle Menschen", meint Holbach, "werden mit gleichen natürlichen Anlagen geboren; ihre scheinbaren Unterschiede entspringen nur aus den Verschiedenheiten der Erziehung, die auf das Gehirn ähnlich einwirken, wie jene mechanischen Vorrichtungen der Wilden, durch welche sie die Köpfe ihrer Kinder verunstalten."
Gegen diesen alles ausgleichenden Individualismus erhob sich zuerst in der Sturm- und Drangperiod unserer deutschen Dichtung der Geist einer neuen Zeit, welche den Wert der wirklichen Einzelpersönlichkeit mit ihrem Bewußtsein eingeborener Kraft und Freiheit gegen jene nach bloßen Verstandesbegriffen konstruierte, überall dem Zwang derselben logischen Regeln unterworfene Scheinpersönlichkeit einsetzte. Am vollendetsten, geläutert von der überströmenden Leidenschaft einer stürmischen Übergangsepoche, hat sich dieser Geist der neuen Zeit im größten unserer Dichter, in GOETHE, verkörpert. Die Romantik, der nur zu oft die maßhaltende Besonnenheit des Meisters mangelte, verband jenen Anspruch der Einzelpersönlichkeit auf freie Entfaltung ihres eigensten Wesens mit dem Streben nach einem kongenialen Verständnis anders gearteter Zustände und Kulturperioden. So erwuchs als ein natürliches Ereignis dieses vertieften und erweiterten Individualismus allmählich jener geschichtliche Sinn, dessen sich das 19. gegenüber dem 18. Jahrhundert rühmen darf. Unwiederbringlich mußten aber im Licht der geschichtlichen Betrachtung die schablonenhaften Konstruktionen verschwinden, mittels deren die Verstandesaufklärung Sprache und Sitte, Religionen und Staaten entstehen ließ. Die Überzeugung mußte sich unaufhaltsam Bahn brechen, daß der isolierte Einzelmensch des alten Naturrechts, der sich mit anderen seinesgleichen zusammentut, um Rechtsordnungen und Staaten zu grünen, nie und nirgends in der Welt existiert hat, sondern daß die natürliche Einheit der sittlichen Lebensanschauungen die Grundlage ist, auf der sich jede Kulturgemeinschaft innerhalb der Menschheit entwickelt. So trug der aufs Äußerste gesteigerte Individualismus, der in den Ideen der romantischen Schule seinen charakteristischen Ausdruck fand, überall schon den Keim zur Selbstauflösung dieser Denkweise in sich.

Aber auch dieser Wandel der Anschauungen hat sich nicht bloß von innen heraus vollzogen, sondern er ist zugleich die unmittelbare Rückwirkung der gewaltigen politischen Bewegungen, in denen die französische Umwälzung das europäische Staatensystem erschütterte. Unsere Nation insbesondere wurde in der Schule des Leidens und der Erniedrigung, die ihr die Ära der napoleonischen Eroberungen brachte, zu einem politischen Gesamtbewußtsein erweckt, vor dem die subjektive Gefühlsschwärmerei der Romantik ebenso wie die egoistische Moral der Verstandesaufklärung wie Spreu vor dem Sturm verwehen mußten. Diese Zeit der Vorbereitung der Befreiungskriege lebte so schnell, daß ihr viele der besten unserer Dichter und Denker, groß geworden in den alten Anschauungen, nicht zu folgen vermochten. Unsere Philosophie aber kennt einen Namen, dessen Träger den ungeheuren Wandel der Ideen, der aus dem alten den neuen Zeitgeist entstehen ließ, in sich selbst durchlebte: JOHANN GOTTLIEB FICHTE.

Es wird uns heute nicht leicht, die Bedeutung dieses Mannes, ebenso wie die der meisten seiner philosophischen Zeitgenossen, richtig zu würdigen. Die Methode dialektischer Konstruktion, durch welche diese Philosophen ihre Ansichten zu unwiderstehlicher Evidenz zu bringen meinten, erscheint uns als ein gezwungenes und abstoßendes Gewand, das den Gedanken verhüllt und entstellt. Nicht nach dieser verfehlten, im letzten Grund willkürlichen und künstlichen Form dürfen wir den Wert eines Mannes wie FICHTE würdigen, sondern nach dem von dieser Form unabhängigen Inhalt seiner Ideen.

Mit einem für ihn und für seine Zeit bezeichnenden Wort hat dereinst FRIEDRICH SCHLEGEL der ersten, allein zum Abschluß gelangten Periode der Philosophie FICHTEs ihre Stellung in der deutschen Gedankenentwicklung angewiesen. Die französische Revolution, GOETHEs Wilhelm Meister und FICHTEs Wissenschaftslehre, meinte er, sind die drei größten Zeitereignisse. Uns mutet heute eine derartige Zusammenstellung fremdartig an; dennoch entspricht sie dem Wert, den jene Zeit den idealen Faktoren des Lebens einräumte und dies vorausgesetzt, ist sie vollkommen zutreffend. War die französische Revolution die zur Tat gewordene Idee der persönlichen Freiheit, so hatte Wilhelm Meister das Recht der menschlichen Persönlichkeit, die ihr eingeborenen Geistesrichtungen und Anlagen frei zu entfalten, ihren künstlerisch vollendetsten Ausdruck gefunden. FICHTEs Philosophie aber erhob diese Freiheit des schöpferischen Ich zum Prinzip des Erkennens und Handelns. Die intellektuelle und die moralische Welt suchte sie als eine in sich zusammenhängende Reihe von Handlungen zu erfassen, als schöpferische Tätigkeiten eines Vernunftwillens, dessen ideales, durch die Schranken der Sinnlichkeit gehemmtes, und doch diese Schranken fortan überwindendes Streben auf diese absolute Freiheit als letzten sittlichen Zweck gerichtet ist. Im Sinne dieses Grundgedankens übernimmt FICHTE den Pflichtbegriff der kantischen Ethik, mit ihm den wertvollsten Inhalt der letzteren. Aber er gibt ihm, umter Ausscheidung mancher an den Rationalismus der Verstandesaufklärung erinnerten Zutaten, eine geschlossenere Form. Im gleichen Sinn gestaltet er den Inhalt der kantischen Rechts- und Staatslehre um. Die Rechtsgemeinschaft, von KANT mit der alten Vertragstheorie auf die zufällige Koexistenz der Einzelnen zurückgeführt, wird bei FICHTE zu einer notwendigen Bestimmung der Einzelpersönlichkeit, welche das Zusammensein mit anderen Wesen gleicher Art und die wechselseitige Anerkennung dieser Wesen als ursprüngliche Bedingung schon in sich trägt. Nicht mit Unrecht konnte daher FICHTE sich den Vollender der kantischen Ethik nennen. Doch je mehr diese Umbildung durch Strenge und Einheit der Entwicklung ihrem Vorbild überlegen ist, umso schärfer kommt in ihr der einseitige Individualismus der kantischen Lehre, namentlich auch in der Anwendung auf die Probleme von Staat und Recht, zu erneuter Geltung. Fast ist es weniger ein Unterschied des Begriffs, der den Standpunkt FICHTEs von demjenigen KANTs scheidet, als ein solcher des Temperaments und Charakters. Haftet bei KANT am Begriff der sittlichen Einzelpersönlichkeit immer noch allzu viel von der abstrakten Menschheitsidee der Verstandesaufklärung, so hat im tätigen Ich FICHTEs die selbstbewußte Persönlichkeit der Genieperiode ihren philosophischen Ausdruck gefunden.

Aber an einem Charakter, der in Leben und Lehre die Energie des tatkräftigen Wollens als das höchste menschliche Gut schätzte, konnten die Schicksale des eigenen Vaterlandes nicht ohne gewaltige Rückwirkungen vorübergehen. Mit dem Anfang des Jahrhunderts beginnt sich in FICHTE eine neue sittliche Weltanschauung vorzubereiten. Sie ist nicht aus einer Unsicherheit der Überzeugungen, wie sie leicht bestimmbaren Gemütern eigen ist, sondern aus jener Rückwirkung des öffentlichen Lebens auf die individuelle Anschauung hervorgegangen, welcher der handelnde Charakter sich am wenigsten entziehen kann. Wie in der ersten Periode der FICHTE'schen Lehre die Sturm- und Drangperiode, so verkörpert sich in der zweiten der Geist der deutschen Befreiungskriege. Hatte ROUSSEAU die Ideen der französischen Revolution vorausverkündet, so lebte in FICHTE der Gedanke, der in den folgenden Jahren die Erhebung des deutschen Volkes beseelte. Und dieser Gedanke ist der volle Gegensatz zum dem aufs Höchste gesteigerten Individualismus der Genieperiode. War dort das Ich als eine weltschöpferische Macht erschienen, die selbst die sittliche Welt nur als eine Betätigung der eigenen Freiheit und zum Zweck des vollen Genusses dieser Freiheit hervorbringt, so wird hier der individuelle Wille zum Träger und Vollbringer einer allgemeinen Vernunft, welche sich im Leben der Völker entfaltet. Nur das Leben der Gattung, das in der staatlichen Volksgemeinschaft, der wir angehören, das Gebiet der uns zunächst obliegenden Pflichthandlungen umschließt, ist das wahre Leben. Alle Tugend geht darin auf, sich in dieser Gemeinschaft selbst als Person zu vergessen; alles Laster entspringt daraus, nicht an die Gemeinschaft, sondern nur an sich selber zu denken.

Man kann diesen Gegensatz zweier auf- und auseinander folgender Ideenrichtungen nicht schärfer ausdrücken, als es von FICHTE selbst in zwei Schriften geschehen ist, von denen die eine der früheren, die andere der späteren Periode seines Denkens angehört. In dem "Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution" vom Jahr 1793 tritt er, nicht schwankend und zweifelnd wie KANT, sondern mit der vollen Energie der Überzeugung für das Recht der Revolution in die Schranken. Fast aber ist für uns weniger die Tatsache, daß, als die Art, wie er dies tut, von Interesse. Hatte einst THOMAS HOBBES aufgrund der Idee des Staatsvertrages die Zulässigkeit jeder Revolution bestritten, so leitet FICHTE umgekehrt ihre Rechtmäßígkeit gerade aus dem Begriff des Vertrages ab. Dieser fordert eine dauernde Willensübereinstimmung aller, die an ihm teilnehmen. Hört die letztere auf, so kann jener gelöst werden. Hält endlich einer der Kontrahenten nicht die ihm auferlegten Verpflichtungen ein, so ist der Vertrag von selbst erloschen. Darum hat der Fürst, der seinen Regentenpflichten nicht nachkommt, sein Recht verwirkt; darum können die bevorrechteten Stände nicht gegen den Verlust ihrer Vorrechte klagen: liegt doch der Begriff des Privilegiums von Anfang an im Widerstreit mit dem Sinn des Staatsvertrages, der nur auf die gleichen Rechte Aller gegründet sein kann. So macht FICHTE in dieser Jugendschrift unverkürzt die Ideen der französichen Revolution zu den seinigen; nur daran bemerkt man den nebenher gehenden Einfluß der kantischen Ethik, daß ihm als letztes absolutes Prinzip für die Beurteilung jeder Rechts- und Staatsordnung das Sittengesetz gilt.

Wie völlig anders lautet der Inhalt desjenigen Werkes seiner späteren Periode, in welchem die Abwendung von jenen Idealen der Jugend am schroffsten zutage tritt, der Vorlesungen über die "Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" aus den Jahren 1804 und 1805! Mögen uns heute die geschichtsphilosophischen Konstruktionen, mittels deren hier FICHTE jedem Zeitalter seine Stellung in der Entwicklung der Menschheit anzuweisen sucht, noch so bedenklich erscheinen; man kann nicht umhin, die Weite und Tiefe des Blickes zu bewundern, der die Schwächen und Fehler einer jüngst vergangenen Zeit so vollständig durchschaut, daß noch heute für ein objektiver gewordenes historisches Urteil kaum etwas nachzuholen sein wird, wenn auch ein solches den Verdiensten jener Periode besser gerecht werden dürfte, als es dem mitten im Kampf des Widerstreites zweier Zeitalter stehenden Denker möglich war. Die Verstandesaufklärung hat - das ist der Grundgedanke seiner Ausführungen - die Autorität der instinktiv herrschenden Vernunft gebrochen; aber zur bewußten Vernunfterkenntnis ist sie noch nicht durchgedrungen. So bewegt sie sich im Medium einer zersetzenden Kritik, die nur zu zerstören, nicht aufzubauen imstande ist, und für die, indem sie bloß das eigene Denken als klar und verständlich gelten läßt, nur der individuelle Mensch, den sie überdies stets nach dem eigenen Maß mißt, Wirklichkeit besitzt. In der Genieperiode und Romantik, als deren philosophischen Vertreter FICHTE unverkennbar SCHELLING im Auge hat, ist die Nichtbefriedigung mit diesem Zustand zu einer unklaren Schwärmerei ausgeartet. Statt von der Vernunft, wird sie von der Phantasie beherrscht; praktisch ist sie daher ebenso ohnmächtig wie der Dünkel der Verstandesaufklärung. Das Ziel der neuen Zeit aber erblickt FICHTE schon hier in der Gründung einer neuen Staatsordnung und in der Erneuerung der religiösen Denkweise. Im Kulturstaat der neuen Zeit sollen nicht die Sonderinteressen herrschen, sondern alle seine Bürger sollen durchdrungen sein vom Zweck des Ganzen. Denn das echte Staatsbewußtsein besteht ebenso in einem Gefühl der fortwährenden lebendigen Einheit des Einzelnen mit der Gesamtheit, wie die wahre Religiosität in einem Bewußtsein der Einheit des Menschen mit dem göttlichen Weltgrund.

Das Ideal eines machtvollen nationalen Kulturstaates, welches FICHTE hier, ebenso wie in den vier Jahre später gehaltenen "Reden an die deutsche Nation", vorschwebte, ist nicht in Erfüllung gegangen. Durch die geistige Bildung, die sie in der vorangegangenen Zeit errungen hat, war die Nation reif geworden, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln; sie war nicht reif genug - das lehren zum Teil FICHTEs eigene politische Pläne - für sich selbst eine angemessene staatliche Form zu finden.

So wurde die Restauration zur inneren Notwendigkeit. Doch keine Restauration vermag das Alte unverändert wiederherzustellen. Die Ideen der unmittelbaren Vergangenheit sucht sie, wenn auch noch so notdürftig, mit der Wiederaufrichtung früherer Zustände zu verbinden. Mochten sich im Stilleben der zwanziger Jahre, wie es uns so anschaulich KARL IMMERMANN in seinen "Epigonen" geschildert hat, Fürsten, Adel und ein in formeller Pflichterfüllung erstarrtes Beamtentum gelegentlich völlig in die Zustände des vergangenen Jahrhunderts zurückträumen: in der Jugend lebten noch die Ideen der Befreiungskriege; das Alter aber schwelgte in allgemeinen Humanitätsidealen, die durch ihre Unbestimmtheit politisch ebenso unverfänglich wie praktisch erfolglos waren. Es trat ein, was so oft den Mißerfolg von Bestrebungen begleitet: weil das Nächste, dessen man bedurfte, zur Zeit unerreichbar war, so versenkte man sich in den Gedanken an ein Höchstes, das überhaupt erreichbar ist. Wilhelm Meisters Wanderjahre und der zweite Teil des Faust sind der künstlerische Ausdruck dieser Zeitstimmung. Der kecke Lebensmut des Meister der Lehrjahre, der titanenhafte Tatendrang des Faust aus der Tragödie erstem Teil, - sie enden, jener mit dem Plan einer phantastischen Organisation der Gesellschaft, dieser mit der unbestimmten Hingabe für das allgemeine Wohl der Menschheit.

Der philosophische Vertreter dieser zu allgemeinen Ideen verflüchtigten Humanitätsideale, bei denen man mit den bestehenden politischen und sozialen Zuständen im tiefsten Frieden lebt, ist HEGEL. Er ist der echte Philosophe der Restaurationsperiode. Eine kontemplative Stimmung, die sich befriedigt findet, wenn es ihr gelungen ist, die gegebene Wirklichkeit in die Sphäre des Begriffs zu erheben, erfüllt ihn mit Mißgunst gegen alle Bestrebungen, die die Geschichte nach eigenen subjektiven Meinungen verbessern möchten. Auch in ihm lebt die in FICHTE zur Tat gewordene Überzeugung, daß der Einzelne sich in den Dienst der Ideen zu stellen hat, welche den sittlichen Organismus der Gesamtheit beseelen. Aber es ist nicht mehr der nationale Kulturstaat, das Ideal der Freiheitskriege, das ihm als die Verwirklichung dieses sittlichen Organismus gilt, sondern der abstrakte Staat als solcher, die unbedingte Unterordnung unter einen Gesamtwillen, dem alle Einzelwillen gehorchen. Der Staatsbegriff der HEGELschen Rechtsphilosophie ist daher auf irgendeine der willkürlichen Schöpfungen des Wiener Kongresses ebenso gut, ja vielleicht besser anwendbar, als auf den aus einer ursprünglichen nationalen Kulturgemeinschaft erwachsenen Volksstaat. Er ist die in abstrakten Begriffen entworfene Verherrlichung eines mit konstitutionellen Formen umkleideten bürokratischen Beamtenstaats, und die Deutung, die der Philosoph diesen Formen zu geben weiß, ist bei Licht besehen nichts anderes als die Verewigung eines Scheinkonstitutionalismus, die Erhebung der unhaltbarsten und leersten aller politischen Schöpfungen zu einem allgemeinen Vernunftpostulat. Der oft gerühmte Freiheitsbegriff dieses Systems aber ist ebenso harmlos und dehnbar, wie der Wunsch des sterbenden Faust, "auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen".

Doch, damit die allgemeinen Humanitätsideen, in denen die Zeit einen Ersatz suchte für das verlorene politische Ideal, auch hier zu ihrem Recht zu kommen, so stellt sich jener als lebendige Sittlichkeit verherrlichte Staat, der vom Einzelnen alles fordert, um ihm nichts zu gewähren, schließlich in den Dienst der höchsten geschichtsphilosophischen Idee des Systems, der absoluten Weltvernunft. Der Weltgeist, der in HEGELs Philosophie mit dem Geist der Menschheit zusammenfällt, thront über den einzelnen Volksgeistern, die er als die "Zeugen und den Zierrat seiner Herrlichkeit" und als die Vollbringer seines Willens um sich versammelt. Die Taten des Weltgeistes bilden den Inhalt der Geschichte. Der berühmt gewordene Satz der HEGELschen Rechtsphilosophie, daß alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig ist, ist lediglich eine Anwendung dieses allgemeinen Gedankens. Aufgrund dieses Satzes kann aber alles Bestehende gerechtfertigt und kann jede Kritik des Bestehenden untersagt werden. So wird jene höchste geschichtsphilosophische Idee des Systems schließlich selbst der politischen Tendenz dieser Restaurationsphilosophie dienstbar gemacht.

Es war ein merkwürdiges Verhängnis, das über diesem System schwebte. Es gab sich als die absolute Wahrheit, als die endgültig zur Selbsterkenntnis erhobene Weltvernunft. In den Dienst unhaltbarer sittlicher Zustände gestellt, wurde es eine der vergänglichsten philosophischen Schöpfungen aller Zeiten. In dem Maße, als die Bestrebungen der politischen Restauration darauf ausgingen, das absolute Regiment des vorigen Jahrhunderts zu erneuern, mußten sie eine geistige Gegenströmung erwecken, die sich wiederum in den Bahnen der revolutionären Ideen bewegte. Der Individualismus, zuerst durch die Macht der nationalen Idee überwunden, dann durch einen abstrakten Staats- und Humanitätsbegriff gewaltsam zurückgehalten, brach sich von Neuem Bahn. Von den Geistern, die als Stimmführer der öffentlichen Meinung den Umsturz oder die Reform der bestehenden Zustände verlangten, und die in der literarischen Bewegung des "jungen Deutschland" eine Art Erneuerung der Sturm- und Drangperiode herbeizuführen suchten, wurde abermals die Freiheit der Einzelpersönlichkeit zur Richtschnur aller Rechte und Pflichten gegenüber der Gesamtheit erhoben. Aber freilich, auch hier ist die Geschichte keine bloße Wiederholung des schon einmal Geschehenen. Wie im "jungen Deutschland" die Tendenzen der Verstandesaufklärung mit der Geniesucht der Romantik seltsam gemischt waren, so verbanden sich in den politischen Bestrebungen der Zeit mit den alten Idealen der Revolution die geistigen Strömungen der jüngsten Vergangenheit. Kosmopolitische und nationale Ideen, die Begeisterung für die Rechte des Einzelnen und die Forderung der Hingabe für die Zwecke der Menschheit wohnten hier, oft unklar zusammenfließend, dicht bei einander.

In Deutschland ist der philosophische Verkünder dieser geistigen Bewegung der dreißiger und vierziger Jahre ein Mann, dessen Einfluß und Bedeutung von der philosophischen Geschichtsschreibung meist allzu gering geschätzt wird: LUDWIG FEUERBACH. Abgesehen von einem kleinen Häuflein überlebender Verehrer, ist FEUERBACH heute beinahe vergessen. Man kennt ihn höchstens als Einen der Vielen, die zuerst von HEGEL ausgegangen und dann von ihm abgefallen waren. Man lese GOTTFRIED KELLERs Jugendroman, den "grünen Heinrich", um die Macht, die FEUERBACH ausübte, richtiger zu würdigen. Seine Werke waren im Grafenschloß so gut wie im Haus des bildungsbedürftigen Landmanns zu finden. Für alle diejenigen, die der positiven Religion den Rücken gekehrt, ohne dem in ihr lebenden spekulativen Bedürfnis abgestorben zu sein, galten diese Werke als ein neues Evangelium. Ihr Urheber wurde zum Mittelpunkt eines Kultus, in dem auch Apostel und Wanderprediger nicht fehlten, die in diesem Kultus ihren Lebensberuf sahen.

FEUERBACHs Philosophie ist die mit dem Geist des 19. Jahrhunderts erfüllte Ethik der französischen Aufklärung. Seine logische und psychologische Einsicht bewahrt ihn vor dem naivem Materialismus jener Systeme; aber darin ist er ganz mit ihnen einig, daß der natürliche, sinnliche Mensch der einzige Inhalt und Zweck der Welt, und daß alles Übersinnliche ein leeres Idol, eine von den wahren Quellen unseres Daseins ablenkende Selbsttäuschung ist. So ist seine Philosophie nicht minder atheistisch wie die eines HELVETIUS und HOLBACH, aber, weit entfernt mit jenen die Religionenn als absichtlich zur Unterjochung der Menschen erfundene Irrlehren zu brandmarken, bewahrt er einen bewundernswerten Scharfblick in der Aufsuchung des psychologischen Ursprungs religiöser Vorstellungen. Gleichwohl, das Resultat bleibt dasselbe. Hat der Mensch nach FEUERBACH im Stadium des religiösen Empfindens unbewußt sich selber vergöttert, so soll die bewußte Erkenntnis, daß er sein eigener Gott ist, zum Grundgedanken der neuen Weltanschauung werden. An die Stelle der religiösen und der ihr verwandten metaphysischen Kontemplation soll die praktische, vornehmlich die des freien Menschen würdigste, die politische Tätigkeit treten.

Daß Sittlichkeit und Glückseligkeit eins sind, und daß alle Glückseligkeit im Inhalt des sinnlichen, wirklichen Lebens eingeschlossen liegt, steht für FEUERBACH ebenso fest wie für die Ethiker der Revolutionszeit. Doch von der Unmöglichkeit des von diesen gemachten Versuchs, aus dem Egoismus alle gemeinnützigen Triebe abzuleiten, ist er nicht minder durchdrungen. Ohne Ich kein Du, aber auch ohne Du kein Ich. Alles sittliche Handeln beruth ihm daher auf der innigen Wechselbeziehung der Selbstliebe und der Nächstenliebe. Im Anderen lieben wir uns selbst, in uns selbst zugleich den Andern.

Trotz dieser Aufhebung der egoistischen Glückseligkeitsmoral bezeichnet FEUERBACHs Ethik in ihrer ganzen Tendenz nach unverkennbar einen Rückgang zum Individualismus der Aufklärungsphilosophie. Wie nur der einzelne Mensch ein unmittelbares Objekt der sinnlichen Wirklichkeit ist, so bleibt auch das Glück des Einzelnen der letzte Zweck der sittlichen Gemeinschaft. Daneben freilich wirken die Humanitätsideale der Restaurationsperiode in dieser Philosophie fort; sie sind der letzte Rest jener Verherrlichung der absoluten Vernunft, der sich aus HEGELs System in die Gedankenwelt seines Schülers hinübergerettet hat. Hieraus stammt die Begeisterung für den wirklichen Menschen, die bei FEUERBACH in das Wort, daß der Mensch sein eigener Gott ist, tatsächlich etwas von der Wärme des religiösen Gefühls überströmen läßt.

In Wahrheit ist es ein merkwürdiges und doch psychologisch verständliches Gesetz der Geschichte, daß unter allen philosophischen Überzeugungen der Atheismus nicht am seltensten in der Form religiöser Schwärmerei auftritt. Nahezu gleichzeitig mit FEUERBACH begründete in Frankreich AUGUSTE COMTE sein "System der positiven Philosophie". Beide Denker haben wahrscheinlich nie voneinander gehört; dennoch sind beider Weltanschauungen, besonders in den ethischen Fragen, von überraschender Übereinstimmung, - auch dies ein Zeugnis für den Einfluß des allgemeinen Zeitgeistes auf die Entwicklung der philosophischen Ideen. Und mehr noch als bei FEUERBACH wurde schließlich bei COMTE der Mensch zum Gegenstand eines religiösen Kultus, als dessen Hohepriester sich der Philosoph selber betrachtete. So weit freilich hat sich der deutsche Denker nicht hinreißen lassen. Dennoch sind diese Unterschiede vielleicht mehr solche des nationalen Temperaments und der äußeren Lebenseinflüsse als der ursprünglichen Empfindung. Bei COMTE erscheint diese religiöse Schwärmerei des Atheismus im katholischen, beim nüchternen FEUERBACH in einem reformierten Gewand.

Mit den Hoffnungen des Jahres 1848 sank auch der Stern der FEUERBACH'schen Philosophie. Der Zeit der Entmutigung, die nun folgte, und die den rückwärts strebenden Gewalten in Staat und Gesellschaft freies Spiel ließ, war der lebensfreudige Optimismus jenes Denkers nicht mehr kongenial. Seine Überzeugungen wanderten zum Teil mit der zerstreuten Schar seiner Anhänger in die neue Welt aus. Das zurückbleibende Geschlecht aber entsagte entweder der Philosophie oder es tröstete sich mit einer Philosophie der Entsagung.

Die Philosophie, die, von einzelnen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, von nun an auf deutschen Universitäten herrschend wurde, begab sich in den Dienst der Philologie oder der Geschichtsschreibung. Nach dem Vorbild HEGELs hat man es wohl versucht, auch diesen Zustand geschichtsphilosophisch zu konstruieren. Die romantische Idee SAVIGNYs von der Kunst der Rechtsbildung auf die Philosophie anwendend, meinte man: nachdem die Aera der Entstehung philosophischer Weltanschauung vorüber ist, ist jene nun in eine neue Aera eingetreten, in der sie nur noch die Geschichte ihrer eigenen Vergangenheit ist.

Wer in der Menge der Gebildeten überhaupt noch philosophische Bedürfnisse empfand, der suchte Zuflucht bei der nun erst zur Verbreitung gelangten Weltanschauung ARTHUR SCHOPENHAUERs, wenn ihm nicht etwa jene materialistische Populärphilosophie genügte, die als eine verspätete Nachblüte der revolutionären Systeme des vorigen Jahrhunderts auf den Trümmern der FEUERBACHschen Lehre entstand. SCHOPENHAUERs Philosophie wurde der echte Ausdruck der Zeitstimmung. Nicht seine scharfsinnige Beleuchtung des Erkenntnisproblems, nicht seine mystische Willenslehre waren es, die ihm die Geister zuführten, sondern seine vom Schmerz des Daseins erfüllte trostlose Weltansicht, der das Leben eine Mischung von Leiden und Entbehrung ist und die mit der Vedanta-Philosophie der Inder in der Vernichtung die wahre Erlösung vom Übel erblickt. Diese Weltansicht ist das vollkommene Abbild jener Stimmung der Entmutigung und der Entsagung, die sich der Gemüter bemächtigt hatte. Ihre rasche Verbreitung beweist, daß eine Zeit, wenn sie die ihr kongeniale Philosophie in der Gegenwart nicht zu finden weiß, mit sicherem Instinkt in die Vergangenheit zurückgreift. Als SCHOPENHAUERs Hauptwerk in den zwanziger Jahren in die Öffentlichkeit trat, blieb es so gut wie unbeachtet. Der Pessimismus des einsamen Denkers fand keinen Widerhall in einer Zeit, in der die Kühneren die Hoffnungen der Freiheitskriege nicht aufgegeben hatten, die ruhigeren Geister aber entweder sich mit dem Bestehenden zufrieden gaben oder in fernen Humanitätsidealen schwelgten. Jetzt war die Zeit des Pessimismus gekommen, und der Greis erlebte noch den Triumph, den er sich dereinst als Jüngling geweissagt hatte. Das sittliche Problem aber ermangelte in dieser Philosophie naturgemäß jeder praktischen Bedeutung. Welchen Wert sollte es auch haben, von Maximen des sittlichen Handelns zu reden, wenn der Verzicht auf den Willen zu handeln der Weisheit letzter Schluß ist? SCHOPENHAUERs Ethik läuft daher auf eine Psychologie und Metaphysik des Mitleids hinaus. Alles dreht sich in ihr um die Beantwortung der Frage, wie es doch kommt, daß der Mensch als ein nach seinen sinnlichen Anlagen durch und durch egoistisches Wesen zugleich der Neigung für Andere fähig ist.

Noch einmal hat sich in unseren Tagen eine Umwälzung vollzogen, ähnlich der, welche der Anfang des Jahrhunderts in den Befreiungskriegen erlebte, - ähnlich, und doch in Eintritt und Verlauf, in Vorbereitung und Erfolg weit von jener verschieden. Dort zuerst überschwellende Hoffnung, dann notgedrungener Verzicht, - hier eine zuerst zögernd und mißtrauisch verfolgte, dann aber in energischer Zusammenfassung der Volkskräfte plötzlich erreichte Erfüllung der nationalen Wünsche. Dem Verlauf dieser politischen Umwälzungen entspricht ihr Verhältnis zur Welt der Ideen. Nicht wie die französische Revolution, nicht wie die deutschen Befreiungskriege ist diese neueste Entwicklung durch philosophische Ideen vorbereitet. Das neue Reich, eine Schöpfung der politischen Notwendigkeit, hat seine Verfassung nicht auf allgemeine Reflexionen über Bürger- und Menschenrechte, sondern auf das Rechtsgefühl und das Pflichtbewußtsein einer durch Sitte, Bildung und geschichtliche Erlebnisse verbundenen Volksgemeinschaft gegründet. So erblicken wir - was auch Dieser oder Jener am vollbrachten Werk verbessert sehen möchte - in ihm die Verwirklichung der einst von FICHTE verkündeten Idee des nationalen Kulturstaates.

Wie in diesem Sinn in den politischen Schöpfungen der Gegenwart die Gedanken einer ferneren Vergangenheit zum Leben erwacht sind, so aber hat nicht minder der Verlauf unserer neuesten Geschichte hinwiederum auf die philosophische Ideenentwicklung seine Rückwirkungen ausgeübt. Freilich, wenn die politische Geschichte der Gegenwart eine schwierige ist, so ist die geistige Geschichte derselben vielleicht eine unmögliche Aufgabe. Immerhin dürfen wir es versuchen, die Zeichen der Zeit zu deuten, die uns den wahrscheinlichen Verlauf der Dinge vorauskünden.

Zwei solcher Zeichen treten uns, wie ich glaube, als die bedeutsamsten entgegen. Der Pessimismus hat seine Herrschaft über die Gemüter eingebüßt. Eine Philosophie der Entsagung mag Einzelnen noch als angemessener Ausdruck ihrer subjektiven Stimmung erscheinen, eine herrschende philosophische Richtung ist sie nicht mehr. Hand in Hand damit geht eine veränderte Wertschätzung der allgemeinen Probleme. Der vorangegangenen zeit erschien die Beschäftigung mit der Erkenntnistheorie als die vornehmste, wenn nicht einzige philosophische Aufgabe. Dies ist völlig anders geworden. Das sittliche Problem drängt sich heute immer mächtiger in den Vordergrund. Die Fragen über den Ursprung des Sittlichen, über das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, über die Bedeutung von Recht und Pflicht sind als die wichtigsten Fragen der gegenwärtigen Philosophie anerkannt. Und wie stellen wir uns heute zu diesen Fragen? Wie verhalten sich die Ideen von 1889 zu den Ideen von 1789?

Schon darin spiegelt sich der Gegensatz der Jahrhunderte, daß über den Inhalt der Prinzipien, welche das Zeitalter der französischen Revolution beherrschten, nach den übereinstimmenden Aussprüchen der Philosophen und der politischen Redner jener Zeit nicht der geringste Zweifel bestehen kann, sich jedoch schwerlich jemand unterfangen wird, die Ideen der Gegenwart in ein allgemeingültiges Glaubensbekenntnis zusammenzufassen. Der Widerstreit der Meinungen fehlte auch dem 18. Jahrhundert nicht; gleichwohl trugen die Anschauungen der vorurteilsfreien Denker ein übereinstimmendes Gepräge. Unser Zeitalter scheint seinen geschichtlichen Sinn auch darin zu bekunden, daß nahezu alle Standpunkte, die irgendwann einmal eine historische Berechtigung besitzen mochten, ein dauerndes Recht auf Existenz für sich in Anspruch nehmen. Wie in unseren politischen Parteien das Mittelalter mit der rationalistischen Aufklärung, die Gegenwart mit Zukunftsidealen, die in fernen Jahrhunderten einmal Wirklichkeit werden können, im Streit liegen, so gibt es in den Erörterungen, deren Gegenstand das sittliche Problem ist, kaum eine in der Geschichte der Philosophie zur Entwicklung gelangte Anschauung, die nicht heute noch einzelne Vertreter findet. Aber wenn wir vor allem diejenige Gedankenrichtung, welche in den politischen und sozialen Schöpfungen der Gegenwart zu erkennen ist, als den wahren Ausdruck der Ideen unseres Zeitalters gelten lassen, dann kann, wie ich meine, kein Zweifel darüber bestehen, wie die Antwort auf die oben aufgeworfene Frage lauten muß.

Ist es überhaupt ein Recht der Nationen, große Ereignisse ihrer Vergangenheit durch Erinnerungsfeste im Gedächtnis der Lebenden zu erneuern, so wird niemand dem Jahr 1789 den Anspruch auf eine Jahrhundertfeier streitig machen. Aber kein Irrtum könnte größer sein als der, welcher mit diesem Erinnerungsfest den Glauben verbände, daß die Prinzipien von 1789 ewig leuchtende Wahrheiten sind, die sich mit unwiderstehlicher Gewalt zu jeder Zeit Anerkennung erzwingen müßten.

Stellte das vorige Jahrhundert alle Moral einseitig entweder unter den Gesichtspunkt des Rechts oder unter den der Pflicht, so ist heute unsere sittliche Lebensanschauung von dem Gedanken erfüllt, daß Pflicht und Recht überall zusammengehörige Begriffe sind, und daß es daher kein Recht gibt, das nicht an und für sich eine Pflicht des Berechtigten in sich schließt, mag nun diese als Rechtspflicht von ihm gefordert und erzwungen werden können, oder mag sie, wie beim Eigentumsrecht, als eine sittliche Pflicht der freien Übung überlassen bleiben. Die sittliche Pflicht ist aber nur eine umso verantwortungsvollere, weil sie eine freie Pflicht ist, wie dies gerade bei der so lange gänzlich verkannten Pflicht des Eigentumsrechts heute immer deutlicher in das allgemeine Bewußtsein tritt.

Betrachtete das vorige Jahrhundert nur die einzelne Persönlichkeit als realen Gegenstand sittlicher Zwecke, so ist unsere heutige Anschauung von der Überzeugung beseelt, daß die politische und die humane Gemeinschaft Wirklichkeiten von einem dem Einzeldasein übergeordneten Wert sind. Nicht mit Hilfe zweifelhafter dialektischer Konstruktionen, sondern auf der Grundlage einer unbefangen die Tatsachen des geistigen Lebens prüfenden Psychologie sucht aber die Ethik der Gegenwart diese Auffassung wissenschaftlich zu rechtfertigen.

Galt endlich der Aufklärungsphilosophie die verstandesmäßige Reflexion als der einzige Richter über wahr und falsch, über gut und böse, und erblickte sie darum in der intellektuellen Beschäftigung des Geistes das größte Gut, so haben die heutige Psychologie und Ethik erkannt, daß die höchste menschliche Tätigkeit der aus dem Gefühl erwachsene, das Denken wie das äußere Handeln lenkende Wille ist und daß darum das höchste menschliche Gut ein guter Wille bleibt.

Auch auf die Wissenschaften und ihre Pflege hat dieser Wandel der Anschauungen zurückgewirkt. Der Rationalismus des vorigen Jahrhunderts huldigte der Meinung, aus der richtigen Einsicht entspringt von selbst das richtige Wollen. Wir denken bescheidener von unserem Wissen wie von unserem Können. Umso mehr sind wir von der Überzeugung durchdrungen, daß die Pflege des Wissens zwar der nächste, die Pflege der sittlichen Gesinnung aber der wichtigste Zweck ist, den wir erstreben. Die Berufstüchtigkeit und Berufstreue, in deren Ausbildung die einzelnen Fachwissenschaften zusammenwirken, sind die Eigenschaften, in denen sich auch innerhalb der gelehrten Berufsstände jene Gesinnung vornehmlich betätigen soll. Die Philosophie als solche muß auf den Vorzug verzichten, den die Beschäftigung mit den konkreten Aufgaben des Lebens mit sich bringt. Aber indem sie das Nachdenken über die allgemeinen Probleme des Daseins anzuregen und die Erkenntnis der sittlichen Aufgaben des Einzelnen wie der Gemeinschaft zu fördern bemüht ist, darf sie wohl hoffen, daß auch ihre Mithilfe an der sittlichen Gesamtarbeit der Wissenschaft und ihrer Lehre als eine nicht ganz nutzlose anerkannt werden mag.

LITERATUR - Wilhelm Wundt, Über den Zusammenhang der Philosophie mit der Zeitgeschichte, Halbmonatshefte der Deutschen Rundschau, Jhg. 1889-90, Bd. 2, Berlin 1890.
    Anmerkungen
    1) Rede, gehalten beim Antritt des Rektorates am 31. Oktober 1889 in der akademischen Aula zu Leipzig.