ra-2Wundt - L o g i kSchopenhauer - Ethik     
 
WILHELM WUNDT
Ethische Grundprobleme

"Das ethische Grundprinzip der Nützlichkeitsmoral lautet: Handle so, daß die Maxime deines Handelns darauf gerichtet ist, möglichst viel Glück hervorzubringen. Das ist das berühmte Prinzip der Maximierung von Glückseligkeit und es soll im Grundsatz aller Gesetzgebung seine Wurzel haben, nach welchem dieses Streben nicht darin bestehe, daß das Glück nicht bloß für ein einzelnes Individuum und nicht einmal für einen beschränkten Teil der Menschheit, sondern in seiner Ausdehnung auf die Gesamtheit der Menschen, gleichgültig welcher Kultur und welcher Nation sie angehören, Geltung besitze. Seine Beleuchtung empfängt dieses Gesetz durch zwei weitere Voraussetzungen: erstens darin, daß unter der Gesamtheit der Menschen lediglich die Summe aller einzelnen Menschen zu verstehen ist und zweitens darin, daß das Einzelglück immer als ein sinnliches, also ein durch materielle Hilfsmittel zu erreichendes Gut anerkannt wird, weil andere Güter jedenfalls in Leben und Verkehr in der für die Menschheit gültigen allgemeinsten Gesetzgebung nicht in Betracht kommen."

Die Frage, ob die Gemeinschaft früher als der einzelne sei und darum diesem die Normen vorzuschreiben habe, die für die Zwecke des Einzellebens maßgebend sind, oder ob der einzelne früher als die Gemeinschaft und darum diese sich nach den Zwecken zu richten habe, die für die Erhaltung und Förderung des Einzellebens nötig sind, steht am Anfang der Philosophie. Sie wird von der Sitte, die ursprünglich im Leben selbst aller Philosophie vorausgeht, im Sinne der unbedingten Überordnung der Gemeinschaft über den einzelnen und zugleich in dem der Übereinstimmung beider, der individuellen und der gemeinschaftlichen Lebenszwecke entschieden. Mit dem Zweifel an der Gebundenheit des individuellen Handelns an die Normen der Gemeinschaft und mit dem auf die Wiederherstellung der ursprünglichen Unterordnung des einzelnen unter den Gesamtwillen gerichteten Streben beginnt daher alle Philosophie als ein Streit dieser beiden Anschauungen und um die Entscheidung dieses Streites bewegt sich im tiefsten Grunde die ganze Entwicklung derselben. Aber auf lange hinaus tirtt dieses früheste Problem in den Hintergrund, in dem die wechselnden Einflüsse der Kultur selbst zu den das menschliche Denken beherrschenden Problemen werden und die nach ihnen orientierten Anschauungen des Laufs der Dinge jenes Problem aller Probleme zurückdrängen, um dabei zugleich Motive hervorzubringen, die der subjektiven Überordnung des einzelnen über die Gemeinschaft derart das Übergewicht verschaffen, daß der letzteren höchstens ein beschränkter Umfang von Normen übrigbleibt, die der einzelne als objektiv maßgebend und darum als zwingend für ihn selbst anerkennt. Diese Anerkennung bewegt sich aber wieder bei den verschiedenen Individuen, da die Philosophie ein Ausdruck individueller Überzeugungen bleibt, innerhalb eines weiten Spielraums. Doch ist es  eine  Richtung, die im Fortschritt der Kultur unverkennbar infolge der Macht, welche die äußere, materielle Kultur gegenüber dem inneren Wert der Kulturgüter ausübt, die herrschende Bedeutung gewonnen und schließlich in der Gegenwart den das praktische Leben bestimmenden Anschauungen ihr Gepräge gegeben hat, dergestalt, daß man die Geschichte der Ethik nahezu als eine Geschichte der allmählichen Umwandlung des ursprünglich durch die Sitte die menschliche Gemeinschaft beherrschenden Gesamtwillens in eine ebenso unbedingte oder nur dürftige Reste des ursprünglichen Zustandes zurücklassende Herrschaft des Individualwillens bezeichnen kann.

Diese einseitige Richtung, welche die Ethik überhaupt, namentlich aber in den praktischen Fragen des Lebens durch Jahrhunderte hindurch einschlug, hat nicht zum wenigsten ihre Quelle darin, daß in der Wissenschaft wie im Leben die äußeren, auf die Beherrschung der Natur gerichteten Fortschritte der Kultur in dieser wieder die überwiegenden gewesen sind. Demzufolge hat auch die dem materiellen Fortschritt in erster Linie dienende Wissenschaft, die Naturwissenschaft, die philosophischen und mit ihnen die ethischen Richtungen bestimmt, während die daneben vorhandenen Interessen an den geistigen Gütern als für sich bestehende, darum aber auch im Grunde ethisch gleichgültige Werte betrachtet wurden. In nichts spricht sich wohl diese unabwendbare Macht, mit der sich im Lauf der Geschichte der Individualismus gegenüber der Anerkennung der notwendigen Überordnung der Gemeinschaft durchgesetzt hat, deutlicher aus als in der Verlegenheit, die es uns bereitet, wenn wir gegenüber der Selbstverständlichkeit, mit der heute der Individualismus seine Stellung errungen hat und fortan behauptet, einen entsprechenden allgemeingültigen Ausdruck für jene Überordnung der Gemeinschaft finden sollen. Würde doch für diesen Gegensatz der Begriff des Sozialismus an sich vielleicht der angemessenste sein. Aber wie schon KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS für die spezifische Richtung, die bei ihnen die sozialistische Tendenz gewonnen, diesen Ausdruck verwarfen, um in ihrem Manifest von 1848 dem Wort  Kommunismus  den Vorzug zu geben, so ist in der kurzen seit der Verkündung dieses Manifests verflossenen Zeit das Wort "Kommunismus" womöglich noch unhaltbarer geworden, weil es durch seine ausschließlich gegen den Kapitalismus oder die Vorherrschaft des Besitzes gerichtete Spitze einen zwischen den verschiedensten Bedeutungen schwankenden Inhalt gewonnen hat. So bliebe allenfalls noch das Wort  Kollektivismus  übrig, weil es in Wahrheit unter den zur Wahl gestellten Begriffen vielleicht am wenigsten verbraucht ist. Gleichwohl besteht die Gefahr, daß auch ihm dieses Schicksal in der Zukunft bevorstünde. Darum hat die Philosophie für den gleichen Gegensatz mit einem sicheren Instinkt die Bezeichnung herausgegriffen, welche nach derjenigen philosophischen Weltanschauung benannt ist, die zum erstenmal in der Geschichte diese unbedingte Überordnung der Gemeinschaft über die Einzelpersönlichkeit zum entscheidenden Ausdruck gebracht hat: das ist die platonische Ideenlehre, aus der in diesem wesentlichen Punkt der Idealismus in seinen Hauptgestaltungen hervorging und bis zum heutigen Tag diese Bedeutung bewahrt hat. Wohl hat es auch in der Geschichte des Idealismus nicht an Abweichungen gefehlt, die bestrebt waren, diese ursprüngliche Wurzel desselben in den Hintergrund zu drängen oder ganz zu beseitigen: so im ausschließlich nach seiner psychologischen Bedeutung orientierten Idealismus eines BERKELEY oder im nach seiner transzendenten Metaphysik sogenannten transzendentalen Idealismus eines KANT. Aber durch diese vereinzelten Abweichungen konnte doch die Hauptbedeutung der platonischen Ideen, die eben in jener Überordnung besteht, wie sie eindringlich PLATOs Werk über den Staat verkündet, niemals aufgehoben werden. Darum sind für uns Individualismus und  Idealismus  die wahren Gegensätze geworden, um die sich heute noch der alte, dereinst zwischen der Sophistik und dem ursprünglichen Bekenntnis der sokratischen Schule entstandene Kampf bewegt. Denn dieser Kampf hatte im Streben dieser Schule nach der die ursprüngliche Sitte der Völer wieder belebenen Weltanschauung seine ursprüngliche und in den späteren Wiederholungen dieses Kampfes gegen den sophistischen Idealismus seine immer wieder sich erneuernde Quelle.

Der erste Schritt zum Sieg, den der Individualismus über den Idealismus in der Weiterentwicklung der griechischen Philosophie gewonnen hatte, bestand im Übergewicht, das der Realismus der aristotelischen Ethik namentlich in der zur Herrschaft gelangten nikomachischen Ethik in der Folgezeit errang. Denn die Tendenz dieser Ethik liegt in der völligen Indifferenz gegenüber jenem Hauptmotiv des platonischen Idealismus. Mit Recht ist diese Tendenz eine rein empirische genannt worden und in diesem Sinne kann wohl von ihr gesagt werden, daß sie den Staat zu den selbstverständlichen, von außen gegebenen, durch die Bedingungen des politischen Lebens entstandenen Gütern zählt und daß daher ARISTOTELES, wenn er die eigene Arbeit des Menschen neben der Gunst der äußeren Bedingungen als ein wesentliches Hilfsmittel betrachtet, das zur Verwirklichung der Glückseligkeit diene, damit auch den platonischen Idealismus als eine letzte, aber jenseits der Ethik liegende metaphysische Voraussetzung festhält. Dagegen ist dem Wandel der Kultur, wie er vornehmlich auch in der Entwicklung der politischen Ordnungen zutage tritt, die Sittlichkeit selbst unterworfen, und es kann daher nicht davon die Rede sein, daß sie an sich bestimmte Normen enthalte, nach denen sich das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft dauernd zu richten habe. Greifen doch bei ARISTOTELES die ethischen Gegensätze des Guten und Schlechten auch in ihre Erscheinungen, wie die Herrschaft der Tyrannis und der Ochlokratie [Herrschaft des Pöbels - wp] zeigen, überaus bedeutsam ein, so daß hier ein normativer Wert solcher Formen gegenüber der individuellen Ethik, in der für ihn der Wert der Ethik überhaupt besteht, nicht in Betracht kommen kann.

Schritt für Schritt weiter rücken in der Geltendmachung dieses Standpunktes der Indifferenz des Sittlichen gegenüber den Zwecken der Gemeinschaft die späteren Schulen der griechischen Philosophie. So zunächst der Kynismus im rein negativen Verhältnis, das er der Ethik gegenüber dem gemeinsamen Leben durch den Standpunkt der relativen Gleichgültigkeit des Politischen für den einzelnen anweist. Ihm folgt in der Erweiterung der Begriffe der Stoizismus, indem er zwei Begriffe als die Grenzpunkte der sittlichen Stufenreihe ansieht, in der sich das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, zu dem er gehört, ausprägt: die individuelle Persönlichkeit als Naturwesen auf der einen und die Gemeinschaft in ihrem allgemeinsten, die ganze Menschheit umfassenden Sinne auf der anderen Seite. Wie daher nach ihm logisch der Einzelbegriff und der allgemeine Begriff des Seins einander fordern, so ethisch das Individuum und die Menschheit, in der sich das Ganze der Natur und mit ihm die Gottheit zur Einheit verbinden.

Erweitert sich so die aristotelische Auffassung in der Lehre des Stoizismus derart ins Unbegrenzte, daß damit zugleich die Forderung der Glückseligkeit als ein ganz den zufälligen Schwankungen des Naturlaufs überlassener Bestandteil verschwindet, so wird vollends der Staat zu einem zufälligen Gebilde und die gemeinschaft bleibt nur in jenem höchsten Sinne bestehen, in welchem sie für die Beziehung des Menschen zum Menschen oder für die des einzelnen zur Menschheit ihre letzte Grundlage hat, die auch hier wieder eine metaphysische ist. Hat sich im Stoizismus das Sittliche selbst zu einem unbestimmten Begriff verflüchtigt, in welchem als der feste Punkt, der dem individuellen Handeln seine Ziele anweist, nur die Beziehungen der einzelnen zueinander übrig geblieben sind, so bringt nun demgegenüber das System EPIKURs diesen als unvertilgbaren Rest zurückgebliebenen Individualismus unmittelbar und, darin dem Kynismus verwandt, als positive Forderung zur Geltung, indem es zur Idee der individuellen Glückseligkeit zurückkehrt. In diesem Sinne greift es aus den Beziehungen, in denen im Zusammenleben der Menschen der einzelnen zum einzelnen stehen kann, diejenige heraus, die in den Traditionen der griechischen Sitte sich allen Gemeinschaftsbegriffen gegenüber als eine dauernde und der Freiheit des einzelnen den unbeschränktesten Spielraum gewährend erhalten hat: die der Freundschaft des Menschen zum Menschen. Nicht mit der unbegrenzten Gesamtheit der Menschen, sondern mit der eng begrenzten, ihm gleich gesinnter in beglückender Übereinstimmung zu leben, ist ihm das Ziel menschlichen Strebens, und hier trifft ihm dieses Streben mit den Naturgesetzen zusammen, die sich in den konkreten Erscheinungen der Natur als die wirksamen Naturkräfte erweisen. So wird für EPIKUR die Naturphilosophie DEMOKRITs zu der seine ethische Lebensanschauung ergänzenden und, wie man auch aus DEMOKRITs uns erhaltenen ethischen Aussprüchen schließen darf, innerlich mit seiner hedonistischen zusammenhängenden Lebensauffassung. Denn unter diesem Gesichtspunkt ist nicht etwa, wie die überlieferte Geschichte der Philosophie anzunehmen pflegt, die Glückseligkeitslehre DEMOKRITs eine zufällige Begleiterscheinung seiner Atomistik, sondern eine notwendige Anwendung der in dieser zum erstenmal zur Durchführung gelangten unbeschränkten Geltung des Naturbegriffs für das menschliche Leben.

Ist die griechische Ethik bis dahin ein Spiegelbild des Verlaufs der griechischen Kultur überhaupt, so bleibt in ihr aber ein dauernder Charakterzug bestehen, der, nachdem zuerst ARISTOTELES die sittlichen Ideen vom Himmel auf die Erde verpflanzt hatte, auf jeder der Stufen der griechischen Kultur wiederkehrt und so als der bleibende Zug des Griechentum selbst betrachtet werden kann. Er besteht subjektiv in der Glückseligkeit als dem Zweck des sittlichen Strebens, objektiv hat er seinen Sitz in der menschlichen Seele. Damit ist nun aber zugleich die Sittlichkeit als ein Gebiet bezeichnet, das an sich, da in der Seele das Gute und das Böse, Glück und Unglück als wechselnde Bestandteile vereint sind, das Sittliche dem Reich des ewig Dauernden entzieht, in welches ihn der platonische Idealismus erhoben hat. Mit dem Menschen selbst ist das sittliche Leben in das Gebiet der schwankenden und wechselnden Erscheinungen verwiesen, welche die empirische Welt zusammensetzen. Damit drängt die griechische Ethik bei ihrem Ende wiederum einer befriedigenden Lösung des Widerspruchs mit ihrem Ausgangspunkt zu und sie findet schließlich diese Löseung in der inmitten dieser empirischen Widersprüche sich immer und immer wieder hervordrängenden Verbindung des äußeren Handelns mit der Gottesidee, also in der Rückkehr zu einer Grundlage, in der sich der platonische Idealismus als das Unveränderliche in allem Wechsel dieser Wandlungen erhält. So lenkt die griechische Ethik bei ihrem Ende mit innerer Notwendigkeit zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Sie wird im Neuplatonismus zur religiösen Stimmung, die sich gegen alle Schwankungen des äußeren Lebens und der seelischen Erregungen als das unabänderlich Dauernde behauptet, und hier findet der neue Idealismus in der neuen Religion, die sich ihm im Christentum als die Siegerin im Kampf der religiösen Richtungen der Zeit offenbart, jene Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, die einst der platonische Idealismus in der Volkssitte mit dem sie tragenden religiösen Kultus gefunden hatte.

Doch die weltlichen Motive, die das wirkliche Leben durchdringen und die die antike Philosophie in die verbreiteten philosophischen Weltanschauungen hinübergetragen hatte, ließen sich nicht auf die Dauer zurückdrängen. Indem der Nominalismus, welcher den platonisierenden scholastischen Realismus bekämpfte, die transzendenten Ideen mehr und mehr, wie der Wechsel des Namens es andeutete, durch Mächte der sinnlichen Wirklichkeit ersetzte, wandelte sich das Christentum in eine Religion um, die an sich einer übersinnlichen Welt angehörte und als solche auch die sittlichen Gesetze in diese übersinnliche Welt verwies. Für die Beziehung dieser übersinnlichen Welt der Religion zum menschlichen Denken und Handeln, die zuerst mit folgerichtiger Klarheit der aristotelische Realismus als den alleinigen Inhalt des Sittlichen bezeichnet hatte, blieben nur zwei Wege offen: der eine, den schließlich das katholische Glaubenssystem als den unbedingt gebotenen feststellte, betrachtet die innerhalb der sinnlichen Welt wirksame Religion als eine dieser Welt selbst angehörige, die in der Autorität der Kirche als der Stellvertreterin und Verwalterin der übersinnlichen religiösen Güter auch das Richteramt über das sittliche Denken und Tun des Menschen zu üben habe. Indem die Reformation diesen Zwang der Autorität aus dem sittlichen Leben verbannte, blieb ihr dann wieder ein doppelter Weg übrig, der von ihren verschiedenen Konfessionen und deren Vertretern eingeschlagen wurde. Sie konnte in die religiöse Gemeinschaft, die in diesem Fall zugleich als eine sittliche betrachtet wurde, die Wahrung der sittlichen Gesetze verlegen: diesen Weg ist der Calvinismus gegangen und hat daraus dann die weitere Folgerung gezogen, daß er, dem Beispiel der in der Gesamtkirche zur Herrschaft gelangten individualistischen Ausprägung des Autoritätsprinzips folgend, den Willen der religiös-sittlichen Gemeinschaft einem persönlichen, dem Papsttum in kleinerem Umfang nachgebildetn Gemeindehaupt übertrug. Oder sie konnte, wie es der Protestantismus LUTHERs tat, das sittliche Gewissen des einzelnen Menschen zum Richter über sein Denken und Handeln erheben. Seine letzte philosophische Gestaltung hat dieser Standpunkt der sittlichen Freiheit des einzelnen im kantischen Idealismus gefunden, der die Gottesidee und das Sittengesetz in dem Sinne zur Einheit verband, daß ihm das Sittengesetz selbst als das entscheidende Zeugnis für die transzendente Wirklichkeit der Gottheit galt.

Nachdem die antike Wissenschaft in ihrer Rückkehr zur Einheit von Religion und Sitte auf der einen und zum platonischen Idealismus auf der anderen Seite ihren Kreislauf vollendet, hat aber mit dem Sieg des Christentums und der Wiedererstehung einer dem religiösen Bewußtsein angepaßten Erneuerung des platonischen Idealismus eine Wiederholung dieses Kreislaufs in der deutschen Mystik und im Protestantismus begonnen. Sie setzte in der Renaissanceperiode ein und wir sind noch heute in ihr begriffen, ohne ihren Abschluß anders als in dem Sinne voraussagen zu können, daß auch er dereinst einmal nur unter der Erhaltung der bleibenden Güter des menschlichen Lebens eintreten kann. Der Beweis für dieses Ende, das demnach entweder eine Erneuerung oder einen Untergang der Kultur bedeuten würde, liegt nun gerade in jenem Verhältnis zwischen den subjektiven und den objektiven Kulturwerten, die in der modernen Kulturentwicklung und demzufolge in der Geschichte der neueren Philosophie in fortwährend sich steigerndem Maße zum Ausdruck kommen. In dem aller Entwicklung immanenten Gesetz, daß die sinnlichen Substrate des geistigen Lebens die geistigen Inhalte vorbereiten müssen, wie es uns in dieser ganzen Entwicklung in der lange dauernden Herrschaft der Naturbegriffe über die Philosophie entgegentritt, liegt es aber begründet, daß auch die subjektive Schätzung der Lebensinhalte, die zunächst alle ethischen Werte bestimmt, ihre Maßstäbe den subjektiven Wirkungen entnimmt, die das äußere Leben in den materiellen Inhalten des Daseins auf das Leben des einzelnen ausübt. Darum bleibt alle Ethik, solange die Normen, nach denen sie sich richtet, rein auf sich selbst gestellt sind, notwendig der individuellen, als der subjektiven sinnlichen Schätzung der sittlichen Werte anheimgegeben. Damit ist zugleich gesagt, daß die Ethik aus sich selbst oder aus dem, was sie etwa als unmittelbare Inhalte sittlicher Gesetze feststellen könnte, niemals einen Aufschluß über den wahren Inhalt des Sittlichen gewinnen kann, sondern saß sie diesen als einen objektiv gegebenen, damit aber als eine Voraussetzung anerkennen muß, aus der sie erst die weitere Entwicklung der sittlichen Gesetze zu schöpfen hat.

Auf dieser Grundlage habe ich versucht, in meiner "Ethik" aus dem Jahr 1886 (4. Auflage 1912) die Normen zu entwickeln, die innerhalb der verschiedenen sittlichen Lebensgebiete als individuelle, soziale und humane unterschieden werden können. In dieser Einteilung liegt ausgesprochen, daß die humanen Normen diejenigen sind, die in einer solchen Ethik selbst entlehnten Einteilung die  letzte  und gerade darum aber in ihrem die ganze Ethik beherrschenden Wert die  entscheidende  Stellung einnehmen, weil von ihnen aus alle übrigen in ihrer Richtung unabänderlich bestimmt sind. Indem jede sittliche Norm eine objektive und eine subjektive Seite hat, wobei jene, abstrahierend von der in alles menschliche Handeln eingehenden subjektiven Schätzung, den rein objektiven Wert des sittlichen Handelns feststellt, ist es aber dieser objektive Begriff, der schließlich über die Ethik selbst hinausweist, und den diese ihrerseits nur als ein gegebenes aus ihr niemals abzuleitendes Ideal zu betrachten hat. Ich habe diese höchste, außerhalb ihrer liegende Norm in dem Satz ausgedrückt: Du sollst dich selbst dahingeben für den Zweck, den du als deine ideale Aufgabe erkannt hast. Schon die subjektive Ergänzung, die diesem objektiven ethischen Wert gegenübersteht, und die den einzelnen nötigt, sich als Werkzeug im Dienste jenes Ideals anzusehen, führt demnach erst in die eigentliche Ethik, indem sie auf die einzelnen Gebiete hinweist, innerhalb deren dann weiterhin die einzelnen sittlichen Gesetze sich nach ihrem Wert abstufen: so zunächst die Idee der Gemeinschaft, die den einzelnen als das ihm übergeordnete Pflichtgebiet umgibt und dann die des Nebenmenschen, dem er als gleichberechtigtes und gleichverpflichtetes Glied dieser Gemeinschaft gegenübersteht. Die Ethik für sich allein kann niemals weiterkommen, als bestenfalls empirisch auf den überwiegenden Wert auch in subjektiver Hinsicht hinzuweisen, den hier die geistigen Güter des Lebens deshalb einnehmen, weil sie von den Mängeln frei sind, die den materiellen Hilfsmitteln anhaften.

Das hat jedoch die unausbleibliche Folge, daß die neuere Wissenschaft in ihrem Suchen nach einem der Ethik selbst zu enthemenden Prinzip umso mehr scheitern muß, je umfassender die sittliche Güter werden, welche die Kultur mit sich führt. Denn die geistigen als die spezifisch sittlichen Güter werden nun immer und immer wieder nicht jenen unabänderlich gegebenen metaphysischen Voraussetzungen allen sittlichen Lebens, sondern den sekundären Inhalten entnommen. So eröffnet sich hier jener Streit der sittlichen Weltanschauungen, welcher daraus entspringt, daß die erst in der Reflexion auf das einzelne Handeln wurzelnden Triebfedern desselben als autonome Grundvoraussetzungen alles Sittlichen anzusehen sind. Sie sind aber in Wahrheit eben nicht dieses, sondern sie stellen vielmehr nur eine fortan mit dem Wachsen der Kultur zunehmende Fülle von Motive dar, die von der wahren metaphysischen Grundlage des Sittlichen ablenken, um an die Stelle dieser irgendweclhe einzelne empirische Kulturinhalte und die äußeren Motive ihrer Entstehung zu setzen. Jedes dieser Motive ist dann aber wieder gemäß dem allgemeinen Charakter des sittlichen Handelns, daß es aus dem Willen des einzelnen entspringt, ein individualistisches, weil ihnen allen das Merkmal gemeinsam ist, daß sie sich auf das individuelle Handeln beziehen. So liefert die neuere Philosophie zahlreiche Antriebe, die sämtlich darauf ausgehen, die Ethik ihren objektiven Grundlagen zu entfremden, um ihnen jene nur äußerlich der Sittlichkeit zugänglichen Antriebe zu substituieren, die aus den wechselnden Richtungen der subjektiven Bevorzugungen nebensächlicher Kulturmomente entspringen. Ihrer aller resultierende Wirkung ist dann mit innerer Notwendigkeit der Sieg der egoistischen und in weiterer Konsequenz bestenfalls rein individualistischen Lebensmaximen über alle objektiven geistigen Güter, ohne die diese Maximen ihren Wert notwendig verlieren. In diesem Sinne verbindet sich dann regelmäßig zugleich der ethische Individualismus mit dem durch die herrschenden Richtungen der Philosophie gepflegten Intellektualismus, der natürlich gerade da am meisten versagt, wo er über seinen eigenen Ursprung und über die allgemein menschlichen Zwecke dieses Ursprungs Rechenschaft geben soll.

In nichts tritt das deutlicher zutage als in denjenigen Richtungen der Philosophie, die den Versuch gemacht haben, in ähnlichem Sinne, wie das in der antiken Wissenschaft zuerst ARISTOTELES durch seine Theorie der sittlichen Affekte getan hat, aus dem Gefühlsleben als einer besonderen, der allzeit egoistischen Intelligenz gegenüberstehenden spezifisch ethischen Anlage des Menschem dem Sittlichen seine Stellung anzuweisen. Besonders charakteristisch ist hier vor allem die englische Moralphilosophie in ihrer Entwicklung von SHAFTESBURY und HUTCHESON an bis auf die spätere in DAVID HUME und ADAM SMITH kulminierende schottische Moralphilosophie. Hier ist überall dem sittlichen Gefühl sein selbständiger und im allgemeinen dem natürlichen Egoismus widerstreitender Charakter in einem altruistischen Sympathiegefühl gewahrt. Aber dieses Gefühl hat an sich mi den natürlichen und darum allein wirklichen Motiven des menschlichen Handelns, die ausschließlich aus der Verbindung von intellektuellen und egoistischen Antrieben stammen, überhaupt nichts zu tun. Wenn daher von den deutschen Beurteilern dieser Philosophen nicht selten ihre Lehren in der Weise interpretiert worden sind, daß man annahm, beide, Intelligenz und Gefühle, seien gleichberechtigte und darum eventuell einander kompensierende sittliche Mächte, so gibt sich das darin deutlich als ein Irrtum zu erkennen, daß bei den Vertretern der schottischen Gefühlsmoral, in denen jene Entwicklung kulminiert, dem praktischen Leben gegenüber ein solcher Standpunkt nicht die geringste Geltung hat. Für HUME wie für SMITH hat als natürliches und darum für das praktische Leben allein maßgebendes, also sittliches Prinzip des Handelns nur der egoistische oder höchstens, insoweit es sich um den Egoismus der Nationen in ihrem wechselseitigen Verkehr handelt, der erweriterte individualistische Standpunkt der nationalen Macht eine die wirkliche Welt beherrschende Geltung. In der Tat entspricht dies auch nicht nur der Wirkung, die das abschließende System dieser Richtung, die Theorie von ADAM SMITH, auf die Folgezeit geübt hat, und in der diese in voller, von der theoretisch sie begleitenden psychologischen Gefühlsmoral scheidenden Form von RICARDO ausgebildet worden ist, sondern in der sie auch von der gesamten nationalökonomischen Wissenschaft bis zum heutigen Tag verstanden wird. Ich habe noch keinen Vertreter der Volkswirtschaft kennen gelernt, der der Gefühlspsychologie von ADAM SMITH irgendeine Stellung innerhalb seiner ökonomischen Theorie angewiesen hätte; ich habe dagegen manche kennen gelernt, die sie überhaupt nicht gelesen hatten.

Aus der klassischen auf den reinen Egoismus gegründeten Ethik des menschlichen Verkehrs und der Motive des praktischen menschlichen Handelns von ADAM SMITH und seinen Nachfolgern ist als letztes Erzeugnis dieser Ethik diejenige hervorgegangen, die sich wohl als die den heutigen Standpunkt der individualistischen Ethik am treuesten widerspiegelnde Phase dieser Entwicklung betrachten läßt: die Moralphilosophie JEREMY BENTHAMs. Sie ist von einem Nachfolger BENTHAMs, von JOHN STUART MILL, zuerst als die Ethik des Utilitarismus oder der Nützlichkeitsmoral bezeichnet worden. Ihr ethisches Grundprinzip lautet: Handle so, daß die Maxime deines Handelns darauf gerichtet ist, möglichst viel Glück hervorzubringen. Das ist das berühmte Prinzip der "Maximierung von Glückseligkeit" und es soll im Grundsatz aller Gesetzgebung seine Wurzel haben, nach welchem dieses Streben nicht darin bestehe, daß das Glück nicht bloß für ein einzelnes Individuum und nicht einmal für einen beschränkten Teil der Menschheit, sondern in seiner Ausdehnung auf die Gesamtheit der Menschen, gleichgültig welcher Kultur und welcher Nation sie angehören, Geltung besitze. Seine Beleuchtung empfängt dieses Gesetz durch zwei weitere Voraussetzungen, die in den spezifisch ethisch gerichteten Schriften BENTHAMs ausdrücklich betont sind: erstens darin, daß unter der Gesamtheit der Menschen im Anschluß an die englische Glückseligkeitsmoral lediglich die Summe aller einzelnen Menschen zu verstehen ist und zweitens darin, daß das Einzelglück immer als ein sinnliches, also durch materielle Hilfsmittel zu erreichendes Gut anerkannt wird, weil andere Güter jedenfalls in Leben und Verkehr und so vor allem auch in der für die Menschheit gültigen allgemeinsten Gesetzgebung nicht in Betracht kommen. BENTHAM hat dieser Voraussetzung einen entscheidenden Ausdruck gegeben, in dem er in einer seiner ethischen Hauptschriften ein Hilfsprinzip aufstellte, das insbesondere für alles äußere Handeln maßgebend sein soll. Dieses Hilfsprinzip besteht darin, daß das allgemeinste Maß des Glücks, das wir uns selbst oder einem anderen verschaffen können, im Geldwert besteht, durch welchen dasselbe erworben oder ersetzt werden kann. Dies schließt daher die letzte Folgerung insbesondere für den Gesetzgeber die ein, daß diejenige Gesellschaftsordnung die beste sei, welche auf die möglichste Gleichheit des Besitzes aller einzelnen ausgehe. Freilich gilt das immerhin nur als ein ideales, höchstens annähernd zu erreichendes Ziel, weil seine wirkliche Erreichung im buchstäblichen Sinne mit dem allgemeinen Friedenszustand der Gesellschaft, der hierbei wegen der natürlichen Konkurrenz der einzelnen in Gefahr geraten würde, nicht erreichbar sei, wenn auch so weit als immer möglich erstrebt werden müsse.

Für die tatsächliche Bedeutung, welche das BENTHAMsche Moralprinzip in der heutigen Gesellschaft behauptet, ist es nun im höchsten Grade bemerkenswert, daß ein deutscher Philosoph im Laufe des letzten Krieges den Mut gefunden hat, nicht nur die BENTHAMsche Schrift über die Grundsätze eines künftigen Völkerrechts, die sich auf diese Moral in den übrigen Schriften des hervorragenden englischen Juristen stützt, zu veröffentlichen, sondern auch zu behaupten, daß sie an theoretischem wie praktischem Wert der Moral KANTs eigentlich überlegen sei, weil BENTHAM alle Menschen, nicht bloß den einzelnen, der in seinem Gewissen und allenfalls noch in der Religion, zu der er sich bekennt, das Regulativ seines Handelns finde, als die Träger einer objektiven Sittlichkeit betrachtet. (OSKAR KRAUS, Jeremy Benthams Grundsätze für ein künftiges Völkerrecht und einen dauernden Frieden, 1915). Die deutsche Philosophie hat mit dieser Verbeugung vor dem englischen Utilitarismus, mit der sie dessen Superiorität über die deutsche Wissenschaft anerkennt, eigentlich schon vorausgenommen, was die Waffenstillstands- und Friedensverträge unserer Regierungen in die Tat umgesetzt haben, indem sie unbedingt die Maximen, welche die Völker der Entente, bei denen man in der Wirklichkeit die Prinzipien der BENTHAMschen Moral und Gesetzgebung als die herrschenden betrachten darf, auch uns Deutschen gegenüber als selbstverständliche, auf für uns gültige anerkennt.

Daß die Moral BENTHAMs in ihren praktischen Folgerungen, vor allem aber in dieser materialistischen Begründung ein krasser Widerspruch gegen jede ernste sittliche Anschauung ist, hat niemand energischer betont als ein Landsmann BENTHAMs: THOMAS CARLYLE. Seine Stimme ist aber ungehört verhallt und wenn CARLYLE im deutschen Geist die Hilfe gesucht hat, die ihm als das geeignete Gegengift gegen die landläufige Herrschaft des Utilitarismus erschien, so hat er sich darin nicht nur im Hinblick auf seine Nation in einem schweren Irrtum befunden. Die Sklaverei, in die sich die deutsche Kultur in der Wertschätzung der wahren Güter des Lebens gegenüber der in ihrer Wurzel egoistischen im besten Fall unbeschränkt individualistischen Philosophie begeben, hat lange zuvor schon in Deutschland in der weiten Verbreitung des Utilitarismus ihren Ausdruck gefunden. Besonders ist das in der Form geschehen, in welcher dieser bei uns eingeführt wurde und in der er schon in England eine Kompensation seiner materialistischen Folgerungen zu gewinnen versucht hatte. Dies ist vor allem dadurch vermittelt worden, daß der Schriftsteller, der dem Utilitarismus seinen Namen gegeben hat, JOHN STUART MILL, ihn ergänzen zu können meinte, indem er neben den nach Geldwerten zu schätzenden Lebensgütern auch solche als zulässig bezeichnete, für die, weil sie rein geistige Güter seien, dies nicht zutreffe. In dieser nachträglichen Kompensation wiederholt sich aber nur dieselb Erscheinung, die uns schon in der schottischen Philosophie entgegengetreten ist. Wie bei ADAM SMITH das Sympathiegefühl ein für sich bestehendes Motiv blieb, das auf die praktischen Folgerungen seines Systems des egoistischen Wirtschaftslebens gar keinen Einfluß ausübte, so herrscht überall da, wo im praktischen Leben der Utilitarismus zur Geltung gelangt ist, in Wahrheit dieser in der ursprünglichen BENTHAMschen Form. Daß sich darin die deutschen Philosophen, die für die Verbreitung des Utilitarismus eingetreten sind, einer Selbsttäuschung hingaben, wird schwerlich zu bezweifeln sein. Aber ebensowenig wird sich bestreiten lassen, daß in der Wirkung auf die allgemeinverbreiteten sittlichen Anschauungen überall, auch bei uns, schließlich doch nur die materialistischen Grundanschauungen, wie sie in ihren von diesen nachträglichen Zugaben unabhängigen Sätzen BENTHAM formuliert hat, übrig geblieben sind.

Daß auch BENTHAM, obgleich er sich ausdrücklich in seinem System der Glücksgüter auf die materiellen Werte beschränkt, nach einer gewissen Kompensation gesucht hat, wird sich übrigens nicht bestreiten lassen. Nur ist diese freilich noch ungenügender als die durch MILL eingeführte der nebenhergehenden geistigen Werte. Sie besteht nämlich darin, daß er nachdrücklich die objektive Allgemeingültigkeit der womöglich durch die Gesetzgebung herzustellenden Gleichheit der Güter oder mindestens des Rechts auf dieselben betont. Nicht bloß die eigene Nation in allen ihren Mitgliedern, unabhängig von der Stellung der letzteren innerhalb dieser nationalen Kultur, so ann den Gütern derselben teilnehmen, sondern nach dem Prinzip der gerechten Verteilung sollen irgendwelche Grenzen zwischen den verschiedenen Völkern der Erde überhaupt nicht gezogen werden. Wenn sich gegen MILLs Kompensation durch die jedem freistehende subjektive Teilnahme an den geistigen Gütern des Lebens einwenden läßt, daß sie auf subjektive Gefühlswerte beschränkt bleibt, die außerhalb der Motive des praktischen Handelns stehen, so ist es nun aber augenscheinlich, daß diese BENTHAMsche Kompensation einer etwaigen tatsächlichen Einschränkung auf einzelne Menschen oder Völker durch die prinzipielle Ausdehnung auf die gesamte Menschheit nicht ernsthaft gemeint sein kann, weil eine solche Erweiterung nicht nur praktisch unmöglich ist, sondern auch mit der Wirklichkeit der menschlichen Kultur und ihrer Anforderungen im Widerspruch steht. Zu behaupten, daß der primitive Mensch, der von den Gütern der Kultur überhaupt keine Vorstellung besitzt oder auch daß ein nur in einzelnen beschränkten Gebieten allenfalls an ihnen teilnehmender barbarischer Volksstamm vor dem Forum der Gerechtigkeit als völlig gleichstehend den Kulturmenschen anzusehen sei, ist offenbar entweder eine absurde Behauptung oder eine inhaltsleere Phrase. So ist es dann auch vollkommen verständlich, daß eine solche universelle Gerechtigkeit, die den Grundsatz der Gleichheit uneingeschränkt auf die ganze Menschheit ausdehnt, mit der in aller Kulturentwicklung zum Ausdruck kommenden Gliederung dieser Menschheit nicht bloß in ihren allgemeinen physischen wie geistigen Eigenschaften, sondern insbesondere auch in den Aufgaben der Kultur und demzufolge an der tatsächlichen Mitarbeit der sittlichen Werte in den äußersten Widerspruch geraten würde. Die Mitglieder der eigenen Nation müssen uns vermöge dieser Zusammenarbeit gerade an den allgemeinen Kulturaufgaben der Menschheit näher stehen als die Mitglieder fremder Völker und innerhalb der eigenen Nation sind es dann nicht minder wiederum die besonderen Kulturaufgaben der einzelnen Gruppen und ihrer durch die Verhältnisse des äußeren Lebens wie der geistigen interessen bestimmten Sonderverbände je nach ihren spezifischen Aufgaben, die eine unabänderliche Vorbedingung des allgemeinen Strebens nach Verwirklichung geistiger Güter sind. Daß es neben diesen den besonderen Gliederungen der Menschheit zufallenden sittlichen Gütern und Aufgaben weitere gibt, die eine Zusammenarbeit in größeren Verbänden, eine Mehrheit an ihr teilnehmender Völker und schließlich der Gesamtheit der Kulturvölker erfordern, ist selbstverständlich und liegt im allgemeinen Charakter menschlicher Kulturgemeinschaft begründet, den man wohl am zutreffendsten als eine geistige Gemeinschaft höchster Ordnung bezeichnen kann, die im Organismus des einzelnen Menschen als einer physischen und geistigen Einheit ihr einfachstes Vorbild hat. Daß gerade die wertvollsten Güter dieser Glieder der sittlichen Gemeinschaft der Völker mißachtet werden, wenn solche Begriffe wie die einer allgemeingültigen Gleichheit die tatsächlichen Unterschiede des sittlichen Lebens durch ein Scheinideal verdrängen, das schließlich als praktische Lebensmaxime wiederum nur das egoistische Streben anstelle der wirklichen Sittlichkeit zurückläßt, ist augenfällig.

LITERATUR - Wilhelm Wundt, Erlebtes und Erkanntes, Stuttgart 1921