tb-1SchirrenLowtskyBlochOakesSchlunke    
 
MAX SCHNEIDER
Die erkenntnistheoretischen Grundlagen
in Rickerts Lehre von der Transzendenz

[ 4 / 6 ]

"Denken ist mehr als Bejahung und Verneinung. Es ist ein Verknüpfen aufgrund des Identitätsgesetzes; eine Vereinigung von Bewußtseinsinhalten aufgrund sachlicher Notwendigkeit. Das Denken ist nicht damit erklärt, daß man die Wirklichkeit oder schon das Gegebene ein Denkprodukt nennt und nun eine Formenreihe angibt, in der sich der Denkprozeß bewegt haben muß. Es verläuft durchaus nicht so ideal einfach. Denken ist tatsächlich ein Schaffen."


Die "positivistisch-
konszientalistische" Tendenz

1. Der konszientalistische Zug
am Sollen

Ganz unverkennbar sind die Züge, welche dem Sollen als dem erkenntnistheoretisch anzuerkennenden Transzendenten von Seiten des RICKERTschen Konszientialismus aufgeprägt worden sind. Wohl ist es unabhängig vom Bewußtsein, doch existiert es nicht so, wie sich der Naive die Wirklichkeit existierend vorstellt. Es gehört nicht der Welt des Seins, sondern der des Geltens an.

Es ist also kein reiner Konszientalismus, dem RICKERT Recht zu verschaffen sucht. Nur die Unmöglichkeit der Annahme eines transzendenten Seins soll dargelegt werden. Nicht darauf kommt es hier an, daß RICKERTs Transzendentes etwas Immanentes ist - das würde RICKERT gar nicht zugeben -; sondern nur darauf, daß es nicht der Welt realer Wirklichkeit angehört.


2. Über die Möglichkeit, den Konszientalismus
zu widerlegen.

Wenn nun RICKERTs Lehre von der Transzendenz nicht ungeprüft hinnehmen wollen, müssen wir jetzt Erwägungen anstellen über deren erkenntnistheoretische Grundlage, soweit sie konszentialistisch ist. Wir haben bereits im vorigen Kapitel darauf hingewiesen, daß ein evidenter Beweis für die Existenz oder Nichtexistenz eines Realen (= in KÜLPEs Sinn; vgl. auch VolkED 38f) nicht geführt werden kann. Die beiden im Kampf um die reale Transzendenz auftretenden Gegner müssen sich immer auf die wechselseitige Widerlegung ihrer Argumente beschränken. KÜLPEs "Realisierung" (Bd. 1) und RICKERTs "Gegenstand der Erkenntnis" sind Beispiele dafür. Wenn RICKERT die Objektivität des Sollens erweisen will, fragt er, ob die Objektivität des Sollens bezweifelt werden kann (Gs 128). Für die endgültige Erkenntnis, ob alles Gegebene nur Bewußtseinsinhalt ist oder ob es außerdem real existieren kann, fehlt eben - sit venia verbo [Man verzeihe mir den Ausdruck. - wp] - ein überempirisches Erfahrungsmoment, dasjenige, was KANT intellektuelle Anschauung nennt. Solange der Konszientialist nicht zugibt, daß im Bewußt-sein und im bewußten Sein zwei verschiedene Gegebenheiten vorliegen, vielmehr jede Gegebenheit nur als eine kategoriale Auffassungsweise erklärt, wird ihm schwer beizukommen sein. Andererseits ist der strenge Konszientialismus schon durchbrochen, wenn er zu der Einsicht geführt wird, daß überhaupt eine Transzendenz möglich ist. - Soweit stehen wir mir RICKERT nicht im Widerspruch. Ebenso nun, wie RICKERTs Transzendenzlehre der Boden nur entzogen würde, wenn gezeigt werden könnte, daß das Sollen etwas Immanentes ist, so ist RICKERTs Konszientialismus erst erschüttert, wenn erwiesen werden kann, daß eine reale Existenz möglich ist. Da ich den Beweis für die Möglichkeit realer Transzendenz für erbracht halte, wenn die Denkbarkeit eines solchen Transzendenten erwiesen ist, ich aber darunter nur die Denkbarkeit eines transzendenten Seins verstehen kann, führe ich diesen Beweis auch gegen RICKERT zu Felde.


3. Rickerts Konszientialismus

RICKERTs Stellung wird in folgenden Sätzen gekennzeichnet:
    "Wir stellen fest, daß alle Dinge aus Bestandteilen zusammengesetzt sind, die man als Zustände des Bewußtseins auffassen kann, und daß ohne Weiteres nichts verbürgt, daß die Dinge noch etwas anderes sind." (Gs 19)

    "Auch das Gehirn gehört für die Erkenntnistheorie durchaus zu den immanenten Objekten." (Gs 22).

    "Alle Annahme von fremden Seelenleben beruht ja auf Analogieschlüssen" (Fest 66)

    "... es (das Vorstellungsobjekt) ist eben doch nur Vorstellungsobjekt, also immanentes Objekt oder Bewußtseinsinhalt." (Gs 14f)

    "Der Satz, daß alles unmittelbar gegebene Sein ein Sein im Bewußtsein ist", ist "nur die Konstatierung einer Tatsache, eines absolut Unbezweifelbaren, in keiner Hinsicht weiter analysierbaren Erlebnisses." (Gs 29)

    "Der Satz der Immanenz ist eine unmittelbar evidente Wahrheit von viel größerer Gewißheit als irgendeine naturwissenschaftliche Theorie sie besitzt." (Gs 40)

    "Das Sein jeder Wirklicheit muß als ein Sein im Bewußtsein angesehen werden." (Gs 74).

    "Wir gewinnen also den Begriff einer ursprünglich einheitlichen psychophysischen Welt, und dieses unmittelbare Erlebnis bleibt als empirische Wirklichkeit unangetastet bestehen, welche Theorien auch immer wir bilden mögen, durch die wir die Welt in zwei prinzipiell unvergleichbare Teile spalten." (Fest 80)

    "Für unser Vorstellen gibt es überhaupt nichts, wonach ses sich richten könnte." (Gs 115)

    "Man kann behaupten, daß nichts Gegenstand einer empirischen Wissenschaft zu werden vermag, was sich nicht als Bewußtseinsinhalt unmittelbar erleben läßt." (Log III, 231f)

    "Wir wissen, daß alle Bestimmungen, die wir transzendenten Realitäten verleihen, der immanenten Welt entnommen sind, weil wir eine andere Welt nicht kennen, und daher alle Untersuchungen, die mit einer angeblichen Kenntnis von transzendenten Wesen arbeiten, erkenntnistheoretisch wertlos sind." (Gs 153)

    "Auf den Beweis dafür, daß es eine absolute Welt nicht geben kann, die sich im Laufe der Geschichte in der Sinnenwelt verwirklicht, wird gerade der verzichten müssen, der die Konsequenzen des Gedankens zieht, daß wir zumindest auf dem Boden der Wissenschaftslehre über andere als immanente empirische Wirklichkeiten mit Sicherheit nichts aussagen können." (Gr 576)

    "... der problematische Gegensatz von bloßer Erscheinung und wahrem Sein ..." (Gr 210)

    "... prinzipiell unerfahrenes Sein ..." (Gr 580; vgl. auch Gr 133, 141, 580, 584, 638f)

    "Wir können nichts anderes entdecken als die richtige Ordnung des Bewußtseinsinhaltes, d. h. die Beziehungen der Vorstellungen aufeinander, welche sein sollen und daher zu bejahen sind." (Gs 124)

    "Der Gegensatz zwischen den Bewußtseinsvorgängen und einem transzendenten Sein ist für uns überhaupt kein erkenntnistheoretischer, sondern ein dogmatisch metaphysischer Gegensatz, und daher unlösbar, wenn nach einem vom Vorstellen unabhängigen Sein gefragt wird. Für das bloß vorstellende Bewußtsein ist nichts davon Unabhängiges zu erweisen." (Gs 162)

    "Jede wissenschaftliche Erkenntnis der Wirklichkeit entnimmt ihren Inhalt der immanenten Sinnenwelt, ihre Formen lassen sich jedoch nicht aus dem Gegebenen ableiten." (Gs 209)
Im letzten Punkt meint RICKERT mit KANT übereinzustimmen. Ob sich KANT mit der absoluten Immanenz der Sinnenwelt einverstanden erklärt hätte, müssen wir hier unerörtert lassen.

NB: Ebenso bedürfte es einer besonderen Arbeit, die Beziehungen RICKERTs zum deutschen Idealismus, insbesondere zu FICHTE, aufzudecken. (Vgl. beispielsweise "Fichtes Atheismusstreit"; Log I, 7 über die Aktivität des Ich, Log I, 32; Gesch. 124; Gr 18. Auch die schönen Worte in Gr 464: "Könnten wir die Zukunft ... voraus berechnen, ... kann niemand wirken." Ferner OSCAR EWALD, "Die deutsche Philosophie im Jahre 1908", Kant-Studien Bd. 14, Seite 363: "Der Neu-Fichteanismus, der auf Rickert und Windelband zurückgeht ..." . Die im Übrigen nichtssagende Kritik Hugo Renners, "Absolute, kritische und relative Philosophie", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, Bd. 29, Seite 289. - Emil Lask, Fichtes Ideal und die Geschichte, Seite 95f. - Antrittsvorlesung von Wilhelm Metzger, "Zeitschrift für Philosophie und philosophisches Kritik", Bd. 150, Seite 91 über "Hegel und die Gegenwart". - Eduard Spranger, Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Seite 10.)

4. Rickerts Beweis der Denkbarkeit
des Transzendenten.

Wenn sich RICKERT nicht jeden Weg zur Transzendenz versperren will, so muß er einen Einwand der Konszientialisten widerlegen; nämlich den, daß der Begriff eines ungedachten Gegenstandes sich selbst widerspricht. Die logische Möglichkeit eines Transzendenten muß sich RICKERT offen halten.

Der Gedanke eines ungedachten Dings-ansich, sagt der strenge Konszientialist, setzt einen Gegenstand, der sowohl Gedanke als auch Nichtgedanke ist - spricht also einem Subjekt auf einmal beide Teile eines kontradiktorischen Gegensatzes als Prädikat zu; ähnlich einem Verfahren, dessen logischer Widersinn durch den Satz gekennzeichnet wird: a = b und non-b.

Darauf antwortet RICKERT:
    "Den Begriff des Transzendenten kann man wohl denken, sobald man unter Denken ein Urteilen versteht und sich klar macht, daß man einen Begriff nur wirklich denken kann, indem man ihn in Urteile auflöst. Dann behält man, auch wenn man vom Begriff des Dings alle immanenten Bestandteile wegdenkt, d. h. verneint, immer noch den Gedanken dieser Verneinung übrig, und der Begriff des transzendenten Seins ist eben der Gedanke dieser Verneinung: das Transzendente ist kein Bewußtseinsinhalt." (Gs 34)
RICKERTs Antwort beruth also auf seiner besonderen Auffassung vom Denken. Denken ist gleich Urteilen (vgl. auch Gs 102, 164, 182, 185, 198, 230, 242) und, wie wir bereits gesehen haben, gleich Anerkennen (Gs 108, 164, 182; dagegen VolkED 250).


5. Die logische Schwierigkeit
der Transzendenz

Wollen wir diesen wichtigen Beweis auf seine Richtigkeit hin prüfen, so müssen wir uns über das Wesen des Denkens klar sein. Da wir glauben, in dieser Betrachtung gleichzeitig die Frage nach der Möglichkeit eines Gedankens von Ungedachtem selbständig beantworten zu können, wollen wir uns vorher auch noch des wirklich logischen Charakters der angeführten Schwierigkeit des Transzendierens versichern.

Wer realisieren will, behauptet: es gibt reale Gegenstände. Darauf entgegnet der Konszientialist: Nein, es kann gar keine realen Gegenstände geben. Alle Gegenstände sind nur Bewußtseinsinhalte, folglich auch die vermeintlichen realen Gegenstände. Von realen, d. h. von ungedachten, Gegenständen zu sprechen, ist also widersinnig. Bis hierher ist der Konszientialist ganz Erkenntnistheoretiker geblieben. DIe Frage, ob das Gegebene nur Bewußtseinsinhalt ist, enthält ansich keine logische Schwierigkeit. Sie gibt nur zu denken, wie nahe der Konszientialismus dem Solipsismus steht. Logische Schwierigkeiten entstehen erst, wenn der Gegner der Realisierung anfängt, seine Einwände dialektisch zu formulieren:
    "Ihr behauptet", sagt er, "euch Gegenstände denken zu können, die nicht Bewußtseinsinhalte sind. Dieses Urteil aber verstößt gegen die einfachsten Denkgesetze; denn es sagt von einem Subjekt, dem Gegenstand, sowohl die eine als auch die andere Hälfte eines kontradiktorischen Gegensatzes aus, oder, begrifflich gefaßt: Der Begriff eures Denkobjektes enthält eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp]. Zu seinen wesentlichen Merkmalen gehört einmal, daß es gedacht, d. h. Bewußtseinsinhalt, werden muß. Zum andern aber soll ihm eine Existenz auch dann eigen sein, solange es nicht gedacht wird. Somit kann jeder Versuch einer Realisierung zurückgewiesen werden durch den Schluß: Alle gegebenen Gegenstände sind ausschließlich Bewußtseinsinhalt. Das Denken befaßt sich mit Gegenständen. Also kann es sich nur auf Bewußtseinsinhalte beziehen. Eine Realität ist ihm ein für allemal unerreichbar."

6. Vieldeutigkeit des Begriffs "Denken".

Die Conclusio ist richtig gebildet worden. Setzen wir noch Zweifel in diese rein logische Ableitung, so bleibt uns weiter nichts übrig, als die Prämissen auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen. Die erste Prämisse müssen wir vorläufig hinnehmen, da wir ihr nicht widersprechen können; die zweite, daß sich das Denken mit Gegenständen zu befassen hat, dürfte kaum anfechtbar sein. Demnach könnte sich ein Fehler nur in den Terminus medius, den Begriff "Gegenstand" eingeschlichen haben. Ist also der Gegenstand als Bewußtseinsinhalt gleichbedeutend mit dem Gegenstand des Denkens? Welches ist der eigentliche Gegenstand des Denkens? Ja, was ist denn überhaupt das Denken?

Die Einen sagen, es sei ein Erzeugen. Es sind diejenigen, die KANTs Ansicht: das Denken sei eine Synthese, weiterzubilden meinen. Andere wieder nennen es ein Bestimmen. VOLKELT erkennt es in Bezug auf das Transsubjektive als ein Fordern. Von anderer Seite wieder heißt es, das Denken sei eine Vorstellungstätigkeit, deren Bedeutung darin aufgeht, daß etwas dem Bewußtsein als Gegenstand gegenwärtig ist - es ist SIGWART, der so spricht. WUNDT befragt zunächst die Psychologie und findet, daß das Denken ein höherer Apperzeptionsvorgang ist; in seiner Logik wiederum wird jedes Vorstellen, das einen logischen Wert besitzt, als Denken bezeichnet. Und RICKERT setzt Denken das eine Mal einem urteilenden Anerkennen von Werten gleich (Gs 185, Denken = Urteilen), ein andermal versteht er unter dem Denken "jeden psychischen Vorgang, der wahr oder falsch sein kann" (Zw 169), an einer dritten Stelle spricht er von einem "Denken", das nicht etwas prinzipiell anderes als "Erfahrung" ist (Zw 171) und schließlich ist "Denken eine Tätigkeit des Subjekts" (Log II 30)

7. Vorstellen, Assoziieren und Denken
psychologische Funktionen.

Da es uns bei der Vielheit dieser Meinungen (vgl. auch HUSSERL, Jahrbuch 224 "Über die beirrende Äquivokation, die im Wort Denken liegt") nicht unbedenklich erscheint, uns ohne vorherige Prüfung einer der genannten Ansichten anzuschließen, so wollen wir vorerst einen eigenen Standpunkt zu gewinnen suchen. Vorsätzlich vermeide ich es, mit einer Definition des Denkens anzufangen; ich will doch erst finden, was alles Denken ist. Das können uns nur Beispiele sagen.

Werfen wir einen Blick auf die Geschichte des Begriffs "Denken" und analysieren dann unser intellektuelles Seelenleben, so scheinen zwei Bewußtseinserlebnisse denen des Denkens nahe zu stehen: das Vorstellen und das Assoziieren. Seit BERKELEY und HUME ist man unablässig bemüht gewesen, die Unterschiede zwischen Vorstellen und Denken hervorzukehren. Es sei nur an eins der klassischen Beispiele aus dem "Treatise" erinnert. HUME widerspricht den Mathematikern, die beweisen wollen, daß zwei sich kreuzende Geraden immer nur einen Punkt miteinander gemeinsam haben können; denn
    "wenn wir die Voraussetzung machen, daß sich die beiden Linien im Maßstab von einem Zoll auf 20 französische Meilen einander nähern, so sehe ich keine Ungereimtheit in der Behauptung, daß sie bei ihrer Berührung eine Strecke weit zusammenfallen." (Übersetzung Lipps, Seite 71f)
Gewiß, einen einzigen Schnittpunkt können auch wir uns nicht vorstellen, wohl aber denken. Daraus erhellt sich, daß das Denken die Fähigkeiten der Vorstellungskraft übersteigen kann, ja, daß es oft erst dort einsetzen wird, wo das Vorstellen aufhört. (vgl. auch Gs 35, 114). Wenn wir zu diesem Beispiel hinzufügen: die beiden Linien können sich überhaupt nur an einem Punkt schneiden, so setzen wir etwas, was nicht Vorstellung ist. Deswegen entbehrt dieser Vorgang nicht ganz der vorstellungsartigen Elemente: mir schwebt z. B. in diesem Fall ein Linienkreuz mit größerem Winkel vor Augen. Ich verlege aber hinter diese stellvertretende Vorstellung eine Menge analoger unvorstellbarer Fälle; und zwar geschieht dies mit der unbedingten Gewißheit: 2 Linien, die weder parallel sind noch ineinanderfallen, können sich gar nich in mehr als einem Punkt schneiden. Das Denkobjekt erscheint dabei gleichsam in eine unendliche Perspektive gerückt. Eins steht dabei aber fest: wenn der Gegenstand auch unerkennbar fern liegt, - er ist jedenfalls vorhanden. - Einer scharfen Selbstbeobachtung kann nicht entgehen, daß diese Setzung willkürlich ausgeübt wird. Aber gerade darin, daß jeder Denkprozeß mit Willen vollzogen wird (vgl. auch Gs 139, 233), ist eine Abgrenzung gegen die unwillkürlichen Assoziationen möglich.

Besonders an diesen tritt der Unterschied psychologischer und erkenntnistheoretischer Begriffe zutage. Ein Beispiel mag es zeigen: Oft wird die Entdeckung des Neptuns als ein Triumph menschlichen Denkens gefeiert. Ja, psychologisch betrachtet, muß dieses Ereignis keine Denkleistung gewesen sein. Wenn dem Astronomen, der zuerst die Störungen in der Uranusbahn beobachtete, einfiel: "gewöhnlich werden solche Störungen durch die Näher anderer Massen verursacht", - so hat er nur assoziiert, nicht gedacht. Anders läge der Fall, wenn sich der Beobachter gefragt hätte: Wie sind solche Erscheinungen möglich usw. bis zu dem Schluß: Hier muß ein Stern in der Nähe sein.

Auch die Sprache weiß viele derartige Fälle zu unterscheiden: Wir denken etwa an die Begriffe "Erfinden" und "Entdecken". Der Erfinder ist ein mit Willen auf ein ganz bestimmtes Ziel Zustrebender, ein Denkender (auch in einem psychologischen Sinn); nicht so der Entdecker, dem das Neue begegnet wie eine eben assoziativ auftauchende Vorstellung. Von diesem Gesichtspunkt aus hat BERTHOLD SCHWARZ, vorausgesetzt, daß die Fabel recht hat, das Pulver nicht erfunden, sondern entdeckt - war die Auffindung Amerikas durch KOLUMBUS keine Entdeckung, sondern eine Tat. (Nur daß der aufgefundene Erdteil das heutige Amerika war, kann als Entdeckung bezeichnet werden; nicht aber die Auffindung von Land bei westlicher Ausfahrt.)

Schon daraus leuchtet ein, daß in einem psychologischen Sinn von Fall zu Fall entschieden werden muß, ob gedacht oder bloß assoziiert worden ist. Was einer heute mühsam erdacht hat, das ist morgen für ihn zur Assoziation geworden; und einem Verfechter der Assoziationstheorie braucht es nicht schwer zu fallen, alle intellektuellen Leistungen, selbst die der Mathematiker, auf reine Assoziationen zurückzuführen. Man kann sogar der Meinung sein, daß die befruchtendsten Ideen aller größten "Denker" nicht erdacht worden sind, sondern daß sie ihnen eingefallen - d. h. auf assoziativem Weg gekommen sind. Das würde immer noch nicht den Unterschied mit dem tatsächlich vorhandenen Denken aufheben, das wohl auch ein "As-soziieren" ist, aber unter Mitwirkung des Willens. (vgl. auch Def 7)


8. Vorstellen, Assoziieren und
Denken als Funktionen.

Daß uns die formale Logik ein Kriterium an die Hand gibt, das Denken von seinen dienstbaren Funktionen zu scheiden, dürfen wir nicht erwarten. Der formalen Logik ist es gleichgültig, ob ein Satz erdacht oder entdeckt worden ist - sie zerfasert die Struktur der Denkergebnisse und rekonstruiert auch für eine Assoziation ein Urteil oder zwei Prämissen oder einen Begriff, aus denen sie als Conclusio oder Subsumption folgen mußte. - Das ist kein Vorwurf für die Logik. Die Logik tut ganz recht daran, zunächst für die Logik zu arbeiten; ihre Probleme um ihrer selbst willen zu behandeln. Nur soll man dem Erkenntnistheoretiker nicht die Kompetenz für seine Wissenschaft absprechen, wenn "es ihm schwer werden sollte, in der nowendigerweise etwas dünnen Luft der logischen Gedankengänge zu atmen." (Gr 299)

Das erkenntnistheoretisch Elementare kann die Logik in Elementarformen der Logik darstellen (Def 22), so wie RICKERT alle Tatsachen in schlechthin unbezweifelbaren Urteilen enthalten sieht (Gs 132). Die Lehre vom Denken kann dadurch wohl systematisch vereinheitlicht werden; eine wirkliche Förderung erfährt sie aber dadurch nicht, weil die Urteilsakte, welche den Tatsachen unterlegt werden, so primitiver Natur sind, daß sie nicht mehr Denkakte in unserem Sinn sind. In jenem Fall sind für uns nicht nur die Urteile, sondern die bewußten Tatsachen selbst unbezweifelbar. Es ist jedenfalls bezeichnend, daß RICKERT einen Erkenntnisakt so beschreibt: "Ich stelle einen grünen Baum vor und fälle das Urteil ..." (Gs 121). Das Vorstellen geht also dem Urteilen voran.


9. Vorstellen, Assoziieren und Denken
als erkenntnistheoretische Funktionen.

In einem wesentlich anderen Licht erscheint das Denken, sobald es mit einer Vernachlässigung aller rein psychologischen Momente unter dem Gesichtswinkel des Erkenntniswertes betrachtet wird. Das wäre ein rein erkenntnistheoretisches Verfahren. Benutzen wir einmal das Beispiel, das VOLKELT in den "Quellen der menschlichen Gewißheit", Seite 26, anführt, um den erkenntnistheoretischen Begriff des Denkens zu gewinnen:
    "Ich hatte nachts die Gehörswahrnehmung des Heulens und Pfeifens in den Lüften und des Rüttelns an den Fensterläden. Morgens habe ich die Gesichtswahrnehmung: Zweige und Äste liegen in meinem Garten herum. Da stellt sich mir die Vorstellungsverknüpfung her: Der Sturm der letzten Nacht hat diese Verwüstungen angerichtet."
Psychologisch liegt in diesem Beispiel eine Assoziation vor, logisch etwa ein Schluß, erkenntnistheoretisch ein Denkakt. Eine Anzahl Gegenstände waren dem denkenden Subjekt gegeben; es hat mit Hilfe deren einen nichtgegebenen bestimmt. - Es sei aber hervorgehoben, daß der vom Denken bestimmte Gegenstand schon oft als Vorstellung im Bewußtsein vorhanden war.

Ein anderes Beispiel. Ich werde gefragt: Wie verhält sich der Satz des Widerspruchs zu dem des ausgeschlossenen Dritten? - Wiederum ist mir mehrerlei gegeben. Vor allem ist dem Denken ein Ziel gesteckt. Es beginnt auch sogleich seine eigenartige Arbeit: zu vergleichen und nur das auszuwählen, was eine Beziehung herstellen könnte. Endlich ist es am Ziel, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten nur als Umformung des Satzes vom Widerspruch zu erkennen. - Seine Arbeit ist ihm bedeutend schwerer geworden; denn es hat auch im psychologischen Sinn eine Denkhandlung vollzogen. Ja, es ist zu einem Ergebnis gekommen, das zum Teil vorstellbar ist, ihm aber noch nie in dieser Form gegeben war.

Und schließlich noch eine Möglichkeit: Ich suche mir über den Zusammenhang von Leib und Seele klar zu werden. Viele Tatsachen sind mir gegeben: daß bei Überanstrengung des einen Teils der andere in Mitleidenschaft gezogen wird, daß mit dem leiblichen Tod auch das Seelenleben aufhört, daß bei Irrsinnigen oft physiologische Ursachen aufgewiesen werden können usw. Sobald ich aber die beiden Welten des Physischen und Psychischen einander so nahe bringe, daß nur noch ein Übergang vom einen zum andern nötig ist, da versagt mein Vorstellen, in diesem letzten Punkt sogar mein Denken. Eine derartige Umsetzung des Physischen ins Psychische ist noch niemals in der Erfahrung gegeben gewesen. Dennoch zweifelt aber niemand daran, daß der Zusammenhang besteht. Er wird eben gedacht - muß sogar gedacht werden. Das Denken hat eine ganz bestimmte Richtung angenommen: Hier, genau zwischen dem, was ich eben noch leiblich und eben noch geistig nenne, da muß das liegen, was ich meine.

Oder vergegenwärtigen wir uns den kosmologischen Gottesbeweis: Jede Ursache für ein Sein wird wieder als Wirkung betrachtet, bis schließlich für das Weltganze eine Ursache in unserem Vorstellungskreis fehlt. Da stellt das Denken die rückschreitende Tendenz noch nicht ein, sondern weist, gestützt auf die allerletzten Gegebenheiten eines Seins, auf eine unerkennbare letzte Ursache. Es sagt nicht etwa: Hier kann das liegen, was ich suche - oder auch da. Nein, unbeirrt zeigt es auf denselben Fleck, der ihm leider im Nebel verhüllt erscheint. Welches freilich die letzte Ursache ist, kann durch eine solche logische Gedankenfolge nicht bestimmt werden. Nur die Unentbehrlichkeit einer Ursache kann gezeigt werden (vgl. auch Gr 18: "In dem Nachweis ihrer Unentbehrlichkeit (der Transzendenz) mündet die Logik in eine allgemeine Weltanschauungslehre.") Den gleichen Dienst leistet das Denken dem Mathematiker, der sich vergeblich mühen würde, sich eine Million vorzustellen, und der für eine konvergente unendliche Reihe den Limes setzt - dem Physiker, wenn er den Körper aus Molekülen - dem Chemiker, wenn er eine Verbindung aus Atomen zusammengesetzt sein läßt (Gr 582). - In diesen Denkprozessen tut sich das Sollen nicht so unmittelbar und nicht so ausschließlich kund, wie in bloßen Anerkennungen von Tatsachen. Hier ist das Denken wirklich ein Hervorbringen, Erzeugen, wenn auch nicht im Sinne COHENs. "Denken" (gebraucht wie Gr 315) ist mehr als Bejahung und Verneinung. Es ist ein Verknüpfen aufgrund des Identitätsgesetzes; eine Vereinigung von Bewußtseinsinhalten aufgrund sachlicher Notwendigkeit. Das Denken ist nicht damit erklärt, daß man die Wirklichkeit oder schon das Gegebene ein Denkprodukt nennt und nun eine Formenreihe angibt, in der sich der Denkprozeß bewegt haben muß. Es verläuft durchaus nicht so ideal einfach. Denken ist tatsächlich ein Schaffen (Denken als Schöpfung, als lebendiger Prozeß; Nat Phil), ein inniges Zusammenarbeiten von zuströmenden Inhalten nach Notwendigkeitsformen zu anschaulichen oder begrifflichen Gebilden. Neue Inhaltsmomente treten hinzu: das Erzeugte ausgestaltend oder ihm widersprechend. In so einem ernsten Wechselspiel bereitet das Denken eine Erkenntnis vor. Daß die Wahrheit aber nicht nur erdacht werden kann, ihren Prüfstein also nicht allein in der Denknotwendigkeit haben kann, zeigt folgender echt wissenschaftliche Erkenntnisprozeß: der "metodo risolutivo" GALILEIs (vgl. ALOIS RIEHL, "Logik und Erkenntnistheorie", in HINNEBERG, Kultur der Gegenwart I, VI, 1908, Seite 85) Er gelangt nach Beobachtungen durch logisches Verfahren zu der Einsicht in die Fallgesetze. (Er hatte sie mit Notwendigkeit erschlossen. Freilich, der sich Irrende, wie der Anhänger des ptolemäischen Systems, denkt auch logisch richtig. Vgl. auch SCHELER Meth. "Soweit wir eben denken (und nicht etwa phantasieren), denken wir auch richtig.") Nunmehr hat GALILEI einen leitenden Gesichtspunkt für die Auswahl aus der Heterogenität des Mannigfaltigen (Gr 59). Er geht hin und findet am Versuch seine Überlegung bestätigt. Von jetzt an erst ist seine Einsicht, sein Urteil wahr.

Völlig rationalisiert wäre diese aus dem Erfolg entspringende Notwendigkeit, wenn sich eine Tatsache auch noch als Denkform begreifen ließe. Das versucht RICKERT, wenn er alle Tatsachen in Urteile gefaßt denkt und die Formen der vollzogenen Urteile als Erzeugnisse von Kategorien und Normen erweist (vgl. auch PAUL NATORP, "Kant und die Marburger Schule", Kant-Studien, Bd. 17, Seite 206: "Aber wie will man leugnen, daß die Aussage, welche das Ergebnis des Experiments formuliert, aus Denkbestimmungen, nichtsl als Denkbestimmungen sich zusammensetzt?") Da diese Urteile aber ganz anderer Natur sind, von ganz anderem Erkenntniswert als die in den obigen Erkenntnisprozessen verwendeten Denkakte, können wir das Urteilen nicht mit RICKERT ein Denken nennen und die Wahrheit nicht, wie er, aus der Urteilsnotwendigkeit allein, d. h. aus einem Sollen, ableiten. Oder - und darauf kommt es uns besonders an - das Urteil darf nicht mehr bloß als Form des Erkennens betrachtet werden, sondern auch daraufhin, was es meint, auf seinen Gehalt. Wesentlich für die Erkenntnis ist ja das Urteil nicht nur als Bejahung und Verneinung, sondern auch durch seinen Gegenstand und durch dessen mitgedachte Bezüglichkeit (Intentionalität). Die Feststellung, daß das Urteil als vollständiges Urteil ein Erkenntniselement ist, hilft uns aber wieder nicht weiter, weil ein solches Urteil schon wieder ein Gemisch von Erfahrung und Denken ist.

Um aber dem Verdacht zu begegnen, ich überschätzte die Fähigkeiten des Denkens, füge ich hinzu, daß alle oben skizzierten Denkprozesse nur Analysen sind; Analysen wie mathematische Aufgaben welche sind (vgl. BÜHLER, "Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge", I. Über Gedanken, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. IX, Seite 360). Es ist gerade soviel gegeben, daß etwas bestimmt werden kann. Aber so gut mathematische Aufgaben gelöst werden können, weil die Bestimmung rein quantitativer Art ist, so kann z. B. in einem Gottesbeweis auch nur festgestellt werden, daß noch eine letzte Ursache vorhanden sein muß. Dieses "daß" ist nichts Qualitatives, sondern etwas Quantitatives (vgl. hierzu MEINONG, Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften,Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 129, Seite 77: "Man findet eben zwei grundverschiedene Arten von Einsicht; eine in das warum, eine sozusagen in das nackte daß.") Das Denken kann Inhalte bearbeiten und - wie die ganz freie Phantasie - mit deren Elementen Neues erzeugen; nie und nimmer darf es aber diese Produkte ohne Weiteres als auch für die Wirklichkeit gültig bezeichnen. Synthesen, die für die Wirklichkeit gültig sein sollen (d. h. Hypothesen), bedürfen erst der Verifizierung an der Wirklichkeit. Insbesondere erfordert jeder Analogieschluß der für die Wirklichkeit gelten soll, seine Nachprüfung.

Wer nun aber wieder meint, das sei eine Unterschätzung des Denkens, den weisen wir auf die äußerst bedeutsame Rolle hin, welche dieses "daß" in den höheren Erkenntnisprozessen spielt. Das Denken ist der eigentliche Treiber in der Erforschung eines Gegenstandes; es weist immer auf neue Möglichkeiten hin und ist so das eigentliche Korrelat des zweifelnden "ob". Fragt dieses "ob" nach einem Wirklichkeitsgegenstand, welcher bisher der Erfahrung noch nicht zugänglich war, so kann die Erkenntnis nur durch ein "Erleben" des Gegenstandes (Gs 221; Log II 157), durch ein auf Wahrnehmungsevidenz gegründetes Erfassen erbracht werden, wofür es übrigens ganz gleichgültig ist, aus welchen speziell logischen Formen diese Erkenntnis abgeleitet gedacht wird. Aber: daß ein Gegenstand vorhanden sein muß und die damit verbundene Frage des Denkens nach dem Gegenstand einerseits - und die Wahrnehmung des Gegenstandes selbst andererseits sind die erkenntnistheoretischen Konstituenten der Erkenntnis. Die wissenschaftliche Forschung vollzieht sich in einer Wellenkurve. Von einem Schnittpunkt mit der Wirklichkeitslinie geht sie aus, hat im Denkakt die Phase ihrer Lebensferne (Log II 157) und senkt sich wieder zu einem neuen Knoten mit der Wirklichkeit. Es läßt sich höchstens noch hinzufügen, daß die Begriffskreise nicht immer gleich groß sind (vgl. KuNa 34: "Wir können also mit den Begriffen nur Brücken über den Strom der Realität schlagen, mögen die einzelnen Brückenbogen auch noch so klein sein.") Liegen alle Erfahrungen über einen Gegenstand vor, dann kann man manches von ihm wissen, ohne zu sehen, d. h.: man kann sich manches zu Bewußtsein bringen, was einer oberflächlichen, unanalytischen Betrachtung entgeht. In solchen Fällen, wo dem Denkenden alle erforderlichen Gegebenheiten vorliegen, braucht er nicht mehr zu sehen, sondern nur noch "einzusehen". Und wenn sich die von umfassender Tatsachenkenntnis aus vollzogenen Schlüsse auf die Wirklichkeit beziehen, wie wenn der Astronom eine Finsternis vorhersagt, kann man von einem Sehen in dem Sinne sprechen, den dieses Wort im Ausdruck "Seher" erhalten hat.


10. "An etwas denken".

Daß auch alle (diese) höheren Erkenntnisprozesse - psychologisch gesprochen - auf Assoziationen beruhen können, habe ich bereits erwähnt. Aus diesem Grund tritt in der Erkenntnistheorie der Unterschied von Assoziieren und Denken zurück (vgl. WINDELBAND, Präludien III, 265). Es muß aber davor gewarnt werden, den Ausdruck "an etwas denken" erkenntnistheoretisch zu verwenden; denn solange ich von der bloßen Möglichkeit eines Gegenstandes spreche, solange denke ich ihn noch nicht. In MEINONGs Ausdrücken könnte man sagen, ein seiendes Objektiv verlangt noch kein seiendes Objekt - und könnte dies an negativen Urteilen und den Beispielen vom runden Viereck und goldenen Berg nachweisen.


11. Eine Parallele des
psychologischen und des

erkenntnistheoretischen Denkbegriffs.

Eine Parallele zwischen dem psychologischen und erkenntnistheoretischen Begriff des Denkens zeigt sich aber darin, daß jeder Denkende von Vorstellungen bzw. von etwas Gegebenem ausgehen muß (vgl. Gs 183). Wenn behauptet wird, man könne sich einen viereckigen Kreis oder eine Welt aus Flächen bestehend denken, so glaube ich es nicht; mir zumindest fehlen dazu die Hilfsvorstellungen. Treffend sagt WINDELBAND in seiner akademischen Antrittsrede "Über Denken und Nachdenken", 1877:
    "Ebenso wie wir in der Rechnung jedes X nur bestimmen können, insofern es in bekannten funktionellen Verhältnissen zu bekannten Größen steht, so kann auch in allen unseren Gedanken Unbekanntes nur von Bekanntem aus gesucht werden. Es liegt im Begriff des Findenwollens, daß man mit einer Anzahl bekannter Vorstellungselemente ein bisher Unbekanntes zu bestimmen hat: ins Blaue hinein kann niemand nachdenken - wenn auch nicht zu leugnen ist, daß mancher beim Nachdenken ins Blaue hineingerät."
Dazu MACH, "Erkenntnis und Irrtum" (zweite Auflage, Seite 2):
    "Den Zug er gedanklichen Ergänzung einer Tatsache aus einem gegebenen Teil hat das wissenschaftliche Denken mit dem Vulgären gemein."
Auch bei RICKERT bedingen sich Erfahrung und Denken wechselseitig (vgl. Gs 8 und SCHLUNKE, 61: "Ein Denken, das mit Nichts beginnen wollte, könnte auch niemals von der Stelle kommen." Vgl. auch Zw 175:
    "Ebenso gewiß hängt die Richtigkeit unserer Gedanken nicht nur von diesem Inhalt, sondern auch von den Auswahl- und Anordnungsprinzipien des Erkennens ab.");
aber nach ihm geht das "logische" Denken als Urteilen der Erfahrung begrifflich voran (Gs 182, 185). Es liegt dieser Auffassung eben eine ganz eigenartige Definition des Denkens zugrunde.

Eine andere Ähnlichkeit des psychologischen und erkenntnistheoretischen Begriffs vom Denken sehen wir im Gerichtetsein des Denkens. (Bei RICKERT richtet sich das Urteilen nach seinem Gegenstand (Gs 116, 124); meiner Meinung nach auf seinen Gegenstand.) Dort ist es der Wille, der das Bewußtsein auf ein ganz bestimmtes Ziel hinlenkt oder der einen Zustand im Bewußtsein herbeiführt, wo, eine bestimmte Vorstellungsverknüpfung stattfinden kann - hier es etwa die Kategorie der Kausalität, jedenfalls auch ein Zwang, in RICKERTs Sinn eine Norm. Und wie schön hat nicht die Sprache dieses Nachgehende des Denkens im Wort "nachdenken" versinnlicht!

Wenn man sich den erkenntnistheoretischen Sinn des Denkerlebnisses klarmachen will, der etwa im "Verstehen" vorliegt, so denke man an die Leistung, welche die Aufmerksamkeit (der Wille) beim Lesen eines Buches vollbringt. Sie hat das Subjekt in dauernden Kontakt mit dem Sinn des Gelesenen zu setzen und zwar in einem sich immer wiederholenden Akt der Gegenüberstellung. Und wie vielerlei hat sie immer zu absorbieren, um diese Beziehungen von Subjekt und Objekt nicht zu stören! Mindestens drei Welten hat sie fernzuhalten: Erstens die Umwelt, zweitens die Welt der Buchstaben und die Gegebenheit des Buches, drittens die unberufene Assoziationswelt, die besonders von einzelnen Wörtern hervorgerufen wird.

Worauf es uns bisher ankam, war dies: zu erweisen, daß das Denken fähig ist, die Grenzen der Vorstellungswelt zu überschreiten - vom Gegebenen aus sich auf Ungegebenes einzustellen. Lediglich die Tatsache des Gerichtetseins im Denkvorgang sei hier ins Auge gefaßt; denn schon mit dieser Erkenntnis können wir an eine Lösung unserer logischen Schwierigkeiten herantreten. Ob also die Gegebenheiten, von denen das Denken ausging, schon Anerkennungsurteile sind und das Denken selbst nur ein Urteilen ist, wie RICKERT behauptet - oder ob die vom Denken eingehaltene Richtung apriorisch vorgezeichnet war - oder ob die Denkhandlung mit einer geradezu realisierenden Gewißheit vollzogen wird - das ist vorläufig nebensächlich.


12. Denkbarkeit eines Realen.

Es fragt sich jetzt: Darf das Denken, in dessen Struktur das Tendieren auf ein Nicht-Mitgegebenes liegt, den entscheidenden Sprung ins Reale wagen? Läßt sich ein Richtunggebendes finden, wonach das denkende Subjekt in das Land der Realität zeigen kann? - Ich meine, wenn die Unabhängigkeit des realen Daseins von der Repräsentation im Bewußtsein ein Kriterium der Realität ist, dann lassen sich in unserem Bewußtsein Erscheinungen aufweisen, die dem denkenden Subjekt ein Wegweiser sein können, um sich vom Boden der Immanenz aus auf ein Jenseits des Bewußtseins richten zu können; Erscheinungen also, die es dem Denken ermöglichen, ein vom denkenden Bewußtsein Unabhängiges zu setzen. Ob diese Erscheinungen wirklich vom denkenden Bewußtsein unabhängig sind, ist unwesentlich. Jedenfalls erscheinen sie dem Subjekt so. Gibt es aber solche Erscheinungen, dann kann das Denken dieselbe Form der Unabhängigkeit vom denkenden Bewußtsein auf jeden anderen Gegenstand anwenden - und braucht ihn nur noch mit der Form der Substanz auszustatten, um ihn real zu machen. - Wir erinnern nun an die Passivität, in der sich oft das Selbstbewußtsein dem Vorstellungsverlauf gegenüber befindet - an Gefühle, die sich unwillkürlich einstellen, an die Widerstände, denen das Denken in seinem Streben begegnet. Sie alle zeugen von einer gewissen Unabhängigkeit mancher Bewußtseinsinhalte vom Subjekt. Von diesen Tatsachen aus scheint der Schritt des Denkens hinüber auf den Boden des Realen nicht mehr so groß; denn die Form der Unabhängigkeit vom denkenden Subjekt wird dem Denken in diesen Erscheinungen gegeben. Es ist nicht einzusehen, warum es dem abstraktionsfähigen Denken, welchem von jedem Begriff zugemutet wird, von Einzelbestimmtheiten abzusehen und etwas zu meinen, von dessen Unvorstellbarkeit man seit BERKELEY überzeugt ist - warum es diesem Denken unmöglich sein sollte, sich einmal unter Vernachlässigung alles Immanenten auf etwas Transsubjektives zu richten. Wenn es außerdem RICKERT für möglich hält, daß sich das Denken auf Unwirkliches richtet, das doch auch nicht psychisch ist, warum soll es sich nicht auf Reales richten können? - Wie auf einer Landzunge gehen wir im Denken hinaus - und zeigen auf eine Insel im Meer, die uns nicht sichtbar ist, von deren Existenz wir aber dieselbe Gewißheit haben, wie KOLUMBUS von derjenigen des gesuchten Landes. Diese Erkenntnis ist weder das Abbild der Wirklichkeit, noch wollen wir damit eine völlige Übereinstimmung der Urteile mit der Wirklichkeit herbeiführen (Gs 188). Wohl aber wird die Wirklichkeit gemeint, und nicht erst ein geistiges Zwischenprodukt. Auch ist der Ausdruck "vorgestelltes Sein" (Gs 119) nur eine grobe sprachliche Bezeichnung für das beim Vorstellen "Mitgedachte" (LOTZE und VolkED 173) und Mitgefühlte: nämlich, das Mitdenken und Gewißsein des transzendent Entsprechenden, dessen, worauf bezogen wird. (vgl. VolkED 33; FRISCHEISEN-KÖHLER, Wi 129f) Und zwar ist das Mitgedachte so eng mit der Vorstellung verknüpft wie die Harmonien, welche zu einer Melodie mitgedacht werden; die Logik freilich interessiert sich allein für deren Rhythmus. Besäße auch die Sprache keine anderen Ausdrücke als solche, die sich auf die immanente Wirklichkeit bezeiehen (Gs 153), so wäre mit dieser Feststellung noch nicht viel gesagt. Auch sind Mathematik, Physik und Rechtswissenschaft, die wohl als daseinsfreie Wissenschaften behandelt werden können, doch nicht die einzigen Wissenschaften (Gs 155) und auf ihren Wissenschaftscharakter hin erst zu prüfen. Nur unsere Vorstellungen ansich, d. h. soweit sie Gegenstandsbilder sind, enthalten nichts von transzendenter Notwendigkeit und gehen völlig darin auf, Bewußtseinsinhalt zu sein (Gs 131). Die gedachte Wirklichkeit aber ist mehr als das als seiend Beurteilte (vgl. Gs 120, 162). Die Logik braucht in dem einen Wort Entsprechenden nur eine Summe von Urteilen zu sehen (Def 61); nicht aber der Erkenntnistheoretiker; denn in den Urteilen, welche sich auf Reales beziehen, wird zugleich das "auch außerhalb des Bewußtseins Existieren" bejaht. Und daher ist das transzendente Sein nicht problematisch (Gs 132). In Existenzialurteilen wird nicht der Urteilsinhalt, sondern der (unter Umständen reale) Gegenstand als seiend bezeichnet und gemeint. Für den alltäglichen Verkehr mag es genügen, lediglich Begriffe im Urteilen zu verbinden. Der Sinn des Urteils: "Jesus hat gelebt", ist aber nicht: daß wir das Gelebthaben Christi positiv setzen; wir meinen außer diesem Gehalt einen realen Gegenstand, einen Menschen, von dem es möglich war, daß Menschen wie wir welche sind, ihre Finger in seine Nägelmale legten.

Es ist nur zu begreiflich, daß RICKERT, der doch auf die Beziehungen der Sinneseindrücke auf Objekte verzichtet, auf der Gegenseite, in gewissem Sinne in der gespiegelten Ansicht, einen Gegenstand finden muß, welcher der Wirklichkeit Allgemeingültigkeit verleiht:k eben Werte. Und wie ihm die Logik mit ihren Urteilselementen zu Hilfe kommt, ist nicht weniger leicht einzusehen; da Werte urteilend anerkannt werden müssen. Ich gebe immer wieder zu, daß "wir urteilen, so oft wir eine Erfahrung machen. Erfahrung ist ein Urteil, das durch die Wahrnehmungen ein Objekt bestätigt" (RIEHL, a. a. O., Seite 95); nur muß man eben auch wieder bedenken, daß diese Urteile von ganz besonderer Art sind, und darf darum nicht auf sie Theorien gründen, die nur von wirklichen vollzogenen ("empirischen") Urteilen gelten könnten. Man kann nicht ohne Weiteres an ihnen vier Momente aufzeigen wollen, welche jedes synthetische Urteil auch hat. Oder man gibt zu, daß diese "ursprünglichen Urteile", wie KANT sie nennt, ihren Sinn darin haben, die Erscheinungen auf ein Objekt zu beziehen, so daß sie also tatsächlich ein Objekt voraussetzen, um gelten zu können.


13. Die Seinsgültigkeit des Denkens

Ob das denken eines Realen Seinsgültigkeit beanspruchen kann, ist eine ganz andere Frage. (vgl. HUSSERL, Jahrbuch 93: "Zwischen Bewußtsein und Realität gähnt ein wahrer Abgrund des Sinnes.") Es ist der Punkt, an dem VOLKELT in gewissem Sinn der Philosophie des Als-ob ein offenes Zugeständnis macht, indem er sagt:
    "Das Denken fordert nur, daß seine subjektiven Verknüpfungen für das Transsubjektive gelten, und auch die Erfüllung seiner Forderung besteht für das Denken in nichts anderem als eben in der Gewißheit der Forderung selbst." (auch VolkQ 75); -
und "daß (das Denken) trotz der Unvollziehbarkeit der Forderung die Sache doch so anzusehen hat, als ob die Forderung erfüllt worden wäre." (vgl. auch VolkED 181f) Vor allem sei nachdrücklich darauf hingewiesen, daß aus der Tatsache, daß in den Urteilen Transsubjektives gemeint wird, noch lange nicht geschlossen werden darf, daß es etwas Transsubjektives geben muß. Urteile können nur fordern und sind, sie mögen mit Notwendigkeit vollzogen werden, noch keine Bürgen der Wahrheit. Allem, was wir für selbstverständlich halten, weil es denknotwendig ist, haftet der Charakter des Positionellen, des Erzeugten, des "Aus-uns-geboren-seins" an; und das leise Bewußtsein der Unsicherheit, welches sich ankündigt in der Frage, ob es nicht auch anders sein kann, nimmt eben dem Urteil die Unbezweifelbarkeit (vgl. VolkED 185). Jene echt menschliche Not, glauben zu müssen, wo nur gesollt wird; Wahrscheinlichkeit zur höchsten Gewißheit zu machen: sind typische Begleiterscheinungen des Denkens (vgl. VolkED 158: wonach sich die Forderung des transsubjektiven Minimums mit der logischen und sachlichen Notwendigkeit deckt). Sie fehlen der Wahrnehmung; die nur hingenommen werden kann. Es ist eine der obigen ähnliche Selbsttäuschung, zu glauben, man könne da noch sollen, wo ein Müssen besteht. Die mit der Gegebenheit verbundene Unbezweifelbarkeit, die dem bejahenden oder verneinenden Urteil gar nicht mehr unterworfen ist, wird daher ganz richtig als irrational bezeichnet. Auf das Transzendenzproblem angewandt, heißt das: solange das reale Sein nur gedacht und nicht als Gegebenheit wahrgenommen wird, dürfen wir allerdings nicht von mehr sprechen, als von Denkformen des Seins, Kategorien des Seins.

Es soll hier aber nicht weiter erörtert werden, welche Bedeutung das Zwingende, das RICKERTsche Sollen, die Notwendigkeit, mit der das Denken auf seine Gegenstände zugeht und sie verknüpft, für eine Realisierung fernerhin haben kann. Nur darauf sei nochmals verwiesen, daß die Gewißheiten, mit denen solche Realisierungen vollzogen werden, nur Gewißheiten zweiten Grades sein können, mehr als Wahrscheinlichkeitswissen (VolkED 80), doch nicht mehr als ein starker Glaube (VolkED 136). Diese Gewißheit der Transzendenz gleicht derjenigen einer Hypothese, etwa der Hypothese von der Umdrehung der Erde. Wir nehmen jene nicht wahr, aber die Annahme einer solchen ist die einzige Art, gegebene Tatsachen restlos und unwidersprochen zu erklären.

Das ist auch die einzige Antwort, die wir auf die Argumentation WILHELM SCHUPPEs, des bekannten Anwalts des Konszientialismus, geben können. Er streitet ja dem Denken seine Eigenart als eines Meinens nicht ab und weiß Bewußtseinsinhalt und Bewußtseinstendenz wohl auseinanderzuhalten. Aber, sagt er, das Abzielen des Denkens ist von den Schranken des Bewußtseins völlig einbezirkt; seine Richtungslinien können die Bewußtseinsgrenzen nicht überlaufen. "Sein" ist ja gleichbedeutend mit "Bewußt-sein". Es kann eben nichts gedacht werden, dessen Objekt nicht Bewußtseinsinhalt ist; - weshalb der Gedanke eines ungedachten Gegenstandes zu einem Unding wird.

Und nun zurück zum konszientalistischen Syllogismus. Wir wollten untersuchen, ob der Gegenstand des Denkens gleichbedeutend ist mit einem Gegenstand, der Bewußtseinsinhalt ist. Diese Frage ist entschieden verneint worden. Somit ergibt sich, daß jener Schluß eine quaternio terminorum [Fehlschluß durch zwei verschiedene Mittelbegriffe - wp] enthält, womit die logische Schwierigkeit in der dialektischen Wendung des Einwurfs beseitigt ist. Freilich begegnet uns in dessen erkenntnistheoretischer Fassung ein noch ungeklärter Begriff: der des Gedankens. Was ist ein Gedanke?


14. Der "Gedanke".

Was finde ich in meinem Geist vor, wenn ich etwa von einem Gedanken der Entwicklung spreche? Mir persönlich steht in diesem Augenblick das Wortbild "Entwicklung", dahinter, wenn auch nicht so deutlich, das des Namens "Darwin" vor Augen, und daran schließt sich mit abnehmender Klarheit eine ganze Reihe von Gegenständen an, die ich mir bei aufmerksamer Betrachtung zu Bewußtsein bringen könnte. Dabei habe ich das Gefühl, daß alles, was hinter der stellvertretenden Vorstellung im Dunkel liegt, eine Einheit bildet. Erkenntnistheoretisch würde das heißen: Ein Gedanke bezeichnet mit einer einzelnen Gegebenheit die Summe all derjenigen begrifflich zusammenhängenden Gegenstände, deren sich das Denken bei fortschreitender Erkenntnisarbeit bemächtigen könnte. (vgl. Def 24 über "allgemeine Vorstellung" und 47 über "den Begriff als eine ruhend gedachte Summe von Urteilen.") Diese Zusammenfassung der Möglichkeiten unter einen Gedanken hat VOLKELT nachdrücklich betont (VolkED, 379f); wie er auch überhaupt der eigentümlichen Bewußtseinshaltung, die er als "Gewißheit von der Möglichkeit" bezeichnet, eine große Bedeutung für die Auffassung der Bewußtseinsprobleme zuschreibt (vgl. Volkaest III, 44). Von BÜHLER wird diese Meinung verworfen. Er erklärt den "Gedanken" in engem Anschluß an KÜLPE als das "Wissen um etwas". KÜLPE wiederum weist dort, wo er von den Wasbestimmtheiten spricht (Realisierung I, 88), auf Ergebnisse der experimentellen Psychologie hin, die festgestellt haben will, daß die Bilder "beim Denken an Gegenstände" fehlen könnten (vgl. Def 52, Bü 318: "Es gibt Gedanken, ohne jede nachweisbare Spur irgendeiner Anschauungsgrundlage." 321: "Ich behaupte ..., daß prinzipiell jeder Gegenstand vollständig ohne Anschauungshilfen bestimmt gedacht (gemeint) werden kann." ) Er meint damit die Arbeit BÜHLERs über "Gedanken", welcher die eben angeführten Sätze entnommen sind. Nach den Protokollen aber (z. B. Seite 318f), aus denen der obige Schluß über bilderlose Gedanken gezogen wurde, haben die Bilder in solchen Gedanken durchaus nicht gefehlt; wie z. B. "Non-A" und "A", Begriffe "Frucht" und "Blüte", und wenn es auch nur räumliche Gedankenanordnungen gewesen wären. Das sind nur Rudimente [Bruchstücke - wp] ehemalig vollwertiger Anschauungsinhalte. Diese werden natürlich mit der Zeit durch Begriffeund andere denkökonomische Mittel übersprungen (vielleicht ist der Gedanke selbst so entstanden). BÜHLER meint jedenfalls, daß es möglich ist, einen Gedanken, nachdem er gefaßt worden ist, einen Augenblick lang vorstellungslos als ein undeutliches Gebilde im Bewußtsein halten zu können. - Zudem verlieren all diese experimentellen Versuche, in so idealer Zusammenarbeit von Gelehrten sie ausgeführt worden sein mögen, den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, eben weil sie nur unter Gelehrten ausgeführt wurden. BÜHLERs Arbeit gewinnt durchaus nicht durch die Eröffnung: "Meine Versuchspersonen waren Professoren und Doktoren der Philosophie." (304). Eben weil wir die Professoren KÜLPE und DÜRR so hoch schätzen, mußten sie schlechte Versuchspersonen sein, zumindest für eine Untersuchung, die zu allgemeinen Ergebnissen führen sollte. Die dauernde geistige Arbeit mechanisiert den Gedankenlauf in zu hohem Maß. Es sei mir erlaubt, an einen Fall zu erinnern, der sich bei einer ähnlichen Untersuchung unter Leitung des Herrn Dr. BRAHN zutrug. Es wurde gefragt: "Was stellen Sie sich vor, wenn ich sage: Wald!" und ein nach Sekunden gefragter Professor (Herr K. P.) antwortete: "Verzeihen Sie - nichts. Mein Geistesleben ist zu abstrakt geworden." (vgl. Log III 243; Gr 45).

Nunmehr gälte es, den Gedanken als eine logische Form zu bestimmen (der logische Sinn des Wortes "Gedanke" scheint mir von RICKERT ganz treffend als "Bedeutung" wiedergegeben zu werden. Zw 195). Ich meine aber nun, daß der konszientialistischen Formulierung der besprochenen logischen Schwierigkeit kein Zwang angetan wird, wenn das Wort "Gedanke" durch den in der formalen Logik gebräuchlichen Ausdruck des "Begriffs" ersetzt wird; wobei ich mir nicht verhehle, daß sich die Begriffe "Gedanke" und "Begriff" nicht decken (Def 25). - Da nun das Denken auf Gegenstände abzielen kann, die nicht Bewußtseinsinhalte sind, so kann es zunächst Gedanken, die ansich ebenso wie das Denken bewußtseinsimmanent sind, auch von ungedachten Gegenständen geben. Zum andern aber enthält der Begriff eines ungedachten Gegenstandes keine sich widersprechenden Merkmale, selbst wenn es nur bewußtseinsimmanente Gegenstände geben sollte.


15. Rickerts Stellung zur
Denkbarkeit des Realen.

In diesem Ergebnis stimme ich also mit RICKERT überein. RICKERT hat die Schwierigkeit mit rein logischen Mitteln überwunden; und daß das Urteil die logische Urform des Denkens ist, bezweifeln wir nicht. Die Denkbarkeit, d. h. die Möglichkeit eines Transzendenten, das nicht Bewußtseinsinhalt ist, kann von nun an nicht mehr in Frage gestellt werden. Allerdings ist RICKERTs Begriff der Verneinung (Gs 34) so weit, daß das Negierte als Gegenstand noch nicht eindeutig bestimmt ist. Über das Transzendente selbst ist darin noch nichts festgestellt. RICKERTs Beweis sagt nur: der Begriff des Transzendenten ist denkbar. Ich habe in meiner umständlicheren Darlegung gezeigt: ein transzendentes Sein, ein transsubjektives Reales ist denkbar. Hierin unterscheiden sich die zwei Beweisgänge. Natürlich könnte hierauf geantwortet werden: "Die Kategorie der Gegebenheit gilt eben auch für dasjenige Denken, welches in einen Akt des Sehens und Meinens ausgeht. Wir können nichts anderes als Seiendes erschauen und meinen. Realität und Wirklichkeit selbst sind nur Erkenntnisformen." (Log II 157). Der Satz: "Dieses Blatt Papier ist wirklich", heißt logisch, daß diesem wahrgenommenen oder erlebten Inhalt die Form Wirklichkeit zukommt. (Log III 239) Das Sein ist die Maja, der Schleier, womit ein Inhalt überworfen wird, sobald er die Schwelle des Bewußtseins überschreitet. Das vorgestellte Rot ist identisch mit einem vorgestellt seienden Rot (Gs 119). Als Kategorie wird das Sein allgemein und notwendig auf alle Inhalte bezogen und dadurch überhaupt erst das Gegebene erzeugt. "Die Formen der Wirklichkeitsurteile sind ja zugleich die Formen der Wirklichkeit selbst, von er die Urteile etwas aussagen (Gs 170), doch nicht etwa, "wirkliche" oder "seiende" Formen (Gs 171, 175, 202).

Zunächst könnte daraufhin gefragt werden, ob es nichts "Daseinsfreies" gibt und ob andererseits ein Wert vom Sein frei gedacht werden kann. Warum soll, solange Transzendentes denkbar ist, nicht auch eine transzendente Realität denkbar sein? (vgl. Gs 244) Vor allem aber ist noch nicht erwiesen, ob das Sein nur Kategorie ist, ob das Substantielle an der Wirklichkeit nur Form der Erkenntnis ist (Zw 177) - ob es nicht wenigstens eine besondere Form ist, die erlebt wird, oder richtiger: falls KANT recht hat, aß das Sein kein reales Prädikati ist, das zum Begriff eines Dings hinzukommen kann, dann muß es mehrere Kategorien des Seins geben, z. B. eine für das wirkliche Sein der hundert Taler und eie für deren mögliches Sein (vgl. Zw 178 über Verschiedenheit von Gedanke und Wirklichkeit). Damit ist aber noch nicht auf die Annahme verzichtet, daß es ein Reales auch wirklich (d. h. substantiell) gibt; sondern wir haben nur die logischen Formen davon abzulösen versucht. Es wäre doch ein Widerspruch, Formen aufzeigen zu wollen, denen kein Inhalt entspricht. Form und Inhalt sind ja, wie Subjekt und Objekt, Beziehungsbegriffe (vgl. auch Zw 179).

RICKERT sagt von der Kausalität:
    "Das Band (zwischen Ursache und Wirkung) läßt sich niemals in den vorstellungsmäßigen Bestandteilen des Urteils auffinden, denn vorstellen kann man den Zusammenhang oder das Band zwischen Ursache und Wirkung nicht, sondern es steck nur in der Bejahung, also in der Form des Urteils, die das Aufeinanderfolgen von Ursache und Wirkung als notwendig behauptet." (Gs 196) -
Die Bejahung setzt aber schon die kausale Beziehung voraus; sie ist noch nicht das Band selbst. Was ist aber dann Kausalität, wenn sie nicht vorstellbar und auch keine Form des Urteils ist? - Wer bürgt schließlich dafür, daß die kausale Gesetzlichkeit nicht zum transsubjektiven Minimum gehört? (vgl. dazu Log I 4: "Kausalität ist eine Form des erkennenden Subjekts ...")

Der vorsichtige Erkenntnistheoretiker sagt: Die Transsubjektivität der Kausalität kann nicht bewiesen werden; Kausalität gilt zunächst nur als Prinzip der Erfahrung der Dinge (RIEHL, a. a. O. 96). - Damit ist aber nur die notwendige Haltung des Subjekts gegenüber einem noch völlig Unbestimmten angegeben.

Das Verhältnis des Denkens zum Sein, wie es RICKERT in seiner Abhandlung über die Definition in Anlehnung an SIGWART ausspricht, ist von der reinen Logik aus sicher ganz richtig formuliert. Die Erkenntnistheorie kann und braucht sich aber nicht damit zu begnügen. Was apriorisch bedingt ist, braucht deshalb noch nicht bloß eine apriorische Bedingung zu sein. - Wenn schließlich im "Sinn" eines Prozesses ein non plus ultra [mehr geht nicht - wp] gesehen wird, so muß ich allerdings sagen, daß es tatsächlich im Sinne unseres Denkens liegt, ein Seiendes zu erkennen. Im Sinne des vorgestellten seienden Rot liegt der Nebengedanke: dieses Rot ist nicht nur Vorstellung; das Sein ist nicht nur die Form des Existenzialurteils (vgl. Gs 170).

Die rein kategoriale Erkläung der Objektivität ist aber bei RICKERT eine Folge seiner Lehre von der Immanenz. Dem RICKERTschen Hauptsatz von der Immanenz stehe ich teils skeptisch, teils verständnislos gegenüber (Gs 29); denn er enthält zwei anfechtbare Behauptungen. Einmal soll der Satz, daß alles unmittelbare Gegebensein ein Sein im Bewußtsein ist, nur die Konstatierung einer Tatsache sein; zum anderen soll er die Konstatierung eines absolut Unbezweifelbaren, in keiner Hinsicht weiter analysierbaren Erlebnisses sein. Ich bin gerade der Meinung, daß der erste Versuch eines Menschen, die ganze Außenwelt als immanent zu erfassen, zu den größten Umdenkungsprozessen im Leben gehört. Dafür spricht wohl auch der Satz:
    "Es läßt sich wohl nicht bestreiten, daß der Mensch sich zumindest zeitweise nur erkennend zu verhalten und sich dann dessen vollkommen bewußt zu sein vermag, daß alles Sein, also auch das eigene so gut wie das fremde wollende und fühlende Ich, ein immanentes Objekt ist." (Gs 65) -
Was VOLKELT "Selbstgewißheit des Bewußtseins" nennt, ist noch nicht gleichbedeutend mit dieser Unbezweifelbarkeit der Immanenz; denn VOLKELT will nicht sagen, daß sich das Bewußtsein auch nur auf Bewußtseinsinhalte beziehen muß.

Außerdem könnte RICKERT entgegengehalten werden, daß dann jeder Bewußtseinsinhalt auch nur als im Bewußtsein seiend beurteilt würde (vgl. Gs 119). - Ich will jetzt beide Behauptungen, die der Satz der Immenenz enthält, zurückzuweisen versuchen mit dem psychologischen Argument, von dem ich im Kapitel über die "anti-psychologische" Tendenz gesprochen habe.


16. Widerlegung des Konszientialismus.

Ich schicke aber voraus, daß ich zu dieser psychologischen Lösung des Transzendenzproblems auf transzendentalem Weg gekommen bin. Ich ging von dem Problem, d. h. der unbezweifelbaren Tatsache einer realen Gegebenheit, aus und fragte: wie diese Tatsache möglich ist. Nur weil mir einmal die psychologische Betrachtungsweise der Erkenntnis näher liegt, kam ich auf dieses psychologische Argument. Ich bin überzeugt, daß sich auch die entsprechenden "logischen" Gründe auffinden lassen; und zwar würde es sich um eine thetische Form handeln. Ich selbst maße mir nicht an, den logischen Sinn für die Erkenntnis einer realen Wirklichkeit zu erkonstruieren. Vielleicht hat RICKERT recht, wenn er die Trennung von Immanentem und Transzendentem (Zw 222f) auf begriffliche Unterscheidungen zurückführt; gerade so, wie seiner Meinung nach das Begriffspaar physisch und psychisch ein Produkt der Reflexion ist (Abhandlung über psychophysische Kausalität und psychophysischer Parallelismus, 1900; übrigens, soweit mir ein Urteil darüber zusteht, ein dialektisches Meisterstück - vgl. auch Gr 479). - Das wäre aber nur der logische Unterschied, auf den es der Erkenntnistheorie nicht allein ankommt. Wenn wir nun einen psychologischen Grund für die berechtigte Trennung von Immanentem und Transzendentem (teilweise sich deckend mit psychisch und physisch) anführen, so wollen wir nur den Verdacht nicht aufkommen lassen, daß wir uns "einer überwissenschaftlichen "Intuition" anvertrauen." (Zw 223)

Und nun das Argument selbst.

Der Beweis für die Immanenz beginnt seit BERKELEY gewöhnlich so: Es gibt nur Bewußtseinsinhalte; von ihnen muß, als von der ursprünglichen Realität, ausgegangen werden (Gs 40f). Wer da meint, er sehe ein Ding, das sich außerhalb seines Bewußtseins befindet, täuscht sich; denn er hat ja nur eine Vorstellung (Gs 80), Gr 587): "Wir können von ihm (dem erkennenden Subjekt) sagen, daß es entweder nur anschaut oder "vorstellt", d. h. etwas Gegebenes lediglich hinnimmt ...") Selbst wenn es "Dinge ansich" gäbe, wüßten wir nichts von ihnen, denn wir haben höchstens Vorstellungen von ihnen.

Fürs Erste scheint diese Psychologie unangreifbar; und doch enthält sie zwei Mängel. Ihre Lückenhaftigkeit wird sofort offenbar, wenn wir in unserem Erlebnis einmal die Stelle aufsuchen, wo das Bewußtsein in nächste Berührung tritt mit dem "vermeintlich" Transsubjektiven, - wo also nach Ansicht der Konszientialisten der Irrtum in die Seele einzieht: das ist im Akt der Wahrnehmung. Damit komme ich auf diejenige Erkenntnis zu sprechen, - welche, wie ich oben sagte - von allen Sinnen geliefert wird. Wir meinen nun allerdings, daß die Wahrnehmung in Betrachtungen der oben angegeben Art zu Unrecht vernachlässigt und in ihrer Bedeutung für eine Realisierung nicht genügend gewürdigt wird. Der Zusammenhang von Wahrnehmen und Vorstellen wird zu oft verkannt. Einmal wird in der Wahrnehmung vom Objekt nicht nur eine Vorstellung gebildet, sondern es wird vom ganzen Subjekt, dem intellektuellen, fühlenden und wollenden, erfaßt. Zum andern ist es nicht wahr, daß wir bei der Wahrnehmung dieses Papiers die Vorstellung dieses Papiers in uns haben. Das Papier stelle ich mir erst vor, wenn ich es nicht mehr wahrnehmen; wenn ich mich etwa davon wegwenden - oder wenn der Akt der Wahrnehmung ganz vollzogen ist. Solange aber der Gegenstand (von meinen Sinnen) wahrgenommen wird, solange habe ich überhaupt keine Vorstellung im Bewußtsein, und diese Tatsache will ich hervorheben. In diesem Akt besteht eben keine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Erkennenden und seinem Ziel (Gr 584). Ich sehe in der Wahrnehmung ein Analogon zu anderen psychischen Zuständen, in denen mein Vorstellungsleben für Augenblicke gelähmt ist, wie festgeheftet - als wäre es auf kurze Zeit erstarrt. Ich erinnere an die Bewußtseinslage während einer raschen Tat, etwa während eines Sprungs - oder im Augenblick des Schrecks oder der Angst, wo das Bewußtsein leer zu sein scheint. Ich meine denselben Zustand, den der Dichter so beschreibt:
    "Wenn ganz was Unerwartetes begegnet, wenn unser Blick was Ungeheures sieht, so steht der Geist eine Weile still - wir haben nichts, womit wir das vergleichen."
Besonders auffällig wird dieser Zustand, worin alles Denken und Vorstellen wie ausgehoben ist, wenn mehrere Sinne zugleich von Eindrücken bestürmt werden. Ganz deutlich wurde uns dieses Phänomen während des Aufenthalts in einer katholischen Kirche, wo Auge, Ohr und Geruchssinn zu gleicher Zeit von Schmuck, Musik und Weihrauch eingenommen werden. Der eigentliche Wahrnehmungsvorgang ist eben ein Akt ganz eigener Art. Die Schnelligkeit allein, mit der wir uns mit dem unseren Sinnen Entgegentretenden abfinden, läßt die Eigenart des Wahrnehmungsaktes übersehen. Bewußt wird sie uns nur, wenn das Objekt riesengroß ist oder unsere Existenz gefährdet.

Doch die Abwesenheit von Vorstellungen ist nicht gleichbedeutend mit psychischer Leere. Der Wahrnehmungsakt ist - erkenntnistheoretisch gesprochen - nur ein rein beziehender Akt. Es besteht während seiner Dauer ein intensives Verhältnis von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem. Es entsteht in diesem Augenblick ein neues Subjekt-Objekt-Verhältnis. Und wer das Vorstellungselement trotz alledem nicht vermissen will, der könnte vielleicht sagen: daß in diesem Augenblick eine vollständige Identität besteht zwischen Vorstellung und Objekt, von Inhalt und Gegenstand. Das ist allerdings nur eine Deutung, auf die wir lieber verzichten. Denn gerade die unmittelbare Gewißheit, welche den Vorstellungen zukommt, besitzt im vorstellungslosen Wahrnehmungsakt das wahrgenommene Objekt. Mit derselben Unbezweifelbarkeit, mit der ich sage: "Ich habe eben an meinen Freund gedacht", mit derselben Bestimmtheit sage ich jetzt: "Ich sehe diese Lampe" - und meine nicht etwa eine Vorstellung. Das wäre sonst ein ganz falsch beschriebenes psychisches Erlebnis. Selbstgewißheit habe ich nicht nur von meinen Bewußtseinsvorgängen, es ist mir nicht nur die Tatsache unmittelbar gewiß, jetzt eine "Vorstellung" gehabt zu haben; sondern im Wahrnehmungszustand, in dem das vorstellende Bewußtsein inhaltslos ist, bin ich genauso von der realen Existenz dieser Lampe überzeugt (vgl. dagegen VolkED 60f; Huss. Jahrbuch 81: "Die Erlebniswahrnehmung ist ein schlichtes Erschauen von etwas, das in der Wahrnehmung als Absolutes gegeben ist." Vgl. auch FRIEDRICH HEINRICH JAKOBIs Werke, Bd. II, 1815, Seite 175:
    "Nichts tritt in der Seele zwischen die Wahrnehmung des Wirklichen außer ihr und des Wirklichen in ihr. Vorstellungen sind noch nicht; sie erscheinen erst hinten nach in der Reflexion als Schatten der Dinge, welche gegenwärtig waren." (vgl. auch 143 und 172f, ferner die in VolkED 522 zitierten Stellen von Thomas Reid und die dort 516f angeführten Besprechungen von Kirchmann, Riehl und Staudinger.)
Ich kann darauf nicht eingehen, da es mir vorläufig nur auf den Beweis einer realen Transzendenz überhaupt ankommt. Ich halte aber die durch phänomenologische Realität der Sinnesqualitäten und des Traumes entstehenden Schwierigkeiten für überwindbar. - (vgl. auch OTTO SELZ, Existenz als Gegenstandsbestimmtheit, Seite 280) Soviel ist mir aber klar: daß mir im Wahrnehmungsprozeß die Realität dieses Papiers unmittelbar gewiß ist. (vgl. RICKERT über das unmittelbare Gegebensein der Körperwelt, Gr 140f; VolkED 65, 518f:
    "Die Wahrnehmung und der Glaube, die Außenwelt selbst wahrzunehmen, sind ein und derselbe Akt. Erst eine spätere Reflexion bringt uns zum Bewußtsein, daß in diesem Akt jene zwei Faktoren zu unterscheiden sind ...")
Ich bin überzeugt, daß dieser Gegenstand sich außerhalb unseres Bewußtseins befindet. So gut uns niemand einreden kann, daß wir BANQUOs Geist in Wirklichkeit, nicht nur in einer künstlerischen Darstellung gesehen haben; daß wir den geigenden Tod wo anders sahen als auf BÖCKLINs herrlichen Selbstbildnis; daß das Reich der Riesen und Zwerge wo anders als in einer Märchenwelt liegt; daß das Bild eines verstorbenen Freundes, dessen wir eben gedachten, mehr als eine bloße Vorstellung in uns war; so klar ist uns im Augenblick der Wahrnehmung, daß dieses Papier hier Papier, etwas außerhalb "meines" Bewußtseins ist, und keine Vorstellung. Der "grüne Baum" (Gs 120) wird nicht erst in einem Existenzialurteil seiend, sondern es haftet ihm die ursprüngliche Bewußtseinsbestimmtheit an: außerhalb des Bewußtseins zu sein. Ein ganzes Leben erst gehört dazu, um diese Auffassungsunterschiede zu verwischen und Traum, Erlebnis und Erinnerung in einem freien Spiel zu Dichtung und Wahrheit zu verweben.

Ich denke fast jeden Tag einmal an die ganze Welt; d. h.: ich stelle sie mir vor. Aber gerade der Wahrnehmungsakt, in dem keine Vorstellung im Bewußtsein ist, sollte zu Bewußtsein bringen, daß darin etwas vorliegt, was nicht Vorstellung ist. Die Unmittelbarkeit alles intuitiven Erfassens hat jene vorstellungsfreien Zustände übersehen lassen. Es ist manchem Philosophen nicht bewußt geworden, warum das Dasein außerweltlicher Dinge keines Beweises bedarf. Ich sehe darin den Grund, daß LOCKE darüber sagt: es sei töricht, für alles strenge Beweise zu verlangen. - Die von transzendenten Gegenständen stammenden Vorstellungen haben nicht allein diesen Charakter, etwas "außer uns Seiendes" zu meinen, sondern auch die Phantasievorstellungen - aber diesen fehlt die Eigenheit, tatsächlich mit der Wirklichkeit in Beziehung gestanden zu haben.

Deshalb kann ich mich auch nicht dazu verstehen, "physisch" und "psychisch" ausschließlich als spezifische Unterschiede des Bewußtseinsinhaltes anzusehen (Gs 219). Die Welt, die nach RICKERT aus geistigen und körperlichen Vorgängen besteht (Gs 75) und worin das Körperliche ebenso real ist wie das Seelische (Gs 71f), ist seiner Meinung nach nur immanent. Ich dagegen stelle fest, daß im Wahrnehmungsakt etwas vorliegt, das nicht Vorstellung ist, also etwas Nichtimmanentes, das Ich transzendent nenne. (Über den Grund zur Annahme der Existenz eines fremden Ich vgl. auch die phänomenologische Abhandlung SCHELERs über Sympathiegefühle usw. Anhang:
    "Was wir durch fremde Wahrnehmung niemals wahrnehmen können, das sind allein die fremden erlebten Leibzustände, d. h. vor allem die Organempfindungen und die mit ihnen verknüpften sinnlichen Gefühle.")
Es ist also eine Art der Intuition, die wir für die Erfassung einer transzendenten Realität in Anspruch nehmen, und zwar eine Intuition ohne jede mystische Zutat (vgl. auch Log I 21; II 133; Log IV 309, Gr 12, 41: "Der Gedanke an eine unmittelbare oder im strengen Sinn "intuitive" Erkenntnis im Gegensatz zur begrifflichen ist daher als widersinnig von vornherein abzulehnen." Ferner Gr 172 über Wissenschaft und Intuition; Gr 594; dagegen HUSSERL, Jahrbuch 39, 43)

Die Intuition ist eine Art Anschauung. Ihre unmittelbare Gewißheit steht den anderen Realisierungsgewißheiten nicht nach. In ihr sehen wir vielmehr den Grund, daß es auf der Welt keinen praktischen Konszientialisten gibt, der also auch im Leben, etwa von einer Reise, die Überzeugung hat, daß nur eine Reihe von Vorstellungen durch sein Bewußtsein zieht.


17. Die Wirklichkeit.

Wir zeigen das substantiell Seiende einfach auf wie eine Tatsache, weil es Gegenstandsbestimmtheit ist, wodurch die Objektivität des Erkennens mehr als eine bloße Regel der Vorstellungsverknüpfung ist (Ath 159); oder es ist eine Regel, welche die Bedingungen der Unbezweifelbarkeit mit auf die Erfahrung gründet. Doch was heißt in unserem Fall: "mit auf Erfahrung gegründet?"

Die Vorstellung als Wahrgenommenes ist allerdings schon ein Geformtes. Während des Wahrnehmungsaktes aber stehen wir der substantiellen Wirklichkeit als solcher gegenüber. Darum kommt uns soviel auf die Vorstellungsfreiheit der Wahrnehmung an. Bewußtseinsinhalt und reale Wirklichkeit stehen sich (als Gedanke und Wirklichkeit bei RICKERT in Zw 178) gegenüber wie ein Geformtes und Ungeformtes; ich meine aber nicht, daß diese Wirklichkeit in Bezug auf ihr Transzendenzverhältnis schon ein Geformtes ist. Es hat von hier aus keinen Sinn mehr zu sagen, das Wahrgenommene ist immer schon das für wahr Genommene (Gs 176; vgl. auch HUSSERL, Jahrbuch 78f). KANTs Annahme eines Dings-ansich aber ist das Bekenntnis dafür, daß wohl das Sein, nicht aber das reale Sein Form ist. - Auf einem ganz anderen Blatt steht, ob die Formen des Naturgeschehens, wie etwa die kausalen, nicht bloß kategoriale Formen sind. Wie weit der Bewußtseinsinhalt im Übrigen abhängig, d. h. modifiziert worden sein mag vom Bewußtsein, gebe ich hier nicht vor zu untersuchen. Es genügt, die intuitive Erfassung eines "Dings ansich" überhaupt klargestellt zu haben. Damit ist die Forderung RICKERTs (Gs 18f) für die Anerkennung einer seienden Wirklichkeit erfüllt. Damit wollen wir auch dem Einwand SCHLUNKEs, der die RICKERTsche Bewußtseinslehre von REHMKEs Philosophie aus kritisiert, begegnet sein: in der Abhängigkeit des Bewußtseinsinhalts vom Bewußtsein besteht das Grundübel des Realismus (Diss. 17f).

Es liegt in meinen Ausführungen gleichzeitig der Beweis, daß es kein unpersönliches, überindividuelles Bewußtsein sein muß, welches den Solipsismus unmöglich macht (Gs 57). Wenn RICKERT hierauf antworten sollte, das intuitive Bewußtsein von Transzendentem sei doch immer wieder etwas Immanentes, so wäre damit nicht mehr gesagt, als daß auch das Transzendente auf dieselbe Weise erfaßt wird wie Immanentes. Diese Art der Auffassung eignet einmal dem Geist. Es wird niemand sagen wollen, daß ein Baum und sein Spiegelbild im Wasser von derselben Seinsart sein müssen, weil beide nur im Licht sichtbar sind. Wenn sich aber RICKERT nun darauf berufen wollte, daß alles Wahrnehmen, Fühlen und Wollen schon immanente Objekte sind, wie er es tut, um DILTHEYs (wie mir scheint: berechtigten) Einwand gegen den Konszientialismus abzuweisen, so müßten wir ihm den ganze Terrorismus einer einseitig logisch transzendentalen Methode zum Vorwurf machen; einer Methode, die, um einen Begriff (hier den der Erkenntnis) zu verifizieren, alles Übrige in einen Rahmen "notwendiger Voraussetzung" willkürlich zwängt. Ein solches Kunstprodukt ist RICKERTs Subjekt, mit dessen Begriff allein alle Hinweise auf die transzendente Wirklichkeit überwunden werden können (vgl. Log I 26: "den Begriff des Subjekts und seines Aktes vom Wert her bilden"; ferner Log I 30: "Deuten wir von den Werten her den Sinn des Subjekts und seiner Akte." Gr 603; VolkQ 9)

Ich kann also RICKERT ganz recht geben, daß das Urteil: "Ich sehe eine Nelke" ein erkenntnistheoretisches Problem enthält, weil dieses Urteil allerdings schon eine Umformung des Gegebenen ist. Die Erkenntnis der Realität aber ging ihr voran. Und daß die Form gerade ein Urteil ist, haben wir schon als ein logisches Moment erkannt, das für die Erkenntnis der realen Wirklichkeit ohne Belang ist.


18. Mein Wahrheitskriterium.

An dieser Stelle muß ich noch eine Bemerkung über mein Erkenntniskriterium hinzufügen. Man wird mein Kriterium der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit belächeln, weil die Wirklichkeit eben schon ein Erkenntnisprodukt ist und mir dieselbe Frage vorlegen, die VAIHINGER (in seiner Philosophie des Als-ob beantwortet: "Wie kommt es, daß - trotzdem wir im Denken mit einer verfälschten Wirklichkeit rechnen, sich das praktische Resultat doch als richtig erweist?" - Ich gehe darauf ein und suche gerade unter dieser Voraussetzung den Einwand in einer etwas mathematischen Form zurückzuweisen.

Wenn ich unter Form die vom Erkennenden hinzugebrachte Form verstehe (z. B.: das Durch-Sinne-Erfaßtwerden und das Bewußtsein-Sein), dann gilt: Wirklichkeit = reine Erfahrung + Erkenntnisform. Was die Erkenntnisform ist, wissen wir nicht. Wir wissen nur soviel, daß sie bei jeder Erfassung der Wirklichkeit beteiligt ist. Wir können sie einen apriorischen Bestandteil der wahrgenommenen Wirklichkeit nennen. An allen Wahrnehmungen tritt sie auf - wie eine Konstante. Wenn wir, wie wir schon hervorhoben, nicht an unnötiger Skepsis zugrundgehen wollen, so müssen wie eine Konstanz des Apriori annehmen. (KANT drückte das so aus, daß er nur dasjenige, was der Erkenntnis Allgemeingültigkeit verleiht und was zur Erkenntnis unbedingt notwendig ist, apriorisch nannte.) An irgendeinen anderen Inhalt tritt dieselbe Erkenntnisform wieder auf: der Inhalt hat sich geändert; die Erkenntnisform, die ihn an das Bewußtsein bindet, muß dieselbe geblieben sein. Wenn also eine durch das Denken gefundene Kombination von Inhalten durch die Wirklichkeit (etwa durch ein Experiment) bestätigt wird, so ist klar, daß die Übereinstimmung er Denkkombination mit dem bestätigenden Erfolg unabhngig ist von der Erkenntnisform, welche der Wahrnehmung des "Erfolges" anhaftete. Die Formkonstanten hatten sich ja nicht verändert. Das ist der Grund, warum diese angenommene Konstante einfach vernachlässigt werden kann. Sie wird nur der Vollständigkeit wegen in der Rechnung mit weitergeführt.

Beispiel: Der Mikrokopierende nimmt wahr, daß in den Pilzzellen kein Chlorophyll enthalten ist. Daran knüpft sich folgende Überlegung: Chlorophyll vermag unter der Einwirkung der Sonne Salze in Nährstoffe umzuwandeln; weshalb die Pflanzen unbedingt Licht zum Gedeihen brauchen. Da in den Pilzzellen keine Chlorophyllkörner vorhanden sind, müßte der Pilz - ceteris paribus [unter vergleichbaren Umständen - wp] - auch in absoluter Finsternis gedeihen. Das Experiment bestätigt den Gedanken. Ich meine nun: es ist kein Grund einzusehen, warum die Erkenntnisform, welche der Zellenwahrnehmung anhaftet, und die Erkenntnisform, unter welcher der im Finstern gewachsene Pilz wahrgenommen wird, voneinander verschieden sein sollen. Hingegen haben sich die Inhalte der "reinen Erfahrung" sehr beträchtlich verändert. Natürlich sagen wir nicht, daß jener denkende Naturwissenschaftler im Voraus eine Zeichnung anfertigen könnte, welche den entstehenden Pilz in seinen unwesentlichen Einzelheiten bestimmen könnte. Kleine Größen- oder Farb- oder Formunterschiede, wie sie auch in der Natur auftreten, lassen sich nicht vorausbestimmen. Aber auf ein solches Abbild kommt es ja auch gar nicht an. Es kann sehr wohl vorhergesagt werden, daß, falls der Versuchsgegenstand ein Birkenpilz war, alle wesentlichen Merkmale der Art "Birkenpilz" an dem im Finstern gewachsenen Exemplar aufgefunden werden, was bei einer Kartoffelpflanze, die im dunklen Keller gezogen wurde, nicht der Fall ist.

Daß der Mechaniker in dieser Beziehung noch weit besser dran ist, da er es fast nur mit quantitativen Feststellungen zu tun hat, ist nicht schwer einzusehen. - Ich sage deshalb noch nicht, daß meine Gedanken eine Wiederholung von denen der Natur sein müssen. Es hieße inkonsequent sein und Metaphysik trieben, - hieße, in einen monistische Panlogismus verfallen, wollte ich aus dieser anscheinenden Parallelität eine Identität schließen oder erkonstruieren. (vgl. Volkant 239). Ich sage nur: daß mein Denken auf die Erfahrung anwendbar ist; mit anderen Worten: daß die Welt erkennbar ist (worin ich mit RICKERT übereinstimme). Und das genügt mir. Ob ich sage: die Welt ist so eingerichtet, daß sie erkannt werden kann, - oder ob ich behaupte: in der Wahrnehmung erfasse ich die Wirklichkeit selbst, das ist für das Transzendenzproblem gleich (vgl. VolkED 65).

Wenn jemand aber einwirft, mein Wahrheitskriterium ist für die Wissenschaft eine Selbstverständlichkeit, ist von ihr schon immer benutzt worden und braucht ihr von der Erkenntnistheorie nicht erst gezeigt zu werden, so erwidere ich, daß es auch vornehmlich auf die Rechtfertigung dieses Kriteriums ankommt. Man braucht das Wort Wirklichkeit nur ins Logische zu übertragen als einen Urteilszusammenhang, so wird man die Beziehung der Objektivität auf das Subjekt erkennen. Das ist also ein Wortstreit. Wesentlich ist nur, wodurch die Wirklichkeit oder jene Urteile ihre Unbezweifelbarkeit bzw. ihre hohe logische Gültigkeitums ankommt. Man braucht das Wort Wirklichkeit nur ins Logische zu übertragen als einen Urteilszusammenhang, so wird man die Beziehung der Objektivität auf das Subjekt erkennen. Das ist also ein Wortstreit. Wesentlich ist nur, wodurch die Wirklichkeit oder jene Urteile ihre Unbezweifelbarkeit bzw. ihre hohe logische Gültigkeit empfangen. Und darauf antworte ich: durch unmittelbare Einsichtigkeit; nicht etwa nur durch ein Evidenzgefühl (vgl. auch Wi 121).

Jetzt würde RICKERT aber einwenden, daß auch die Sinneswahrnehmung Täuschungen unterworfen ist; daß also die unmittelbare Einsicht trügen wird. Ich entgegne, daß es gar keine Sinnestäuschungen gibt; daß solche Täuschungsphänomene nur einer falschen Bearbeitung der Wirklichkeit durch elementare Denkfunktionen entspringen.


19. Die transzendente Realität und
mein Wahrheitskriterium.

Daß sich die Sonne um die Erde bewegt (Gs 61, vermag ich zu denken, sogar mir vorzustellen; und die Alten haben diesen Gedanken in voller Anerkennung des Sollens vollzogen. Daß aber - und damit komme ich wieder auf das Transparenzproblem - dieses mein Auge, diese atmende Brust, der Orgelklang, der eben jetzt an mein Ohr dringt und mich im Denken stört, nur immanent sein soll, das vermag ich nicht völlig zu durchdenken, geschweige denn mir vorzustellen, noch viel weniger zu glauben. Ich kann ihre Möglichkeit erwägen: doch das heißt - wie ich gezeigt habe - noch nicht: sie denken. - Insofern nur, als die Erfassung der Realität der Wirklichkeit auf unmittelbarer Gewißheit beruth, woran auch das Evidenzgefühl beteiligt ist, gebe ich zu: "die Wirklichkeit ist Gegenstand des Glaubens" (Gs 243). Auch ich erkenne in diesem Fall das Sollen als Gegenstand der Anerkennung, nicht aber als solchen der Erkennung an, zumindest nicht als ausschließlich Anzuerkennendes. Vielleicht läßt sich aber durch dieses "auch" die Antinomie von Form und Inhalt (Gs 242) vermittelnd aufheben.

Daß mein Will und mein ganzes Seelenleben auf Widerstände treffen kann, findet eben seine einzige Erklärung in der Annahme einer realen Außenwelt. Ja, da es eine immanente Wirklichkeit gibt, was niemand bezweifelt, so ist die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Forschung, welche eine Übereinstimmung oder auch eine Verschiedenheit der beiden Wirklichkeiten feststellen kann, der beste Beweis dafür, daß es eben auch eine "nicht-immanente" Wirklichkeit gibt. Ferner: aß von einem Sinnesorgan eine Widerstandsempfindung wahrgenommen wird, wo sie vom anderen Sinn nicht als Widerstand, sondern etwa als Gesichtsempfindung perzipiert wird, ist eine Übereinstimmung heterogener Sinnesgebiete; eine Übereinstimmung, die nicht anders erklärt werden kann als durch die Existenz einer vom Subjekt unabhängigen Wirklichkeit. Man versuche den Vorgang: Wie ich jetzt mit dem Finger die Federspitze berühre und in dem Augenblick einen Schmerz empfinde, wo ich zugleich sehe, daß die Spitze in die Haut dringt - anders zu erklären! So ist also sogar mein Wahrheitskriterium anwendbar auf die Erfassung der Realität: indem sich die Sinne wechselseitig kontrollieren und indem durch die Realitätsannahme allein die Widerspruchslosigkeit innerhalb der immanenten, von mehreren Sinnen heterogener Art erfaßbaren Wirklichkeit gewährleistet wird. Soviel wir also sehen, ist jene unbezweifelbare Tatsache der Existenz einer realen Außenwelt mehr als ein bloßes phaenomenon bene fundatum [gut begründete Erscheinung - wp] (Ausdruck bei LEIBNIZ, EUCKEN, SCHELER, Meth 103).


20. Erläuterungen.

Schließlich will ich einige erläuternde Bemerkungen zu meiner Auffassung vom wissenschaftlichen Erkennen hinzufügen, da ich glaube, daß RICKERTs Stellung zum Transzendenzproblem durch eine andere Auffassung vom selben Gegenstand mitbestimmt wurd. Log II 156 polemisiert RICKERT gegen die Erkennbarkeit der Realität als unmittelbares Erleben der Realität, weil es "keine Wissenschaft ohne begriffliches Denken (Log II 155) gibt. Die logische Bearbeitung und der logische Sinn seien ein Abrücken der Gegenstände vom Leben. So scheint es, als ob RICKERT die Konstatierungen von Tatsachen, wie die Anerkennung realen Seins welche sein können, nicht für vollwertige wissenschaftliche Ergebnisse ansieht.

Ich erkläre hierauf, ohne mich in eine Kritik der in den "Grenzen" enthaltenen Ausführungen einzulassen, daß ich jede Konstatierung einer bisher unbekannten Tatsache für eine wissenschaftliche Erkenntnis halte. Eine Tatsache konstatieren, heißt psychologisch: etwas erleben, wahrnehmen; logisch: urteilen; gegenstandstheoretisch: einen Sachverhalt angeben; erkenntnistheoretisch: dem Objekt das Subjekt gegenüberstellen. Wenn man beispielsweise bis vor einem halben Jahrhundert aus voreiligen Analogieschlüssen heraus behauptete, der Meeresgrund muß unbelebt sein, weil dort das Wasser zu Eis erstarrt sein muß und jemand festgestellt hätte: "es herrscht dort eine höhere als die Gefriertemperatur", so wäre diese Konstatierung ein vollwertiges wissenschaftliches Ergebnis gewesen, und zwar noch bevor es in ein logisches Urteil gefaßt war. - Damit man aber nicht glaubt, daß ich das begriffliche Denkmoment übersehe, will ich es sogleich am Entdeckungsprozeß aufzeigen.

Daß der Meeresgrund selbst in lichtlosen Tiefen belebt ist, wurde unzweifelhaft, als im Mittelmeer ein Kabel riß und an den aufgefischten Enden Organismen gesehen wurden. Es hätten Hunderte von Menschen das Stück Kabel sehen können, ohne den Schluß zu bilden: das Kabel hat 3000 m tief gelegen. Das Kabel trägt festgewachsene Organismen. Folglich ist der Meeresgrund in jener Tiefe belebt. Dann hätte aber auch diese Erkenntnis gefehlt. Es gehört eine begriffliche Erfassung, eine Einordnung in ein bereitliegendes System zur Erkenntnis (vgl Gr 558). Kurz: es gehört der Weise zum Stein der Weisen. (Ob dieses System als eine Summe von Urteilen gedacht wird, ist erkenntnistheoretisch einerlei. Vgl. dagegen Gr 116, 302)

Ich stimme also RICKERT zu, wenn er sagt: "Bloßes Anschauen oder im Bewußtsein haben ist unter Umständen schon erkennen" (Gr 41; ähnlich Gr 114). Andererseits sind die elementaren methodologischen Formen der Naturwissenschaft nicht vollkommene Begriffe. Für so wertvoll ich die Ausführungen RICKERTs über Allgemeinheit und Bestimmtheit der Begriffe halte (Gr 47f), so will ich die begriffliche Leistung z. B. der Wortbedeutungen nur unterstreichen und feststellen, daß die logischen Elemente der wissenschaftlichen Kleinarbeit Subordinationen, Subsumptionen, Folgerungen, Analogiebildungen und ähnliche, ganz primitive Formen sind, die nicht etwa auf vollkommenen Begriffen beruhen. Die einfachste Kombination, wie sie - logisch gesprochen - ein Urteil nur sein kann, kann schon "Wissenschaft" sein (vgl. Gr 51, 105: "Ohne Verwendung von Begriffen ist kein naturwissenschaftliches Urteil möglich." Gr 173, 189, 193, 116, 212, 263, 302, 470, 480; VolkQ 37).

Ob schließlich die Transzendenz eines Gegenstandes in wissenschaftlichen oder außerwissenschaftlichen Urteilen festgestellt wird, ist gleichgültig. Es kommt nur darauf an, daß ihre Anerkennung von wissenschaftlicher Gültigkeit ist.


21. Rickert und der
empirische Realismus.

Mit allem, was ich bisher gegen den Konszientialismus vorgebracht habe, wollte ich natürlich nur RICKERTs erkenntnistheoretischen Standpunkt treffen. Es ist mir gewiß nicht entgangen, daß RICKERT die Existenz der räumlichen Außenwelt überhaupt nicht für ein Problem hält (Gs 30, 45) und daß RICKERT demjenigen alles Verständnis für seine Lehre abspricht, der glaubt, der erkenntnistheoretische Idealismus bezweifle die Existenz der uns umgebenden Außenwelt. (Gs 31) RICKERT könnte mir im Ergebnis, das ich aus der Betrachtung über die Wahrnehmung gewonnen habe, zustimmen; denn er sieht seinen Gegner ja nicht im empirischen (Gs 45, 120), sondern im erkenntnistheoretischen Realismus (Gs 123, 208, 211). Die Stellung des erkenntnistheoretischen Idealismus zum empirischen Realismus wird von RICKERT etwa so gekennzeichnet:
    "Was die Wissenschaft im Laufe der Jahrhunderte geleistet hat, besitzt eine von jeder erkenntnistheoretischen Untersuchung unabhängige Bedeutung. Nicht das eine oder das andere positive Wissen, sondern die Meinung über das Wesen des Erkennens selbst, in unserem Fall die Deutung der Erkenntnis als Übereinstimmung unserer Vorstellungen mit einer von diesen Vorstellungen unabhängigen Wirklichkeit, wird in Frage gestellt." (Gs 7)

    "Für den empirischen Realismus existiert das Problem der Transzendenz nicht." (Gs 47)

    "Das Primäre ist die Erfahrung, das Erkennen richtet sich nach der Wirklichkeit." (Gs 166, 193)

    "Die vom empirischen Realisten vorausgesetzte Welt ist, zum Unterschied vom Gegebenen, die objektive empirische Wirklichkeit." (Gs 189)
Urteilsformen hält er für reflektierte Formen (Gs 170, 211): Norm und Kategorie kennt er nicht (Gs 174, 189). Er sieht immer nur die eine Seite des Urteils, die inhaltliche. (Gs 185, 203f) Diese bezieht er ganz mit Recht auf ein Sein. Er läßt aber ganz unberücksichtigt, daß die "brutale Wirklichkeit" erst möglich wird durch Anerkennung eines transzendenten Sollens. Und diese Seite am Urteil sieht der erkenntnistheoretische Idealismus, welcher beide Seiten im Auge haben muß (Gs 184-186). Was der empirische Realismus als gegeben voraussetzt, ist für den erkenntnistheoretischen Idealismus Erkenntnisaufgabe (Gs 197f).

[...]

Sonach scheint es, daß der empirische Realismus, den ich vertreten habe, von RICKERT als gleichgeordneter Standpunkt anerkannt wird. Wenn dem so wäre, könnten die meisten meiner Einwände einfach zurückgewiesen werden mit der Antwort: sie treffen den erkenntnistheoretischen Idealismus nicht. Was mich veranlaßte, die Begründung meines Standpunktes hier anzuführen, war die in den oben zitierten Sätzen enthaltene Auffassung, daß die eigentliche Erkenntnistheorie die formale, logische, idealistische ist; die erkenntnistheoretische Arbeit wird schon in der Unterbauung des Gegebenen geleistet, - der Realismus sieht nur eine Seite der Wirklichkeit, der erkenntnistheoretische Idealismus beide - der empirische Realismus wird vom erkenntnistheoretischen Idealismus erst begründet - der empirische Realismus kann erst anfangen, wo der erkenntnistheoretische Idealismus aufgefhört hat, weil ihne die transzendentale Frage nicht kümmert - er führt in den Einzelwissenschaften eine berechtigte Existenz (Gs 43, 47, 72) und bedarf nur einer Umdeutung, um zu einem erkenntnistheoretischen Standpunkt zu werden (Gs 193, 204; Ath 159).


22. Empirischer Realismus und
erkenntnistheoretischer Idealismus.

Ich habe daraufhin nur unterstreichen wollen, was ich zu Anfang sagte: daß der empirische Realismus eine ganz gleichberechtigte Stelle neben dem Idealismus beanspruchen könnte, auch erkenntnistheoretisch. Ich kann ihm diesem Platz in der Erkenntnistheorie anweisen, weil ich die Aufgabe der Erkenntnistheorie - entsprechend einem weiteren Erkenntnisbegriff - nicht unnötigerweise einschränken. RICKERT glaubte, voraussetzungslos zu verfahren, wenn er nichts, also auch den Raum nicht, als transzendent seiend voraussetzt (Gs 30). Wo ihn aber die formalistische Tendenz zwang, konstituierende Formen für die räumliche Wirklichkeit zu finden, konnte ich auf eine Evidenz hinweisen, die meines Erachtens nicht weniger erkenntnistheoretische Berechtigung hat. Ich glaube tatsächlich, einen Grund gefunden zu haben, der mich zur Aufnahme einer transzendent seienden Wirklichkeit zwingen kann und der also ein Erkenntnisgrund für die Notwendigkeit vieler Urteile ist (vgl. Gs 36). Es kam mir nicht darauf an, eine Quelle des Inhalts der Wirklichkeitserkenntnis (Gs 184) aufzuzeigen; wir wollten vielmehr auf den Ursprung der "Wirklichkeitsform", des gegebenen Seins hinweisen, wonach ich mich eher auf die Anerkennung des Müssens als des Sollens verstehen kann, wonach die spezifischen Unterschiede des raumerfüllenden Physischen und des unräumlichen Psychischen nicht als Irrationalitäten immanenter Wirklichkeit erscheinen. Zumindest ist es sehr auffällig, daß manches, wie die Sonne, immer wieder als real seiend beurteilt wird, anderes, wie ein Gedanke, nicht. Um uns erkenntnistheoretisch einwandfrei auszudrücken: wir halten die reale Existenz für eine Gegenstandsbestimmtheit und nicht für eine kategoriale Form (vgl. die ausgezeichneten Darlegungen von OTTO SELZ (a. a. O.); vgl. auch MEINONG, Über die Stellung der Gegenstandstheorie, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 129, Seite 63).

Wird nunmehr berücksichtigt, daß es wohl zum Wesen der Begriffe gehört, daß ihnen Urteile vorausgehen, daß dies aber keine Wesensgesetzlichkeit des (gleich einer Vorstellung) unmittelbar Erfaßten ist, so kann das reale Sein gar nicht logisch mit Urteilen unterbaut werden. Das reale Sein ist kein Begriff, sondern es gehört zum individuell Gegebenen. Gegeben sind aber nur logisch unbearbeitete Individuen, keine Begriffe.

Mag RICKERTs Flucht vor dem transzendenten Sein eine Nachwirkung der Zeit sein, wo der Student noch tief im Positivismus steckte (Vorwort zur ersten Auflage) oder hat RICKERT den Konszientialismus nur als Mittel benutzt, um an allem Gegebenen die kategoriale Geformtheit möglichst vollständig zu sehen, so wird sich dennoch schwerlich in Abrede stellen lassen, daß der Konszientialismus einen rationalisierenden Zug in die Wirklichkeit und einen formalen Erkenntnisbegriff in die Theorie des Erkennens bringt. Konszientialistische Voraussetzungen müssen aber immer mehr angefeindet werden, je mehr die Erkenntnis durchdringt, daß Inhalt und Gegenstand erkenntnistheoretisch auseinanderzuhalten sind (HUSSERL, KÜLPE, LIPPS, TWARDOWSKI). (Vgl. auch MARTY 426, Anm.)

So sieht man auch immer wieder sich einschieben, was dem kantischen Phänomenalismus, den RICKERT bekämpft (Gesch 128, 131), Einlaß gewährt. Diese selbe Unterscheidung von Gegenstand und Vorstellung liegt auch dem sicherlich von KANT stammenden Ausspruch zugrunde, den RICKERT seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk als Motto voranschickt. Es stecken zwei Voraussetzungen in diesem Satz: einmal die, daß es einen von den Vorstellungen unterschiedenen Gegenstand gibt (vgl. dazu "für unsere Vorstellung gibt es nichts, wonach es sich richten könnte." Gs 115) - zum andern die, daß die Vorstellungen bereits vorhanden sind. Wir erkennen den Ausspruch ganz und gar an; RICKERTs Auffassung widerspricht er aber, weil es für RICKERT keine Entstehung der Vorstellungen geben darf.

Wenn aber RICKERT den Gegensatz von immanentem und transzendentem Sein für metaphysisch erklärt (Gs 162, 73: "Der erkenntnistheoretische Realismus ist stets ein metaphysischer Realismus." Gr 142, 145, 573: "jede Ansicht ... ist metaphysisch, die zwei Arten des Seins, ein empirisches und ein absolutes, voraussetzt"), so will ich meine Meinung darüber noch einmal formulieren: Ich bin mir vollständig darüber im Klaren, daß die Setzung eines Immanenten oder Transzendenten nur einer Projektion in das nähere oder fernere Außen gleichkommt (vgl. auch VolkED 38, 59). Die Transsubjektivierung ist, da die Sprache des Geistes einmal das Bewußtsein ist, ein Prozeß der Objektivation; und insofern das Denken nur ein Beziehen auf einen Hintergrund ist, kann ich es allerdings ein anerkennendes Urteilen nennen. Um mehr als um Möglichkeiten kann also gar nicht gestritten werden. Wenn freilich die Bezogenheit auf ein reales Sein als metaphysisch erklärt wird, dann will ich in der Tat einer solchen "Metaphysik" einen Dienst zu erweisen versuchen und gezeigt haben, daß es erkenntnistheoretisch nicht unbegründet ist, die Bilder, die in ihrer Form von einem gewissen Standpunkt aus wohl als Formprodukte gedacht werden können, auf eine in der realen Seinssphäre stehende Wand zu projizieren. Mein Zweifel läßt sich nicht in der Frage auflösen: hat der erkenntnistheoretische Idealismus recht oder ist sein Gegenteil wahr? (Gs 129); sondern ich frage: "Ist dieses Gegenteil unmöglich?" Die "Gegebenheit" mag nur eine Form sein; nur ob sie Form eines Urteils und nicht Form eines realen Seins ist, kommt für mich in Frage. - Ich bin mir der Tatsache bewußt, die Grenzen der Erkenntnis nicht überschritten, sondern diese nur festgestellt zu haben - und daß diese vermeintliche Metaphysik noch von einer anderen überbaupt werden müßte, um zu der seit KANT mit Recht geschmähten Spekulation zu werden.
LITERATUR - Max Schneider, Die erkenntnistheoretischen Grundlagen in Rickerts Lehre von der Transzendenz,[Inaugural-Dissertation] Dresden 1918