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Die erkenntnistheoretischen Grundlagen in Rickerts Lehre von der Transzendenz [ 3 / 6 ]
Die "anti-psychologische" Tendenz 1. Mögliche Bedeutung der Psychologie für die Transzendenzlehre. Die ganze RICKERTsche Erkenntnistheorie kann als ein Versuch betrachtet werden, in einer Transzendentalphilosophie, die Transzendentes anerkennt, ohne die Psychologie auszukommen. Mit Nachdruck verweist RICKERT darauf, "die Erkenntnistheorie oder die Wissenschaftslehre sei nicht identisch mit der Psychologie des Erkennens" (Gs 88). Viele nachkantische philosophische Untersuchungen findet RICKERT psychologistisch (Vorwort zur zweiten Auflage Gs) "Die Psychologie interessiert sich für das Sein der Urteile, die Wissenschaftslehre hat zu untersuchen, was das Urteil meint, fragt nach dem Sinn." (Gs 88) Ja, "das Problem der Transzendenz ist von vornherei gänzlich falsch gestellt und daher unlösbar, wenn nach einem vom Vorstellen unabhängigen Sein gefragt wird. Für das bloße vorstellende Bewußtsein ist nichts davon Unabhängiges zu erweisen." (Gs 162) Ich bin nicht ganz derselben Meinung; obwohl auch ich im Transzendenzproblem das erkenntnistheoretische Problem sehe. Ja, für mich hätte die Erkenntnistheorie Unerhörtes geleistet, wenn sie nur dartun könnte, daß es überhaupt etwas Transsubjektives gibt. ("Trotzdem vermag sie (die Wissenschaft) sich dessen bewußt zu werden, daß es etwas jenseits aller Wissenschaft Liegendes gibt." Gr 639) Vorläufig will ich gern darauf verzichten, zu wissen, welcher Gegenstand das ansich-seiende Ding ist. Jedenfalls befriedigt mich der Satz nicht: "Wir brauchen uns als Erkennende gar nicht darum zu kümmern, ob es noch etwas anderes als notwendige Vorstellungsbedingungen gibt." (Gs 124) Ich behaupte: Die "beiden Welten, wenn sie einmal getrennt sind", "bleiben" "mit Rücksicht auf die Unmittelbarkeit der Realität" nicht "auf demselben erkenntnistheoretischen Niveau" (Gr 142f). Es will nicht viel sagen, wenn RICKERT feststellt:
Mir ist nach dem bereits Ausgeführten vollständig klar, daß jede Erwägung über das Wesen der Erkenntnis nur von einer unbezweifelbaren Erkenntnis aus geschehen kann. Dieses Dogma muß anerkannt werden, wenn die Voraussetzungslosigkeit der Erkenntnistheorie nicht in einen Nihilismus führen soll. Man mag diese Annahme eines Unbezweifelbaren eine anthropomorphe Forderung nennen, weil sie nur auf einem unerschütterlichen Glauben an "Etwas" beruth - nun, dann bekenne ich mich eben offen zu einer anthropomorphistischen Erkenntnislehre, weil ich mir über gar keine andere als eine menschliche Erkenntnis Rechenschaft geben will und es gerade Sache der Erkenntnistheorie ist, für wahr Genommenes in Bezug auf seine Geltung für den Menschen zu untersuchen. Gewiß kann es ein dämonischer Trug sein, worin die Sinne gehüllt sind, dann wäre uns abe von vornherein die Möglichkeit genommen, hinter den Trug zu kommen, weil das einzige Mittel, den Schleier zu zerreißen, der erkennende Verstand, mit Trugbildern arbeitet und der Trug dann eben kein Trug mehr wäre; wir würden angesichts der Feinheit dieses Zaubers noch fragen, wie es möglich ist, daß wir diesem Trug glauben und glauben können: was diesem Trug die Konstanz verleiht, so daß wir nicht daran irre werden, sondern uns sogar schon seit Jahrtausenden in dieser Scheinwelt zurechtfinden. Und da würde, eben weil wir den Trug nicht durchschauen, unser Blick auch wieder nach innen auf uns selbst gekehrt, und wir würden uns um uns Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit verständlich zu machen, keinen anderen Ausweg sehen, als diese Beziehungsformen von den Trugbildern abzulösen und sie als Formen der Erkenntnis in das Subjekt zurückzunehmen, d. h. also: wieder transzendental verfahren. Daß ein zu Erkennendes vorliegt, kann also auch der schlimmste Skeptiker nicht bezweifeln. Aber gerade aus dem Umstand, daß im Erkennen zweierlei zusammenwirkt: ein Subjekt und ein Objekt, kann er einen neuen Vorwurf erheben: daß nämlich, nach Analogie bei physischen Vorgängen, das Objekt vom Subjekt nicht so gesehen wir, wie es ist, sondern daß es modifiziert wird. Auf diesen Einwand geht der Erkenntnistheoretiker ein, soweit es irgend möglich ist, um so ja keine uneingenommene Festung in seinem Rücken liegen zu lassen. Er gibt die Subjektivität der Sinnesqualitäten zu; gibt zu, daß es in der zu erkennenden Welt keine Begriffe gibt, daß diese nur Interpretationen, nur ökonomische Denkmittel sind, womit der Geist einmal arbeitet und die er nicht entbehren kann, gerade so wie ein Pferd seine Kraft nur in einer Zugbewegung dienstbar machen kann und nicht in Handarbeit. Der Erkenntnistheoretiker geht ferner darauf ein, daß wir in der Welt, worin Ursache und Wirkung herrschen, nur eine Zurechtlegung vor uns haben, nicht aber die Einsicht, die der Schöpfer hatte, als der das Geflecht des Weltzusammenhangs knüpfte. Ja, es ist ihm sogar ganz gleichgültig, ob es in der von unserem Geist unabhängigen Welt überhaupt so etwas wie einen Weltzusammenhang gibt. Nur da unser Erkennen die Form eines solchen Zusammenhangs fordert, hören wir auf, uns für einen Gegenstand zu interessieren, wenn wir einen solchen Zusammenhang gesehen habe, selbst auf die Gefahr hin, daß wir den Zusammenhang in die Dinge hineingesehen haben sollten, so wie wir die Wirklichkeit in ein Bild hineinsehen können. Ja, der Erkenntnistheoretiker wird sagen, eben das ist sein Ziel, sich die Art des menschlichen Erkennens bewußt zu machen, und er hat, wenn ihm das gelingt, geleistet, was ein Wissenschaft Treibender nur leisten kann. Nur eins ist ihm sicher, daß es einen Gegenstand der Erkenntnis gibt; denn wer einen solchen leugnet, der hebt den Begriff des Erkennens auf (vgl. Zw 170f). Wer aber nun noch an der Konstanz des Apriori (nach RICKERTs Terminologie der Sinneslehre ist das Apriori die Form des Sinnes; Zw 208) zweifelt, wer für möglich hält, daß es heute bei einem Menschen ein ganze anderes ist als morgen; daß es in der gegenwärtig lebenden Kulturmenschheit verschieden ist: der hat eben den Glauben an die Menschennatur verloren (vgl. auch VolkED 156f), der zweifelt an der Geltung überhaupt; der bezweifelt auch, daß er selbst zweifelt (Gs 130, 140). Da wir aber bewußt menschliche Wissenschaft treiben wollen (vgl. auch Gs 108), so fällt seine Meinung außerhalb unserer Untersuchung, und wir nennen seine Ansicht absurd. Ob freilich die menschliche Geistesart im Laufe der Geschichte konstant geblieben ist, ob sie im Kind nicht eine andere ist als im Erwachsenen, ob sie durch die "Bildung" nicht vielleicht leise modifiziert wird, ob sie im Schwarzafrikaner genau dieselbe ist wie im klassischen Künstler -, ob nicht das Tier eine ähnliche Geistesverfassung hat -, das sind Fragen, die meines Erachtens nur von der Psychologie und zwar der Entwicklungspsychologie beantwortet werden können. Die heutige Erkenntnistheorie kann und will jene Aufgaben sicher nicht lösen. Für sie bleibt die Frage nach den wesensgesetzlichen Voraussetzungen dessen, was wirklich Erkenntnis ist, somit die alte; auch für die Sucher des Transzendenten. Freilich, wenn die letzten Erkenntniselemente nur formal-logischer Natur sind, so wird sich der Glaube aller Menschen an ein transzendentes Sein, ja an ein Transzendentes überhaupt, als ein grundloser Wahn und Kinderglaube erweisen müssen. Ich glaube aber nicht, daß der Begriff des Apriori nur Elemente der Logik als Erkenntnisbedingungen zuläßt und sehe mich damit nicht im Widerspruch mit KANT, der doch Raum und Zeit (als den Anschauungsformen) apriorische Idealität verliehen hat. Absichtlich haben wir im Vorhergehenden nochmals auf die Notwendigkeit der Unbezweifelbarkeit mindestens einer Erkenntnis hingewiesen - die ja auch von VOLKELT an den Anfang seiner Erkenntnistheorie gestellt wird -, da diese letzte intuitive Einsicht (bei RICKERT der Glaube an die transzendente Notwendigkeit des Urteils, d. h. der Glaube an die Geltung des Sollens (Gs 131) nicht mit logischen Elementen weiter unterbaut werden kann, weil sonst ein regressus in infinitum möglich wäre. Ich bin nämlich überzeugt, daß, solange der Intuition ein Recht gelassen wird, eine andere Lösung des Transzendenzproblems möglich st, als dadurch, daß der Begriff der Transzendenz vom Sein auf das Sollen übertragen wird (Gs 200). "Beweisen" läßt sich allerdings die Transzendenz nicht, das hieße tatsächlich: über seinen eigenen Schatten springen wollen (vgl. auch VolkED 38: "So bestehen also die grundlegenden Schritte der Erkenntnistheorie nicht in einem Beweisen, sondern in einem Aufzeigen." Ferner HUSSERL (Jahrbuch I, 87). Mir genügt es aber, eine Möglichkeit für den Glauben an ein transzendentes Sein gefunden zu haben, d. h. dem Zweifel am ausschließlich kategorialen Sinn des transzendenten Seins ein Recht zu geben. Keine andere Wissenschaft scheint uns Erklärungsmaterial hierfür zu liefern als die Psychologie. Da ich aber in dem Kapitel über RICKERTs Konszentialismus ausführlich davon handeln will, kann ich mich jetzt gleich der Frage zuwenden, ob es RICKERT tatsächlich gelungen ist, seine Lehre von der Transzendenz von allen psychologischen Beimengungen freizuhalten. Gewiß - Vorstellungsmäßiges enthält das Sollen nicht. Dieser Umstand schließt aber noch nicht aus, daß das Sollen psychologische Züge an sich trägt. Freilich ist es auffällig, daß RICKERT die Psychologie auch fast nur mit der Feststellung zurückweist, sie habe es mit Vorstellungen zu tun (Gs 87, 83, 102, 105, 109, 110, 114, 115, 123, 124, 162, 150, 206). Einmal hält RICKERT sogar die Behauptung, daß Urteilen gleich Vorstellen ist, einer Entgegnung für wert (Gs 82, 132, 156). So kommt der Verdacht auf, als würde RICKERT daher die Psychologie auf Kosten der Logik unterschätzen, weil ihm ein zu ungünstiges Bild von der Psychologie vorschwebt. Es wäre nicht ausgeschlossen, daß an den obengenannten Stellen die formalistische Tendenz wirksam geworden ist, indem RICKERT nur dasjenige an der Psychologie gesehen hat, was seinen starren logischen Formen entspricht - die fixierten Gegenstandsbilder. Das ist gleichzeitig ein Grund, warum RICKERT seine psychologischen Gegner für viel zu harmlos hält. Gs 78 z. B. konstruiert er sich einen Vertreter der Psychologie. Ich werde später Gelegenheit haben, auf einen psychologischen Grund hinzuweisen, der gerade den Feinden der Vorstellungspsychologie die Annahme einer transzendenten Wirklichkeit selbstverständlich machen kann. Vgl. auch Gs 51:
Selbstverständlich gebe ich zu, daß die letzte Problemstellung der Erkenntnistheorie ganz anders ist als die der Psychologie. Während die der Erkenntnistheorie frägt: "Wie ist Erkenntnis möglich", antwortet die Psychologie immer auf die Frage: "Wie entsteht Erkenntnis?" bzw. "welche Bewußtseinsvorgänge liegen in einer Einzelerkenntnis vor." Dieser Unterschied in den Fragen schließt aber doch nicht eine gegenseitige Förderung aus. So wenig wir daran zweifeln, daß KANTs Idealität von Raum und Zeit manchen Psychologen darauf hinwies, die Raum und Zeit konstituierenden Faktoren nicht in der bloßen Wahrnehmung zu suchen, so wenig halten wir es für einen Psychologismus, in einer Erkenntnistheorie von einem Assoziationsgesetz zu sprechen. (Vgl. JAKOWENKO, Bericht über den III. Internationalen Kongreß für Philosophie, Seite 799). Ich teil die Auffassung Professor KRÜGERs (Halle), daß Psychologismen nur durch die Psychologie erkannt und beseitigt werden können. (Vortrag im Leipziger Akademischen-Philosophischen Verein am 25. Nov. 1913) Natürlich ist es der Psychologie sehr wichtig, das Seelenleben der Tiere, des Kindes, des Träumenden, des Wahnsinnigen zu kennen. Darin liegt aber am Ende nicht ihr Hauptinteresse. Vor allem kommt es ihr als einer Gesetzeswissenschaft (Gr 164) doch darauf an, eine Art Normalpsychologie zu sein, die z. B. vom Erkenntnisprozeß feststellt, wie er immer und bei jedem Menschen verläuft (vgl. dagegen Gr 181; Log III 232). Die Psychologie antwortet ja nicht bloß auf die Frage: Wie entsteht eine gewisse Erscheinung? - Sondern sie sagt z. B. auch, daß irgendwelche Unterschiede, etwa Seinsunterschiede, vorhanden sind. Warum sollen selbst für eine Erkenntnistheorie, der es mehr auf eine Deutung als auf eine Erklärung des Erkennens ankommt, solche konstante Funktionsformen unbrauchbar sein? Auch muß ein Blick in die Gefühlslehre davon überzeugen, daß eine konsequente Psychologie nicht zur Zersetzung des Erkenntnisbegriffs zu kommen braucht und bestreiten muß, daß es wahres Denken gibt (Zw 172). Sehr oft sind doch die Erkenntnisformen, denen auch von der formalen Logik ein Erkenntniswert zugesprochen wird, auch psychologisch nachweisbar. Wenn es in solchen Fällen unerlaubt sein soll, sich mehr der Führung der Psychologie als der der konstruierenden Logik anzuvertrauen, dann wollen wir gern jenen zugezählt sein, die den Sinn der Transzendentalphilosophie nicht begriffen haben. - Falls wir aber RICKERT in dem gegen die Psychologie versöhnlicher gestimmten Aufsatz über die zwei Wege der Erkenntnistheorie recht verstanden haben, so befinden wir uns mehr auf einem transzendental-psychologischen Pfad; und zwar ist es die Eigenschaft der Psychologie als einer Erfahrungswissenschaft, die uns dahin führt. Freilich ist dasjenige, was RICKERT Transzendentalpsychologie nennt, ein Danaergeschenk für die Erfahrungswissenschaft "Psychologie". Eine Wissenschaft, die "das Minimum von Trennung vornimmt, indem sie den Gedanken in einem Denkakt, den Sinn im Urteil den Wert in der Wirklichkeit sucht" (Zw 224), sollte man nicht der Psychologie eingliedern wollen, sondern offen als Phänomenologie oder Gegenstandstheorie ausgeben. Übrigens hört RICKERT nur dort auf, von Psychologismen zu sprechen, wo ihn die "reine Logik" im Stich läßt (wie z. B. Zw 224f) und wo er die Psychologie braucht. (Vgl. auch noch Zw 225 das geradezu rührende Bekenntnis: "Ein ganz klein wenig Transzendentalpsychologie treibt also auch die reine Logik, sogar ehe das ihr eigentümliche Verfahren einsetzt." ("Ohne Berücksichtigung des wirklichen Erkennens würde die transzendentale Logik zum Treil recht leer bleiben." "Weitaus das Meiste, was die Erkenntnistheorie bisher geleistet hat, ist auf einem transzendental-psychologischen Weg gefunden worden." (Zw 226) "Kants Verfahren ist im Wesentlichen transzendental-psychologisch." (Zw 227) Vgl auch Gr 603 über die Notwendigkeit, auf den "wirklichen Akt des Subjekts zu achten." Ich kann es aber auf keinen Fall billigen, daß jemand einmal vom Erkenntnisakt ausgeht und das andere Mal die logischen Voraussetzungen der Erkenntnis angeben will. Der Logiker und der Psychologe nehmen zwei grundsätzliche verschiedene Standpunkte ein. Die Psychologie muß in Mißkredit kommen, wenn sie vom Logiker ab und zu herangezogen wird, weil es der Logiker dann - aber auch nur auf diese Weise - fertig bringt, noch hinter die psychologischen Tatsachen zurückzugehen. Ein ganz auffälliges Beispiel dafür ist die Art, wie RICKERT die Tatsachen von Urteilen begründet sein läßt. - Ich werde noch zeigen, wie die Psychologie bei RICKERT den Dienst leisten muß, aus einem Bejahen und Verneinen ein Zustimmen zu einem Wert zu machen. Wenn die Psychologie nun aber spricht: "Eine Existenzerkenntnis ist doch gar kein Urteil", dann wendet ihr die Logik den Rücken und erwidert: der Einwand trifft nicht. Eine Tatsache hat in einem logischen Zusammenhang nur als konstatierte Tatsache eine Bedeutung (Gs 130). Ähnlich im Folgenden: Erkenntnistheoretisch kann RICKERT seine Wertlehre nur mit Hilfe der Psychologie begründen. Er dankt es der Psychologie aber schlecht; denn er findet an anderer Stelle (Gr 553) einen Grund, "nicht allzu viel von der Psychologie für die Klarlegung der Wertprobleme zu erhoffen. Wo der Schein entsteht, als könne man mit psychologischen Begriffen etwas zur Lösung von Wertproblemen beitragen" usw. - Vielleicht trägt die im nächsten Kapitel folgende Darlegung über das Wesens des Denkens dazu bei, meine Ansicht darüber zu veranschaulichen. Vorweg nehme ich aber dieses: Wenn es richtig wäre, daß das Denken, logisch betrachtet, im Anerkennen aufgeht (Gs 124), so sehe ich darin bloß einen Beweis dafür, daß die Logik nur einen Teil von den die Erkenntnis bedingenden Momenten erfaßt. Ich sehe im Denken einen für die Erkenntnis weit bedeutungsvolleren Faktor. Halten wir die einseitige Betrachtung der Psychologie als Vorstellungspsychologie für einen Grund, welcher RICKERT zur Verfolgung seiner anti-psychologischen Tendenz veranlaßte, so muß andererseits gesagt werden, daß RICKERTs eigene Psychologie doch nicht unanfechtbar ist. Ich erwähne nur folgenden Satz:
Ferner wäre es für mich sehr interessant zu erfahren, daß etwas, was vom Willen unabhängig ist, noch nicht vom erkennenden Subjekt unabhängig zu sein braucht (Gs 63). Diese Behauptung RICKERTs kann nicht richtig sein; denn einmal enthält der Wille Vorstellungselemente und zum anderen das Erkennen Willenselemente. Auch sehe ich nur in einer mangelhaften psychologischen Beobachtung den Grund der Behauptung, der Begriff eines Raumes von n-Dimensionen habe keine vorstellungsmäßige Stellvertretung im Intellekt (Gs 35). von der Transzendenz. Prüfen wir nun das RICKERTsche Transzendente weiter darauf hin, ob sich darin doch nicht etwa die Pschologie zur Geltung gebracht hat, so müssen wir zugeben, daß, solange das sollen nur Norm ist und zum Subjekt nur als Notwendigkeit in Beziehung steht, die formalistische Tendenz konsequent wirksam gewesen ist. Anders - wenn das Sollen ein Wert genannt wird. Alle rein intellektuelle Beurteilung ist wertfrei. Wertvoll kann uns ein Gegenstandd nur werden durch unser Gefühl. Das Gefühl aber ist ein echt psychologisches Element: es ist in seiner Eigenart nicht logisch zu erkonstruieren. Wer das Gefühl für die Erkenntnis als wichtig betrachtet, der sieht die Erkenntnis von der Seite des tatsächlich Auffindbaren, nicht unter dem Gesichtspunkt logischer Notwendigkeit. Natürlich sind Gefühle nicht ohne logischen Sinn. Der Logiker darf in ihnen aber nur den Ausdruck von Wesensgesetzlichkeit sehen. Wer etwa, wie VOLKELT, seine Erkenntnistheorie auf die Selbstgewißheit des Bewußtseins gründet, hat ein volles Recht, sich auf die Evidenz zu berufen: denn mit Evidenz muß nicht das Lustgefühl gemeint sein, unter dem sich eine intellektuelle Erkenntnis als Entspannung der verwendeten Aufmerksamkeit ankündigt. (Vgl. Volkant, Seite 273: "Doch ist andererseits nicht zu vergessen, daß der mit dem Bewutsein des Sollens verknüpfte sachliche Zwang weit mehr persönlicher Natur ist als die logische Nötigung usw." "Es ist die einfache und schlichte Natur der Sache selbst usw." VolkED 140f; VolkQ 33, 78f) Evidenz ist für den Erkenntnistheoretiker vielmehr ein Bewußtseinszustand der Aufgehobenheit aller logischen Widersprüche, der Selbstverständlichkeit, der Unbezweifelbarkeit, schlechthinniger Einsichtigkeit (vgl. auch HUSSERL, Jahrbuch I 36). Daß jede Bewußtseinsregung, jede Vorstellung und jedes Urteil mit Gefühlen verknüpft ist, ist eine psychologische Tatsache - aber eine psychologische. Am wenigsten dürfte also von Gefühlen als Gefühlen dann die Rede sein, wenn es dem Erkenntnistheoretiker nur auf die formalen Voraussetzungen der Erkenntnis ankommt; denn ein Gefühl ist das Inhaltvollste, Qualitativste, was sich denken läßt (vgl. dagegen Zw 219). Selbst dann freilich, wenn eine Erkenntnistheorie mit formalistischer Tendenz den Begriff der Notwendigkeit nicht aus dem Begriff der Erkenntnisform ableiten kann, erklärt sie ihren Bankrott und kann sich nur dadurch retten, daß sie eine Anleihe macht bei dem, was ich oben Normalpsychologie nannte. (vgl. RICKERTs Zugeständnis an die Psychologie, Zw 219) Sie muß fragen, welche Erkenntnisform beim normalen Erkennen immer und immer wieder zutage tritt. Der Erkenntnislogiker steht her an folgendem Punkt: Vor sich hat er eine Anzahl von Formen: die Norm des Sollens, die Form des Subjekts, die ganze Reihe der Urteilsformen. Er steht vor ihnen wie der Anatom vor dem blutleeren Gefäßsystem eines Leichnams: es bedarf nur einer geeigneten Stelle, um den schlaffen Leitungsbahnen durch einen Druck eine Flüssigkeit zu injizieren, die dem ganzen Adernetz wieder eine plastische lebensvolle Einheit gibt. KANT, für den ja die Notwendigkeit ein kategorialer Verstandesbegriff ist, definierte diesen einfach als dasjenige, was zu aller und jeder Zeit ist (Schematismus) und hielt sich so psychologiefrei. Wer aber fragt, worauf die Anerkennung der Notwendigkeit beruth (Gs 118), der verbirgt nur, was ihn interessiert, nämlich: "Wie entsteht Notwendigkeit?" Und das ist allerdigs "unlogisch". Stellte etwa auch RICKERT diese Frage, um mit dem Sollen die Transzendenz eines Wertes zu rechtfertigen? Welcher Umstand verbürgt eigentlich die Absolutheit der Geltung des Sollens? Derjenige, daß das Sollen in jedem Urteil, auch in den schlechthin unbezweifelbaren (Gs 132), notwendig anerkannt wird (Gs 114). Was heißt: ein Sollen notwendig anerkennen? Zu wissen, so und nicht anders urteilen zu sollen. Und woher zu wissen? - Aus einem Gefühl (Gs 114, 119). Hier also liegt der Schnittpunkt zweier Gedankenreihen: einer Kette von Erkenntnisformen und eines unformalen Gedankenganges. An dieser Stelle berühren sich Logik und Psychologie. Verfolgen wir nunmehr diese verborgene psychologische Linie bis zu ihren Anfängen und bis zu ihren letzten Spuren! Wir suchen zunächst eine Stelle auf, wo RICKERT das erste Mal jene Beziehung zur Psychologie herzustellen versucht. Gs 105 heißt es:
Bejahen und Verneinen setzt RICKERT gleich Billigen oder Mißbilligen (Gs 105). Daß diese beiden Begriffspaare einen grundsätzlichen Unterschied zum Ausdruck bringen, scheint RICKERT entgangen zu sein. Während die Worte Bejahen und Verneinen zur Darstellung einer gefühlsfreien Verstandeserkenntnis verwendet werden, entstammen die Ausdrücke "Billigung und Mißbilligung" der Begriffswelt der Affekte. Beide Begriffspaare können wohl zur Bezeichnung von ein und demselben Sachverhalt benutzt werden, aber sie bringen ganz verschiedene Seiten zum Ausdruck. Noch deutlicher wird der Unterschied in dem Satz "Was ich bejahe, muß mir gefallen, was ich verneine, muß mein Mißfallen erregen." (Gs 106) So erklärt es sich, daß RICKERT rein formale Urteilsfunktionen, wie es Bejahen und Verneinen sind, den Sinn von auf Gefühle bezogenen Gemütsbewegungen übernehmen. (Ähnlich WINDELBAND, Präludien III, 53f. - Vgl. dagegen MARTY, Untersuchungen zur Grundlage der allgemeinen Grammatik usw. 1908, 426 Anm. und ADOLF REINACH, Zur Theorie der negativen Urteile, Münchner philosophische Abhandlungen, 1911, Seite 197. - KANT, Kritik der Urteilskraft, Reclam, Seite 51: "Auch sind die jedem angemessenen Ausdrücke, womit man die Komplazenz [Wohlgefallen - wp] in denselben bezeichnet, nicht einerlei. Angenehm heißt jemandem das, was ihn vergnügt, schön, was ihm bloß gefällt, gut, was geschätzt (gebilligt) d. h. worin von ihm ein objektiver Wert gesetzt wird." Wahrheitskriterium. Der Einfluß der Gefühlspsychologie auf RICKERTs Lehre von der Transzendenz ist aber doppelter Art. Einmal besteht er in der eben besprochenen Begriffsvertauschung. Zum anderen macht RICKERT das Evidenzgefühl (vgl. HUSSERL, Jahrbuch I 39) zum Wahrheitskriterium (Zw 188; vgl. auch WINDELBAND, Präludien III 60); womit natürlich jeder Unterschied zwischen den Sätzen der spekulativen Metaphysik und denen der Wissenschaft hinfällig wird. RICKERT selbst nennt das Gefühl den psychischen Repräsentanten des Sollens (Zw 186). Auch hier kann die Brücke von der Transzendenz zum Subjekt nur geschlagen werden mit Hilfe des Evidenzgefühls. Diesen Ausweg müssen wir RICKERT freilich versperren; denn
2. dieser Notbehelf beruth - wie wir noch sehen werden - auf einer falschen Psychologie; 3. das Erkennende ist bei Rickert nur ein urteilendes Subjekt, kein fühlendes; 4. das Evidenzgefühl schlechthin kann kein Wahrheitskriterium, sondern nur ein Kriterium kritischen Denkens sein; 5. das Evidenzgefühl ist nicht dasselbe wie logische Urteilsnotwendigkeit (= Denknotwendigkeit); 6. auch die Denknotwendigkeit, die nur mit einem Evidenzgefühl verbunden ist, ist noch kein Wahrheitskriterium; da sie noch nicht die Unbezweifelbarkeit verbürgt. Die Denknotwendigkeit besitzt nur die höchste Form derjenigen Gewißheit, die im Denken erreicht werden kann; 7. es gibt ein anderes Kriterium wissenschaftlicher Wahrheit: die verstandesmäßige Einsicht einer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Die zwingende Notwendigkeit, mit welcher die wahrgenommene Wirklichkeit dem Denken gegenübersteht, begründet allein die Unbezweifelbarkeit. Und welche Bedeutung gewinnt dadurch das Gefühl in RICKERTs Erkenntnistheorie? Es ermöglicht die Erkennbarkeit des Transzendenten. RICKERT kommt auch selbst darauf zu sprechen (Zw 217f):
Transzendenzlehre und Rickerts anti-psychologische Tendenz. Diesen psychologischen Einschlag, den die Erkenntnistheorie durch die Einführung des Gefühls erhält, hat RICKERT wohl erkannt. Daher ist er bemüht, das Gefühl der Zustimmung und Ablehnung, das bisher keine andersartige Bedeutung hatte als die übrigen individuellen Gefühle des Menschen (Gs 133), vor allen anderen Gefühlen auszuzeichnen.
"Bei jedem Urteil setze ich in dem Augenblick, in dem ich urteile, voraus, daß ich etwas anerkenne, das unabhängig vom momentan vorhandenen Wertgefühl zeitlos gilt, und dieser Glaube an die zeitlose Geltung ist es, der die Eigentümlichkeit der logischen Beurteilung, wie wir die Bejahung oder Verneinung nennen wollen, der hedonischen Beurteilung gegenüber ausmacht." "Die Evidenz ist so zwar, psychologisch betrachtet, ein Lustgefühl, aber sie ist zugleich verbunden mit der Eigentümlichkeit, die anderen Gefühlen fehlt, daß sie einem Urteil zeitlose Geltung verbürgt und ihm damit für uns einen Wert gibt, wie er durch kein Lustgefühl sonst hervorgebracht wird." (Gs 112) Andererseits sucht nun RICKERT den psychologischen Charakter, den seine Ableitung der Notwendigkeit trägt, zu verwischen. Auf eine psychologische Frage möchte er nur eine logische Antwort gegeben haben. Die Urteilsnotwendigkeit soll nichts Psychologisches, "nicht etwa ein psychologischer Zwang", "keine kausale Notwendigkeit", sondern nur ein "logischer Grund" sein (Gs 114). "Die psychologische Tatsache ist hier ohne Bedeutung" (Gs 114); es kommt nur auf den Sinn an (Gs 115). Die logische Umdeutung des Gefühls führt RICKERT wieder in die Schwierigkeit, in die ihn die formale logische Tendenz schon öfter gebracht hat. Genau wie bei der Konstruktion des Subjektbegriffs und der Kategorien fehlt hier wieder einmal in der Reihe logischer Formen ein verbindendes Mittelglied. Und RICKERT führt es bezeichnenderweise so ein:
Ich sehe in diesem Zusammenhang ganz davon ab, ob Sinn und Bedeutung ohne weiteres als rein logische Voraussetzungen betrachtet werden können; doch verstehe ich nicht, wie die Psychologie als Quelle einer erkenntnistheoretischen Wahrheit verleugnet werden kann, wenn nur der eine Satz ausgesprochen worden ist:
des Gefühls. RICKERT ist also den zweiten der von mir angedeuteten möglichen Wege gegangen. Er hat eine Tatsache geltend gemacht, um einen Grund zur Annahme einer transzendenten Form zu haben; denn was das Transzendente ist, kann von einer logischen Formenreihe aus nicht bestimmt werden. War er dazu gezwungen? - Ich bezweifle es. Das Bejahen und Verneinen, das allein im logischen Urteil enthalten ist, muß doch nicht gerade gesollt werden, weil es gesollt wird (Gs 118); es könnte doch noch ganz andere vom urteilenden Subjekt unabhängige, Imperative erteilende, d. h. die Notwendigkeit bedingende Faktoren geben, als es die Werte sind. Notwendigkeit allein wird logisch gefordert. Ob sie durch das Stellungnehmen zu einem Wert im Urteil (Gs 105) begründet wird, ist eine ganz andere, nicht einmal rein logische Frage. Nun müßte in einer streng logischen Erkenntnistheorie auch das Stellungnehmen zu einem Wert (Log III 240; Zw 220) eine logische Forderung sein. (Vgl. Log IV 300) Das ist aber sinnlos, weil ein Wert nichts Logisches, sondern etwas Inhaltliches, Psychologisches ist (vgl. auch VOLKELT, System der Ästhetik III, 498). Andererseits könnte das Stellungnehmen zu einem Wert auch nicht mehr sein als eine logische Voraussetzung, da es psychologisch durchaus nicht immer auffindbar ist. Auf die Frage: Warum ich von den Blumen, die auf meinem Tisch stehen, sagen muß, sie blühen und nicht, daß sie welk sind, können wir nur antworten: weil wir es sehen. Wer diesen Grund nicht gelten läßt, für den bleibt nur eins übrig: zu behaupten, daß die Anerkennung des Wahrheitswertes unbewußt geschieht (vgl. Gr 591; Gr 597 über das "implizite" Anerkennen von Werten.) Das wäre aber eine Behauptung ohne Beweis. Zudem steht eine Flucht ins Unbewußte zu sehr in Verruf, als daß sie nicht von vornherein für einen Rückzug gehalten werden sollte. Es verlang aber zunächst kein Erkenntnistheoretiker zu wissen, warum es Notwendigkeit gibt. Das wäre allerdings gleichbedeutend mit der Frage nach dem Weltgrund (vgl. Gs 49). Zweitens ist es tatsächlich eine rein psychologische Angelegenheit zu erörtern, unter welchen Erscheinungen sich die Notwendigkeit einer Erkenntnis im Menschen anzeigt. RICKERT hätte die Form der Notwendigkeit einfach logisch, d. h. als apriorisch, postulieren können. Dann hätte jeder gewußt: es handelt sich um die Form eines Komplexes von Gefühls- und Einsichtsmomenten. Eine weitere echt erkenntnistheoretisch-logische Problemstellung wäre die gewesen: Welche logischen Voraussetzungen hat die Notwendigkeit? Und wenn RICKERT darauf geantwortet hätte: "das Sollen als Norm"; dann hätten wir weiter gefragt: Welches sind die Bedingungen dafür, daß etwas gesollt, ein anderes nicht gesollt wird? Daraus geht gleichzeitig hervor, warum RICKERT eine psychologische Tatsache zu seiner Begründung des Transzendenten verwendet hat, nämlich: um dem logischen regressus in infinitum zu entgehen. Hier sehen wir deutlich, daß dieser Regressus unausbleiblich wäre, da eine Form doch immer die Form von etwas sein muß. Es heißt den Begriff der Form aufheben, wenn man die Form nicht Form von etwas sein läßt. - Da RICKERT nunmehr auf die Frage einging, wie es tatsächlich zugeht, daß wir das eine Mal notwendig mit Ja, das andere Mal mit Nein antworten, mußte er seinen transzendental-logischen Standpunkt verlassen. Er mußte es um seiner formal-logischen Tendenz willen. Urteilsnotwendigkeit (d. h. als Übergang zum Sollen) einzuführen, ist unverträglich mit der Psychologie. RICKERT wäre aber vielleicht darauf aufmerksam geworden, wenn er noch psychologischer verfahren wäre; denn seine Psychologie des Gefühls scheint mir angreifbar. Daher will ich seinen psychologischen Beweis erst einmal psychologisch widerlegen. - Das Sollen, das sich im Subjekt geltend machen muß, tut sich kund in einem Gefühl. Das Subjekt aber ist nur ein urteilendes Subjekt (Gs 144, 147): es entscheidet nur zwischen Ja und Nein (Gs 102). Die Notwendikeit, so und nicht anders zu urteilen, liegt aber in einem Gefühl. Das Gefühl bestimmt also Letztenendes die Wahl (Gs 106, 108); denn der Akt des Bejahens oder Verneinens ist nur die Anerkennung des Wertes der Gefühle (Gs 106). Und da Anerkenen gleich ist dem Erkennen, wird die Erkenntnis durch Gefühle bestimmt (Gs 106). Vor allem, da ich wie STUMPF und VOLKELT der Meinung bin, daß psychologisch Richtiges nicht auch schon eine erkenntnistheoretische Einsicht zu geben braucht, das erkenntnistheoretisch Richtige psychologisch aber nicht falsch sein darf (VolkQ 77; SCHELER, Meth. 160; dagegen Zw 191), so weise ich darauf hin, daß die heutige Psychologie noch an der Priorität der Bewußtseinsvorgänge vor den Gemütsbewegungen festhält; zumindest sind keine Fälle bekannt, wonach ein freies Gefühl eine Vorstellung erzeugen könnte. Gewiß kann ein Gefühl andere Vorstellungen assoziieren; aber jenes Gefühl ist doch erst von Vorstellungen hervorgerufen worden. Ich bin von der Unmöglichkeit einer Priorität der Gefühle vor den Vorstellungen überzeugt; oder - um mich noch vorsichtiger auszudrücken: ich behaupte zumindest eine Koordination, d. h. Prioritätslosigkeit zwischen Gefühl und Vorstellung (vgl. auch WINDELBAND, Präludien III 259:
Auf jene psychologische Erörterung müssen wir auch verweisen, wenn RICKERT sagt:
ist kein Gefühl. Meines Erachtens ist das Evidenzgefühl, das in RICKERTs System die Entscheidung der Beurteilung bedingt, nur die Begleiterscheinung einer bereits vollzogenen Beurteilung. Das Gefühl der Notwendigkeit stellt sich ein, wenn der Verstand die Notwendigkeit gesehen hat; wenn er einsieht, daß es keine andere Möglichkeit gibt. Die logische Notwendigkeit selbst ist gar kein Gefühl. psychologischen Elemente. a) Das Transzendente als Wert. Was erreicht RICKERT aber mit dieser Heranziehung der Psychologie? - Daß sein Transzendentes zu einem Wert wird (Gesch 128). Wenn anderen die bloße Denknotwendigkeit zu einem Hinweis auf die Existenz des Transzendenten wurde, kann RICKERT von der Qualität eines Gefühls aus einen Schluß auf die Wasbestimmtheit seines Transzendenten ziehen. So erklärt es sich, daß RICKERTs Gegenstand der Erkenntnis, der doch eigentlich als aus Subjekt- und Urteilsformen abgeleitet und als erkenntnistheoretischer Begriff nur Form sein dürfte (vgl. auch Gs 243), einen Inhalt bekommt; d. h. Gegenstand wird (vgl. Log II 32f). NB.: In der Abhandlung "Zwei Wege der Erkenntnistheorie", Seite 209, trennt RICKERT Wert und Sollen. "Das Sollen ist nicht der reine Wert"; weil es eine irreführende Beziehung auf das Sein herbeiführen kann. RICKERT unterscheidet hier auch zwischen Norm und Wert. Der Transzendenzbegriff RICKERTs hat sich im Ganzen in diesem Aufsatz etwas nach der Sinnesseite hin verschoben. - Doch soll das Wort Wert nur die bessere, einzig richtige "Bezeichnung" für den Gegenstand der Erkenntnis sein (Zw 212). Zudem soll (Zw 214) der Unterschied von transzendentem Wert und transzendentem Sollen von untergeordneter Bedeutung sein; ja, beide werden sogar identifiziert. Über Wert und Zweck vgl. Log II 143f. Einen weiteren folgenreichen Schritt bedeutet es, wenn das Sollen selbst zu einem Wert gemacht wird. Es liegt etwas Widersprechendes in dieser Gleichsetzung. Im Begriff des Wertes liegt doch nur das Anerkanntwerden; - rein Passives.
Jedes Sollen aber ist aktiv, hat ein Willensmoment an sich. (Vgl. dazu: "Der Wert wird sofort zum Sollen, sobald man ihn auf ein erkennendes Subjekt bezieht." (Zw 210) "Man kann nach ihm (dem Moralismus) den Wert geradezu als das definieren, worauf sich ein praktisches Verhalten richtet. Gegenstand praktischer Stellungnahme sein - das ist die Umschreibung des Wertbegriffs. Ein Anerkennung forderndes Gelten auf der einen und ihr korrespondierende Hingabe auf der anderen Seite - das ist die letzte Zweiheit, Gespaltenheit und Korrelativität im Wertbegriff." / Emil Lask, Gibt es einen Primat der praktischen Vernunft in der Logik?, Bericht über den III. Internationalen Kongreß für Philosophie in Heidelberg, Seite 671f) Diese Kombination von gefühlsmäßig sich Anzeigendem und urteilend Anerkanntem, Geltung und Wille, von Logischem und Psychologischem, führt RICKERT dann auch dazu, in der Quelle und dem Gegenstand der Erkenntnis Ursprung und Zweck des praktischen Verhaltens zu sehen (Gs 230, 234). Zu den Voraussetzungen von Erkenntnistheorie (Gs 139) und Wahrheit (Gs 140) soll ein Wille gehören (Gs 233). Ich gebe gerne zu, daß theoretische und praktische Vernunft einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben (Vorwort zu Gs); denn ich halte Denken und Tun für psychische Komplexe in denen entweder das intellektuelle oder das praktische Moment dominiert (Gs 231). Daß der Primat des Willens etwas anderes ist als der Primat des sittlichen Willens, werde ich später noch zeigen. Wer aber bewußt nur die Erkenntnisform sehen will, muß dann auch beachten, daß die Formen des Verstandes nicht dieselben sein können wie diejenigen des Willens. Die Formalität des kantischen kategorischen Imperativs legt es nahe, die Formen der praktischen und reinen Vernunft zu identifizieren, - und mehr als ein Ideal, wie KANTs Sittengesetz eines ist, hat ja auch RICKERT nicht geben wollen (Gs 165; vgl. den Subjektbegriff als Ideal Gs 201, 206). Dennoch kann die Logik der Erkenntnis nicht gleich sein einer Logik der Ethik; die Formen des Willens und seiner Gefühle sind eben ganz andere als diejenigen, welche den intellektbeherrschenden Satz der Identität enthalten. Wenn einmal die Ethik logisiert wird, dann kann von einem Primat überhaupt nicht mehr gesprochen werden. Es bleiben hier etwa die Urteilsformen, dort die Willensformen als letzte Elemente stehen (vgl. auch LASK, a. a. O., Seite 677). Aber selbst wenn RICKERT zugäbe, daß er hier ein Zugeständnis an die psychologische Ethik gemacht hat, würde seine Begründung des Primats der praktischen Vernunft noch auf eine psychologischen Hypothese beruhen (Gs 140, ATH 145). Es ist doch eine Tatsache, daß Gefühle für irgendetwas erst geweckt werden können. Die Pädagogik basiert ja auf diesem Satz. Warum sollen sich jene Gefühle, in denen RICKERT die Gewissensstimme des Sollens vernimmt, nicht erst gebildet haben an dem, was immer und immer wieder im Erfolg seine Bestätigung gefunden hat? Wer bürgt dafür, daß die Evidenz- und Notwendigkeitsgefühle nicht nur eine Art Bekanntheitsgefühle sind? Ob Wirklichkeit, ob Wahrheit eher war, ist vielleicht "logisch", aber noch nicht psychologisch entschieden (Gs 166, 117). Anders, wenn "logisch" soviel wie "wesensgesetzlich" heißen würde; dann könnte es gar niemals zu einem Konflikt zwischen Logik und Psychologie kommen, weil das Wesen eines psychischen Gegenstandes, wie das Gefühl einer ist, von der Psychologie mit festgestellt werden muß. Transzendenz des Wertes. RICKERT weiß aber noch einen anderen Weg, um sein Transzendentes in die Erkenntnistheorie als Wert einzuführen. Genau so, wie er in der transzendental-psychologischen Betrachtung (Zw 181) vorausgesetzt hat, "daß Wahrheit etwas ist, was sein soll" (Zw 191), so geht er auf seinem "transzendental-logischen" Weg davon aus, daß "der Begriff des Seins" "nicht der einzige" "ist",
"Die Negation des Seins ergibt als bloße Negation nur das Nichts. Die Negation des Wertes dagegen kann ebenfalls das Nichts bedeuten, aber auch ein Etwas, nämlich den negativen Wert." "Der Begriff des Wertes" "hat" eine engere und eine weitere Bedeutung. "Seinsbegriff haben eine engere und eine weitere Bedeutung von dieser Art nicht." "So wird der Unterschied zwischen Sein und Wert ganz im Allgemeinen also dadurch deutlich, daß wir nur von einer Negation des Seins und nicht von einem negativen Sein reden können, während wir beim Wert sowohl eine Negation des Wertes überhaupt, das Nichts, als auch einen negativen Wert, den Unwert, erhalten." Wenn wir uns über den Wert dieses Kriteriums klar werden wollen, dann sehen wir uns genötigt, die Reihe der von RICKERT angeführten Beispiele um einige zu vermehren, die eben auch in das Wertschema passen, deren Wertcharakter mir aber nicht ohne Weiteres einleuchtet (vgl. auch HUGO BERMANN, Das philosophische Werk Bernard Bolzanos, 1909, Seite 105f; FRISCHEISEN-KÖHLER, "Wissenschaft und Wirklichkeit", 122f). Tag - kontradiktorischer Gegensatz davon: Nicht-Tag (etwa Baum). Das Gegenteil von Tag ist Nacht. Um dieses Beispiel in eine arithmetische Form zu bringen, so gilt auch vom Begriff Tag die seltsame Gleichung
1 + 1 = 1 Und warum versagt hier RICKERTs Kriterium? - Weil er von einer Begriffsvermischung ausging. Es ist nicht richtig, daß "die Negation des Seins" "als bloße Negation nur das Nichts" ergibt. Die Negation des Seins ist vielmehr das Nichtsein, wobei dieser Begriff auch eine halbe Seite von dieser angeführten Seite vorkommt. Und das Nichts ist nicht nur der Gegensatz zum Sein, sondern auch das Gegenteil von "Alles" (vgl. auch Log I 20: "In diesem Nichts das All zu finden."). Wir selbst mußten bei einem Versuch, die Beziehungen der Begriffe "Etwas", "Alles", "Sein", "Nichts" zu bestimmen, einsehen, daß bei der Bildung des Begriffs Sein und dessen ganzem Begriffsgefolge Sprache, Phänomenologie, Logik und kategoriales Denken zusammengewirkt haben. Dabei sahen wir, daß das Sein je nach der Betrachtungsweise als Begriff, Gegenstand, Gedanke, Kategorie oder Ding erscheint. Es wäre müßig, mit solchen logischen Begriffspaaren in der Erkenntnistheorie weiter zu hantieren. Und wenn RICKERT über die angedeuteten Schwierigkeiten hinwegschreitet, so sehe ich darin einen deutlichen Beweis für die Tatsache, daß die Weltanschauung eines so bedeutenden Logikers, wie es der Verfasser der "Grenzen" sein muß, durchaus nicht etwa als einziger Zusammenhang logischer Konsequenzen entstanden ist. Ich meine also nicht, daß mit dem Nachweis einer Begriffsvermischung ein System zu Fall gebracht werden könnte - eine Idee wie diejenige von der Werttranszendenz steht der Anschauung und damit der Wahrheit viel näher, als eine richtige logische Schlußkette. Wir erklären nur, daß RICKERTs "transzendental-logischer" Weg ins Zwischenreich des Sinnes als einer Provinz der Wertsphäre für uns noch weniger gangbar ist als der "transzendental-psychologische". Wenn ich nun der Intention RICKERTs nachzukommen suche, so glückt es mir vielleicht, die psychologische Parallele aufzuzeigen, deren logischen Sinn RICKERT nachkonstruieren wollte. Wir sehen die Parallele zur Doppelsichtigkeit des Wertes in einem weiteren Sinn (als positiver und negativer Wert) in der Gegensätzlichkeit der Gefühle und Affekte. Ich denke an die allgemeinsten Gegensätze von Lust und Unlust und brauche nur noch darauf hinzuweisen, daß alle Gefühle und Affekte in einem schier endlosen konträren Gegensatz angeordnet werden können, in der Mitte, dem Nullpukt, die Gleichgültigkeit, die Indifferenz (d. h. eben kein Gefühl). Daß der Wertcharakter eine Gefühlseigentümlichkeit ist, sagte ich schon. Und damit haben wir wieder - was ich wollte - RICKERTs anti-psychologischer Tendenz auf die Wirkung einer psychologischen zurückgeführt, und zwar ohne eine Verwechslung von Wert mit Wertung begangen zu haben (Log I 12). Subjekt als Konsequenz der Werttranszendenz. Noch in zweifacher Hinsicht wird nun der Umstand, daß RICKERT das Sollen zu einem transzendenten Wert erhebt, für seine Lehre von der Transzendenz bedeutsam. Einmal wird es dadurch RICKERT möglich, seinen anti-psychologischen Subjektbegriff zu bilden, bzw. dessen Bildung zu rechtfertigen, - zum andern entsteht durch jenen Umstand in RICKERTs Erkenntnislehre ein Zirkel. Wenn mir an RICKERTs Begriff vom Subjekt als widerspruchsvoll erscheint, daß es urteilt, also aktiv ist, wo doch nur ein Begriff ist, so wird mir nunmehr dieses Verhältnis klarer. Was ich an RICKERTs Subjekt vermißt habe, war eben das Funktionelle, Tätige, Wollende. (vgl. Log I 27: "Wir können, auch abgesehen vom Wert, den Begriff des stellungnehmenden, aktiven, wollenden Subjekts in einer umfassenden Weltanschauung nicht entbehren", - wo freilich das Subjekt der Begriff eines Sinns sein soll.) Da aber die Erkenntnis in einem Akt erreicht wird, so kann dieses Strebende auch in RICKERTs System nicht fehlen. Ich habe es sogar schon wiedergefunden: im Sollen selbst. Dem Subjekt ist das Willenhafte genommen worden ("ich kann es nicht willkürlich bejahen oder verneinen" (Gs 112) und gegeben wurde es einem Vorsubjekt. Ja, RICKERTs Bewußtsein überhaupt, das zu einem begrifflichen Medium verschrumpft ist, ist im Grunde gar kein Subjekt mehr. Das Eigentümliche dessen, was wir Subjekt zu nennen gewohnt sind, findet sich ja im Sollen. - Durch das Sollen, das Normative, kommt erst Fluß und Leben in die begrifflichen Formen. Ohne psychologische Zutat wäre eben das Sollen als bloße Form nicht fähig, auf das Gefühl zu wirken. Und das Subjekt läßt sich ja vom Sollen Direktiven geben, was RICKERT darum mit dem Subjekt vereinbar finden muß, weil sich das Erkennende nach dem zu Erkennenden zu richten hat. Das "Sollen" setzt jemand voraus, der befiehlt, - und ein Gemüt, das empfindet. Etwas anderes als eine Wirkung kann zwischen beiden nicht stattfinden. Bloße Formen können aber nicht wirken, weil sie funktionslos sind. Zudem liegt hier ein Kausalitätsverhältnis zwischen verschiedenen Seinsweisen vor, was nach RICKERT widerspruchsvoll ist (Gs 47). Es scheint, als habe RICKERT diesem Mangel abhelfen wollen, indem er zwischen Sollen und Subjekt das Mittelreich des immanenten Sinns legte. Solange RICKERT konsequent ist, gilt von seinem Sollen VOLKELTs Kritik (Deutsche Literaturzeitung 1893, Nr. 11, Seite 323): "Ein Transzendentes von völlig isolierter, zusammenhangs- und daher haltloser und zudem von unausgedachter und überdies von erkenntnistheoretisch unergiebiger Natur." In irgendeiner Inkonsequenz mußte der Widerspruch zum Austrag kommen, daß ein Wert, der ja nur in seiner Beziehung zum ganzen Menschen einen Sinn hat, auf ein Subjekt bezogen wird, das ein toter Begriff ist. Und daß RICKERTs Subjekt zu einem toten Begriff, ja zu etwas werden mußte, was eben kein Subjekt mehr ist, leuchtet wiederum ein, wenn man RICKERTs Wunsch bedenkt, unser ganzes Seelenleben kennen zu lernen (Gr 136). Einmal ist es unmöglich, von einem psychologischen zu einem erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Gegensatz zu kommen, der die Mängel des psychologischen vermeidet; die Tatsache, daß mancher Erkenntnisgegenstand nicht beobachtbar ist, kann auf diese Weg nicht ohne Willkür ausgemerzt werden. Zweitens heißt: das ganze Seelenleben kennen lernen wollen, nichts anderes, als: das Subjekt-Objekt-Verhältnis aufheben. (Vgl. auch SCHELER, Meth 157) Und das tut RICKERT, wenn er das Individuelle (Gs 143; Fest 69; Gr 139), das Wollen, das Fühlen für immanent objektivierbar erklärt, - womit natürlich dem Solipsismus der Boden entzogen werden soll. Das Subjekt ist aber etwas Individuelles. (= psychologisch) nicht erfaßbar. Lag aber eigentlich eine Nötigung zu der oben erwähnten Begriffsverschiebung zwischen Sollen und Subjekt vor? Wir halten sie nur für eine nachteilige Folge von RICKERTs anti-psychologischer Tendenz. Zunächst einmal ist klar, daß der Begriff des Subjekts ein rein erkenntnistheoretischer und kein psychologischer ist. Wenn der Psychologe das rein psychisch Beobachtende vom Beobachteten scheiden will, so spricht er von Selbstbewußtsein und Bewußtseinsinhalt. Schon, daß RICKERT die Begriffe "Subjekt" und "Bewußtsein überhaupt" für einander gebraucht, ist bedenklich (vgl. auch SCHLUNKE,49f, 55, 116; Gr 133 137; Gr I 174 und GR II 139, wo RICKERT für Subjekt oder Bewußtsein einsetzt: Subjekt oder Bewußtseinsform). Zu groß ist die Gefahr, alle zwischen Bewußtsein und Bewußtseinsinhalt bestehenden Beziehungen auf das Begriffspaar von Subjekt und Objekt zu übertragen und dadurch vorzeitig (hier ein Subjekt) zu konstruieren. Die Korrelation von Subjekt und Objekt (vgl. Gs 147f) ist diejenige von Erkennendem und zu Erkennendem (vgl. SCHLUNKE 50f). Zu dem zu Erkennenden gehören erstens alle Objekte, die nicht erkannt sind, zweitens die Erkenntnis selbst, auf die Erkenntnis selbst wird das Subjekt dann aufmerksam, wenn es wissen will, was ihm von dem, was noch nicht erkannt ist, erreichbar ist. Richtet sich das Subjekt aber auf die Erkenntnis, so ergeht es ihm wie einem Träumenden, der in einem Fremden schließlich sich selbst erkennt. Die Erkenntnis selbst ist ohne Erkennendes nicht erkennbar. Da hiernach das Subjekt gleichzeitig Objekt sein soll, liegt ein Widerspruch in der Forderung, ein Subjekt, das nur in Bezug auf ein bestimmtes, noch nicht Erkanntes existieren kann, soll sich selbst erkennen. Richtet es sich dann auf dieses Subjekt, dann richtet es sich wohl auf das in jenem Erkenntnisprozeß tätige Subjekt, aber nicht mehr auf sich selbst. So rächt sich nur ein sinnwidriges Verlangen. Die Lage, in welcher sich das Subjekt befindet, läßt sich etwa so veranschaulichen: es gleicht einem Tänzer auf einer rollenden Kugel, der nur bestimmte Felder von deren Oberfläche betreten will, dessen Fuß aber doch niemals das Feld berührt, das er zu betreten wünscht, weil er es erst gesehen haben muß. In dem Augenblick, wo er niedertritt, hat sich eben auch die Kugel wieder ein Stück fortbewegt. - Oder man könnte es auch einen Lurch nennen, den man an einem Arm zu fassen sucht, der aber in dem Moment, wo einem das glückt, das erfaßte Glied von sich stößt und immer wieder entweicht. - Das aussichtslose Unternehmen, das Subjekt zu isolieren, erinnert an den Menschen, der sich von seinem Schatten (Objekt) zu befreien sucht. Er hebt den Fuß, springt und glaubt nur noch, er selbst zu sein. Doch sobald er wieder zur Erde kommt, existiert er nicht mehr allein, sondern es sind wieder zwei Bilder des einen Menschen vorhanden - weil es immer zwei waren. - Er ähnelt auch einem Mann, der das letzte, kleinste Teilchen finden möchte. Er spaltet und spaltet: und wenn er zusieht, hält er immer wieder zwei Teile in der Hand. Er kann nicht zu Ende kommen (vgl. auch SCHELER, Meth 149f und den dort angeführten Vergleich ZIEHENs). Damit will ich die Unmöglichkeit, das Subjekt empirisch zu erfassen, dargestellt haben (VolkED 86f; Gr 137; Gs 146). Das ist vom logischen Standpunkt aus ganz selbstverständlich, weil Subjekt und Objekt im Grunde nur einen Begriff bilden. Subjekt ist das Aktive, Objekt das Passive. Eins kann ohne das andere nicht gedacht werden. Da sich das Subjekt nicht beschreiben läßt wie das Objekt, werden auch wir uns damit begnügen müssen, den Begriff des Subjekts zu bilden. Darin gebe ich also RICKERT nochmals recht, daß die Erkenntnistheorie nur einen Begriff vom Subjekt bilden kann, daß sie das Subjekt nicht selbst in seinem Wesen erfaßt (Begriff ≠ Wesen). Ich weiche aber darin von ihm ab, daß das erkenntnistheoretische Subjekt selbst ein Begriff ist. Es kann mir also auch im Folgenden nur darauf ankommen, RICKERTs Subjektbegriff zu prüfen - (die Bildung des Subjektbegriffs habe ich oben betrachtet). Vor der rückschreitenden Selbstbesinnung weicht das Subjekt in gleichem Abstand zurück. Wer das "reine Ich" sehen will, kommt niemals weiter als er vorher war: er kann nur immer wieder feststellen, daß es so etwas gibt. Ist das aber alles, was von der transzendentalen Apperzeption ausgesagt werden kann? - Wenn sie sich auch der direkten Erforschung entzieht, so läßt sich doch ihre besondere Äußerungsweise auf indirektem Weg erkennen. Und diese halten wir zur Bildung des erkenntnistheoretischen Subjekts (d. h. zur Bildung des Subjektbegriffs) für wesentlich; mag das Folgende auch auf eine psychologische Untersuchung hinauslaufen. Daran dürfte wohl nicht gezweifelt werden, daß das Bewußtsein jedem Inhaltskomplex gegenüber eine besondere Haltung einnimmt. Vor einer Tat ist sie eine ganz andere wie im Genuß, im Gespräch mit einem witzelnden Freund eine viel schärfere wie in der Unterhaltung mit einem Kind, nach einer grübelnden Überlegung über das erkenntnistheoretische Subjekt wieder eine ganz andere als vorher. Ein glücklicher Umstand ist nun, daß auch diese Bewußtseinslagen in die Erinnerung eingehen. Nachträglich kann ich noch auseinanderhalten, was in diesem Fall Subjekt, im anderen Objekt war. daher ist auch eine Selbstbeobachtung sehr wohl möglich und kein widerspruchsvoller Begriff; und allein aufgrund dieses Umstandes vermag ich mit RICKERTs Behauptung einen Sinn zu verbinden, daß das Individuelle objektivierbar ist (Gs 25). Mit dieser Rechtfertigung der Selbstbeobachtung wollen wir überdies nicht gesagt haben, daß alle Bewußtseinsphänomene beobachtbar sein müssen (vgl. dazu SCHELER, Meth 161). Abgesehen von abnormen Bewußtseinszuständen, wie sie etwa beim Betrunkenen - von dem der Volksmund sehr treffend sagt, daß er sich vergessen, d. h. sich seines Subjekts nicht mehr bewußt sein kann - oder wie sie in einer ganzen Stufenfolge vor dem Einschlafen eintreten, können sich die Grenzen dessen, was dem Objekt gegenübertritt, verschieben. Nun kann das Subjekt nichts anderes sein, als was dem Objekt entgegentritt, durchaus nicht etwa immer der letzte Rest von Selbstbewußtsein oder vielmehr der Rest vom letzten Unbewußten, dessen Existenz sich gerade noch ankündigt (Gs 68). Im Leben ist das Bewußtsein von dem, was augenblicklich Subjekt ist, nicht gehaltvoller als in dem Moment, wo ich den Gedanken: "Ich bin Ich" zum tausendsten Mal vollziehe und dieses neue Ich von Neuem vom Subjekt abgliedere. Wir wissen immer nur, daß wir sind, zumindest haben wir das Selbstgefühl einer eigenen Existenz: Mit Ausdrücken der WUNDTschen Psychologie könnte man sagen, das Subjekt steht niemals im Blickpunkt, wohl aber im Blickfeld des Bewußtseins; es kann gerade noch mit wahrgenommen werden. Und solange wir uns nur dieser Tatsache bewußt sind, verändert sich das Subjekt noch nicht. Die erste Frage: "Wer bin ich?" treibt das Subjekt in einen engeren Kreis zurück, von wo aus es sich bis zur Unangreifbarkeit zurückziehen - aber auch mit dem weniger Neugierigen wieder hervortreten kann. In scherzhafter Rede könnte man sagen, daß es sich immer inkognito hält. Seine Sphäre weitet sich wieder, und deren Grenzen scheinen sich in einem ästhetischen Genuß zu verlieren (weshalb auch RICKERTs allzu formales Teilungsverfahren nicht immer auf das Seelenleben anwendbar ist; vgl. auch Log IV, 309; Gr 136), ganz aufgehoben scheint seine Existenz im Tod und im traumlosen Schlaf, in einer erkenntnistheoretischen Untersuchung wird es wiederum zurückgedränkt auf das Ich, das nur noch sich selbst setzen kann. Jedenfalls ist es vorhanden, solange noch Bewußtsein vorhanden ist, d. h. solange es überhaupt noch den Unterschied von Erkanntem und Nichterkanntem gibt. Und das hatte ich erkenntnistheoretisch so gut wie psychologisch vorausgesetzt; aus welchem Grund ich auch zugeben kann, daß das Subjekt nicht entsteht und vergeht (Gs 167). Beachtenswert schien mir nur die Eigentümlichkeit, daß das Subjekt alle drei Subjekt-Objekt-Gegensätze, die RICKERT aufdeckt, durchlaufen kann (1). - In HUSSERLschen Ausdrücken heißt dies, daß sich das Subjekt seinem Objekt entsprechend einstellt und dabei alles, was nicht Objekt ist, einklammert, das Ich mit (vgl. auch Gr 139, 308, 138: "Das erkenntnistheoretische Subjekt tritt niemals isoliert auf). Dieses Verfahren des Subjekts, sofort alles in sich zusammenzuraffen und sich damit dem Objekt gegenüber in Distanz zu bringen, nenne ich: Stellung nehmen. Alles Nichtbewußte scheint umschlossen zu sein und sich als Komplex einem "Objekt" (ob-jectum) entgegenzustellen. Das Objekt aber ist nichts anderes als dasjenige, was das Subjekt fesselt. Auch das "mein" von meinem Bewußtsein kann eingeklammert werden. - Dem Solipsisten, der sich natürlich damit noch nicht getroffen fühlt, werden wir noch zu antworten versuchen. Dabei werden wir gleich die Frage mit erörtern, ob das Objekt ohne weiteres ins Bewußtsein eingeht. Daß RICKERT auch ein solches Subjekt gar nicht anerkennen kann, ist nur zu begreiflich, da er hiermit auf ein unentbehrliches Beweismittel gegen den Realismus verzichten und die einzige Waffe gegen den Solipsismus aus der Hand geben würde. Freilicht mutet er denen, die sich mit seiner Subjektskonstruktion einverstanden erklären können, eine etwas grobe Psychologie zu.
Ein ganz besonderer Fall jener Einstellung liegt nun vor, wenn sich das Subjekt auf diejenige Einstellung besinnt, die es selbst im eben verflossenen Erlebnis eingenommen hat. Dann ist es sich dessen bewußt, was es eben war; sich seiner selbst ist es natürlich wieder nicht bewußt. Das erkenntnistheoretische Subjekt wird deshalb noch nicht in seiner Eigenart bezeichnet, wenn man es "Bewußtsein überhaupt" nennt. Eher möchte ich es als das sich selbst setzende Ich ansprechen. Als solches steht es allerdings am Ende einer Reihe von Subjekt-Objekt-Gegensätzen. Inhaltlich verändert es sich nicht mehr, wenn es einmal gesagt hat: "Ich bin ich". In seiner Tätigkeit aber, sich jedem beliebigen Objekt, besonders sich selbst, entgegenzustellen, ist es unbeschränkt. Dieses Tätige und das sich seiner selbst Unbewußte halte ich für die Wesensmerkmale des Subjekts, auch des erkenntnistheoretischen. Mein Subjekt ist somit das Persönlichste und Individuellste, was es gibt. für Rickerts Subjekt. Das Funktionelle aber muß dem Subjekt verloren gehen, wenn man es zu einem Begriff, der letzten und leersten Abstraktion, die wir überhaupt zu bilden vermögen (Gs 152), erstarren läßt. Man entrückt das erkenntnistheoretische Subjekt nicht dadurch dem Individuellen und Funktionellen, wenn man es zu einer bloßen Form erhebt, weil diese Form eben auch nicht mehr Subjekt sein kann. Daher der Widerspruch, daß diesem "Bewußtsein überhaupt" die Funktion zu urteilen - wenn auch nur logisch bedingt - beigelegt wird (Gs 144). Auffälligerweise hat RICKERT den klaren Satz (Gr I 168: "Fassen wir zu diesem Zweck einmal das Subjekt ganz im Allgemeinen als das Aktive auf, das etwas tut, das Objekt dagegen als das Passive, womit etwas getan wird usw." durch den folgenden ersetzt: "Fassen wir zu diesem Zweck einmal das Subjekt als percipiens, das Objekt dagegen als perceptum auf." (Gr II 134) Da ein solches Subjekt unverrückbar ist, dürfte RICKERT von seinem erkenntnistheoretischen Subjekt gar nichts wissen. Und das ist der Grund dafür, daß RICKERT gewöhnlich vom Begriff seines Subjekts spricht, worunter eigentlich der Begriff eines Begriffs verstanden werden müßte. gegen mein Subjekt. Wenn RICKERT auf meine Beschreibung des Subjekts hin sagt: das Bewußtsein dürfe überhaupt niemals als ein "kleines" Subjekt dem unendlichen Weltall mit all seinen Sonnensystemen gegenübergestellt werden, denn die Anwendung des Begriffs der räumlichen Größe auf das Bewußtsein sei ganz unmöglich (Gs 22; Gr 161, 492), so habe ich Folgendes zu antworten: Das Subjekt-Objekt-Verhältnis drückt einen sich in jedem Augenblick verschiebenden kontradiktorischen Gegensatz aus, worin das Räumliche doch ein Kennzeichen des Objekts sein könnte. Subjekt und Objekt sind deshalb noch nicht heterogen. Ich erinnere an die Zeit, die doch wohl auch auf das Bewußtsein anwendbar ist (vgl. KANTs Schematismus, Log III 233). Ich sehe in der von RICKERT angeführten Räumlichkeit eher einen Hinweis auf die Existenz mehrerer Seinsweisen. Was aber die oft wiederholte Scheidung anlangt: von einer Kornblume kann man sagen, sie sieht blau aus, von einer Vorstellung nicht, so vergißt man, daß die bildliche Bezeichnung "Vorstellung" nur der Name für eine Seinsart ist (ebenso wie das Bewußtsein kein Eigenschaft eines Gegenstandes ist; Gs 22). Ich kann auch nicht sagen: das transsubjektive Sein sieht blau aus. Wenn ich dagegen die Vorstellung selbst habe, dann sehe ich auch das Blau, genau wie in der Wahrnehmung. Insofern - aber auch nur insofern - bin ich ganz RICKERTs Meinung: eine vorgestellte Farbe ist identisch mit einer vorgestellt seienden Farbe (Gs 119; vgl. auch Gs 40f über die Realität der Qualitäten). - Das Letzte aber nur beiläufig. formalistischen und anti-psychologischen Tendenz. Indem ich ein psychologisches Subjekt als erkenntnistheoretisch brauchbar erwiesen habe, wollte ich nur zeigen, daß RICKERT nicht unbedingt zur Konstruktion eines Subjekts genötigt war. RICKERT kam darauf, weil der Bewußtseinsinhalt als Objekt physisch oder psychische ist und das Subjekt davon verschieden sein muß. Mein Subjekt, das ich oben beschrieben habe, wird von RICKERT natürlich als psychisches Subjekt bezeichnet werden. Dennoch behaupte ich, daß dieses mein Subjekt erkenntnistheoretisch brauchbar ist; denn auf seine psychischen Qualitäten kommt es nicht an. Ein Begriff, wie RICKERTs Subjekt einer ist kann auch als psychisches Gebilde betrachtet werden; aber das eben nebensächlich. Zum Wesen des Subjekts gehört das Nicht-Objekt-sein. Und diese Eigenschaft glaube ich an meinem Subjekt genügend aufgezeigt zu haben. Es war immer erst eine nachträgliche Reflexion, welcher das "psychische" Subjekt zugänglich war; und einer solchen kann sich auch RICKERTs Subjekt nicht entziehen. "Subjekt" ist nicht das, was niemals Objekt werden kann, sondern dasjenige, das in einem bestimmten Augenblick kein Objekt ist. - Formalistische und anti-psychologische Tendenz haben an RICKERTs Subjektbestimmung in gleichem Sinn gewirkt: die eine erstrebte für das Subjekt eine feste begriffliche Form, die andere ließ RICKERT nicht berücksichtigen, daß das Subjekt etwas Variables ist; - und das alles, um von einem Subjekt als "Ausgangspunkt" aus zu einem Transzendenten zu kommen, dessen Existenz begrifflich gefordert erscheint. Die Weite des Subjektbegriffs kam RICKERT entgegen, um sich ein Subjekt willkürlich zu konstruieren. Natürlich ist es RICKERT nicht etwa entgangen, daß dem Subjekt etwas Veränderliches anhaftet. Wie er aber diese Tatsache seinem logischen Ideal dienstbar macht, ist höchst charakteristisch. Gr 308 wird behauptet: "Wir können sogar sagen, daß auch faktisch unser gesamtes individuelles Seelenleben vom erkenntnistheoretischen Subjekt zu trennen ist" - eine Behauptung, die meiner Meinung nach nicht bewiesen werden kann, da das Subjekt allen empirischen Anläufen gegenüber nur als ein erkenntnistheoretischer Begriff erkennbar ist. - "Der Teil des psychologischen Subjekts, der mit dem erkenntnistheoretischen verschmolzen bleibt, ist nämlich variabel ..." - was ich nur bestätigen kann. Auf diese psychologische Feststellung hin folgt aber eine unpsychologische, formale, logische Fortsetzung:
Wie sich RICKERT der Schwierigkeit entzieht, daß das erkenntnistheoretische Subjekt einmal nur das allem Immanenten Gemeinsame, zum anderen aber ein urteilendes, wertendes (Log I 33) Subjekt ist, habe ich nunmehr dargelegt. Jetzt will ich mich einer anderen daraus folgenden Konsequenz zuwenden. Machen wir uns doch nochmals klar, in welchem Verhältnis das erkenntnistheoretische Subjekt zum Sollen steht! Das "Denken" der Welt "ist" kein bloßes Vorstellen, sondern ein Urteilen, und jedes Urteil "stellt"
"Das Sollen muß in jeder Hinsicht vom Subjekt unabhängig sein, gleichviel ob irgendein erkennendes Subjekt etwas davon fühlt oder es anerkennt." (Gs 125) "Das theoretische Subjekt befindet sich in einer Abhängigkeit von der Urteilsnotwendigkeit. Ein transzendentes Sollen als Gegenstand der Erkenntnis ..." (Gs 141) "Wir müssen ... annehmen, daß das Erkennen von seinem Gegenstand abhängt, oder daß das Denken sich nach einem von ihm unabhängigen Gegenstand zu richten hat." (vgl. Zw 171, 210) "Ein Sollen, das so sehr von jedem Individuum unabhängig ist, daß es selbst jedes Individuum bindet, das urteilen und erkennen will ..." (Zw 187) "Der Gegenstand der Erkenntnis ist ein transzendenter Wert." (Zw 209)
Das Fehlerhafte auf RICKERTs Landkarte der Erkenntnisreiche ist, daß die logischen Erkenntnisvorstufen hierbei in einem Nacheinander erscheinen. Man müßte sie sich eigentlich räumlich zusammengeschachtelt denken wie eine Induktionsspule, in der gleichzeitig an allen Stellen Strom fließt - oder wie ein Netz, worin die verbindenden Fäden nur Beziehungen zwischen den Knoten sind (vgl. Def 46). Freilich enthalten die Ausdrücke "Sollen" und "Imperativ" auch zeitliche Bestimmtheiten der Aufeinanderfolge. - Daß hier ein Zirkel vorliegt, ist klar. RICKERT hat ihn bewußt vollzogen; wenngleich er ihn (Gs 119) in Abrede stellt und den naturwissenschaftlichen Empiristen empfiehlt, nicht mit Steinen zu werfen, da sie selbst im Glashaus des Relativismus sitzen; mit anderen Worten, da ihre Theorie einen Zirkel einschließt (Gr 593). RICKERT selbst benutzt den Hinweis auf den Zirkel auch als Waffe gegen den Psychologismus, z. B. den HUMEs. Ich sehe nun das angreifbarste Vorurteil RICKERTs nicht darin, daß der Bewußtseinsinhalt abhängig ist vom Bewußtsein (vgl. SCHLUNKE) - ich bin sogar damit einverstanden - sondern darin, daß das Erkennen von seinem Gegenstand abhängig sein soll; daß sich das Denken nach dem von ihm unabhängigen Gegenstand zu richten hat (Gs 1; Zw 171). Diese unnötige Voraussetzung ist es freilich, welche RICKERTs Lehre vom Sollen erst ermöglicht. Sie ist es aber auch, welche RICKERT zwingt, von einem Sollen auszugehen, wenngleich er behauptet, vom Subjekt auszugehen (Gs 83) - und sie ist es, womit das Sollen den erkenntnistheoretischen Zirkel vollendet. Bei RICKERT setzt das zu Erkennende das Erkennende erst in den Stand, zu erkennen. Der ganze Kreislauf erweckt den Eindruck einer Schlange, die mit ihrem Kopf vor ihrem Schwanz Verbeugungen macht.
formal-logischen Tendenz. So ist der Erkennende nach RICKERT abhängig von einer Welt von Werten, und eben diese Abhängigkeit sucht er nur mit Mitteln zu erkennen, die vom zu Erkennenden abhängig sind. Dieser Zirkel scheint uns in seiner Vollständigkeit den oft gegen die Erkenntnistheorie erhobenen Einwurf, daß sie die Erkenntnis durch Erkennen ergründen will, zu übertreffen. Wohl sagt auch KANT, daß wir in unserem Erkennen abhängig sind von vorsubjektiven Faktoren. Er sucht aber die "Anordnung" (Gs 194) nicht ausschließlich mit den begrifflich formalen Bedingungen unserer Erkenntnis zu begründen. Der reine Raum ist kein Begriff. Zum andern ist das Sein nicht bloß Form. Und das Sein ist doch nach KANT Gegenstand der Erkenntnis. Die formalistische Tendenz ließ RICKERT schon im Gegebenen Aufgegebenes, ein Erkenntnisprodukt, sehen; dadurch wurde das empirische Subjekt (Gs 207) aus dem primären Erkenntniskreislauf hinausgedrängt, so daß dieses nur noch unter Anwendung methodologischer (Gs 208) Formen wissenschaftlich erkennt. Dadurch verlor das Erkennen als bloßes Bejahen und Verneinen einen irrationalen, synthetischen Faktor. So muß RICKERTs Erkennen am Sein vorübergehen, und da ihm eine Transzendenz gewiß ist, seinen Gegenstand in einer Norm, dem Sollen sehen (Gs 123f). RICKERTs eigentlicher Erkenntnisprozeß endet in der Wirklichkeit; er kommt nur bis an sie heran. Schließlich sie darauf hingewiesen, daß bei RICKERT ein Doppelzirkel vorliegt. Er hat das Gefühl als Erkenntnisfaktor mit eingeführt. Nun setzt aber alle Gefühlserkenntnis dasjenige voraus, was sie erklären will: immer wieder ein Gefühl; ein gläubiges Gefühl. In RICKERTs System setzt das Gefühl eben das Sollen, das ist wieder ein Gefühl, voraus; - ähnlich wie einer, der alle seine Gefühle zu beherrschen sucht, doch eben von Gefühlen mit bestimmt ist. Letztenendes ist jene Auffassungsverschiedenheit über die Stellung des Gegenstandes der Erkenntnis im Erkenntniskreislauf eine Frage der Urteilslehre. (Vgl. HUGO BERGMANN, Das philosophische Werk Bernard Bolzanos, Seite 103) Wer in den Formen beider Urteile: "Es gibt Götter" und: "sie bewegt sich doch" keinen wesentlichen Unterschied sieht, der wird RICKERT ohne weiteres beipflichten können. Ganz bewußt hat RICKERT aber in der Wahl seiner Beispiele, an denen er seine Lehre verifiziert, Existentialurteile bevorzugt (Gs 113, 130). Dementsprechend sind die Fragen, die RICKERT in den Urteilen beantwortet findet, immer nur Entscheidungsfragen, niemals Ergänzungsfragen (Gs 95f; Zw 182). - Realurteile sind aber nur von einem gewissen Einteilungsgrund aus eine besondere Klasse der "Beziehungsurteil" (Gs 117). Da die Existenz freilich nach RICKERT nur kategorialer Natur ist - eine positivistische Voraussetzung - können Existentialurteile nicht synthetisch im eigentlichen Sinn genannt werden. Die Form der synthetischen Urteile, in denen ein neues Erfahrungsmoment mit auftritt, kann also auch nicht dieselbe sein wie die der einfach anerkennenden Urteile. Somit bliebe die Urteilsform der Bejahung und Verneinung nicht alleinige Urform der Erkenntnis. Ich verstehe nun, wenn RICKERT im Interesse der Einheit seiner Lehre von der Transzendenz sagt: "es muß sich ergeben, daß der prinzipielle Gegensatz zwischen Urteilen, die "nur" die Beziehung unserer Vorstellungen betreffen und denen, die etwas über die "Wirklicheit" aussagen, unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten als ein ursprünglicher gar nicht vorhanden ist." (Gs 87) Ich komme aber über diesen Unterschied nicht hinweg. Erkennen ist für mich nicht nur ein formales Urteilen. Erkennen ist wohl immer auch ein Urteilen (Gs 169) - und insofern stimme ich RICKERT zu, wenn er sagt: es müssen Urteile sein, in denen wir Erkenntnis besitzen (Gs 102); weshalb auch der Gegenstand des Urteils nicht immer Gegenstand der Erkenntnis zu sein braucht. Erkennen ist für mich mehr als Urteilen. Urteile sind nur Formen, in denen ich der Erkenntnis Ausdruck gebe. Der Sachverhalt ist für mich eher als seine Form. Die reine Erkenntnis, d. h. das ausschließlich erkennende Verhalten (Gs 65), ist etwas intellektuell Erlebtes; das Urteil ist schon mehr. In einer Logik der Erkenntnis muß natürlich die Form vom psychischen Sein abgelöst werden. Eine Untersuchung über das Wesen der Erkenntnis darf aber nicht bei den bloßen Formen stehen bleiben, sonst hält sie nicht, was das Wort Erkenntnistheorie verspricht. Die blitzartige Erleuchtung, in welcher der Erkennende nach einer Überlegung, etwa bei der Lösung einer mathematischen Aufgabe, plötzlich sagt: "Jetzt hab ich's", findet ihren Ausdruck in diesem Urteil; ja, schon das einzige Wort Heureka! ist doch auch ein Urteil, und ebenso ist es die formulierte Lösung der Aufgabe 7 + 5 = 12. Aber das bloße Urteil trifft noch nicht das Wesentliche der Erkenntnis selbst. - Vielleicht liegt auch der Behauptung, daß das Wissen Urteile voraussetzt (Gs 119, 147), eine feine psychologische Beobachtung zugrunde. Denn: alles, was klar im Bewußtsein ist, d. h. alles, was wir wissen, wird getragen von einem Gefühl der Sicherheit. Ein solcher Bewußtseinsinhalt drängt allerdings zu seiner Darstellung hin; er sucht nach einem Ausdruck. Darin mögen die Beziehungen von Sprache und Denken wurzeln (vgl. hierzu Def 11, 16f). Diesen Tatbestand mag man vom Standpunkt der Logik aus als ein primitives Urteilen bezeichnen. Es darf aber nicht vergessen werden, daß von diesen Urteilen aus noch ein großer Schritt ist bis etwa zu demjenigen: 2 x 2 = 4. (Übrigens ist das Urteil: "die Sonne leuchtet" nicht gleichbedeutend mit dem: "die Sonne ist", besonders dann nicht, wenn das Wort Sonne betont wird / Gs 97f) - Aus diesem Grund halte ich dafür, daß das Erlebnis, welches RICKERT Urteilsnotwendigkeit nennt, Denknotwendigkeit heißen müßte. Über das Wesen des Denkens will ich mir aber im folgenden Kapitel klar werden, wo mir die Beziehungen von RICKERTs positivistisch-konszientalistischer Tendenz zu seiner Lehre von der Transzendenz interessiert. ![]()
1) Dies gleichzeitig zur Entgegnung auf Schlunkes Kritik des psychophysischen Subjekts. (67f, 85); übrigens scheint sich hier Schlunke mit unnötiger Schärfe und nicht ohne Spitzfindigkeit gegen Rickert zu wenden. Wenn Rickert nicht selbst die Unzulänglichkeit seines psychophysischen Subjekt-Objekt-Gegensatzes eingesehen hätte, wäre er doch niemals auf seine eigene Subjektlehre gekommen. Rickert zitiert hier doch nur tatsächlich vertretene Ansichten. Zudem verwechselt Schlunke die Begriffe "psychisch" und "immanent" (Gs 71). Vom individuellen Subjekt, als einem psychologischen Gebilde, kann Rickert doch ganz mit Recht sagen, daß sein Objekt nur Psychisches ist. Für das erkenntnistheoretische Subjekt, dem alles Immanente Objekt ist, gibt es dennoch Psychisches und Physisches (94). Abkürzungen: Bü = Karl Bühler. Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge: I. Über Gedanken. Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 9, 1907. Wi = Max Frischeisen-Köhler, Wissenschaft und Wirklichkeit, 1912 Huss Jahrb = Husserl, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 1, Teil 1, 1913 Nat Phil = Paul Natorp, Philosophie, Ihr Problem und ihre Probleme (Wege zur Philosophie) 1911 Gs = Der Gegenstand der Erkenntnis, zweite Auflage 1904 Gr = Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, zweite Auflage, 1913. Gr I bzw. II = Die erste bzw. die zweite Auflage. KuNa = Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, zweite Auflage 1910. Def = Zur Lehre von der Definition, 1888. Ath = Fichtes Atheismusstreit und die kantische Philosophie, Kant-Studien, Bd. 4, Seite 137f. Zw = Zwei Wege der Erkenntnistheorie, Kant-Studien, Bd. 14, 1909. Fest = Sigwart-Festschrift 1900; Psychophysische Kausalität und psychophysischer Parallelismus. Theorie = Zur Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1894. Log I = Logos Bd. I, Vom Begriff der Philosophie, 1910/11. Log II = Logos, Bd. 2, Das Eine, die Einheit und die Eins, 1911/12. Log II = Logos, Bd. 2, Lebenswerte und Kulturwerte, 1911/12 Log III = Logos, Bd. 3, Urteil und Urteilen, 1912 Log IV = Logos, Bd. 4, System der Werte, 1913 Scheler = Meth, Die transzendentale und die psychologische Methode, 1900. Schlunke = Otto Schlunke, Dissertation 1911, Die Lehre vom Bewußtsein bei Heinrich Rickert VolkED = Erfahrung und Denken, 1886 VolkQ = Die Quellen der menschlichen Gewißheit, 1906. Volkant = Immanuel Kants Erkenntnistheorie, 1879 Volkaest = System der Ästhetik, Bd. 3, 1914 |