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OTTO SELZ
Existenz als
Gegenstandsbestimmtheit

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"Wohl wenige Thesen haben sich auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie einer so weitverbreiteten Anerkennung zu erfreuen, als die von Hume und Kant in die neuere Philosophie eingeführte Lehre, daß das Dasein keine Bestimmtheit der Gegenstände und kein Merkmal der von ihnen gebildeten Begriffe ist."

"Nur wenn man sich klar gemacht hat, was das Absehen vom Gegebensein der Phänomene heißt, und wie der dabei zurückbleibende Gegenstand bestimmt ist, versteht man die naive Weltbetrachtung, die den Gegenständen ein vom Gegebensein unabhängiges Dasein in der erlebten Beschaffenheit zuschreibt."

"Qualitäten kann ich sehen und hören; das Dasein dagegen kann ich weder sehen noch hören. Was sind aber die Qualitäten, welche ich sehe und höre? Nicht reine Wiebestimmtheiten sind es, sondern existierende Qualitäten, d. h. Gegenstände, denen außer ihrem Gegebensein sowohl Wiebestimmtheit als auch Dasein zukommt."


§ 1. Die Lehre von der Außerexistenz
des reinen Gegenstandes

Wohl wenige Thesen haben sich auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie einer so weitverbreiteten Anerkennung zu erfreuen, als die von HUME und KANT in die neuere Philosophie eingeführte Lehre, daß das Dasein keine Bestimmtheit der Gegenstände und kein Merkmal der von ihnen gebildeten Begriffe ist. Dieser Satz pflegt die ausdrückliche oder stillschweigende Grundvoraussetzung der meisten Erörterungen zu bilden, welche von Philosophen und Psychologen der Gegenwart dem Existenzialbegriff oder Existenzialurteil gewidmet werden. Zwei Argumente kann man namentlich für eine solche Ansicht geltend machen.

1. Das Argument aus der Anschauung. Es geht davon aus, daß es Gegenstände gibt, welche uns nicht nur vermeintlich, sondern wirklich selbstgegenwärtig sein, also in der Anschauung im weitesten Sinn erfaßt werden können. Wenn ich einen Ton höre oder einen Lichtschein sehe, so ist das hierbei hierbei erlebte Phänomen ein solcher selbstgegenwärtiger Gegenstand. Nicht der Ton oder der Lichtschein, auf dessen Erfassung sich der Wahrnehmungsakt richtet, ist im vollsten Sinn des Wortes selbstgegenwärtig, sondern diese Objekte sind vielmehr von einem Ton- und Lichtphänomen, zu deren Erfassung es speziell auf sie gerichteter Akte bedarf, streng zu scheiden. Die Qualitäten der Objekte können gegebenfalls als der Analyse zugänglich gedacht werden, während die Qualitäten der entsprechenden Phänomene sich der Analyse entziehen. Der aus der Ferne gehörte Ton mag mit ganz bestimmten Qualitäten ausgestattet werden, obwohl es nicht gelingt, die Qualitäten des Tonphänomens anzugeben. Nicht die Objekte, auch nicht die Objekte der naiven Weltbetrachtung, sondern nur die Phänomene sind daher selbstgegenwärtige Gegenstände. Als selbstgegenwärtiger Gegenstand aber kann ein Phänomen keine Bestimmtheit haben, die nicht gleichfalls selbstgegenwärtig wäre. Es besteht deshalb prinzipiell die Möglichkeit, alle Bestimmtheiten eines Phänomens in einer abstraktiven Analyse aufzufinden. Wäre nun die Existenz eine Bestimmtheit der existierenden Gegenstände, so müßte sie auch eine Bestimmtheit sämtlicher Phänomene sein; denn auch sie sind keine imaginierten, bloß gedachten, sondern wirkliche Gegenstände. Man denke z. B. an den Unterschied zwischen einem imaginierten und einem wirklichen Schmerz. Allein alle Bemühungen, die verschiedenen Bestimmtheiten der Phänomene zu einem gesonderten Bewußtsein zu bringen, führen lediglich zur Entdeckung von Wiebestimmtheiten, und auch diejenigen Bestimmtheiten, deren klare Erfassung und Vereinzelung uns noch nicht gelungen ist, glauben wir zumindest schon als Wiebestimmtheiten im Voraus erkannt zu haben. Es bliebe demnach nur die Lösung möglich, daß wir die Bestimmtheit der Existenz trotz ihrer Selbstgegenwart nicht aufzufinden vermögen. Nun wissen wir doch offenbar in der praktischen Anwendung sehr wohl, was wir unter Existenz im Allgemeinen und unter der Existenz der Phänomene im Besonderen zu verstehen haben, da wir vom Existenzialbegriff fortwährend mit großer Sicherheit Gebrauch machen. Wie aber sollten wir von einer nicht auffindbaren und trotzdem allen Phänomenen anhaftenden Bestimmtheit etwas wissen? Niemand wird ein Verfahren angeben können, um auf einem mittelbaren Weg zur Kenntnis dieser Bestimmtheit zu gelangen. So kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Existenz keine Bestimmtheit der existierenden Gegenstände sein kann.

2. Das Argument aus dem Begriff. Das Argument aus der Anschauung fußt auf dem Gedanken, daß die Existenz, wenn sie eine Gegenstandsbestimmtheit wäre, sich an selbstgegenwärtigen Gegenständen unmittelbar auffinden lassen müßte, daß aber der phänomenologische Befund keine solche Bestimmtheit aufweist. Diesem direkten Verfahren stellt das zweite Argument ein indirektes an die Seite. Die Existenz, so führt es aus, kann jedenfalls kein Merkmal des Begriffs sein, den wir uns von einem Gegenstand bilden; denn auch wenn wir annehmen, daß wir den vollständigen Begriff eines Gegenstandes besitzen, in dem alle seine Bestimmtheiten gedacht sind, könnte immer noch die Frage aufgeworfen werden, ob dem Gegenstand des Begriffs eine Existenz zukommt oder nicht. Wir mögen in den Begriff eines Gegenstandes sämtliche Merkmale aufnehmen, die einem Gegenstand überhaupt beigelegt werden können, die Existenz wird sich nicht darunter befinden. Auch dieser Gegenstand wäre zunächst nur ein gedachter, und es wäre erst zu untersuchen, ob ihm Existenz beigelegt werden darf. Die begriffliche Intention auf einen Gegenstand bleibt ganz die gleiche, ob ich seine Existenz bejahe oder verneine. Kann aber die Existenz kein Begriffsmerkmal sein, so kann sie ebensowenig als eine Bestimmtheit der begrifflich gedachten Gegenstände betrachtet werden; denn alle Bestimmtheiten, welche ich diesen zuschreibe, müssen notwendig auch in meinem Begriff von ihnen enthalten sein, da ich sie doch einzig und allein durch diesen Begriff zu denken vermag. Das müßte auch von der Existenz gelten, wenn sie eine Gegenstandsbestimmtheit wäre. Die Existenz wäre demnach dann doch ein Begriffsmerkmal, was aber der Voraussetzung widerspricht. Damit ist der indirekte Beweis erbracht, daß die Existenz keine Gegenstandsbestimmtheit sein kann.

Das Argument aus der Anschauung ist namentlich von HUME in seiner dem Voranschreiten BERKELEYs folgenden Polemik gegen die Annahme einer besonderen Vorstellung der Existenz geltend gemacht worden (1). Nach HUME gibt es keine von der Vorstellung der qualitativen Bestimmtheiten der Objekte unterscheidbare Vorstellung der Existenz. Eine solche wäre nur dann möglich, wenn sich auch ein besonderer Eindruck der Existenz nachweisen ließe, aus dem die entsprechende Vorstellung stammen könnte. Nun legen wir allen Eindrücken und Vorstellungen, deren wir uns erinnern, Existenz bei. Wäre die Existenz ein Eindruck wie die qualitativen Eindrücke, so müßte mit allen unseren Eindrücken und Vorstellungen noch ein besonderer Eindruck der Existenz verbunden sein. Davon aber ist keine Rede. Die Existenz ist daher nichts, was wir an den existierenden Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalten neben ihren Qualitäten vorfinden, sie ist kein Merkmal der existierenden Gegenstände, die für HUME bekanntlich mit den Bewußtseinsinhalten zusammenfallen. Noch ausschlaggebender als dieses Argument war für HUME wohl freilich die Tatsache, daß wir zur anschaulichen Vorstellung eines Gegenstandes nichts hinzufügen, wenn wir ihm eine Existenz zuschreiben. Wenn ich an Gott einfach denke, und wenn ich an ihn als existierend denke, so ist meine Vorstellung von ihm nicht das eine Mal reicher oder ärmer als das andere Mal (2). HUME hielt es aber für unmöglich, einen Gegenstand mit irgendwelchen Bestimmungen ausgestattet zu denken, ohne sich diese Bestimmtheiten hierbei in einer sie anschaulich nachbildenden Vorstellung zu vergegenwärtigen. Bestimmtheiten, die wir nicht vorzustellen vermögen, können den Gegenständen auch nicht anhaften. Dieses Argument aus der anschaulichen Vorstellung steht gleichsam in der Mitte zwischen dem Argument aus der Anschauung und dem Argument aus dem Begriff, mit dem ersteren hat es den Hinweis auf selbstgegenwärtige Inhalte unseres Bewußtseins, mit dem letzteren den indirekten Beweisgang gemeinsam. Es darf jedoch als heute nicht mehr beweiskräftig beiseite gelegt werden. Die Erkenntnis von der Unzulänglichkeit der anschaulichen Vorstellungen für die Funktion, als ausschließliche Träger der Intention auf die Gegenstände unseres Denkens zu dienen, bricht sich in der neuesten Zeit immer mehr Bahn. Die anschauliche Unvorstellbarkeit einer Gegenstandsbestimmtheit kann nicht mehr als Beweis ihres Nichtvorhandenseins gelten.

Das Argument aus dem Begriff bildet die Hauptstütze der kantischen Beweisführung. (3) Die Existenz ist nach KANT kein reales Prädikat, d. h. "kein Begriff von etwas, was zum Begriff eines Dings hinzukommen kann". Wenn man vorgibt, im Begriff eines Gegenstandes seine Existenz mitgedacht zu haben, so ist man in Wahrheit damit über den bloßen Begriff hinausgegangen und hat die Wirklichkeit des Gedachten angenommen. Dies übersehen zu haben, ist der Fehler des ontologischen Gottesbeweises. Indem dieser in den Begriff eines allerrealsten Wesens die Existenz hineinnimmt, setzt er diese Existenz schon voraus und wiederholt nur dieselbe Behauptung, wenn er aus diesem Scheinbegriff das Dasein des Gegenstandes abzuleiten hat. Es ist nichts als eine Tautologie, wenn man von dem im Subjektbegriff schon als existierend gedachten Gegenstand im Prädikat die Existenz aussagt. Ist die Existenz aber kein Begriffsmerkmal, so kann sie auch nicht die Bestimmtheiten des Gegenstandes vermehren. Begriff und Gegenstand, sagt KANT, "müssen genau einerlei enthalten"; denn falls der Gegenstand mehr Bestimmungen enthalten würde, als mein Begriff von ihm, so würde mein Begriff "nicht den ganzen Gegenstand ausdrücken, und also auch nicht der angemessene Begriff von ihm sein". Es würde "nicht dasselbe, sondern mehr existieren, als ich im Begriff gedacht habe und ich könnte nicht sagen, daß gerade der Gegenstand meines Begriffs existiert."

Dieser scharfsinnige Gedankengang KANTs ist für die meisten späteren Autoren vorwiegend bestimmend gewesen. Allerdings begünstigte die Mehrdeutigkeit des Wortes Vorstellung, das sowohl anschauliche Vorstellung wie auch Begriff bedeuten kann, häufig eine Verschmelzung mit dem Argument aus der anschaulichen Vorstellung und verstärkte hierdurch die Beweiskraft des begrifflichen Arguments mit Hilfe eines ihm selbst fremden Gesichtspunktes. So wurde jene Auffassung zu einer fast unbestrittenen, die man im Anschluß an eine nahverwandte Terminologie MEINONGs die Lehre von der Außerexistenz des reinen Gegenstandes nennen kann. Nach ihr ist Existenz wie Nichtexistenz dem Gegenstand gleich veräußerlich (4), oder wie SIGWART unter ausdrücklicher Berufung auf KANT schreibt: "Ob ich sage A ist, oder A ist nicht, beidemal denke ich unter A genau dasselbe." (5) Wer die Lehre, daß die Existenz keine Gegenstandsbestimmtheit ist, in Zweifel ziehen will, wird sich nicht mit dem phänomenologischen Hinweis auf eine solche Bestimmtheit begnügen dürfen, sondern an dem in seinem Grundbestand scheinbar unwiderleglichen Argument KANTs nicht vorübergehen können.


§ 2. Das Erfüllungskorrelat
des Existenzialbegriffs

Zu den Wiebestimmtheiten der Phänomene müssen außer den Qualitäten im engeren Sinne auch diejenigen Beschaffenheiten gerechnet werden, welche durch die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse ihrer Teile untereinander bedingt sind. Wenn man sich das vor Augen hält, so wird die Behauptung, daß wir an den Phänomenen keine Bestimmtheit des Daseins, sondern nur Wiebestimmtheiten wahrnehmen, vielen durchaus einwandfrei erscheinen. Bei schärferem Zusehen erweist sich jedoch das Argument aus der Anschauung als unhaltbar. Am deutlichsten wird dies, wenn man zunächst versuchsweise seine Richtigkeit voraussetzt und sich die Folgerungen vergegenwärtigt, welche sich hieraus ergeben. Angenommen also, das Argument bestände zu Recht, so wäre die Intention auf ein Phänomen mit der Wiebestimmtheit Ton c1 von der Stärke m und der Klangfarbe n die Intention auf einen selbstgegenwärtigen Gegenstand, der außer diesen Wiebestimmtheiten keine weiteren Bestimmtheiten aufweist. Macht man sich aber klar, was eine solche Intention bedeuten würde, so stellt sich heraus, daß sie sich nicht auf einen individuellen Gegenstand bezieht, der von jedem anderen Gegenstand gleicher Beschaffenheit unterschieden wäre, sondern auf ein bloßes Wie, das sich immer und überall als dieselbe identische Wiebestimmtheit darstellen würde, wo sie sich auch fände. Die Farbe Grün ist, wenn ich mich streng an das bloße Quale halte, nicht die gleiche, sondern schlechthin dieselbe Wiebestimmtheit, wo sie auch immer vorkommen mag. Ebenso ist der Ton c1 in jedem beliebigen Musikstück derselbe Ton; daran ändert sich nichts, auch wenn ich noch eine bestimmte Stärke und Klangfarbe hinzufüge. Nicht anders verhält es sich mit Gegenständen, die zeitliche oder räumliche Wiebestimmtheiten enthalten. Die Melodie der "Wacht am Rhein", ein zeitlich gegliedertes Ganzes, ist dieselbe Melodie, wo und wann sie gesungen wird. Das Quadrat von der Seitenlänge a ist dasselbe, gleichgültig, wer es auf dem Papier oder in innerer Anschauung konstruieren mag. Mache ich also bloße Wiebestimmtheiten zum Gegenstand meines Denkens, oder anders ausgedrückt, ist der Gegenstand meines Denkens durch bloße Wiebestimmtheiten charakterisiert, so habe ich keinen individuellen Gegenstand vor mir, wie es jedes Phänomen ist, sondern bin auf ein in allen Gegenständen gleicher Beschaffenheit Identisches und insofern Allgemeines gerichtet. Reine Wiebestimmtheiten sind ihrer Natur nach allgemeine Gegenstände, ob nun tatsächlich eine Mehrheit von Gegenständen existiert, denen sie zukommen, oder nicht. Qualitative Unterschiede können daher nie den Grund der Individualisierung der Gegenstände abgeben, wie LEIBNIZ meinte. Es ist hiernach unverkennbar, daß die Intention auf den in Gestalt eines Phänomens selbstgegenwärtigen Gegenstand und überhaupt die Intention auf existierende Gegenstände keine Intention auf bloß gegenständlich gewordene Wiebestimmtheiten sein kann. Gerade weil die Intention auf reine Wiebestimmtheiten keine Intention auf Existierendes im Sinne einer realen Existenz ist, sind die zwischen bloßen Wiebestimmtheiten bestehenden Gesetze, wie die Gesetze der Geometrie, Wahrheiten, welche ohne Rücksicht darauf gelten, ob Gegenstände von dieser Wiebestimmtheit existieren oder nicht. Sie beziehen sich auf ein reines "Sosein", wie die Wiebestimmtheiten von MEINONG und seinen Schülern genannt werden (6).

Nicht reine Wiebestimmtheiten sind mir selbst gegenwärtig, wenn ich auf ein Phänomen gerichtet bin, vielmehr sind es drei Bestimmtheiten, die ich angesichts jedes beliebigen Phänomens als selbstgegenwärtig vorfinden kann.
    1. Sein Dasein,
    2. seine Wiebestimmtheit,
    3. sein Gegebensein.
Was unter einem Gegebensein zu verstehen ist, wird klar, wenn man die Intention auf sein gegenwärtiges Phänomen mit der Intention auf Gegenstände vergleicht, die ebenfalls als existierend qualitativ bestimmt, aber als nicht unmittelbar gegeben, gedacht werden. Was im letzteren Fall fehlt, ist eine Teilintention auf diejenige Gegenstandsbestimmtheit, die ich an jedem Phänomen als sein Gegebensein erfasse. Das Gegebensein der Phänomene mag auf die Tatsache zurückzuführen sein, daß die Phänomene Zustände des Ichs sind, also auf ihr Verhältnis zum erkennenden Subjekt; phänomenologisch enthält jedoch das einfache Gegebensein noch nichts von einer Relation; es wird daher als Bestimmtheit der durch das Gegebensein von anderen Gegenständen unterschiedenen Phänomene behandelt werden dürfen. Es ist die Bestimmtheit, um derentwillen das gegenständlich gewordene Phänomen als selbstgegenwärtiger Gegenstand erscheint. Ob das Phänomen seinen Ursprung der Sinneswahrnehmung allein, oder erst einer sich auf diese aufbauenden "Vorstellungsproduktion" verdankt, ist für sein unmittelbares Gegebensein in dem hier in Frage stehenden Sinn völlig gleichgültig. Selbst wenn es seine sämtlichen Bestimmtheiten erst durch die Betätigung der Erkenntnisfunktionen gewänne, wären diese Bestimmtheiten nicht weniger unmittelbar gegeben und darum selbstgegenwärtige Gegenstände der auf sie abzielenden Intentionen. Die Polemik, welche namentlich von COHEN, NATORP und PAUL STERN gegen das "unmittelbar Gegebene" gerichtet wurde, kann das unmittelbare Gegebensein, von dem hier die Rede ist, nicht berühren. Das Gegebensein der Phänomene ist, wie soeben schon angedeutet wurde, nichts anderes, als das, was man als Selbstgegenwart bezeichnen kann, wenn sie Gegenstände des Denkens geworden sind; es ist die Bestimmtheit, ohne welche überhaupt von Phänomenen nicht gesprochen werden könnte. Gleichgültig für das unmittelbare Gegebensein, für die Selbstgegenwart der Phänomene, ist auch die Frage, ob ihre Bestimmtheiten im Zeitpunkt ihres Auftretens oder erst in der rückschauenden Betrachtung zum Gegenstand der Beobachtung gemacht werden können. Immer handelt es sich dabei um etwas, was uns unmittelbar gegeben, selbst gegenwärtig war, im Gegensatz zu den Gegenständen unerfüllter Intentionen. Gleichgültig für das unmittelbare Gegebensein der Phänomene ist ferner der Umstand, daß die Auffindung der gegebenen Bestimmtheiten durch die abstrahierende Analyse vielleicht ein kompliziertes Verfahren notwendig macht. Daß das Gegebensein und die Selbstgegenwart der Phänomene ein und dieselbe Bestimmtheit ist, hindert am Ende nicht, daß ich mich meinend dieser Bestimmtheit zuwenden und sie als selbstgegenwärtige Bestimmtheit zuwenden und sie als selbstgegenwärtige Bestimmtheit jedes Phänomens konstatieren kann.

Als Intention auf gegebene Wiebestimmtheiten wäre jedoch die Intention auf ein Phänomen noch keineswegs ausreichend gekennzeichnet. Das zeigt sich sofort, wenn man sich wieder zu Bewußtsein bringt, was eine solche Intention bedeuten würde. Wären bloß Wiebestimmtheiten das Gegebene, so wäre ja nach den früheren Ausführungen nicht ein individueller Gegenstand gegeben, wie wir ihn in jedem Phänomen vor uns haben. Jedes Phänomen muß also außer der Wiebestimmtheit und dem Gegebensein noch eine weitere Bestimmtheit zeigen, durch die es zu eben diesem individuellen Gegenstand wird. Diese weitere Bestimmtheit aber ist das Dasein. Der existierende Gegenstand ist stets ein individueller Gegenstand und die Intention auf ein Phänomen ist die Intention auf einen existierenden Gegenstand, dem irgendwelche Wiebestimmtheiten zukommen, und der unmittelbar gegeben, oder, was hier dasselbe besagt, selbstgegenwärtig ist. Das Dasein ist das principium individuationis. Darum ist auch der Satz, daß existierende Gegenstände stets individuelle Gegenstände sind, unmittelbar einleuchtend und ebenso der umgekehrte Satz, daß Gegenstände, welche in diesem und jenem existierenden Gegenstand identisch sind (wie die Wiebestimmtheiten), nicht selbst wiederum existieren können. Weil das Dasein das principium individuationis ist, kann das Allgemeine, die platonische Idee, nicht neben den Einzeldingen existieren.

Hiernach hat jeder existierende Gegenstand zweierlei Bestimmtheiten: seine Wiebestimmtheiten, die er mit anderen Gegenständen von gleicher Beschaffenheit teilt, und die Bestimmtheit, vermöge deren er ein individueller Gegenstand ist, der sich von jedem Gegenstand gleicher Beschaffenheit unterscheidet: sein Dasein. Jeder reale Ton hat seine Tonhöhe, Stärke und Klangfarbe, welche immer und überall dieselbe ist, und ist dennoch als daseiender Ton, auf für sich allein betrachtet, von jedem anderen daseienden Ton derselben Qualität unterschieden. Allerdings kann man auch sagen, jeder daseiende Gegenstand teilt die allgemeine Bestimmtheit dazusein mit allen anderen Gegenständen. Allein das heißt nur, daß das Dasein von A und das Dasein von B Bestimmtheiten gleicher Art sind, nicht daß es beide Male dasselbe identische Dasein ist. Wie die einzelnen Farbenspezies miteinander nicht identisch sind, obgleich sie die Bestimmtheit, Farbe zu sein, miteinander teilen, so ist auch das Dasein von A mit dem Dasein von B nicht identisch, obgleich beide unter denselben Allgemeinbegriff des Daseins fallen. Auch die Individualität ist ja ein allgemeines Prädikat, welches jedem Individuum zukommt; trotzdem nenne ich es doch ein Individuum wegen seines speziellen Unterschiedenseins von jedem anderen Gegenstand, also wegen der Individualität, die nur ihm zukommt. Wenn ich dagegen eine reine Wiebestimmtheit meine, so meine ich in der Tat etwas, was alle Gegenstände gleicher Beschaffenheit miteinander teilen. Das Dasein von A ist ein Dasein und das Dasein von B ist ein Dasein, das Dasein eines Gegenstandes ist nicht das Dasein überhaupt; aber die Wiebestimmtheit N des Gegenstandes A ist die Wiebestimmtheit N, und die Wiebestimmtheit N des Gegenstandes B ist dieselbe identische Wiebestimmtheit. Sie ist eine ideale Spezies im Sinne der Terminologie HUSSERLs. Das Rot zweier Quadrate, die aus demselben Papierbogen geschnitten sind, ist, wenn ich auf das bloße Wie sehe, dasselbe identische Rot.

Man darf freilich die in allen gleichartigen existierenden Gegenständen identische Wiebestimmtheit, das reine Wie, nicht mit den Teilgegenständen existierender Gegenstände verwechseln, die man ebenfalls Qualitäten zu nennen pflegt. Jeder Wiebestimmtheit eines Phänomens entspricht ein Teilphänomen, dem diese Wiebestimmtheit zukommt, der Tonhöhe das Teilphänomen der Tonhöhe dieses konkreten Tons, der Klangfarbe das Teilphänomen der Klangfarbe usw. Diese Teilphänomene sind keine reinen Wiebestimmtheiten, sondern teilen mit dem ganzen Gegenstand die Bestimmtheit der Existenz und damit auch das Prädikat indiviuelle, wenn auch unselbständige Gegenstände zu sein. Wir benennen die Teilphänomene nach ihrer Qualität, aber sie sind nicht identisch mit der reinen Wiebestimmtheit, die ihnen zukommt. Dadurch daß man gewöhnlich unter den Qualitäten nicht das Quale im strengen Sinn, sondern existierende Qualitäten, das ist existierende qualitativ bestimmte Teilgegenstände versteht, gewinnt die Meinung, daß die selbstgegenwärtigen Gegenstände keine anderen Bestimmtheiten als Qualitäten enthalten, eine scheinbare Evidenz. Man hat dann eben in den Begriff der Qualität die Bestimmtheit des Daseins schon unversehens mithineingenommen. Begünstigt wird diese Ungenauigkeit des Denkens noch durch die sensualistische Interpretation aller Wiebestimmtheiten als Sinnesqualitäten, als realer Sinneseindrücke oder "Empfindungen". Solche psychische Realitäten sind mit den Qualitäten im eigentlichen Sinn nur dem Namen nach identisch. Wer von einem individuellen Rotmoment, einem individuellen Rotmoment, einem individuellen Tonhöhemoment spricht, muß angeben, durch welche Bestimmtheit sich dieses individuelle Moment von de reinen Wiebestimmtheit unterscheidet, welche ihrem Wesen nach ein allgemeiner Gegenstand ist. Er wird aber einen Unterscheidungsgrund nur auffinden können, wenn er einräumt, daß er mit dem individuellen Moment das existierende Teilphänomen meint, also schon die Bestimmtheit der Existenz mit in den Begriff des qualitativen Moments hineingenommen hat.

Der Nachweis, daß die existierenden Qualitäten außer der reinen Wiebestimmtheit noch die Bestimmtheit des Daseins enthalten, ist auch für anderweitige Untersuchungen von großer Bedeutung. Er macht nämlich die Möglichkeit des Erfassens allgemeiner Gegenstände begreiflich, indem er die Erfüllbarkeit (7) der auf solche Gegenstände gerichteten Intentionen aufzeigt. Wenn ich mich meinend nicht auf ein ganzes Phänomen und auch nicht auf ein abstraktes Teilphänomen, sondern auf die reine Wiebestimmtheit richte, die dem Phänomen zukommt, wenn ich also von der individualisierenden Bestimmtheit des Daseins absehe, so ist mir ein allgemeiner Gegenstand selbstgegenwärtig, d. h. ein Gegenstand, der überall derselbe Gegenstand bleibt, wo er auch an einem existierenden Gegenstand vorkommen mag. Ich sehe auch ein, daß die reine, mit sich allenthalben identische, Wiebestimmtheit, die ich intendiere, ein Denkgegenstand ist, der selbst nicht existieren, sondern nur einem existierenden Gegenstand zukommen kann. Nur die abstrakten realen Teilgegenstände existieren. Ich sehe schließlich ein, daß in der Intention auf eine reine Wiebestimmtheit nichts davon liegt, daß sie einem existierenden Gegenstand zukommen muß, und daß ich insofern eine Wiebestimmtheit meinen kann, ohne annehmen zu müssen, daß sie irgendwo realisiert ist. Wie weit die Intention auf reine Wiebestimmtheiten psychologisch möglich ist, ohne daß sie mir vorher selbstgegenwärtig und daher in einem konkreten Phänomen realisiert waren, ist eine andere Frage. Sie wird für einfache Wiebestimmtheiten vielleicht verneint werden müssen, für zusammengesetzte aber bejaht werden dürfen.

Daß mir in der reinen Wiebestimmtheit eines beliebigen Phänomens eine ideale Spezies unmittelbar gegeben ist, bedeutet allerdings nicht, daß das Speziesein dieser Spezies mir unmittelbar gegeben ist. Das Speziesein ist auch nicht der allgemeine Gegenstand selbst, sondern eine Wahrheit, die von ihm gilt. Dagegen ist mir, wenn auch nur in isolierender Abstraktion, derjenige Gegenstand selbstgegenwärtig von dem die Wahrheit gilt, daß er, wo immer er als Wiebestimmtheit eines existierenden Gegenstandes auftreten mag, stets derselbe bleibt. Wir brauchen demnach neben der isolierenden keine besondere kategoriale Anschauung, um die reine Wiebestimmtheit zu erfassen (8). Die Fruchtbarkeit der hier vorgenommenen Unterscheidung für das Problem der allgemeinen Gegenstände ist zugleich ein Beleg für die Richtigkeit dieser Unterscheidung der Bestimmtheit des Daseins von der reinen Wiebestimmtheit der Gegenstände.

Man könnte noch einzuwenden versuchen, principium individuationis sei ncht eine Bestimmtheit des Daseins, sondern Raum und Zeit. Zwar nicht die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse der einzelnen Teile der Gegenstände untereinander, aber ihr Enthaltensein in dem einen Raum und in der einen Zeit und die Bestimmtheit ihrer Stelle darin, mach die realen Gegenstände zu individuellen. Dieser Standpunkt ist bekanntlich von LOCKE, KANT und SCHOPENHAUER, von KANT ausdrücklich freilich nur für den Raum vertreten worden. Es soll nun bereitwillig zugegeben werden, daß ein in den räumlich.-zeitlichen Zusammenhang eingeordneter Gegenstand von jedem anderen Gegenstand in diesem Zusammenhang durch seine räumlich-zeitlichen Beziehungen verschieden ist. Allein damit ist für die Entbehrlichkeit einer Bestimmtheit des Daseins nichts gewonnen. Gäbe es keine Bestimmtheit des Daseins, so würden reine Wiebestimmtheiten bestimmte Stellen in Raum und Zeit einnehmen. Als allgemeine Gegenstände aber, die mit Orts- und Zeitbestimmungen unverträglich sind, können reine Wiebestimmtheiten nicht an einzelne Orte in Raum und Zeit gebunden sein. Nicht die reinen Wiebestimmtheiten selbst, sondern nur die individuellen Gegenstände, denen sie zukommen, können in Raum oder Zeit sein. Nicht der C-Dur-Dreiklang, mit dem sich der Musiktheoretiker beschäftigt, findet zu irgendeiner Zeit statt, sondern nurdas reale Phänomen, welchem diese Wiebestimmtheit eigentümlich ist. Die Raum- und Zeitbestimmung führt nicht die Individualisierung der Gegenstände herbei, sondern setzt schon individuelle Gegenstände voraus, eine Bedingung, welche eben nur existierende Gegenstände erfüllen können.

Der Selbstgegenwart der Bestimmtheit des Daseins werden wir an jedem beliebigen Phänomen in abstrahierender Analyse gewahr, wenn wir zunächst von seinem unmittelbaren Gegebensein absehen und uns meinend nur auf diejenigen Bestimmtheiten richten, die es mit einem nichtselbstgegenwärtigen existierenden Gegenstand gemeinsam hat. Dem fremden Schmerz, dem objektiven, nicht wahrgenommenen Ton, so wie ihn sich das naive Bewußtsein denkt, kommt Dasein und Wiebestimmtheit, aber kein unmittelbares Gegebensein zu. Für fremde Bewußtseinserlebnisse gilt das natürlich nur von unserem Standpunkt aus, aber das genügt, um uns zu vergegenwärtigen, worin die Bestimmtheit des Gegebenseins besteht, von der wir absehen wollen. Nur wenn man sich klar gemacht hat, was das Absehen vom Gegebensein der Phänomene heißt, und wie der dabei zurückbleibende Gegenstand bestimmt ist, versteht man die naive Weltbetrachtung, die einem Teil der selbstgegenwärtigen Gegenstände ein vom Gegebensein unabhängiges Dasein in der erlebten Beschaffenheit zuschreibt. Sehen wir nun am zurückbleibenden Gegenstand auch noch von der Wiebestimmtheit ab, die ihn von daseienden Gegenständen anderer Beschaffenheit unterscheidet, so behalten wir diejenige Bestimmtheit übrig, die der Gegenstand mit daseienden Gegenständen anderer Beschaffenheit gemeinsam hat, die aber dennoch eine individuelle Bestimmtheit eines jeden existierenden Gegenstandes ist. Es ist uns dann gelungen, die Gegenstandsbestimmtheit des Daseins in ihrer Selbstgegenwart zu erfassen und damit den Existenzialbegriff in der Anschauung erfüllt zu sehen.

Zur Erleichterung der Unterscheidung der Bestimmtheiten des Daseins von den beiden anderen Bestimmtheiten der Phänomene mag die Überlegung dienen, daß die Wiebestimmtheit diejenige Bestimmtheit ist, die wir untersuchen, wenn wir die Beschaffenheitsfrage stellen, während die Bestimmtheit des Daseins das ist, was uns an einem Phänomen im ersten Anblick seiner Gewahrwerdung entgegentritt, noch ehe wir seine Wiebestimmtheit zu erkennen vermögen. Dasselben Phänomen kann seiner Wiebestimmtheit nach noch völlig oder fast völlig unbestimmt, seinem Dasein nach dagegen schon völlig bestimmt sein. Das Gegebensein schließlich ist diejenige Bestimmtheit, deren wir gewöhnlich überhaupt nicht gewahr werden, und die wir erst als besondere Bestimmtheit erkennen, wenn Reflexionen uns veranlassen, uns intentional auf sie zu richten.

Außer der Verwechslung des reinen Quale mit den seienden "Qualitäten" pflegen namentlich noch zwei Vorurteile die Erkenntnis des Daseins als selbstgegenwärtiger Gegenstandsbestimmtheit hintanzuhalten. Da man stillschweigend glaubt, alle selbstgegenwärtigen Bestimmtheiten der Gegenstände, die nicht Verhältnisse sind, auf Sinneseindrücke zurückführen zu müssen, und in diesen reine Qualitäten sieht, so meint man, eine besondere Bestimmtheit des Daseins müßte eine neue Qualität neben den anderen Qualitäten der Gegenstände sein. Solange man nach Qualitäten sucht, kann man aber natürlich immer nur Qualitäten, keine Bestimmtheit des Daseins auffinden. Daß jedeoch nicht nur Wiebestimmtheiten selbstgegenwärtig sein können, zeigt schon die Möglichkeit, das unmittelbare Gegebensein der Phänomene durch eine darauf gerichtete Intention als selbstgegenwärtig zu erfassen. Vermöchten wir das nicht, woher sollten wir dann wissen, was wir mit dem unmittelbaren Gegebensein meinen? Das Gegebensein aber ist sicher keine Wiebestimmtheit.

Das zweite Vorurteil besteht in der Meinung, die gesuchte Bestimmtheit des Daseins müsse eine weitere Bestimmtheit neben den anderen Bestimmtheiten der Gegenstände sein. Dem widerspricht dann aber das Bewußtsein, daß das Dasein doch den Wiebestimmtheiten nicht in derselben Weise koordiniert ist, wie diese Wiebestimmtheiten untereinander koordiniert sind. Dieses Bewußtsein ist völlig gerechtfertigt. Das Dasein ist eine Bestimmtheit, die einen besonderen Rang einnimmt. Der existierende Gegenstand ist zunächst bestimmt als ein Daseiendes, und alle Wiebestimmtheiten sind in gleicher Weise nähere Bestimmungen dieses Daseienden, Bestimmungen, die es zu einem Daseienden bestimmter Art machen. Nicht die Wiebestimmtheiten haben alle in gleicher Weise ein Dasein, wie man zu sagen wohl versucht wäre, denn sie können als allgemeine Gegenstände nicht existieren; wohl aber hat das Daseiende alle jene Wiebestimmtheiten, sie alle kommen ihm zu, sie sin seine Wiebestimmtheiten. In diesem Sinn kann man das Dasein als diejenige Bestimmtheit bezeichnen, welche dem existierenden Gegenstand dem Rang nach vor allen seinen Wiebestimmtheiten zukommt. Der Umstand, daß das Dasein keine Bestimmtheit neben den Wiebestimmtheiten ist, steht seiner Auffassung als Gegenstandsbestimmtheit also nicht im Weg; denn es ist eben eine Gegenstandsbestimmtheit vor allen Wiebestimmtheiten.

Man wendet ferner gegen die Auffassung des Daseins als selbstgegenwärtige Bestimmtheit der Phänomene ein, daß wir das Dasein doch nicht an ihnen wahrnehmen, wie wir ihre Qualitäten wahrzunehmen vermögen. Qualitäten kann ich sehen und hören; das Dasein dagegen kann ich weder sehen noch hören. Was sind aber die Qualitäten, welche ich sehe und höre? Nicht reine Wiebestimmtheiten sind es, sondern existierende Qualitäten, d. h. Gegenstände, denen außer ihrem Gegebensein sowohl Wiebestimmtheit als auch Dasein zukommt. Auch nicht die einzelnen unselbständigen Teilqualitäten, das individuelle Tonhöhenmoment, das individuelle Farbenmoment, sind es, die ich höre, bzw. sehe, sondern die ganz ungeschiedene Gesamtwiebestimmtheit des Phänomens, seine Tonqualität, seine Ausdehnungs-, Gestalt-, Farbenqualität usw. Die reinen isolierten Qualitäten kann ich ebensowenig wie das Dasein sehen oder hören; reine Wiebestimmtheiten und Dasein haben keinen Vorzug voreinander, sondern beide können nur in einer isolierenden Abstraktion erfaßt werden, obwohl sie schon in der indifferenzierten Wahrnehmung implizit selbstgegenwärtig sind. Die isolierende Abstraktion genügt aber auch, um die Bestimmtheit des Daseins als selbstgegenwärtig zu erkennen. Es bedarf hierzu so wenig, wie beim Erfassen der reinen Wiebestimmtheiten einer besonderen Erkenntnisfunktion und einer durch sie geformten kategorialen Anschauung (9). Dieselbe Funktion, welche es uns ermöglicht, die daseienden Qualitäten voneinander zu trennen, gestattet es uns auch, das reine Wie der existierenden Qualitäten einerseits und ihr Dasein andererseits zu unterscheiden.

Vielleicht wird man nun zugeben, daß die Phänomene außer ihrer Wiebestimmtheit und ihrem unmittelbaren Gegebensein noch eine weitere Bestimmtheit enthalten, welche man, wenn man will, als Dasein oder Existenz bezeichnen könnte. Allein diese Bestimmtheit ist keine Existenz im eigentlichen Sinn, die gemeint ist, wenn man der Existenz das Prädikat Gegenstandsbestimmtheit zu sein, abspricht. Vielmehr sagt man doch gerade von einem Gegenstand, der sich als bloßes Phänomen erweist, daß er nicht existiert und stellt den Phänomenen die wahrhaft existierenden Objekte bzw. die existierenden Subjekte gegenüber. Demgegenüber ist festzustellen, daß den Phänomenen Existenz in genau demselben Sinn zukommt, wie wir sie irgendeinem anderen Gegenstand beilegen. Die "unabhängige Existenz" der Objekte ist kein anderes Dasein, als das Dasein der bloßen Phänomene, sondern lediglich ein Dasein, das nicht mit einem Gegebensein verbunden zu sein braucht, bzw. mit einem Gegegebensein nicht verbunden sein kann. Die Intention auf einen Gegenstand, dem bloß Dasein und Wiebestimmtheit beigelegt wird, ist von selbst eine Intention auf eine unabhängige Existenz. Das Gegebensein erscheint einem solchen Gegenstand gegenüber nicht mehr als Bestimmtheit, sondern ist ihm rein äußerlich gleich seinen Relationen zu anderen Gegenständen. Auch wenn ich weiter die Unabhängigkeit des Daseins solcher Gegenstände vom Gegebensein auf ihre Unabhängigkeit von der Existenz eines erkennenden Subjekts zurückführe, stelle ich damit nur eine Unabhängigkeitsrelation zwischen dem Dasein dieser Gegenstände und dem Dasein anderer Gegenstände fest. Das Dasein, von dem diese Unabhängigkeit ausgesagt wird, ist nach wie vor ein Dasein in demselben Sinn, wie das Dasein der Phänomene. Ebensowenig wird das Dasein der Phänomene durch die Abhängigkeitsrelation zwischen diesem Dasein und dem Dasein des erkennenden Subjekts zu einem Dasein "für mich", sondern es ist ein Dasein für jedermann, ein Dasein "ansich", d. h. ein Dasein schlechthin, nur behaftet mit jener Abhängigkeitsrelation zu einem anderen Dasein (10). Das unabhängige Dasein der Objekte und Subjekte ist kein Dasein anderer Art, als das der Phänomene, sondern nur ein Dasein von größerer Selbständigkeit. Wenn wir phänomenalen Gegenständen die Existenz absprechen, so sprechen wir nicht den Phänomenen als solchen die Existenz ab, sondern den Objekten, die wir wahrzunehmen glaubten. Die Tatsache der Existenz der Phänomene pflegt uns für gewöhnlich eben gar nicht zu interessieren. Werfen wir aber die Frage nach der Existenz der Phänomene auf, so erkennen wir, daß diese ein Dasein im vollen Sinn des Wortes ist, ja daß sie dasjenige Dasein ist, von dem wir die sicherste Erkenntnis haben, da es uns allein selbstgegenwärtig zu werden vermag (11). Nur weil wir das Dasein der Phänomene aus seinem unmittelbaren Gegebensein kennen, wissen wir überhaupt, was Dasein ist (12). Es zeigt sich demnach, daß es nur einen Begriff des Daseins gibt, der für alle existierenden Gegenstände gilt, und dessen anschauliches Korrelat wir als Gegenstandsbestimmtheit an allen Phänomenen erfassen können.

LITERATUR: Otto Selz, Existenz als Gegenstandsbestimmtheit, in Alexander Pfänder (Hg), Münchener Philosophische Abhandlungen [Theodor Lipps zu seinem 60. Geburtstag gewidmet von früheren Schülern] Leipzig 1911.
    Anmerkungen
    1) HUME, Treatise I, Teil 2, § 6.
    2) HUME, Treatise I, Teil III, § VII. Deutsche Bearbeitung von THEODOR LIPPS, zweite Auflage, Hamburg und Leipzig 1904, Seite 127f.
    3) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe KEHRBACH, Seite 471f.
    4) Vgl. ALEXIUS MEINONG, Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, Bd. 1, Leipzig 1904, Seite 13 und "Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, Berlin 1906, Seite 22.
    5) SIGWART, Logik, Bd. 1, dritte Auflage, Tübingen 1904, Seite 98.
    6) vgl. MEINONG, a. a. O., Seite 40.
    7) Unter dem von HUSSERL geprägten Ausdruck "Erfüllung" einer Intention verstehen wir die Selbstgegenwart des Gemeinten (vgl. HUSSERL, Logische Untersuchungen II, Halle/Saale 1901, Abschnitt VI, insbesondere Seite 588f). Erfüllbar ist eine Intention, wenn das in ihr Gemeinte selbstgegenwärtig werden kann.
    8) In dieser Beziehung glauben die vorstehenden Ausführungen über allgemeine Gegenstände von den Anschauungen HUSSERLs (LU II, Abschnitt II) abweichen zu müssen.
    9) Anderer Meinung ist HUSSERL, LU II, Abschnitt II, Seite 609f. HUSSERL trennt freilich Existenz und Realität.
    10) Vgl. LIPPS, Psychologische Untersuchungen, Bd. 1, Heft 1, Bewußtsein und Gegenstände, Leipzig 1905, Seite 51 und MEINONG, Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, Seite 56f.
    11) LIPPS, a. a. O., Seite 52 (Philosophie und Wirklichkeit, Heidelberg 1908, Seite 15).
    12) CARL STUMPF, Erscheinungen und psychische Funktionen, Abhandlungen der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften, 1906, Seite 10.