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Die erkenntnistheoretischen Grundlagen in Rickerts Lehre von der Transzendenz [ 5 / 6 ]
Die ethische Tendenz 1. Die Möglichkeit eines Primats der praktischen Vernunft beruth auf Rickerts rationalisierender Erkenntnislehre (Sollen und Müssen). Bevor ich nun untersuche, ob RICKERTs eigene Transzendenzlehre metaphysikfrei ist, will ich einer Gedankenreihe nachgehen, die mir nur scheinbar von meinem erkenntnistheoretischen Untersuchungsgegenstand wegführt. Ich beginne, indem ich auf ein Moment hinweise, das meiner Meinung nach in RICKERTs Sollen fehlt. Eine Folge der konszientialistischen, formalistischen und anti-psychologischen Tendenzen ist nämlich, daß RICKERT das logisch Transzendente nicht vollständig beschreibt. Er übersieht bei der Logisierung des Gegebenen, welche Rolle das Müssen in der Erkenntnis spielt. "Die Notwendigkeit, um die es sich beim Urteilen handelt, ist nicht, wie die des Vorstellens, eine Notwendigkeit des Müssens." (Gs 114) Der Gegensatz von Sollen und Müssen findet sich schon in RICKERTs Dissertation (Def 8); vgl. auch WINDELBAND, Präludien III, 65). DILTHEYs Einwand gegen den Konszientialismus läuft auf die Anerkennung des Müssens hinaus (vgl. auch ERNST KLOTZ, Philosophische Propädeutik, 1875, Seite 31). Die Ergänzung des Müssens aber kann nur im Sein, zumindest nicht im Sollen gesehen werden. Etwas Gemußtes wiederum ist nicht mehr wertbestimmt, wie es vom freien Denken gesagt werden kann. Das Müssen ist eine erzwungene Anerkennung; in der Form der Erfahrung steckt dieser Zwang auch mit drin. Daß RICKERT, der doch auch die "Erfahrung" zu logisieren sucht, das Müssen übergehen mußte, ist klar. Weil wir der Wahrnehmungsform neben der Urteilsform ein selbständiges Recht geben wollen, lassen wir das Müssen neben dem Sollen bestehen. Es widerspräche unserer Auffassung von Erkenntnis und Erkenntnistheorie, Erlebtes von logischen Gründen verdrängen zu lassen. Erkenntnis und Irrtum unterliegen nicht nur der gesollten Entscheidung durch das Subjekt (Gs 133), sondern der Irrtum muß als Irrtum anerkannt werden, sobald das Wahrheitskriterium nur auf das Gegenteil anwendbar ist. Wir können uns einfach nicht entschließen, auf den in der Form des Müssens liegenden Erkenntniswert oder Unwert zu verzichten und erinnern nur an die Zwangslage, worin sich das Bewußtsein den Empfindungen oder einer uns bis zum Überdruß verfolgenden Melodie oder den von MEUMANN (Ökonomie und Technik des Gedächtnisses, zweite Auflage, 1908, Seite 28 und 31 im Anschluß an G. E. MÜLLER). Gerade im Vorstellungsleben spielt das Müssen eine große Rolle. Müssen und Vorstellen halten wir direkt für die Analoga zu Sollen und Urteilen. Auch wenn die Erkenntnistheorie die Erkenntnisinhalte ignorieren könnte, müßte sie doch die Form der Vorstellungen berücksichtigen, und die ist eben das Müssen. Das Sollen, welches allerdings dem Logiker als Vertreter einer Wissenschaft (Def 7, 18) naheliegt, die als Mittel zum Zweck gelten soll, gewinnt eine Bedeutung erst für das praktische Verhalten; denn - um mir noch einmal vorzugreifen - auch der Lügner mußte die Wahrheit anerkennen. Das Sollen, das Gewissen (Gs 231-234), kommen erst für sein Reden in Betracht (vgl. hierzu FORBERGs Ansicht in Ath 146). Auch steht er nicht jenseits von Wahr und Falsch, wohl aber jenseits von Gut und Böse (Gs 232). Das Beispiel läßt schon ahnen, daß Werte nur auf die Verwirklichung der Erkenntnis angewandt werden können, womit es freilich die Erkenntnistheorie nicht zu tun hat. Autonom ist der wissenschaftliche Mensch nur insofern, als er überhaupt Wahrheit will. Er kann sich aber nicht für eine Erkenntnis entscheiden. Er muß dasjenige anerkennen, was am Ende seiner Untersuchung als Ergebnis erscheint. - Anders der Sittliche, der seinen Willen schon auf ein inhaltliches Ziel richtet. Doch - wie ist es möglich, daß wir uns plötzlich auf fremdem Gebiet, auf ethischem Boden, befinden? - Wir dürfen uns nicht wundern. Ist doch das Wort Sollen - als bildlicher Ausdruck - dem ethischen Sprachgebrauch entlehnt. Und wie kommt RICKERT zu dieser Entlehnung? Wiederum nur zu erklärlich. Sollen heißt: Genötigt sein, ein Gebot zu erfüllen. Vorausgesetzt sind dabei zwei Wollende: einer, der den Willen des anderen bestimmt und einer, dessen Willen durch den andern bestimmt wird. Es entspricht nun dem Wesen des Willens, daß auf ihn nur eine Wirkung ausgeübt werden kann, wenn sich diese auch an das Gefühl wendet. Ganz ähnliche Verhältnisse finden sich in RICKERTs logischem Erkenntnissystem wieder. Es gibt darin zwei Willenskomplexe: das Sollen selbst, welches als logische Voraussetzung des Erkennens aus dem Subjekt herausgezogen wurde; und das erkenntnistheoretische Subjekt, das Bewußtsein überhaupt, das die Entscheidung fällt zwischen Ja und Nein. Freilich entscheidet es nur auf Geheiß des Wertes, eben des Sollens. Und dieses bestimmende Wollen zeigt sich in einem Gefühl an. nicht mit dem vereinbar, was wir für das Wesen der Erkenntnis und der Wissenschaft halten. Die Spaltung dessen, was wir Notwendigkeit zu nennen pflegen, in einen Wert (des Sollens selbst) und in ein Gefühl (des erkenntnistheoretischen Subjekts) - sie ist es, welche die Verwendbarkeit ethischer Begriffe in einem Erkenntnissystem ermöglicht. Und werfen wir nur einen Blick auf das skizzierte Erkenntnisschema, so sehen wir ganz deutlich den gemeinsamen Ursprung und die weiteren Berührungspunkte der zwei Gedankenströme: eines erkenntnistheoretischen und eines ethischen. Da ich vermute, daß RICKERT in diesem Punkt das Erbe FICHTEs angetreten hat, so beginne ich meine Untersuchung mit einer Bearbeitung von FICHTEs Gedankengänge durch RICKERT. FICHTE sagt einmal in RICKERTs Mund:
Hier erkennen wir wieder deutlich die Lehre von Primat der praktischen Vernunft als eine Folge von RICKERTs rationalisiertem Erkenntnisprozeß. Denn, solange wissenschaftliche Erkenntnis das Produkt aus zwei Faktoren: aus Erfahrung und Denken ist, kann es keinen Primat der praktisch-sittlichen Vernunft vor der Erkenntnis geben. Wer da meint, daß ein guter Wille zur Erkenntnis der Wahrheit gehört, hat einen falschen Erkenntnisbegriff. Konszientialismus, Logik, Ethik und eine nicht überall anerkannte Psychologie verschwören sich in diesem Punkt zu einer Rationalisierung des Erkennens. Sie werden nicht müde, zu behaupten, daß zur Erkenntnis nicht erst eine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gehört. Ich aber sehe nicht ein, wo dann die Grenze zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und willkürlicher Spekulation liegt. Wer nicht einsehen will, welch großer Unterschied im Erkenntniswert der Atomtheorie DEMOKRITs und derjenigen der modernen Chemie liegt, der verschließt sich gegen die Einsicht, daß eine metaphysische Spekulation etwas grundsätzlich Anderes ist als eine Arbeitshypothese, die sich in tausendfältigen Erfahrungen bestätigt. Von Seiten des "Denkens" aus ist aber die Leugnung des Primats der praktisch-sittlichen Vernunft eine Selbstverständlichkeit. Wer zugibt, daß Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit Wahrheitskriterien sind, diese aber zum Wesen des Apriorischen gehören, und Erkennen soviel heißt wie: in Verstandeskategorien denken, so daß ein kategorieloses Denken ein Widersinn ist, - der kann in der Auffindung des Wahren nun und nimmermehr eine Bewährung des sittlichen Willens sehen. Die Wahrheit muß vielmehr anerkannt werden; sie ist notwendig. (vgl. Volkäst III, 490f) Sie ist - erkenntnistheoretisch betrachtet - gar kein Wert; sondern eine Erkenntnisaufgabe. Ein Wert hat noch keinen Erkenntniswert. Falls die Anerkennung des Wahrheitswerdes ein Bedürfnis sein sollte, haben die Werte wenigstens in der transzendentalen Erkenntnistheorie keine Stelle. läßt nicht mehr zwischen Metaphysik, Wissenschaft und Irrtum unterscheiden. Von ungleich größerer Bedeutung werden - wie ich schon andeutete - die Willensmomente für die spekulative Metaphysik. Metaphysik ist aber auch gerade das nicht mehr, was wir strenge Wissenschaft nennen, weil sie nicht erfahrungsmäßig kontrollierbar ist. Und in der Metaphysik ersetzt der Wert, als etwas unbezweifelbar Hinzunehmendes, das Erfahrungsmoment. Erst hier, wo "der Wunsch des Herzens als genügender Grund für eine Überzeugung gelten kann" und der Unterschied zwischen Kopf und Herz aufgehoben ist (RICKERT über FORBERG, Ath 148), kann von einer Versöhnung von Erkenntnis und Religion gesprochen werden (Ath 147). Der religiöse Mensch hat Überzeugungen, der Metaphysiker eine kosmische Hypothese vom Unbedingten, - aber keine "Erkenntnisse". Wir können natürlich auch von religiösen und metaphysischen Erkenntnissen sprechen. Dann steht in der Reihe der Erkenntnisse die bloße Überzeugung der intellektuellen (Wissens-) Seite am fernsten, der Willens- (Glaubens-)seite am nächsten; nicht allzuweit von den heidnischen Anthropomorphismen und der Kunst und allen anderen objektivierenden Darstellungen des inneren Menschen. Wird aber nicht ausdrücklich zwischen diesen verschiedenen Erkenntnisarten unterschieden, so fließen reine Wissenschaft, Erdachtes, Metaphysik und Religion zu einem einzigen Erkenntnisfluidum zusammen. Ich habe bisher vorausgesetzt, daß Erkenntnis gleichbedeutend ist mit wissenschaftlicher Erkenntnis, und RICKERTs Erkenntnistheorie ist doch auch nur eine solche der Wissenschaft. (vgl. auch RICKERT über PAULSEN, JAMES und FICHTE in Ath 148f; vgl. auch Gs 240) - Innerhalb der Wissenschaft aber regiert der reine Wille, und der ist ein Adiaphoron [wertneutral, indifferent - wp] (vgl. dagegen Log II, 161), weil er sich auf Dinge richtet und nicht auf Menschen, ein sittlicher Wille aber nur in Bezug auf Menschen einen Sinn bekommt. (Log IV, 311) Dies möchte ich auch bedacht wissen, wenn wir späterhin von Wissenschaften, die den Menschen zum Gegenstand haben, fordern, daß sie den Menschen wie ein Ding betrachten (Log IV, 305). Inwieweit die Philosophie selbst Wissenschaft, wieweit sie Kunst ist, kann mich hier nicht beschäftigen. Als Idealwissenschaft schwebt mir die Naturwissenschaft vor. Ich habe auch schon darauf hingewiesen, daß ihre Theorien etwas grundsätzlich anderes sind, als spekulative Philosopheme. Indem wir nun immer die Fäden im Auge behalten, die in RICKERTs System zwischen Ethischem, Erkenntnistheoretischem, Philosophischem im weitesten Sinne, Kultur- und Naturwissenschaft gesponnen sind (deren Verknüpfung ihm besonders durch die Einführung des Gefühls in den formalen Erkenntnisprozeß gelang), erinnere ich hier an einige seiner Sätze. Es ist nämlich bezeichnend, daß RICKERT, der doch die letzten Erkenntnisgründe in Sinn und Bedeutung findet, gerade diese Urform der Erkenntnis mit den letzten philosophischen Fragen in Zusammenhang bringt, deren sich die Spekulation mit Vorliebe bemächtigt:
Ich sage nun nicht etwa, daß der spekulierende, von Gefühlen mitbestimmte Denker, nicht auch von Erfahrungsmomenten ausging, wie wir es von jedem Denkenden verlangen. Ich weise nur darauf hin, daß er sich früher oder später von diesem festen Boden der Gegebenheit erhebt - und anthropomorphosiert, z. B. wenn er die Einheit in die Welt trägt, oder seine Wertschätzungsgefühle auf andere Menschen anwendet (vgl. hierzu Gr 506). "Der Geist des Philosophen sucht sich in den gegebenen Dingen wiederzufinden." (EMILE BOUTROUX; Log I 48) Natürlich ist es nicht immer nötig, daß sich der Spekulierende von der Erfahrung aus zu seiner ideatisierten Wirklichkeit erhebt - er kann von einer solchen auch herkommen: dann gibt man ihm den allgemeinen Namen Dogmatiker. Wenn etwa die Bibelkritik von einem Teil der Bibel eine viel spätere als bisher angegebene Entstehungszeit ermittelt, die Theologie aber dennoch den Inhalt jenes Teils für eine unanfechtbare historische Wahrheit hält, dann wird eben der vorausgesetzte Wirklichkeitswert und damit der Wahrheitswert jener Urkunde aufgehoben; deren Inhalt deshalb für die heutige Ethik noch sehr bedeutsam sein kann. Mir scheint, als ob dann, wenn die Erfahrung ausgeschaltet ist, der Intellekt seine eigenen Formen denkt: seine Einheit zum Beispiel. Nun braucht der Spekulierende seinen Denkprodukten nur noch Existenz beizulegen, um Metaphysiker zu sein, - um zu "glauben", Erfahrung zu haben. Jene anthropomorphosierenden Tendenzen sind nun auch im Erfahrungswissenschaftler wirksam, ja, sie sind es sogar, welche ihn oft erst Probleme sehen lassen (vgl. Gr 551) - aber hier ist jeder Denkschritt auf seine Richtigkeit hin kontrollierbar. Die Wahrheit ist für ihn ein Kompromiß zwischen Denken und Erfahren. Jeder Anthropomorphismus wird vom Experiment korrigiert. Und der Naturwissenschaftler hört sofort auf, Naturwissenschaftler zu sein, sobald er von der Erfahrung nicht mehr kontrolliert werden kann, d. h. wenn er systematisiert. Dann wird er eben Philosoph wie NEWTON im Alter, FECHNER, HÄCKEL, OSTWALD; womit noch lange nicht gesagt ist, daß alle Philosophie zwischen Wissen und Glauben steht. Die "Wunschfreiheit" (≠ ohne Willen betrieben) aber in Bezug auf die Erkenntnis selbst gibt der Naturwissenschaft die Strenge, macht ihren Betrieb so mühsam - gibt ihr aber auch den Triumph. - Und - ich gestehe -, daß ich in der technischen Erfindung (d. h. nicht in der probierenden, sondern in der denkenden: z. B. in der mit der Mathematik verbundenen) die höchsten Leistungen des Menschengeistes sehen; die beste Ausführung des Kulturbefehles (vgl. das Ziel BACONs, eine Kunst des Erfindens zu lehren). Sofern es uns liegt, die Vernunft irgendwie zu verachten, am wenigsten in Bezug auf die Bildung einer Welt- und Lebensanschauung (vgl. auch Ath 152, 162), - wir sehen in jener verstandesmäßig, doch "vernunft"-los betriebenen Wissenschaft des Menschen Stärke. Sie ist es, die ihm seine Herrscherstellung unter den Geschöpfen gab. - Ob es freilich nicht das Größte für den Menschen ist, sich selbst zu beherrschen, kommt hier nicht in Betracht: das hieße doch wieder den Menschen als Gegenstand des Willens betrachten; und das ist Sache der Ethik. Ich habe aber doch gerade darlegen wollen, daß der Wille - ebensowenig wie ein Gefühl - das Kriterium oder auch nur etwas Wesentliches wissenschaftlicher Erkenntnis sein kann. Er kann vielmehr zu einem die wissenschaftliche Wahrheit nachteilig beeinflussenden Prinzip werden. Wir könnten die ganze Frage nach dem Primat der praktischen Vernunft einfach übergehen, wenn RICKERT nur von einem "logischen" Primat der praktischen Vernunft sprechen würde (Gr 602); denn Logik und Erkenntnistheorie sind nicht dasselbe. Welchen Sinn der Logiker in die Erkenntnisformen hineindeutet - vielleicht hineindeuten muß, um mehr als leere Formen in der Hand zu haben - interessiert die Erkenntnistheorie nicht. RICKERT will aber "im pflichtbewußten, freiwillg und autonom Werte anerkennenden wollenden Subjekt ... eine überlogische Basis für die Verwirklichung auch der logischen Werte ..." (Gr 604) gewonnen haben. Zugrunde liegt der Satz:
Ein Wert freilich kann die Wahrheit auch in nicht-wissenschaftlichem Sinn sein. Beide haben einen "Erkenntniswert". Wenn darum die Wahrheit ein Wert genannt wird, so kommt in die Erkenntnistheorie Verwirrung. Der Gefühlspsychologe und der Ethiker mag mit jener Begriffsidentifikation auskommen; der Erkenntnistheorie ist sie feind. Daher immer wieder die Zweideutigkeit, wodurch der Primat der praktischen Vernunft gerettet wird, wie in folgenden Sätzen:
Wenn nun die Wahrheit - erkenntnistheoretisch - kein Wert ist, dann verliert auch die Lehre vom Gelten ihren Sinn, solange unter Gelten ein Anerkennen verstanden wird. Soll aber die Wahrheit durchaus objektiviert werden - wozu kein Grund vorliegt - dann muß der Irrtum eben auch in die Sphäre des Geltens aufgenommen werden; denn er gilt seit Menschengedenken, fordert nach wie vor seine Opfer und wird gläubig anerkannt - eben weil er nicht als solcher erkannt wird, d. h.: weil die Wahrheit nicht wirklich gilt. Wenn die Wahrheit ein absoluter, transzendenter Wert wäre, dann könnten nicht beide Vertreter entgegenstehender Auffassungen den Wahrheitswert zu verehren glauben (vgl. z. B. den Streit von CUVIER und GEOFFREY de Saint HILARAIRE). Wo andererseits wie in den Naturwissenschaften ein experimenteller Nachweis möglich ist, wie ihn Darwin für die in jenem Streit in Rede stehende Frage erbrachte, da gibt es dann keinen Wert mehr, sondern nur Tatsachen hinzunehmen. (Vgl. Nat Phil 40: "Die Geschichte menschlicher Erkenntnis ist zugleich die Geschichte menschlicher Irrungen." (vgl. auch Log IV 325) Hätte ich die wissenschaftliche Wahrheit zu objektiveren, dann würde ich sie eine Gottheit nennen, die sich wohl von einem unermüdlich nach Erkenntnis strebenden Verstand ab und zu sehen läßt, aber ganz uninteressiert daran ist. Sie will nicht gelten - verzichtet aber auch auf alle Anerkennung. Sie ist nur. Insonderheit fehlt ihr der Nimbus, den die Wahrheit durch die Nebeneinanderstellung der Ideen des Wahren, Guten und Schönen erhalten hat. praktischen Vernunft beruth auf einer Amphibolie. Daß RICKERTs Begründung des Primats der praktischen Vernunft aber nur auf einer ziemlich deutlichen Amphibolie [Doppelsinn - wp] beruth, nämlich auf der Ersetzung logischer Ausdrücke durch die nicht ganz entsprechenden psychologischen, mögen noch folgende Sätze beweisen:
praktischen Vernunft gründet, ist voraussetzungsvoll: a) Sie nimmt Eigenwerte an. Ich sehe gerade etwas Wesentliches der Erkenntnis darin, daß sie unabhängig von einem Willen ist. Falls nun jemand hier einwirft, daß die Wissenschaft hohen und edlen Zwecken dient, so muß erwidert werden, daß dies nicht zum Wesen der Wissenschaft gehört; daß sie vielmehr Wissenschaft bleibt, auch wenn sie von Übeltätern getrieben und zu Betrügereien benutzt würde. Für die wissenschaftliche Erkenntnis ist es ganz und gar gleichgültig, aus welchen Motiven sie gesucht wird. Das zu erfragen, ist, wie ich immer wieder betone, Sache der Ethik. Ich muß eine andere Meinung erklären, wenn RICKERT spricht: Wissenschaft, die bloß in Kenntnissen besteht, ist noch keine Wissenschaft; es kommt darauf an, daß Wahrheit um der Wahrheit willen gesucht wird (Log II 155; Log IV 296, 311; Gr 604:
Gr 605: "Deswegen können wir erst in einem das Sollen um seiner selbst willen anerkennenden Willen das letzte Fundament, nicht der Wertgeltung, wohl aber der wirklichen Erkenntnis sehen.") - Vor allem betreibt man eine Sache dann nicht mehr um ihrer selbst willen, wenn man sie um des Genusses willen betreibt (vgl. dazu den Satz WINDELBANDs, Was ist Philosophie?, Präludien III, 36:
Ich gehe daher auf diese Frage nicht ein; würde mir aber zutrauen, auf die Frage, warum ich z. B. diese Überlegungen anstelle, - die doch gern ein kleiner Beitrag zur Erkenntnis der Wahrheit, der wissenschaftlichen Wahrheit, sein möchten, - die Antwort verfechten zu können: "Um des Genusses willen, den ich an solchen Grübeleien habe." Vielleicht würde das auf einen Wortstreit hinauslaufen; denn die Freude an solchen Dingen ist - im Effekt - nicht weniger schätzenswert, wie der Ritterdienst, den die Bekenner der Werte der Göttin Wahrheit leisten. Es würde sich aber doch auch ein Auffassungs-, d. h. ein Standpunktsunterschied geltend machen, wenn ich meine Haltung so begründen würde: "Ich gebe mich solchen Überlegungen hin, weil sie mir dauernde Lust, d. h. eine lebenslängliche Genußmöglichkeit geben." Der wertanerkennende Wissenschaftler würde - nicht ohne den Ton einer leisen Verachtung - sagen: "Ich gehe solchen Gedanken nach, weil die Anerkennung der Wahrheit ein Eigenwert ist; mein Leben wäre nicht lebenswert, wenn ich ihn nicht verehren dürfte." - Man sieht jetzt in den zwei zielstrebigen, zweckverfolgenden Bemühungen zwei ganz verschiedene Bewußtseins- und Gemütshaltungen: die psychologische, voraussetzungslosere - und die ethische, objektivierende. Und eben dieser zweite Standpukt ist es, den wir vorläufig - um der Voraussetzungslosigkeit, d. h. um der Wissenschaftlichkeit der Erkenntnistheorie und um der Ehre jeder Wissenschaft willen - von der Beurteilung einer Erkenntnis ausschließen wollen. (Vgl. Gesch 123 über die enge Verbindung der Erkenntnistheorie mit der Ethik; ferner die Thesen von SCHELERs Dissertation Meth 92) Zweck und Wert. Natürlich, wenn RICKERT mit jedem Zweck, wie auch mit dem des Technikers, d. h. also mit jeder Willenshandlung, einen Wert verbindet (Log II 143), dann treffen ihn diese Ausführungen nicht. (Log II 147: "Jede Maschine, die zu einem bestimmten Zweck erfunden ist und diesen Zweck erreicht, ist ebenfalls ein durch und durch wertteleologischer Zusammenhang.") Dann hat er aber einen anderen, erweiterten Wertbegriff als denjenigen, welcher in Billigung und Mißbilligung zum Ausdruck kommt. Man kann doch einen Zweck nicht einen intellektuellen Wert nennen, weil Werte immer gefühlsbestimmt sind. Sonst hätte RICKERT bei der Beziehung der Urteile auf Werte und bei der Entwicklung zum Höheren (Log II 148) einfach sagen können: In der Form des Urteils liegt etwas Willensmäßiges, auf Zwecke Gerichtetes. Da an Zwecken Werte haften, ist der Gegenstand der Erkenntnis ein Wert. - In diesem Fall wäre RICKERT freilich wieder in Konflikt mit seinem Erkenntnisbegriff gekommen, wonach sich das Erkennen nach seinem Gegenstand zu richten hat. Wenn man für Wille "Wertstreben" sagt (KuNa 133: "Der Willensakt macht ... diese Individualität wichtig und stellt die Wertbeziehung her"), dann verliert der Wert sein Charakteristisches. "Wichtig" und "wertvoll" ist zweierlei. Der Ausdruck "wertvoll" ist eben nicht eindeutig, wie RICKERT an einem Begriffsschema selbst darlegt. "Wertvoll für etwas sein" (= wichtig) und "wertvoll schlechthin sein" (= d. h. für die Menschen, etwa für die Kultur wertvoll sein), sind doch verschiedene Begriffe. Im letzteren Fall schwebt uns nur der positive Wert vor. Wird der Wert in seinem Doppelsinn als Wert und Unwert aufgefaßt, so muß daran erinnert werden, daß auch der Dieb nach "Werten" (nicht etwa bloß nach Wertstücken) strebt. Wenn nun der Wert im positiven Sinn als Beziehungsobjekt betrachtet wird, dann hat es seinen Sinn, von einem Primat der praktischen Vernunft zu sprechen, womit der Wertstandpunkt als eine ethische Betrachtungsweise aus der Erkenntnistheorie ausscheidet. Wird der Wert als Oberbegriff als positiver Wert oder Unwert betrachtet, womit der Ausdruck: "einen Wert anerkennen" soviel heißt, wie: "Nach Zwecken streben, unter Beteiligung des Willens denken" - so ist damit eine psychologische Tatsache konstatiert, die wieder erst einer logischen Bedeutung bedarf, um als "sinnvoll" und "geltend" erfaßt zu werden. Und damit sind wir nicht gefördert. Hiermit ist einmal festgestellt, daß es nicht zum Wesen der Wissenschaft gehören kann, andere als Erkenntniszwecke zu haben. Andererseits haben wir in den Eigenwerten eine Voraussetzung aufgefunden, welche von der Wertlehre stillschweigend gemacht wird. Da also diejenige Erkenntnistheorie, welche die Erkenntnis als eine Anerkennung von Werten zu begreifen sucht, ethische Voraussetzungen macht, so ist sie dogmatisch - d. h.: nicht mehr Erkenntnistheorie. b) Sie nimmt Menschen- und Kulturwerte an. Eine weitere Wesensverkennung der Wissenschaft entsteht bei RICKERT daraus, daß die Wissenschaft in einen anderen Wertzusammenhang gebracht wird: in einen historischen. Sie wird hineingestellt in einen Kulturzusammenhang. Wie nahe es liegt, nunmehr der Wissenschaft wesensfremde Merkmale beizulegen, ist leicht zu sehen. Ich bemerke aber im Voraus, daß die Wissenschaft sofort aufhört, Wissenschaft, d. h. Erkennen zu sein, sobald ihre Ergebnisse im Leben praktisch verwertet werden. Dagegen ist diese praktische Verwertbarkeit ein Wesensmerkmal ethischer Kritierien. Daß die Erkenntnistheorie, sobald der Primat der praktischen Vernunft anerkannt wird, zu einem Grenzgebiet von Ethik, Religion, Metaphysik und Wissenschaft wird, leuchtet namentlich ein, wenn bedacht wird, daß die Frage, ob Arbeit ansich gut ist, ob "die Welt das versinnlichte Material unserer Pflicht" ist, von der Religion längst entschieden worden ist. (1. Mose: "und bebaue sie", womit der Kulturbefehl ausgesprochen wird.) Sie muß es erst recht, als schon das Wort "Bebauen" eine Wertbestimmtheit enthält; was auch RICKERT bestätigt (Log I 17): "In den Kulturgütern hat sich die Mannigfaltigkeit der Werte gewissermaßen niedergeschlagen". Auch meiner Meinung nach ist die Wissenschaft ein Kunstwerk; sie muß aber kein Kulturgut sein (Log I 18; III 245; II 78: "... theoretisches Kulturgut ..."); schon weil die Kultur ansich kein Gut ist, und nur theoretisch, d. h. historisch gewertet werden kann. Ja, die Achtung vor der echten Wissenschaft beruth gerade darauf, daß sie solche rein menschliche Gesichtspunkte, wie Wertungen es sind, ausschließt (vgl. auch Log II 150). Jener Zwang zur Wahrheit, der sich mit jeder Forscherarbeit verbindet, findet ja gerade seinen Ausdruck in der "Objektivität der Wissenschaft". (Wobei unter "Objektivität der Wissenschaft" natürlich etwas anderes zu verstehen ist, als RICKERT etwa in Gr 585 und 591 meint.) RICKERT sagt ja selbst in den Grenzen, daß die Naturwissenschaft wertfrei ist und daß die Geschichte nur ein Werten im theoretischen Sinn ist (Log II 146-150; Gesch 102; Gr 325f, 549f; vgl. dagegen Gr 327:
Um aber auf die im Kulturbefehl enthaltene Entscheidung der Religion über diese Fragen und damit auf den Gegenstand der Kulturwissenschaften zurückzukommen, weise ich darauf hin, daß auch scon das Wort Kultur den ethisch-wertenden Sinn von "Bebauen" (colere) hat (vgl. Log II 165). Es ist eben nicht zu vergessen, daß die Bezeichnung "Kultur" für dasjenige, was HEGEL mit Überwindung des Stoffes durch den Geist bezeichnet, ein schon von einem Wertstandpunkt aus geprägtes Wort ist. Der Voraussetzungslosigkeit echter Wissenschaft entspricht es aber, einen solchen Standpunkt zu verlassen. Dieser Standpunkt ruht nämlich auf der dogmatischen, von der Ethik ausgenommenen Voraussetzung, daß die Förderung der menschlichen Gattung etwas Gutes ist. Zweitens setzt der Wertphilosoph gewöhnlich voraus, daß die Kultur die menschliche Gattung tatsächlich gefördert hat; daß sich, wie RICKERT sagt, die Werte in den Kulturgütern niedergeschlagen haben. - Es bleibt natürlich auch unter diesen Voraussetzungen einem jeden unbenommen, die Wissenschaft, insofern sie zum Kulturfortschritt beitragen kann, als Kulturgut zu bezeichnen. Aber, was man dann Kulturgut nennt, ist nicht die Erkenntnis selbst, sondern die praktische Nutzbarmachung einer Erkenntnis. Dasselbe ist zu antworten, wenn gesagt wird, die Beschäftigung mit der reinen Wissenschaft veredelt die Sittlichkeit. - Es ist also wohl zu scheiden: zwischen der Erkenntnis selbst und den Folgen, die mit der Erkenntnis verbunden sein können. - Der Wissenschaftler kann Wissenschaftler und der Techniker Erfinder sehr brauchbarer Maschinen sein, ohne daß er der Kultur irgendeinen Dienst erweisen will. Zumindest können beide so angesehen werden, als ob sie keine Beziehung zur Kultur hätten. Ja, der Wissenschaftler könnte sogar zu dem Ergebnis kommen, daß der Glaube an die Objektivität der Werte eine Selbsttäuschung und alle Kultur bloßes Blendwerk ist (vgl. dagegen Log II 165). Den entscheidenden Satz auf Seite 165 müßte ich so umändern: Technische und wissenschaftliche Natur dürfen mit der künstlerischen, sozial-ethischen und religiösen Kultur nicht auf eine Linie gestellt werden). Kirche, Nation, Staat, Ehe, Familie, wirtschaftliche Organisation sind Güter erst für denjenigen, welcher etwa die gegenwärtigen Verhältnisse in Deutschland billigt oder etwa in einer zufriedenen, ungestörten Lebenshaltung möglichst vieler Menschen das Ideal des irdischen Daseins der Menschen sieht; - zunächst einmal können aber alle oben angeführten "Güter" ebenso als Ausgeburten einer unvermeidlichen Zivilisation oder das ganze Kulturleben als ein Kompromiß der Schwachen angesehen werden; eine Übereinkunft der Sklavennaturen, welche ihre Großen, ihre Propheten, töteten. Von den griechischen Skeptikern an, über PAULUS, die christlichen Asketen, VOLTAIRE, ROUSSEAU (Die Anfangsworte im "Emile"!) bis zu den modernen Verkündern irgendeiner auf Gleichheit beruhenden Utopie oder eines Herrenmenschenideals geht doch auch eine ununterbrochene Reihe von Menschen, die da sagten, es sei alles eitel, und die also am Wert jener "Güter" zweifelten. (vgl. Log IV 312) Daß sie vielleicht in der Minderheit sind, beweist nichts. Gewiß - diese Zweifler haben vielleicht nur andere Werte verehrt - standen also auch mit ihrer Lehre vom Unwert der vorhandenen "Kultur" auf einem Wertstandpunkt; ihre Lehren sind aber Beweise gegen die unbedingte, absolute Geltung der Werte. Ich will die Wertbetrachtung nur als einen Standpunkt charakterisieren, der nicht unbedingt eingenommen werden muß. Die rein wissenschaftliche Erkenntnis aber muß, da auch die indirekte Wertung auf einer direkten Wertung beruth, einen auch theoretisch wert- und sinnfreien Standpunkt einnehmen. Für den wissenschaftlichen Charakter einer Abhandlung, sagen wir: "über die Entwicklung der Leipziger Messen" - ist es ganz gleichgültig, daß die Leipziger Märkte von hohem wirtschaftlichen Wert sind. Jene Arbeit verliert auch nicht an wissenschaftlichem Charakter dadurch, daß der Verfasser Unwesentliches mit anführt. Das wäre nur eine schlechte geschichtliche Darstellung und ein Beweis für des Verfassers methodische Unfähigkeit. Wissenschaft bleibt die Arbeit solange, als sie sich an glaubwürdige Berichte hält und - sofern es die Vollständigkeit der Quellen erlaubt - daraus Schlüsse zieht, d. h. analytisch urteilt. Wenn nun die Geschichte fortfährt, sich nach Wertgesichtspunkten zu richten, und die Wirklichkeiten "nicht auf ihr bloßes Dasein hin ansieht" (Gr 517), so ist das ihr gutes Recht. Es kann sein, daß sie dadurch zu immer höherer Bedeutung gelangt. Nur ist sie insofern nicht mehr reine Wissenschaft - vielleicht mehr als diese gleichviel; - nur auf diese Feststellung kommt es mir hier an. Für mich, der ich von der Geschichte nur verlange, die Gegenwart zu erklären, d. h. darzustellen, wie die Welt zur heutigen wurde, sind die Gegenstände, welche RICKERT Werte nennt, nur Gesichtspunkte zur Anordnung von Tatsachen. Ich bemühe mich, die "Kulturgüter" als etwas Wertfreies, von den Menschen einmal Erstrebtes anzusehen. Daß die Gesichtspunkte der Auswahl meist "Kultur"objekte sein werden, wird klar, wenn man bedenkt, daß die Menschen, zumindest diejenigen der letzten drei Jahrtausende, ihre Entwicklung ziemlich sorgfältig aufzeichneten - und die Menschen dasjenige Stück der Natur Erde sind, welche, zumindest ihrem eigenen Ermessen nach, am raschesten Veränderungen ihrer Daseinsverhältnisse herbeizuführen wußten. Daß dem Menschen der Mensch das interessanteste Geschöpf ist, ist eine Tatsache (RATZEL), und nur zu begreiflich. Ich will aber, um möglichst vorurteilsfrei zu bleiben, seine Erzeugnisse nicht "Güter" nennen, um nicht auch in der Geschichte der Natur einen Wertstandpunkt einnehmen zu müssen. Wenn RICKERT sagt:
Das Analogon zum Historiker, welcher die Kulturerzeugnisse als Kulturwerte zu Gesichtspunkten seiner Forschung macht, ist der "Naturfreund". Dieser aber ist entweder Optimist - und denkt als solcher, d. h. als Teleologe, voraussetzungsvoll, d. h. unwissenschaftlich. Oder er steht so hoch, Freude an einem Gegenstand zu empfinden, der die ihm zugewandte Liebe nicht erwidert; d. h. eben: er muß sich darüber klar sein, daß die Natur nie sein Freund ist, weil sie überhaupt nicht mit Gefühlsmomenten, also auch nicht mit Wertmaßstäben gemessen werden kann. Die Natur ist gefühllos. Einer Wissenschaft, die auch dem Menschen gegenüber einen objektiven Standpunkt zu gewinnen sucht, muß aber daran gelegen sein, auch die Kultur als ein Stück Natur zu begreifen. Für einen vorurteilslosen Menschen ist daher Kultur nur "Veränderung, durch den menschlichen Willen hervorgerufen". Oder, einen von EUCKEN geprägten und von SCHELER verwandten Begriff zu gebrauchen: eine "Arbeitswelt". (vgl. dagegen Gr 607, ferner 552, 629; Gesch 85) Dieser Wille steht aber für ihn jenseits von Gut und Böse. Der Betrachtende abstrahiert davon, daß auch er Mensch ist. Er sieht dem Weltspiel zu, wie ein Unbeteiligter; er bringt die Gestalten und Szenen zueinander in Verbindung - enthält sich aber der Zwischenrufe; d. h. er wertet nicht. Vor allem hält er den Weltwillen für wertfrei - und, sofern der Begriff des Zwecks etwas Teleologisches enthält - auch für zweckfrei. Der Wille will nur. Sein Objekt ist auch der Mensch; aber daß es auch der Mensch ist, dafür fehlt ihm der Sinn. (vgl. Gr 550:
nicht nach einem Wahrheitskriterium. Ich werde in meinem Vorsatz bestärkt zunächst durch die Erkenntnis, daß der Wille überhaupt niemals Wahrheitskriterium sein kann, also auch nicht der gute Wille. Zweitens kann das Kriterium, welches die Ethik für die Beurteilung einer Handlung anwendet, kein Kriterium wissenschaftlicher Erkenntnis sein. Gerade für ihre höchsten Werterkenntnisse, die Eigenwerte, hat die Ethik kein anderes Kriterium als die "Gesinnung", das Gefühl. (Das Recht hat auch andere Kriterien; z. B. Sitte und Gesetz; woraus oft der Konflikt zwischen Recht und Sittlichkeit entspringt, wie das erhabene Beispiel Christi beweist.) Gewertet wird immer nur von Gefühlen aus. Auch die Arbeit, die ansich nicht immer mit Lustgefühlen verbunden zu sein braucht, wird nur geschätzt aus Gefühlen heraus: weil die Arbeit das Gefühl der Befriedigung erzeugt; oder weil damit das "Wohl" einer Gemeinschaft gefördert wird. Oder: weil sich einer dabei selbst überwinden lernt und den Sieg über sich selbst genießt; oder: weil ihm dafür der Lohn Gottes verheißen ist usw.: alles Gefühlsgründe. Das Gefühl aber ist kein Wahrheitskriterium. Ein Erkenntniskriterium ist es sicherlich und gehört darum auch in eine Erkenntnistheorie; - Wahrscheinlichkeitserkenntnis, wie sie z. B. in der Spekulation des Kaufmanns eine Rolle spielt, gehört auch in die Erkenntnistheorie -; jedenfalls aber nicht in eine solche, welche sich vorläufig nur die Rechtfertigung der wissenschaftlichen Erkenntnis zur Aufgabe macht. Das Gefühl hat, wie auch Volkelt ausführt, subjektiven Charakter, - und kann daher keine objektive Wissenschaft (objektiv im Sinne RICKERTs gebraucht) begründen. RICKERT entzieht sich diesem und damit dem obigen, den Irrtum betreffenden Einwand, indem er ein immanentes und ein transzendentes Sollen unterscheidet (Zw 180). Woran ist aber dann das transzendente Sollen im Gegensatz zum immanenten zu erkennen? Das Kriterium hierfür, das Evidenzgefühl, mit anderen Worten: die Werte, die sich ja darin anzeigen, werden sogar von RICKERT als unzulänglich anerkannt: denn RICKERT hält "die Geltung der Werte", "welche das erkennende Subjekt immer anerkennt, wenn es etwas als wahr behauptet, für bezweifelbar" (Gr 591). Wie hilft sich RICKERT aus dieser zweiten Notlage? -
Das Kriterium wissenschaftlicher Erkenntnis ist eben intellektueller Art, nur gleichzeitig auch gefühlsmäßiger Natur. Wer da meint, die Unbezweifelbarkeit des Urteils, daß auf jenem Brett Bücher stehen, beruth nur auf einem Gefühl, der täuscht sich, wie ich oben gezeigt habe. Auf die Entgegnung, daß wir keinen anderen Grund dafür angeben können, erwidern wir, daß gerade in dieser Rede jene oberflächliche Betrachtungsweise ausgesprochen liegt: in Ermangelung der vollen Erkenntnis doch irgendeinen Grund ausfindig zu machen, welcher das ganze Phänomen erklären soll. Jedenfalls ist das "Gefühl" als Wahrheitskriterium (also ein psychologisches) bei RICKERT das innerste Band, das Ethik und Erkenntnistheorie verknüpft. Ich bin ferner überzeugt, daß ich bei RICKERT im Gefühl den Grund zu suchen habe für die Verwobenheit alles seelischen Lebens in den Erscheinungs- und Funktionskomplex der "Kultur". Und ich gestehe, daß ich die Konsequenzen, die daraus für RICKERTs Transzendenzlehre entstehen, gern hinnehme, weil dahinter eine großzügige Psychologie steht, welche lehrt, daß der Mensch auch im Erkennen immer nur als ganzer Mensch erkennt. ![]()
Bü = Karl Bühler. Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge: I. Über Gedanken. Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 9, 1907. Wi = Max Frischeisen-Köhler, Wissenschaft und Wirklichkeit, 1912 Huss Jahrb = Husserl, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 1, Teil 1, 1913 Nat Phil = Paul Natorp, Philosophie, Ihr Problem und ihre Probleme (Wege zur Philosophie) 1911 Gs = Der Gegenstand der Erkenntnis, zweite Auflage 1904 Gr = Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, zweite Auflage, 1913. Gr I bzw. II = Die erste bzw. die zweite Auflage. KuNa = Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, zweite Auflage 1910. Def = Zur Lehre von der Definition, 1888. Ath = Fichtes Atheismusstreit und die kantische Philosophie, Kant-Studien, Bd. 4, Seite 137f. Zw = Zwei Wege der Erkenntnistheorie, Kant-Studien, Bd. 14, 1909. Fest = Sigwart-Festschrift 1900; Psychophysische Kausalität und psychophysischer Parallelismus. Theorie = Zur Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1894. Log I = Logos Bd. I, Vom Begriff der Philosophie, 1910/11. Log II = Logos, Bd. 2, Das Eine, die Einheit und die Eins, 1911/12. Log II = Logos, Bd. 2, Lebenswerte und Kulturwerte, 1911/12 Log III = Logos, Bd. 3, Urteil und Urteilen, 1912 Log IV = Logos, Bd. 4, System der Werte, 1913 Scheler = Meth, Die transzendentale und die psychologische Methode, 1900. Schlunke = Otto Schlunke, Dissertation 1911, Die Lehre vom Bewußtsein bei Heinrich Rickert VolkED = Erfahrung und Denken, 1886 VolkQ = Die Quellen der menschlichen Gewißheit, 1906. Volkant = Immanuel Kants Erkenntnistheorie, 1879 Volkaest = System der Ästhetik, Bd. 3, 1914 |