cr-2tb-1G. K. UpuesSchopenhauerW. F. SchäfferF. Rittelmeyer     
 
AUGUST STADLER
Die Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie
in der kantischen Philosophie


"Die Gesetzmäßigkeit des  Soll,  welche die praktische Philosophie entwickelt, ist die denkbar vollkommenste Daseinsform vernünftiger Wesen. Mit dem Verzicht auf das Erringen ihrer Wahrheiten würde der Mensch seine höchste Würde opfern."

"Unter den Urteilen gibt es solche, deren Einheit sich im weiteren Verlauf des psychischen Geschehens wieder auflöst; andere, deren Verknüpfung im Bewußtsein festgehalten oder bei einem neuen Zusammentreffen der entsprechenden Vorstellungen wiederum erzeugt wird; eine dritte Klasse schließlich, deren Synthesis das Bewußtsein begleitet oder begleiten kann, da sie unauflöslich ist und bei jeder Sukzession der gleichen Elemente gebildet werden muß. Die Verbindungen der letzten Art heißen notwendige Urteile."

"Die formale Logik ist die Wissenschaft der gegenseitigen Beziehung der Urteile. Sie hat zu untersuchen, in welchen Fällen die Relation zweier Urteile das Bewußtsein der Notwendigkeit hervorbringt und in welchen nicht. Ihre Hauptaufgabe wird sein, diese Abhängigkeit der Vorstellungsbewegungen auf allgemeine Sätze zu bringen."


Vorwort

In der vorliegenden Arbeit habe ich versucht, die Funktion der "Grundsätze des reinen Verstandes" in der kantischen Erkenntnistheorie von neuem zu prüfen und in einem systematischen Zusammenhang zu entwickeln. Im Umfang dieser Aufgabe schienen mir drei Punkte der Aufklärung besonders bedürftig zu sein: die spezifische Leistung jedes einzelnen Prinzips, die Rechtmäßigkeit seiner Annahme und das einheitliche Zusammenwirken aller Grundsätze im Ganzen des erkenntnistheoretischen Prozesses.

Das so bestimmte Problem glaubte ich nicht dadurch lösen zu sollen, daß ich die Interpretation der kantischen Darstellung Schritt für Schritt folgen ließ. Es schien instruktiver, die integrierenden Gedanken der Vernunftkritik zunächst von allem historisch-polemischen Beiwerk zu sondern und sie hierauf, in möglichster Übersichtlichkeit, wieder zu einem System zusammenzubauen. So konnte der geschlossene Mechanismus der Erfahrungsbedingungen klarer und deutlicher hervortreten. - Einem solchen Versuch ist der Boden geebnet durch die einschneidenden Untersuchungen 'HERMANN COHENs über "Kants Theorie der Erfahrung". Von ihren bedeutsamen Resultaten sei hier nur an zwei erinnert, die für meine Darstellung eine besondere Wichtigkeit besitzen: die Unterscheidung des "metaphysischen" A priori vom "transzendentalen", als von der bloßen Beziehung auf die Möglichkeit der Erfahrung, und die Aufzeigung der Kategorie als Art der im Urteilsakt wirkenden "transzendentalen Apperzeption". Beide Auffassungen haben sich mir in mehrjährigen eigenen Studien nicht nur als kantisch, sondern auch als systematisch fruchtbar bewährt.

Es ist kaum nötig zu erklären, daß sich diese Arbeit keineswegs als ein ausgeführtes System der Erkenntnistheorie anbieten will. Ein solches Unternehmen würde eine viel breitere Anlage, vor allem aber eine (psychologische) Überschreitung des kantischen Gedankenkreises erfordern. Dies liegt nicht im Plan der Untersuchung. Wenn sie auch an Punkte gelangt, wo eine Entfernung vom kantischen Wortlaut, eine genauere Ausführung bloßer Andeutungen, selbst eine Hinzufügung eigener Gedanken zur scharfen Kennzeichnung des Sinnes nötig wurde, so glaubt sie doch von den Intentionen der Vernunftkritik nicht abgewichen zu sein. Der Leser wird die Diskussion solcher Stellen in den Anmerkungen finden. Mein Ziel war in erster Linie die immanente Konsequenz der kritischen Theorie.

Daß die Arbeit trotzdem nicht bloß dem geschichtlichen Verständnis 'KANTs, sondern auch dem logischen Reformbedürfnis der Gegenwart zu dienen hofft, zeigt sie durch die Wahl der Methode; sie ist bestrebt, die wissenschaftliche Tragweite kantischer Sätze nach allen Richtungen zumindest anzudeuten. Und ein solcher Anspruch bedarf in Deutschland zur Zeit keiner Motivierung. Zwar herrscht Streit in der Philosophie, wie immer; aber die Kämpfenden wenden sich mehr und mehr von den Epigonen ab, um sich für oder gegen 'KANT in zwei Lager zu scharen. Die Geschichte wird das Inventar des bleibenden Besitzes aufstellen, den unser logisches und unser sittliches Bewußtsein dem kritischen Idealismus verdankt. Jedenfalls steht uns kein Urteil frei, bevor wir uns redlich bemüht haben, seinen gesündesten, besten Sinn zu fassen. Was 'KANT von 'PLATON sagte, gilt von ihm selbst:
    "daß es gar nichts Ungewöhnliches ist, sowohl im gemeinen Gespräch, wie in Schriften, durch die  Vergleichung der Gedanken,  welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte." (Kr. d. r. V., Ausgabe  Hartenstein,  Seite 257)
Die "mildere und  der Natur der Dinge angemessene  Auslegung" (a. a. O. Seite 258), die er jenem zugestand, dürfen wir ihm selbst nicht vorenthalten. Welche Gedanken der Vernunftkritik und in welcher Verbindung sie bei einem Fortschritt der Erkenntnistheorie zu verwerten sind, kann nicht ausgemacht werden, solange man über den Zweck uneinig ist, den sie in ihrem ursprünglichen Organismus zu erfüllen hatten. Zur Förderung dieser Einsicht, die ich als die fruchtbarste Vorbereitung auf den erkenntnistheoretischen Ausbau der Logik betrachte, möchte nachfolgende Entwicklung einen Beitrag liefern.



Einleitung

Die Aufgabe der Philosophie

1. Die Aufgabe der Philosophie bildet das stets wiederkehrende Grundthema der neueren philosophischen Literatur. Diese Tatsache ist leicht zu erklären. Wem Philosophie am Herzen liegt, der kann sich der nüchternen Einsicht nicht verschließen, daß seine Wissenschaft immer noch kein anerkanntes Gemeingut besitzt. In den anderen Disziplinen herrscht Streit über einzelne Theorien, in der Philosophie beginnt die Entzweiung bei wissenschaftlichen Grundbegriff. Das erwachende Bewußtsein von der Unhaltbarkeit eines solchen Zustandes verdankt die Philosophie der Nichtbeachtung der Zeitgenossen. Solange die Turniere der Systeme noch Zuschauer fanden, solange auch die Naturwissenschaft noch ernsthaft in den Kampf mit eingriff, erfreute sich die Philosophie auch bei der unfruchtbarsten Polemik eines hinreichenden Vitalgefühls. Als aber die exakte Forschung in ihrem großartigen Aufschwung sich ganz von ihr abwandte, und der esoterische Waffenlärm von den Gebildeten ignoriert wurde, da mußte sie notwendig nach und nach um das Erlöschen ihres Lebens besorgt werden, sie mußte fühlen, daß es sich um ein wissenschaftliches Sein oder Nichtsein handelt. So sehen wir dann, daß die neueste Philosophie teils vollständig auf das Niveau des Vegetierens herabgesunken ist, teils aber sich zu einer ernsthaften Selbstprüfung aufzuraffen scheint. Ob die letztere in absehbarer Zeit zu einer fruchtbaren Selbsterkenntnis führen wird, läßt sich nicht entscheiden. Die alte philosophische Methode ist zu sehr eingewurzelt, als daß nicht jeder Vertreter auch diese reformatorischen Bestrebungen zunächst auf eigene Hand und unbekümmert um seine Mitarbeiter unternehmen sollte. Aber das Streben als solches bürgt für die allmähliche Verbesserung der Methode. Wenn nur erst die wissenschaftliche Neugestaltung ernsthaft gewollt wird, so wird sich auch die Forderung einer bewußten Kontinuität des Arbeitens mehr und mehr Geltung verschaffen.

2. In den Versuchen, das Arbeitsfeld der Philosophie zu bestimmen, tritt fast überall die Neigung hervor, einen recht ansehnlichen Bereich abzugrenzen. Daß bei dieser Tendenz die Leistungen vorwiegend dogmatisch gefärbt sind, ist leicht erklärlich, wenn man bedenkt, in wie enge Schranken die Spekulatioin durch den Kritizismus gebannt werden sollte. Aber auch diese Arbeit ist nicht verloren. Teils befördert sie nur die Zerbröckelung der morschen Systeme, teils führt sie selbst, ohne es zu wollen, auf Quellen fruchtbarer Neugestaltung.

Als dogmatisch kennzeichnen sich vor allem die Versuche, welche einen falschen Frieden mit den Naturwissenschaften proklamieren und die Versöhnung mit der exakten Forschung als Aufgabe der philosophischen Methode hinstellen. Dieser Begriff der Versöhnung ist unter allen Umständen verwerflich. Die Philosophie ist entweder zu einer selbständigen wissenschaftlichen Existenz berechtigt oder nicht. Im ersten Fall hat sie ihr Recht zu verfechten und braucht weder Gunst noch Duldung von einer anderen Wissenschaft zu verlangen. Werden ihre legalen Ansprüche bestritten, so entsteht eben ein Kampf, dessen Entscheidung der Geschichte der Wissenschaften anheimfällt. Im zweiten Fall aber ist der Wunsch nach Versöhnung vollends lächerlich. Die Großmut der Empirie kann ihr zwar das Sterben erleichtern, sie jedoch nie, auch nur vorübergehend zur Wissenschaft erheben. Dies findet vornehmlich Anwendung auf die dogmatische Naturphilosophie. 'KANT (0) hat endgültig dargetan, daß die philosophische Methode für die sachliche Erweiterung unserer Naturerkenntnis nichts zu leisten vermag. Wenn die Mißverständnisse der Epigonen diesen theoretischen Fortschritt illusorisch machten, so hat der gewaltige Einfluß des naturwissenschaftlichen Aufschwungs für seine Verwirklichung gesorgt.

Die dogmatische Naturphilosophie ist glücklicherweise von der Physik so entscheidend niedergeworfen, daß sie kaum jemals im Ernst daran denken kann, sich wieder aufzurichten. Fühlt aber jemand das Gemütsbedürfnis, sich in die Lücken der exakten Forschung einzunisten und im Schatten der noch nicht gelösten Probleme eine Philosophie des Unbewußten aufzurichten, so ist das ein harmloses Spiel, das nicht einmal der Aufsicht bedarf.

3. Die kritischen Versuche, die Stellung der Philosophie in der modernen Wissenschaft zu bestimmen, werden in erster Linie rückhaltlos auf den Boden verzichten, zu dessen Bebauung nur die physikalische Forschung befugt ist und nur nach anerkannten Prinzipien befugt sein kann. Andererseits werden sie prüfen, ob es in der Gesamtarbeit der menschlichen Forschung Funktionen gibt, welche nur durch die philosophische Methode vollzogen werden können. Führt die Untersuchung zu einem positiven Resultat, so ist dann der naturwissenschaftliche Dilettantismus ebenso energisch aus dieser Arbeitsgruppe zu verweisen, wie der philosophische aus der physikalischen Gruppe verwiesen werden mußte.

Zu einer ersprießlichen Behandlung der Frage wird man nicht gelangen, wenn man von vornherein den Gesamtbegriff der Philosophie gewinnen will; dieser Weg hat noch nie über vage Allgemeinheiten hinausgeführt. Meiner Ansicht nach ist es das sicherste und fruchtbarste Verfahren, wenn man von der herkömmlichen Einteilung der Philosophie ausgeht und die Berechtigung jeder einzelnen Disziplin untersucht.

4. In diesem Sinne müssen vor allem die praktische und die theoretische Philosophie auseinander gehalten werden. Wir finden in dem reichen Inhalt unseres Bewußtseins Vorstellungen von etwas, das sein  soll.  Diese Vorstellungen sehen wir in der erfahrungsmäßigen Wirklichkeit nicht nur äußerst selten realisiert, sondern sie enthalten sogar in den meisten Fällen einen Gegensatz mit den Tatsachen der Natur. Wir sagen von realen Erscheinungen der physischen und der psychischen Welt, daß sie nicht so, daß sie anders sein sollten. Den Charakter, die Berechtigung und Geltung dieser Beurteilungsart zu prüfen, ist Aufgabe der  praktischen Philosophie.  Die spezifische Verschiedenheit der zu dieser Forschung nötigen Methode ist so evident, daß auf diesem Gebiet die wissenschaftliche Selbständigkeit der Philosophie niemals bestritten wurde. Sie wäre eine Wissenschaft, auch wenn sie kein weiteres Arbeitsfeld beherrschen würde. Die Gesetzmäßigkeit des Soll, welche die praktische Philosophie entwickelt, ist die denkbar vollkommenste Daseinsform vernünftiger Wesen. Mit dem Verzicht auf das Erringen ihrer Wahrheiten würde der Mensch seine höchste Würde opfern. Die praktische Philosophie zerfällt in einen  reinen  und einen  angewandten  Teil. Der erste stellt die allgemeinsten, vom empirischen Wechsel unabhängigen Prinzipien auf. Seine Arbeit ist somit endlich, ihrem Inhalt nach erschöpfbar. Es muß eine Zukunft gedacht werden, in welcher die reine praktische Philosophie als Forschung aufgehört hat; ihre Resultate sind vollständig gewonnen, sie brauch nur bewahrt und vor Trübungen geschützt zu werden. Dann bilden ihre Wahrheiten ein unvergängliches Gemeingut, das jede Generation des Menschengeschlechts in ihrer Erziehung empfangen wird. - Der angewandte Teil betrachtet alles, was wir wissen und können, im Verhältnis zu jener inneren Gesetzmäßigkeit; er ordnet unseren ganzen Lebensinhalt nach dem ethischen Zweck des Menschendaseins. Seine Arbeit ist unendlich; sie folgt Schritt für Schritt den empirischen Wissenschaften, die sie alle umfaßt. Sie bestimmt den  Wert  jeder Errungenschaft und weist ihr die entsprechende Rolle im Haushalt unserer Gedanken zu. Hier wird Philosophie Weltweisheit im umfassendsten, aber gleichzeitig bestimmtesten Sinn des Wortes.

5. Weit schwieriger ist der Begriff der  theoretischen  Philosophie zu bestimmen. Sie hat mit den Naturwissenschaften die gemeinsame Aufgabe, ein Gebiet des Seienden zu erforschen. Will sie dessenungeachtet diesen gegenüber eine besondere Stellung einnehmen, so muß sie die Eigentümlichkeit ihrer Methode, die den spezifischen Qualitäten des ihr gegebenen Materials entspricht, in zwingender Weise dartun. Man hat sich die Einsicht in ihren Charakter sehr oft dadurch erschwert, daß man die soeben entworfenen Grundzüge der angewandten praktischen Philosophie der Philosophie überhaupt und folglich auch der theoretischen beilegte. Auch die letztere sollte alle anderen Wissenschaften begreifen, ihre Ergebnisse verarbeiten und zu einem lichtvollen System zusammenbauen. Damit wurde aber nicht eine Wissenschaft, sondern vielmehr eine Kunst bald der bloß enzyklopädischen Vereinigung, bald einer mehr ästethischen Gestaltung begründet, eine Kunst, die zwar neben umfassender Bildung und allgemeinem Interesse einen das Ganze beherrschenden Blick, nicht aber eine eigene Forschungsmethode erfordert. Wenn der Naturwissenschaft die Gewinnung aller Einzelerkenntnisse zukommt, so könnte eine solche Philosophie unsere Einsicht wohl leichter und angenehmer machen, niemals aber erweitern. Hat diese Auffassung der theoretischen Philosophie wenigstens einen Sinn als Bestimmung einer künstlerisch gestaltenden Tätigkeit, so würde jene Ansicht dagegen wertlos sein, welche der Naturwissenschaft überhaupt bloß die Aufhäufung isolierter Tatsachen überläßt, sich selbst aber das Schlußverfahren anmaßt, durch welches aus dem gesammelten Rohstoff allgemeinere Einsichten herausgehoben werden. Die Beschaffung des Materials ist überall nur die Vorarbeit der Forschung, Wissenschaft wird sie erst dann, wenn sie es systematisch verbindet. Die wahre Naturwissenschaft vollzieht ihre Generalisationen selbst, und ist auch allein dazu berechtigt und befähigt.

6. Um den Begriff der theoretischen Philosophie in unzweideutiger Weise zu bestimmen, muß man die einzelnen Wissenschaften in Betracht ziehen, die gewöhnlich zu ihr gerechnet werden. Wenn ich weiß, was  Psychologie, Logik  und  Metaphysik  ist, so weiß ich auch, was theoretische Philosophie ist. Die nachfolgende Untersuchung hat sich die Aufgabe gestellt, über die Bedeutung der letztgenannten Disziplin eine zusammenhängende Ansicht zu entwickeln. Die Vollständigkeit der Lösung erfordert aber auch ihre scharfe Abgrenzung gegen die ersten beiden. Es sind also zunächst auch die Psychologie und die Logik in Kürze zu charakterisieren.

7. Damit nun über den Sinn der Aufgabe von vornherein kein Zweifel möglich ist, muß vorangeschickt werden, was man denn unter dem historisch vieldeutigen Ausdruck  Metaphysik  zu untersuchen gedenkt. Ich spreche als Voraussetzung alles Folgenden die Ansicht aus, daß man seit 'KANT unter Metaphysik überhaupt nichts anderes verstehen darf, als das Problem der Möglichkeit wissenschaftlicher Erfahrung. Die Untersuchung richtet sich also auf den Begriff einer Wissenschaftstheorie. Insofern sie aber nicht die Möglichkeit einer speziellen, sondern die Möglichkeit der Wissenschaft überhaupt prüfen soll, beschränke ich sie auf die  reine Wissenschaftstheorie.  Ihr steht die Lehre von den Bedingungen der besonderen Wissenschaften als  angewandte Wissenschaftstheorie  gegenüber; die letztere entspricht dem, was in der alten Sprache als Philosophie der Natur, der Mathematik usw. oder als metaphysische Anfangsgründe der einzelnen Wissenschaften bezeichnet wurde. In gleicher Bedeutung mit  Wissenschaftstheorie  und  wissenschaftstheoretisch  werden im Folgenden die Ausdrücke  Erkenntnistheorie  und  erkenntnistheoretisch  gebraucht. Nur ist ein für allemal zu bemerken, daß niemals die psychologische Theorie der Sinneswahrnehmung darunter mit verstanden wird.


I. Die Psychologie

8. Über die Stellung der Psychologie ist es gegenwärtig nicht mehr schwer sich Klarheit zu verschaffen. Sie hat für den ihr gebührenden wissenschaftlichen Platz eine definitive Anerkennung erobert. Die Psychologie ist die Kunde von den Lebenserscheinungen, welche man unter dem Namen der psychischen zusammenfaßt. Mit vollem Recht nimmt sie heutzutage für ihre Untersuchung ausschließlich die Methoden in Anspruch, welche von der Naturwissenschaft überhaupt als gültige anerkannt werden. Ihre Organe sind Zahl, Maß, Experiment, vergleichende empirische Beobachtung, Statistik und wissenschaftliches Schlußverfahren.

9. Allein die Psychologie befindet sich, den übrigen Naturwissenschaften gegenüber, in einer ganz eigentümlichen Lage. Das Geschehen, das sie zu schildern und zu erklären hat, ist zunächst nicht das physikalische Geschehen im Raum, d. h. die materielle Bewegung, sondern das sogenannte innere Geschehen, der zeitliche Verlauf des Bewußtseins lebender Wesen. Diese Beschaffenheit ihres Stoffs bringt es mit sich, daß sie einer Beobachtungsart bedarf, welche in der übrigen Wissenschaft nicht zu finden ist. Die Psychologie erfordert auch eine "innere", d. h. eine Beobachtung eigener und fremder Bewußtseinsvorgänge. Wenn nun auch eine solche mit großen Schwierigkeiten und wissenschaftlichen Gefahren verbunden und vorläufig fast keiner exakten Messung fähig ist, so ist sie darum noch nicht an und für sich unwissenschaftlich. Durch eine Sammlung und Vergleichung ihrer einzelnen Aufzeichnungen, durch eine Anwendung der statistischen Methode ist sie imstande, brauchbarer Resultate zu liefern. Innere Beobachtung soll einfach heißen: Erforschung von Regelmäßigkeiten im eigenen oder fremden Vorstellungsverlauf ohne Rücksicht auf die entsprechenden materiellen Gehirnprozesse. Man darf diesen gegen den "inneren sinn", der gar nichts damit zu schaffen hat, nicht verwerfen. (1)

10. Es ist nun einleuchten, daß es die Aufgabe der wissenschaftlichen Psychologie sein muß, das innere Geschehen mit dem körperlichen im Raum unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zu beobachten. Sie wird die Einwirkung des einen auf das andere, ihre Berührungspunkte, die Begleit- und Übergangserscheungen beider studieren, und ihr ideales Ziel würde sein, den gesetzmäßigen Zusammenhang, den gemeinsamen Grund der doppelseitigen Erscheinungen zu enthüllen.

11. Die Naturforscher pflegen eine doppelte Arbeit zu unterscheiden: die des Beschreibens und die des Erklärens. Die Beschreibung rekognosziert, sichtet, und klassifiziert den Stoff, die Erklärung forscht nach den Gesetzen seiner Entstehung und Veränderung. Der Zusammenhang beider Tätigkeiten gestaltet sich so, daß die Beschreibung erst systematisch wird, wenn sie von der Erklärung Plan und Direktion erlangt.

Auf dem Gebiet der Psychologie erhält diese Unterscheidung ihr besonderes Gewicht. Die  Erklärung  ist hier das, was soeben als schließliche Aufgabe der Psychologie bezeichnet worden ist. Von einer Lösung dieses Problems dürfen wir vorläufig auch im bescheidensten Sinne nicht reden. Die Fälle, für welche ein naturgesetzlicher Kausalnexus nachgewiesen ist, sind noch höchst selten, und zur eigentlichen theoretischen Befriedigung, die sich erst mit der Gewinnung längerer Kausalreihen einstellt, werden wir sobald nicht gelangen. Aber auch ganz abgesehen davon, ist es hier für uns von höchstem theoretischen und praktischen Interesse, wenigstens ein wohlgeordnetes anschauliches Bild von der unendlichen Mannigfaltigkeit der psychischen Vorgänge zu besitzen. Die erklärende Psychologie selbst, Logik und Ethik, sowie die ganze angewandte Philosophie lassen die sorgfältige Charakteristik und Klassifikation der Seelentätigkeiten gleicherweise als notwendige Voraussetzung ihres leichteren und sicheren Verfahrens erscheinen. Diesem Bedürfnis entspricht die Arbeit einer  Naturbeschreibung der Seele,  welche man als den einen großen Hauptteil der Psychologie betrachten kann. (2)

12. Für unseren Zweck handelt es sich nun vor allem um die Frage, ob und warum man überhaupt berechtigt ist, die Psychologie der Philosophie zuzuteilen. Die kurze Bezeichnung ihrer Aufgabe und Methode, wie sie oben gegeben ist, zeigt wohl hinlänglich, daß man mindestens im Zweifel sein kann, ob man sie nicht einfach als einen Teil der Naturwissenschaften zu betrachtet hat.

Es wird oft versucht, die Psychologie dadurch der Philosophie zu erhalten, daß man auf ihre Verschmelzung mit den Geisteswissenschaften hinweist. Man sagt, daß Geschichte, Rechts- und Staatslehre, Kunst- und Religionsphilosophie auf psychologische Erklärungsgründe zurückführen. Als grundlegende Lehre der Geisteswissenschaften könne man sie jedenfalls nicht in die Naturwissenschaft stellen. Dieses Bemühen geht aus von einem durchaus falschen Gesichtspunkt. Alle Wissenschaften ergänzen einander und helfen sich gegenseitig aus mit ihren Ergebnissen. Diesen Umstand zu einem Einteilungsprinzip zu machen, heißt die Grenzen aller Gebiete verwischen. Daraus ließe sich auch der Grund entnehmen, Logik und Mathematik unter die Naturwissenschaften zu reihen. Ja man kann dadurch geradezu das Gegenteil trefflich motivieren, nämlich die Psychologie in den Verein der Naturwissenschaften aufzunehmen. Sie ist nämlich auch für die letztere Fundamentaldisziplin; Medizin, Physik, Astronomie sind voll von Erscheinungen, die sich nur psychologisch begreifen lassen.

Die letztere Tatsache, daß man die Psychologie als Basis aller Wissenschaft überhaupt betrachten kann, zeigt einen anderen Weg, auf dem man versucht hat, sie der Philosophie zuzuführen. Sie liegt allen Wissenschaften zugrunde, was alle Wissenschaften umfaßt, heißt Philosophie; also ist Psychologie Philosophie. Diese Ableitung gründet sich auf eine Auffassung der Philosophie die oben (§ 5 und 6) als vage und unfruchtbar abgewiesen werden mußte.

13. Das einzige Prinzip, das ich als maßgebend für die Gruppierung der verschiedenen Wissenschaften anerkenne, ist das einer rationalen Teilung der Arbeit. Die Frage ist also: hat die Psychologie eine Tätigkeit auszuüben, welche sich von der Naturwissenschaft spezifisch unterscheidet? Eine solche Tätigkeit liegt vor in ihrem beschreibenden Teil. Der Stoff der inneren Beobachtung sind die Modifikationen des Zustandes lebender Wesen, den wir mit dem Ausdruck Bewußtsein bezeichnen. Diese Modifikationen heißen Vorstellungen. Die Vorstellungen müssen auch abgesehen von ihrer physiologischen Geschichte als psychische Gebilde, als Reflexe beliebiger Prozesse in unserem Bewußtsein, beobachtet werden. Sie sind zu analysieren, auf ihre Bestandteile zu untersuchen; sie sind ihrer Gleichartigkeit und Verschiedenheit nach zu schildern. Die Vorstellungen erscheinen in Verbindungen; diese Komplexe müssen wiederum zergliedert werden; ihre Bewegungen und Wechselwirkungen bilden einen neuen Gegenstand der Betrachtung; das Suchen von Regelmäßigkeiten in der Verbindung und Trennung der Vorstellungen wird zur bedeutsamsten Aufgabe.

Diese Tätigkeit scheint mir von der übrigen Naturbetrachtung spezifisch verschieden zu sein und ihre eigene Begabung zu erfordern. Die Selbstbeobachtung, das Wägen und Schätzen der Vorstellungen ist ein anderes Können als das des Physiologen. Talent und Neigung zu dieser Arbeit wird sich im Allgemeinen bei den Forschern finden, die sich anderweitig mit unserem Bewußtseinsinhalt zu beschäftigen haben.

Das ist der Grund, aus dem ich die Berechtigung ableite, die Psychologie eine philosophische Wissenschaft zu nennen. Die Psychologie ist ein Ganzes, das aus zwei für unser jetziges Verständnis noch heterogenen Teilen besteht. Man kann ihr die Stellung nach dem einen oder dem andern anweisen. Rezeptiv müssen Physiologe und Philosoph imstande sein, das  Ganze  zu verarbeiten; für die produktive Tätigkeit tritt die Teilung der Arbeit ein. Das eine Gebiet erfordert eine physiologische und psychiatrische Fachbildung; das andere ein logisch geübtes geistiges Auge, das fähig ist, im Gewirr der psychischen Bewegung die Regel zu entdecken. Ich nenne das Ganze nach dem ersten Teil, weil die Leistung des Naturforschers, obwohl ansich die wissenschaftlich höhere, in letztere Linie nur dazu dient, die eigentümliche Vorarbeit des Philosophen zu erklären.


II. Die allgemeine Theorie des Erkennens

1. Ausgangspunkt

14. Die Psychologie enthält die Gesamtgeschichte unseres Seelenlebens; es gibt keine inneren Vorgänge, welche sie nicht zu beschreiben und zu erklären hätte.

Da von den Problemen der theoretischen Philosophie, welcher Art sie auch sein mögen; jedenfalls so viel feststeht, daß sie an Bewußtseinsvorgänge anknüpfen, so müssen alle psychologischen Ergebnisse von höchster Bedeutung für sie sein. In erster Linie hat sie ihre Aufmerksamkeit auf den Abschnitt von der Verbindung der Vorstellungen zu richten. Das Bewußtsein erfüllt sich in seinem zeitlichen Verlauf mit unendlich verschiedenen Aneinanderreihungen von Vorstellungen. In diesen Reihen erscheinen Glieder, welche sich von den anderen abheben und, miteinander verschmelzend, als eine Einheit von Bewußtsein umfaßt werden. Die Fähigkeit, verschiedene Vorstellungen zu einer Einheit im Bewußtsein zu verknüpfen, heißt denken, und die Vorstellung ener solchen Einheit das * Urteil Das Urteil ist die Quelle jeder höheren psychischen Tätigkeit.

15. Unter den Urteilen gibt es nun solche, deren Einheit sich im weiteren Verlauf des psychischen Geschehens wieder auflöst; andere, deren Verknüpfung im Bewußtsein festgehalten oder bei einem neuen Zusammentreffen der entsprechenden Vorstellungen wiederum erzeugt wird; eine dritte Klasse schließlich, deren Synthesis das Bewußtsein begleitet oder begleiten kann, da sie unauflöslich ist und bei jeder Sukzession der gleichen Elemente gebildet werden muß. Die Verbindungen der letzten Art heißen notwendige Urteile.

16.  Die notwendigen Urteile  bilden den Inhalt unserer Erkennenis. Die Frage: Sind und wie sind sie möglich? heißt nichts Geringeres als: Gibt es eine Wissenschaft? Mit dem Studium dieses Problems verbindet sich das höchste Interesse, das die menschliche Würde und die menschliche Glückseligkeit berühren kann.

Man nehme keinen Anstoß an dem Widerspruch, der sich eingeschlichen zu haben scheint. Einmal benützten wird das Bewußtsein der Notwendigkeit als Kriterium für die Auswahl unseres Stoffes aus der Psychologie. Dennoch fragen wir nachher nicht bloß,  wie,  sondern auch  ob  solche Urteile überhaupt möglich sind. Die Sache verhält sich so, daß wir allerdings das Faktum der Psychologie entnehmen, nicht aber, ohne und die Prüfung des Tatbestandes vorzubehalten. Es wäre denkbar, daß man von einer neuen Seite her der Psychologie beweisen könnte, daß ihre Behauptung einer solchen Notwendigkeit eine Täuschung ist, die vor einer anderweitigen Betrachtung zerfließt. Wir nehmenen also die Tatsache als eine vorläufige auf. Gelingt es uns dann nicht, ihre Möglichkeit befriedigend zu erklären, so werden wir auch an ihre Wirklichkeit nicht mehr glauben können.

17. Aber nun müssen wir uns fragen: Greift denn dieses Problem überhaupt aus der Psychologie hinaus und in ein neues Gebiet über? Ist denn die Erklärung irgendeines Bewußtseinszustandes nicht eine rein psychologische Aufgabe? Wir beobachten naturwissenschaftlich die Entwicklung des Bewußtseins von seinen ersten Anfängen bis zur vollendeten Reife, wir untersuchen die psychischen Prozesse, folgen der Trennung und Verbindung der Vorstellungen, und suchen auf diese Weise ein Gesetz zu entdecken, das die Stärke unserer Überzeugung bedingt.

Allerdings ist auch dieses Bemühen schätzenswert. Wir lernen dabei, daß von den zahllosen Assoziationen unserer Vorstellungen einige immer wiederkehren und daß sie unserem Bewußtsein umso mehr als zusammengehörig erscheinen, je häufiger sie sich wiederholen, Je mehr sie sich von anderen lockeren Verbindungen abheben und mit neuen festeren vereinigen.

18.Daraus läßt sich schließen, daß sich unser Glaube an die Zusammengehörigkeit gewisser Vorstellungen steigert mit der Gewohnheit, diese Synthesen im Bewußtseinsinhalt immer wieder entstehen zu sehen. Allein damit ist entfernt nicht die Notwendigkeit erklärt, wie sie oben beschrieben wurde, das Bewußtsein einer Einheit bestimmter Vorstellungen, die durch keinen empirischen Fall aufgehoben, von keinem individuellen Bewußtsein geleugnet werden kann. Diese Notwendigkeit ist psychologisch schlechthin unbegreiflich. Die Psychologie bleibt uns jede Bürgschaft schuldig, daß wir nicht früher oder später einmal durch irgendeine Unregelmäßigkeit der Erfahrung aus unserer Gewohnheit aufgerüttelt werden. Sobald man also diese Erklärung als die einzig mögliche ansieht, muß man folgerichtig der Psychologie verkünden, daß sie ihren Urteilen eine solche Notwendigkeit nur "angedichtet" hat. (3) Die wissenschaftliche Skepsis ist der einzige Standpunkt, zu welchem man auf diesem Weg gelangen kann.

Wer also an der Lösung der Aufgabe, die Möglichkeit der Erkenntnis zu erklären, nicht verzweifeln will, muß zugeben, daß hier aus dem Schoß der Psychologie eine neue Wissenschaft hervorspringt, welche ihre eigentümliche Methode zu erfordern scheint. Damit eröffnet sich das zweite große Arbeitsfeld der theoretischen Philosophie. Man kann ihm den Namen "Allgemeine Logik" oder "Allgemeine Theorie des Erkennens" geben.


2. Arten der Notwendigkeit

19. Die erste Aufgabe dieser logischen Wissenschaft ist es nun, den fundamentalen Begriff der Notwendigkeit einer genauen Prüfung zu unterwerfen. Dies geschieht durch die vergleichende Analyse der Urteile, die mit dem Anspruch auf Notwendigkeit auftreten. Der Inbegriff derselben, die Wissenschaft, muß ihrem ganzen Bestand nach durchforscht werden. Wir vergleichen die mathematische Gewißheit mit der physikalischen, wir untersuchen die Ansprüche theologischer Sätze, wir zergliedern die Behauptungen der Geschichte, der Jurisprudenz, und wir betrachten die Notwendigkeit, welche die Maximen unseres Handelns begleitet. Andererseits wenden wir uns nicht nur an die gegenwärtige Wissenschaft, sondern auch an ihre Geschichte. Wir schauen auf die Entwicklung der heute anerkannten Gesetze zurück und beobachten ihren Kampf mit den früher gültigen. Indem wir die Ursache ihres Sieges und die Gründe der irrtümlichen Überzeugung der Vergangenheit kennen lernen, werden wir mit dem Wesen und den verschiedenartigen Ansprüchen der Notwendigkeit näher vertraut.

20. Hier muß  ein  Ergebnis dieser Prüfung hervorgehoben werden, das für die Begriffsbestimmung unserer Wissenschaft von der größten Tragweite ist. Das Bewußtsein der Notwendigkeit, das alle möglichen Urteile begleitet, läßt sich in zwei Arten teilen. Wenn ich das Urteil ausspreche: die Luft ist schwer, so beruth meine Überzeugung von der notwendigen Verknüpfung dieser beiden Vorstellungen entweder darauf, daß ich an zwei andere in meinem Bewußtsein befindliche Urteile denke: die Körper sind schwer, und: die Luft ist ein Körper. Oder ich denke unmittelbar an das durch die Vorstellung bezeichnete Ding, und an die Beobachtungen, die mir seine Schwere klar machten. Im ersten Fall denke ich mir die vorliegendes Verknüpfung als bereits enthalten in der durch jene andern beiden Urteile beschriebenen Einheit; im zweiten Fall berufe ich mich für die Gültigkeit meiner Synthese auf die Einheit des Gegenstandes. Das Urteil selbst ist jedesmal durchaus das gleiche; nur sein Zusammenhang mit einem anderen Bewußtseinsinhalt ist in beiden Fällen verschieden.

Da das Bewußtsein im ersten Fall durch die Stellung, die das Urteil in der übrigen Erkenntnis einnimmt, durch seine Verknüpfung mit anderen Urteilen bestimmt ist, so mag diese Notwendigkeit passen eine  formale  genannt werden. Insofern es sich im zweiten fall von der sachlichen Bedeutung der zu verknüpfenden Vorstellungen direkt abhängig erklärt, ist diese Notwendigkeit als  materiale  (4) von der ersteren zu unterscheiden.

Jede Art des logischen Rechtsanspruches erfordert ihre gesonderte Untersuchung. Dadurch begründet sich die Teilung unserer allgemeinen Logik in eine formale und eine materiale Logik. Der gefundene Unterschied ist in der Tat "klassisch" (5) für die Theorie des menschlichen Erkennens, indem er der Forschung zwei ganz bestimmte, voneinander sich abzweigende Bahnen anweist.

21. Die Darlegung der Möglichkeit eines notwendigen Urteils nennt man  Beweis.  Die allgemeine Logik läßt sich kurz als Theorie der Beweise kennzeichnen. Damit ist also bereits eine allgemeine Einsicht in die Natur allen Beweisens gewonnen. Den Arten der Notwendigkeit entsprechend, gibt es zwei Arten von Beweisen. Der erste Schritt des Verfahrens muß also stets die Fesstellung der Art der Notwendigkeit sein, mit welcher es der Beweis zu tun hat.

22. Die kantischen Termini  analytisch  und  synthetisch  habe ich vermieden, teils um den an sie sich knüpfenden Vorurteilen zu entgehen, teils um direkt zu dem gebräuchlichen Titel der  formalen Logik  zu gelangen. Der Sache nach decken sie sich genau mit der oben gemachten Einteilung. Ich bemerke noch, daß man jene Ausdrücke dadurch am besten von Mißverständnissen schützt, daß man, anstatt von einem Unterschied analytischer und synthetischer Urteile zu reden, von einem Unterschied analytischen und synthetischen  Urteilens  spricht. Über die zulässige Auffassung des fertigen Urteils kann gestritten werden; die gleiche Einheit kann sich analytisch und synthetisch legitimieren. Über den Bewußtseinsvorgang aber, durch welchen das Urteil wissenschaftlich gewonnen wurde und bei einer vollständigen Ableitung immer wieder gewonnen werden muß, steht eine dauernde Entzweiung nicht zu befürchten.


III. Die formale Logik

1. Charakter der formalen Logik

23. Da die formale Notwendigkeit durch eine Beziehung eines Urteils auf andere Vorstellungsverbindungen entsteht, setzt ihr Erscheinen jederzeit eine vorhandene Erkenntnis voraus. Die formale Notwendigkeit ist hypothetisch. (6) Wenn die Einheit  A  gilt, so gilt auch die Einheit  B;  dieser Bezug beider ist notwendig. Dabei bleibt ausgemacht, ob mit  A  selbst das Bewußtsein der Notwendigkeit verbunden ist oder nicht. Im geometrischen Beweis, in der pyshikalischen Induktion und im phantastischen Zaubermärchen wird gleicherweise eine formale Notwendigkeit erzeugt.

24. Die formale Logik ist also die Wissenschaft der gegenseitigen Beziehung der Urteile. Sie hat zu untersuchen, in welchen Fällen die Relation zweier Urteile das Bewußtsein der Notwendigkeit hervorbringt und in welchen nicht. Ihre Hauptaufgabe wird sein, diese Abhängigkeit der Vorstellungsbewegungen auf allgemeine Sätze zu bringen.

Schon aus der allgemeinen Bestimmung der formalen Logik geht hervor, daß, wenn auch ihre Untersuchung an ein vorhandenes Wissen geknüpft ist, sie doch kein besonderes Wissen, keine bestimmte Wissenschaft voraussetzen darf. Sie soll ja eben eine vom Inhalt unabhängige bloße Bewegungsbeziehung zwischen den Vorstellungen auffinden. Sie soll das zusammenhängende Denken als solches, als Funktion unseres Bewußtseins, aber mit stetem Hinblick auf die dadurch erzeugte Notwendigkeit untersuchen.

25. Diese Aufgabe ist in ihrer ganzen Allgemeinheit lösbar, ja die Logik braucht die mühsame Vorarbeit der Abstraktion von dem in Wirklichkeit allein existierenden besonderen Denken nicht einmal selbst vorzunehmen. Alle Vorstellungsbewegung verbinden sich mit dem lingustischen Ausdruck; die Sprache ist gleichsam das Wachs, in welches sich der Bewußtseinsvorgang einzeichnet. Die Grammatik geht aus von dem in der Sprache enthaltenen Schatz von Symbolen des Vorgestellten und sucht nach Gesetzen der gegenseitigen Verknüpfung und Bestimmung dieser Zeichen; schon sie betrachtet die Vorstellungsverknüpfung als solche und hat sie im "Satz" in abstracto dargestellt und analysiert. Die Grammatik bietet nun der Logik das empirische Rohmaterial zur weiteren Bearbeitung. Wenn es auch nur die sprachliche Äußerungsform ist, die sie aufzeichnet, so liegt doch in jeder elementaren Art derselben eine Hindeutung auf eine fundamentale Bewußtseinsfunktion, und die Logik findet in den grammatikalischen Kategorien die vollständige Übersicht über den von ihr anderweitig zu klassifizierenden Stoff.

Die Logik kann zu einer Ansicht über das gegenseitige Verhältnis der Verknüpfungseinheiten nur gelangen, wenn sie das Wesen der Einheit selbst und die Arten der Vereinigung ergründet. Sie geht daher am zweckmäßigsten aus vom grammatikalischen Satz. Indem sie dessen Bestandteile als Zeichen vom Vorgestellten auffaßt, lernt sie den eigentümlichen Charakter der Komponenten kennen, welche die Einheit verschiedener Vorstellungen zustande bringen. Indem sie ferner die verschiedenen Regeln beachtet, nach welchen die Elemente des grammatikalischen Satzes verknüpft erscheinen, wird sie auch die verschiedenen Formen hingewiesen, in welchen sich die Bewußtseinseinheit der Vorstellungen äußert.

26. Damit hat nun aber auch die formale Logik die Spur der Grammatik zu verlassen, wenn sie ihr Ziel erreichen will. Es handelt sich nunmehr darum, durch Reflexion die formalen Eigenschaften aufzufinden, welche man dem Vorgestellten beilegen muß, wenn es in die durch die grammatikalischen Sinnbilder angedeuteten Verhältnisse eingehen soll.

Welcher Art auch die Verknüpfung sein mag, die durch das Urteil dargestellte Einheit kann nicht anders gedacht werden, denn als eine neue Vorstellung, welche wahrnehmbare Teile enthält, ein psychisches Gebilde, in welchem jene ursprünglichen Vorstellungen des betreffenden Urteils als zusammenhängende Elemente erscheinen. Eine solche Vorstellung, welche dem Bewußtsein als mehrere andere Vorstellungen umfassend und in sich enthaltend erscheint, heißt  Begriff Nun können wir annehmen, daß die Vorstellungen, durch deren Verknüpfung wir einen solchen Begriff entstanden denken, selbst schon zusammengesetzt sind; also müssen auch sie aus Urteilen hervorgegangen sein. Die Elemente dieser Urteile können wiederum Begriffe sein usw. usf., bis wir zuletzt zu Urteilen gelangen, deren Bestandteile sich als unzerlegbare Vorstellungen erweisen. In dieser Kette von Synthesen stellt sich die Gesamtarbeit des formalen Denkens dar, und man kann auf diesem Standpunkt die Logik bestimmen als die Lehre vom Zusammenhang der Begriffe.

Nehmen wir nun an, die Bestandteile eines Urteils seien selbst aus einer sehr großen Anzahl von Vorstellungen zusammengesetzt. Durch die Synthese jener beiden Glieder werden also alle die Bestandteile zweiter, dritter usw. Ordnung mitverknüpft. Mit der Einheit des Urteils werden somit gleichzeitig eine Menge anderer Einheiten erzeugt, welche ihrer Festigkeit und Geltung nach alle Eigenschaften der sie umfassenden teilen müssen. Ich kann nun diese ereignisreiche Handlung des Bewußtseins in ihre einzelnen Leistungen zergliedern; ich kann aus dem  einen  Urteil die ganze Reihe der in ihr vollzogenen besonderen Urteile entwickeln.

Die Arten und Möglichkeiten dieser Entwicklung zu beschreiben ist Aufgabe der Logik, welche sie teils durch empirisches Ablesen, teils unabhängig von der Erfahrung durch eine Kombination der gefundenen Elemente mit befriedigender Vollständigkeit lösen kann. Aber der Hauptpunkt des Problems ist nun, die Bedingung klar zu formulieren, unter der bei einer solchen Entwicklung das Bewußtsein der Notwendigkeit entstehen kann. Diese Bedingung wird dann das Kriterium bilden, nach welchem wir unter allen möglichen Kombinationen die gültigen zu bestimmen haben.


2. Die Voraussetzungen der formalen Logik

27. Wenn ein Urteil mit zusammengesetzten Bestandteilen und von einer bestimmten Gültigkeit gegeben ist, so sollen die Bedingungen aufgesucht werden, unter welchen den aus ihnen entwickelten Urteilen eine formale Notwendigkeit zukommt, d. h. unter welchen sie an der Gültigkeit des ursprünglichen Urteils partizipieren.

28. Der Zweifel an der Gültigkeit eines abgeleiteten Urteils wird dadurch gehoben, daß man zeigt, daß es in einem anderen Urteil, dessen Gültigkeit in der Voraussetzung zugestanden wird, mitgebildet wurde. Das Bewußtsein der Notwendigkeit beruth daher in erster Linie auf der klaren Einsicht, daß durch die Synthesis zusammengesetzter Vorstellungen wirklich auch deren Teile verbunden werden. Wir haben also das Axiom vorauszuschicken:
    Was mit dem Ganzen im Bewußtsein verknüpft wird, wird auch mit seinen Teilen verknüpft. Was vom Ganzen im Bewußtsein getrennt wird, wird auch von den Teilen getrennt.
Dieser Satz ist unmittelbar evident, sobald man die Natur des Begriffs erkannt hat. Er ist selbstverständlich; aber man ist darum nicht weniger gezwungen, ihn zu formulieren und an richtiger Stelle in die Entwicklung der Logik einzureihen. Die Wissenschaft hat sich durch seine Vernachlässigung einen nicht unwichtigen Fehler in der Schärfe der Begründung zuschulden kommen lassen.

Dieses Axiom ist enthalten, wenn auch in einem zu speziellem Ausdruck, dem alten  dictum de omni et nullo  [Aussage über alles und nichts - wp]:  "quidquid de omnibus valet, valet etiam de quibusdam et singulis; quidquid de nullo valet, nec de quibusdam vel singulis valet."  [Was von allen gilt, gilt auch von einigen und jedem einzelnen; was von keinem gilt, gilt auch nicht von einigen und jedem einzelnen. - wp] (7) Die neuere Logik hat dieses Prinzip im Allgemeinen kaum der Beachtung wert gefunden.

29. Das Enthaltensein des abgeleiteten Urteils im ursprünglichen kann nur dadurch evident werden, daß unser Bewußtsein die Fähigkeit hat, der Gleichheit von Begriffen inne zu werden. Im muß imstande sein, den entwickelten Begriff als Bestandteil des gegebenen wiederzuerkennen. Die Möglichkeit der Rekognition von Begriffen ist eine Tatsache, welche die formale Logik der Psychologie entlehnt und als fundamentale Voraussetzung ihrer systematischen Ableitung zugrunde zu legen hat.

Die Formel, welche dieses Postulat enthält, ist das Prinzip der Identität: Dieser Ausdruck ist somit durchaus keine Tautologie; sondern er muß aufgefaßt werden als Darstellung des psychologischen Erlebnisses, das die Entstehung der formalen Notwendigkeit allein ermöglicht. Vollständig heißt das Gesetz: "A = A als Bewußtseinszustand ist möglich."

Aber das Prinzip verschärft sich durch die Beschränkung, die es von anderer Seite erfährt, zu einer weiteren Leistung. Die Erkenntnistheorie, die sich nicht mit dem bloß formalen Bau, sondern mit dem inhaltlichen Wert der Vorstellungen beschäftigt, liefert das Resultat, daß trotz der psychologischen Fähigkeit, Vorstellungen als gleiche zu erkennen, im Hinblick auf ihre Bedeutung eine absolute Identität nicht zugestanden werden kann. Alle Vorstellungen treten in zeitlicher Ordnung im Bewußtsein auf. Soweit nun auch die Übereinstimmung zweier Vorstellungen gehen mag, sie werden stets durch ihre Stellung in der Zeit einen unverwischbaren Unterschied behalten. Für die formale Logik, wo wir die Gesamtheit aller Urteile und Begriffe gleichsam als ein Ganzes betrachten, dessen Gliederung wir enthüllen sollen, ist die zeitliche Differenz irrelevant. Wir können sie vernachlässigen und alle Deduktionen vornehmen, als ob es im Denken keine Zeitbestimmung gäbe. Damit ist ein neues Postulat für die Möglichkeit der formalen Notwendigkeit gemacht, das ebenfalls im Prinzip der Identität enthalten ist. Die Formel sagt in diesem Fall:  A  soll gleich  A  gelten, obwohl es sich in Wirklichkeit zeitlich von ihm unterscheidet.

In dieser Voraussetzung liegt zugleich eine Einschränkung der logischen Wahrheit, welche sich mit der der mathematischen anhaftenden vergleichen läßt. Die Gesetze gelten, soweit die in der Voraussetzung angenommene Abstraktion mit der Wirklichkeit nicht in Widerspruch gerät.

Das ist der doppelte Inhalt und meiner Ansicht nach der einzig bedeutungsvolle, den man dem Prinzip der Identität zu geben hat. Man verkannte seinen wirklichen Sinn, indem man ihm bald zu viel, bald zu wenig zumutete. (8)

30. Damit ist nun aber die Möglichkeit der Erzeugung formaler Notwendigkeit keineswegs erschöpft. Es kann sich nämlich die Aufgabe der Entwicklung auch im umgekehrten Sinn darbieten. Es kann ein Urteil mit dem Anspruch auf Notwendigkeit gegeben sein und verlangt werden, dazu die Voraussetzung d. h. das Urteil zu suchen, in welchem sich die vorliegende Synthese als bereits geschehen darstellt. Findet sich ein solches Urteil, so läßt sich die prätendierte Notwendigkeit des gegebenen nach dem Satz der Identität als wirklich dartun. Stellen wir uns dagegen vor, daß sich in der Gesamtheit aller vorhandenen Verknüpfungen keine findet, als deren Bestandteil sich die gegebene darstellen läßt. In diesem Fall muß die Möglichkeit die betreffenden Vorstellungen zu einer Einheit zusammenzufassen formal verneint werden und es entsteht ein  negatives Urteil In demselben werden die Bestandteile als keine Gesamtvorstellung bildend, gesondert vorgestellt. Dazu ist es unnötig, eine neue psychologische Fähigkeit vorauszusetzen. Die negatien Urteile entspringen aus der bloßen Unmöglichkeit, das Prinzip der Identität zur Geltung zu bringen.

Nehmen wir nun an, es sei eine Anzahl solcher verneinter Synthesen vorhanden, so können wir mit formaler Notwendigkeit nach dem Satz der Identität eine Reihe neuer Urteile daraus entwickeln. Dabei ist wiederum die erste Voraussetzung, das erweiterte  dictum de omni et null  in Betracht zu ziehen (§ 28). Was vom Ganzen getrennt wird, wird auch von den Teilen getrennt. Wenn wir also die komplexen Vorstellungen eines negativen Urteils in ihre Bestandteile auflösen, so stellen sich in der  einen  Negation eine Reihe von partikularen Negationen als enthalten dar und wir gewinnen daraus die entsprechende Menge gültiger negativer Urteile.

31. Denken wir uns nun, wir seien durch die Entwicklung zweier Reihen schließlich zu zwei Urteilen gelangt, in welchen die Synthesis der gleichen Vorstellungen im einen behauptet, im andern verneint wird. Beide Urteile haben eine formale Notwendigkeit, da sie nach dem Satz der Identität aus Gegebenem abgeleitet sind. Trotzdem können die beiden Urteile nicht nebeneinander bestehen. Denn wenn ich das eine annehme, hebe ich zwar nicht dessen Voraussetzung, aber doch das andere auf, an das ich doch eben so sehr geneigt bin zu glauben; dieses aber hebt seinerseits das erste auf. Wir stehen also hier vor einem Fall, wo die formale Notwendigkeit nicht mehr imstande ist, unsere Überzeugung zu bestimmen. Das formale Denken kann uns keine Resultate mehr liefern, sobald die Verknüpfung und ihre Negation mit dem gleichen Anspruch auftreten. Wollen wir also die Möglichkeit der logischen Ableitung aufrechterhalten, so müssen wir einen Grundsatz aufstellen, welcher das Eintreten solcher Fälle überhaupt für unmöglich erklärt. Im Interesse der Sicherung der formalen Entwicklung stellen wir daher das Gesetz auf:
    "Es ist unmöglich, daß  A,  welches  A  ist, nicht  A  ist."
Dieser Grundsatz, reiht sich als dritte logische Voraussetzung an die übrigen an und muß mit ihnen zusammen bestehen. Wenn uns daher das Prinzip der Identität in der formalen Ableitung auf solche Fälle führt, welche das neue Gesetz verbietet, so bleibt uns nichts anderes übrig, als eine der Voraussetzungen, aus welchen die beiden Urteile ursprünglich deduziert wurden, für unmöglich zu erklären. Die gegebenen ersten Synthesen müssen nun selbst auf ihre logische Abstammung untersucht werden, und alle weitere Arbeit bleibt suspendiert, bis sich herausgestellt hat, wo in der Ableitung der einen Prämisse gegen das Prinzip der Identität verstoßen wurde. Sollte ein solcher Fehler überhaupt nicht gefunden werden, sollte die formale Gültigkeit der Prämissen auf allen Stufen der Ableitung bestehen bleiben, so ist man gezwungen, ganz einfach die Bedeutung der ursprünglichen Begriffe selbst umzuarbeiten, falls man auf die Möglichkeit der Logik nicht verzichten will.

Der Grundsatz des Widerspruchs enthält keine psychologische Tatsache. Er ist eine Hypothese über das gegenseitige Verhältnis der Begriffe, das eine formale Logik allein möglich machen kann.

Dagegen muß wohl beachtet werden, daß auch dieses Prinzip erst der Erkenntnistheorie gegenüber seinen Hauptnachdruck bekommt. Die Erkenntnistheorie könnte sich ermächtigt glauben, der formalen Logik über die obige Schwierigkeit hinwegzuhelfen. Eure formal richtig abgeleiteten Sätze, könnte sie sagen, sind in der Tat richtig, sie widersprechen sich gar nicht. Die Verneinung der Synthesis gilt ebensogut als ihre Bejahung, nur jede zu einer  anderen Zeit.  Diese Ausflucht soll durch den Grundsatz des Widerspruchs abgeschnitten werden, das eben ist das Heilmittel, das die formale Logik unter keinen Umständen anwenden darf. In der formalen Logik gibt es überhaupt keine Rücksicht auf die Zeit. So wenig gleiche Vorstellungen durch die Berücksichtigung der Zeitdifferenz verschieden werden sollen (§ 29), ebensowenig sollen verschiedene Vorstellungsverknüpfungen durch eine Vernachlässigung der Zeit übereinstimmend werden. Einflüsse, welche die Zeit auf die Gültigkeit der formalen Prozesse ausüben kann, sind als nicht vorhanden anzusehen.

Mit dem feinen Sinn, der überall die Grenzen der Wissenschaften herzustellen und rein zu halten suchte, hat 'KANT das "zugleich" aus dem Satz des Widerspruchs eliminiert (9). Diese Zeitbestimmung muß auch auf immer daraus entfernt bleiben. Der Satz: es ist unmöglich, daß etwas zugleich ist und nicht ist, ist erkenntnistheoretisch und widerspricht geradezu der Absicht der formalen Logik. Er spricht etwas aus, das sie nicht interessiert und nicht interessieren darf (10).

32. Wenn wir das Verhältnis der Vorstellungen im Allgemeinen betrachten, so sehen wir, daß dasselbe nur zwei Arten hat. Die Vorstellungen können entweder zu einer Einheit verbunden oder voneinander getrennt sein. Die erste Beziehung wird durch die bejahenden, die zweite durch die verneinenden Urteile ausgedrückt. Eine dritte Art des Verhältnisses ist nicht vorhanden und auch nicht denkbar. Denn in den sogenannten unendlichen Urteilen ist kein neues Resultat der Synthese, sondern nur ein zweites Verfahren des Bewußtseins, zum gleichen Ergebnis der negativen Urteile zu gelangen, enthalten

Indem wir diese Tatsache, die sich aus der Betrachtung des Gesamtzusammenhangs der Vorstellungen ergibt, in einem Grundsatz festhalten, gewinnen wir eine neue Bedingung für die Möglichkeit formaler Notwendigkeit. Der Satz lautet:
     "A  ist entweder  B  oder  A  ist nicht  B." 
Das  Prinzip des ausgeschlossenen Dritten  gestattet der formalen Entwicklung eine Erweiterung. Wenn ich mit formaler Notwendigkeit zu dem Urteil gelange: Es ist unwahr, daß  A B  ist, so erhalte ich nach dem obigen Grundsatz unmittelbar das notwendige Urteil:  A  ist nicht  B.  Ebenso folgt aus dem Ergebnis: Es ist unwahr, daß  A  nicht  B  ist, das Urteil:  A  ist  B.  Nicht minder ergibt sich mit der Wahrheit der einen Verknüpfung aufgrund unseres Prinzips die Unwahrheit der entgegengesetzten.

Das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten, das zuweilen als leer bezeichnet wurde, hat also eine ganz fruchtbare Funktion. Es begründet die Anzahl von Vorstellungsverknüpfungen, welche durch das bloße Prinzip der Identität weit langsamer erhalten würden. Man tut gut, auf die eigentümliche Art seiner Geltung zu achen. Es ist kein Axiom, wie die erste Voraussetzung, keine einschränkende Hypothese, wie der Satz des Widerspruchs, kein Postula, wie das Prinzip der Identität. Es ist nicht unmittelbar evident; seine Gültigkeit erfordert eine Begründung, wie schon aus den Angriffen, denen sie ausgesetzt war, hervorgeht. Aber der Beweis kann nicht durch eine Berufung auf die Möglichkeit der Logik geleistet werden; denn das formale Denken ist denkbar ohne diesen Satz; es würde durch seine Ungültigkeit nur an Leichtigkeit und Eleganz verlieren. Die Deduktion, die gegeben werden kann und gegeben werden muß, besteht eben in dem Hinweis auf den Inbegriff unserer Vorstellungsbewegungen, in welchen sich neben  Verknüpfung  und  Trennung  tatsächlich kein dritter Modus weder findet, noch als Möglichkeit konstruiert werden kann.

Man hat erfolglos versucht, das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten aus dem Satz des Widerspruchs abzuleiten. Es ist ein Grundsatz, der nicht als Korollar [Zugabe - wp] der übrigen aufgefaßt werden kann. (11)

33. Es bleibt uns der Grundsatz zu betrachten übrig, der in der Logik gewöhnlich als der wichtigste angesehen wird. Ich reihe ihn der Übersichtlichkeit wegen an die übrigen an, obwohl er mit denselben nicht auf gleicher Stufe steht und eigentlich an einer anderen Stelle hätte angeführt werden sollen.

Der  Satz vom Grunde  ist ein Prinzip, welches sich unmittelbar aus der Definition der formalen Logik ergibt und welches daher an den Beginn der ganzen Logik zu stellen ist. Ich habe es nicht getan, um gerade in der Nebeneinanderstellung dieser Grundsätze, wie sie bisher üblich war, ihren Unterschied und dadurch den Charakter der formalen Logik klar zu machen. Sobald wir die Aufgabe und das Wesen des formalen Denkens festgestellt haben, kann uns der Satz vom Grunde nichts Neues mehr lehren; er ist der bloße Ausdruck der Kompetenz unserer Wissenschaft.

"Sage nichts ohne Grund" heißt einfach: Erinnere dich an die Art des formalen Denkens. Achte stets darauf, daß es hypothetisch ist, daß ein Urteil nur dadurch gelten kann, daß ein anderes Urteil vorherging, in dem es enthalten war. Alles Urteilen ist bloß eine Folge auf anderes Urteilen. Dieser Zusammenhang von Vorhergehendem und Folgendem, von Grund und Folge in den Begriffsverbindungen ist das Feld der Logik; dieser Zusammenhang ist der Quell der bewußten Notwendigkeit, und selbst die allgemeinsten Grundsätze sind nichts Anderes, als die Bedingungen, unter welchen sie daraus entspringen kann. Nur für diese Relation gelten alle logischen Gesetze, und wer dieselbe aus dem Gedächtnis verliert, wird letztere mißverstehen und vergeblich auf die Sicherheit hoffen, die sie verheißen.

Das ist der Inhalt des großen Prinzips vom Grunde und dieser Inhalt ist für die Bedürfnisse der Wissenschaft vollkommend zureichend. Wer mehr hineinlegt, wird die Klarheit der Logik nicht fördern. (12)

3. Die Logik als normative Wissenschaft

34. Die formale Logik ist, wie wir gesehen haben, aus der Psychologie hervorgegangen, indem wir diejenigen Vorstellungsverbindungen betrachteten, welche vom Bewußtsein der Notwendigkeit begleitet waren. Indem wir dieses Bewußtsein zunächst als wirklich annahmen, suchten wir seine Möglichkeit zu erklären. Der Begriff der formalen Notwendigkeit leitete die ganze Untersuchung, er war die Richtschnur, nach welcher wir aus der Gesamtheit der natürlichen Vorstellungskombinationen die Auswahl trafen, der Maßstab, an dem wir das Bedürfnis allgemeiner Postulate und Grundsätze messen konnten. In diesen Voraussetzungen erhielten wir die fundamentalen Gesetze, nach denen das formale Denken sich vollziehen muß, insofern es uns zumindest begreiflich sein soll. Damit ist nun noch etwas weiteres erreicht. Indem wir den Zusammenhang der Vorstellungssynthesen erforschten, welche vorhanden sind, haben wir gleichzeitig auch Regeln gewonnen, nach denen wir uns bei der bewußten Neubildung von Verknüpfungen richten können. Die Logik erhält dadurch unmittelbar eine technische, praktische Richtung; sie wird zur Metodenlehre unseres Denkens. Das System der Logik bildet das Gesetzbuch des Verstandes, das für alle seine Handlungen die Normen enthält.

35. Diese zweite Bedeutung der Logik hat eine so große Wichtigkeit, daß man sie oft und gewöhnlich als einzige bezeichnet und in ihr das Wesen der Logik erschöpft glaubt. Darin besteht eben ihr Unterschied von der Psychologie, daß sie das Denken schildert, nicht wie es ist, sondern wie es sein soll. Dieses Soll gibt ihr einen Charakter, der sie aus allen theoretischen Wissenschaften heraushebt; sie sei nicht eine Physik, sondern vielmehr eine Ethik des Denkens, eine demonstrative, nicht eine deskriptive Wissenschaft.

Diese Auffassung ist äußerst ungenau und setzt die logische Methode großen Mißverständnissen aus. Gewiß ist die Logik keine beschreibende Wissenschaft im Sinne der deskriptiven Psychologie (§ 11). Beschreiben würde ihr sehr wenig helfen, da man nicht aufhören würde die Wirklichkeit ihres Gegenstandes anzuzweifeln. Sie ist erklärend in einem eminenten Sinn. Sie erklärt die Möglichkeit, aber die Möglichkeit von etwas empirisch Vorhandenem, die Möglichkeit von sich für notwendig ausgebenden Urteilen. Diese Möglichkeit sucht sie mit größter Evidenz, welche der mathematischen gleichkommt, obwohl sie der Art nach spezifisch von ihr verschieden ist, darzutun. Dabei bedient sie sich ähnlicher Mittel wie die Naturwissenschaft, wenn sie Grundsätze aufsucht, die eine befriedigende Deduktion ermöglichen sollen. Hat man aber die Bedingungen erkannt, unter denen ein Objekt zustande kommen kann, so bietet man sie demjenigen als Regeln, der das Objekt nachschaffen will. Die Mathematik untersucht den Zusammenhang der Größen; wer ein bestimmtes Größenverhältnis konstruieren will, findet in ihr die Normen für sein Verfahren. Die Mechanik erforscht das Verhältnis der Kräfte, bei ihr findet der Ingenieur Auschluß über das "Soll", das ihm der Begriff einer Maschine auferlegt. Die Physiologie enthält die Gesetze des Stoffwechsels, sie überliefert sie der Gesundheitslehre als Regulativ für die Erreichung ihres Zwecks. So wird jedes naturwissenschaftliche Gesetz zu einem praktischen Kanon. Ganz gleich verhält es sich mit der Logik; ist ist in erster Linie eine Physik des Denkens, eine Physik allerdings, die sich durch einen bestimmten Begriff ihrer Aufgabe das Arbeitsfeld begrenzt (wodurch sie sich von der Psychologie unterscheidet). Wie es eine Anatomie des gesunden Körpers, eine Mechanik des Gleichgewichts, eine Chemie des Organischen gibt, so gibt es eine Psychologie des notwendigen Denkens, welche dann eben zu einer besonderen Methode führt; wie jene Wissenschaften, eine jede sich zu einem praktischen Organon gestaltet, so entwickelt sich auch die Logik zu einer Gesundheitslehre des menschlichen Denkens.

36. So zerfällt die Logik in zwei Teile. Im einen, den man passend den  analytischen Teil  nennen kann, zergliedert sie die komplexen Vorstellungen und sucht die Bedingungen auf, unter welchen die formale Ableitung im Allgemeinen möglich ist. Im zweiten, dem  normativen Teil  legt sie jene Bedingungen als Norm zugrunde und stellt danach mit möglichster Vollständigkeit alle einzelnen Entwicklungen auf, welche man von den verschiedenen Gesichtspunkten aus mit den zusammengesetzten Vorstellungen vornehmen kann. Der letzte Abschnitt geht in die  angewandte Logik  über, sobald man an die Stelle der allgemeinen Begriffe bestimmte Begriffe aus besonderen Wissenschaftsgebieten setzt und die logische Bearbeitung an diesen Spezialfällen versucht. (13)

LITERATUR - August Stadler, Die Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie in der kantischen Philosophie, Leipzig 1876
    Anmerkungen
    0) Die Schriften von KANT zitiere ich nach der Ausgabe von ROSENKRANZ und SCHUBERT (W.), die in der letzteren vergriffene "Kritik der reinen Vernunft" (Kr.) nach der Separatausgabe von HARTENSTEIN 1868.
    1) Vgl. F. A. LANGE, Geschichte des Materialismus, Bd. II, zweite Auflage, Seite 394. "Man kann nämlich die Lehre vom Vorstellungswechsel, d. h. vom Einfluß vorhandener oder neu in das Bewußtsein getretener Vorstellungen auf die nachfolgenden nicht nur theoretisch entwickeln, sondern auch in einem bei weitem größeren Maße, als es bisher geschehen ist, auf Experimente und Beobachtung stützen, ohne sich um die physiologische Grundlage weiter zu kümmern."
    2) Zur beschreibenden Psychologie würde z. B. auch die "Pragmatische Anthropologie" im Sinne KANTs gehören; ebenso das großartig entworfene "System der Demologie" des Statistikers ENGEL; ferner die "Assoziationspsychologie" der Engländer (Vgl. LANGE, a. a. O. II, Seite 395-401.
    3) KANT, Werke III, Seite 74
    4) Der Ausdruck ist kantisch. Vgl. Kr. d. r. V. Seite 200. - Auch vorkritisch "materiale Grundsätze". (Untersuchung über die Deutlichkeit der natürlichen Theologie und Moral, Werke I, Seite 103)
    a href="#5a"> 5) KANT, Werke III, Seite 21
    6) Es ist nützlich, daß dieser hypothetische Charakter neuerdings wieder stark betont wird. So von SIGWART.
    7) KANT hat dem  dictum de omni et nullo  eine hervorragende Stelle angewiesen. "Die falsche Spitzfindigkeit etc." § 2 (Werke I, Seite 60) und "Logik" § 63 (Werke III, Seite 309). Er leitete dasselbe von den allgemeinen Regeln ab:  nota notae est nota rei ipsius  [Ein Merkmal vom Merkmal ist ein Merkmal der Sache selbst - wp] und  repugnans notae repugnat rei ipsi.  {Was dem Merkmal eines Dinges widerspricht, widerspricht dem Dinge selbst. - wp] (Werke I, Seite 59 und III, Seite 309) In der Logik ordnete er den letzteren noch ein "Allgemeines Prinzip" über: Was unter der Bedingung einer Regel steht, das steht auch unter der Regel selbst. (Werke III, Seite 305) Aber all die Formeln tragen ihre Rechtfertigung nicht in sich selbst; man weiß nicht, wie man dazu kommt, sie anzunehmen. Aus der von mir gegebenen Fassung läßt sich unmittelbar erkennen, daß die Festsetzung aus der Anschauung der logischen Funktion hervorgegangen ist. Ich darf dieses Prinzip daher mit Recht Axiom nennen.
    8) Von den Erklärungen, die ich gefunden habe, gefällt mir diejenige am besten, welche LANGE (a. a. O. II, Seite 569) gegeben hat. "Der Satz  A = A  ist zwar die Grundlage allen Erkennens, aber selbst keine Erkenntnis, sondern eine Tat des Geistes, ein Akt ursprünglicher Synthesis, durch welchen als notwendiger Aunfang alles Denken eine Gleichheit oder ein Beharren gesetzt werden, die sich in der Natur nur vergleichsweise oder annähernd, niemals aber absolut und vollkommen vorfinden." Nur wird durch den Ausdruck "notwendiger Anfang" der Charakter des Prinzips als bewußter logischer Bedingung zu wenig hervorgehoben; sodann ist es schärfer, das "Beharren" als Beharren der Begriffe zu bestimmen und nicht der "Natur" im Allgemeinen, sondern speziell der psychologischen Ungleichheit der Vorstellungen entgegenzusetzen. - - - Sobald man diese von mir aufgestellten Beziehungen übersieht, ist man in Verlegenheit, was man mit dem Satz beginnen soll. So findet DROBISCH (Neue Darstellung der Logik, dritte Auflage, Seite 62), "er würde jedoch ohne weitere Folge und daher ein völlig unfruchtbares Prinzip sein, wenn er sich nur auf die absolute Einerleiheit zweier Begriffe beziehen würde, bei welcher der eine nur eine Wiederholung des andern im Denken ist." Gewiß, wenn wir uns nicht der Psychologie und Erkenntnistheorie gegenüber sicher zu stellen hätten. Er bezieht den Satz auf eine relative Identität, derselbe besagt, das Urteil sei formal gültig, "wenn und sofern Subjekt und Prädikat sich als identisch nachweisen lassen." Diese relative Einerleiheit ist aber nur eine unklare Verhüllung der absoluten; denn die Entdeckung des "wenn und sofern" führt uns eben nur zu einzelnen Bestandteilen, von deren absoluter Identität schließlich doch die Geltung des Urteils abhängt. - - - ÜBERWEG sagt, aß der Grund der Wahrheit dieses Satzes darin liegt, "daß das im Inhalt des Begriffs vorgestellte Merkmal dem durch eben diesen Begriff vorgestellten Gegenstand inhäriert, das Inhärenzverhältnis aber durch das prädikative repräsentiert wird." (System der Logik, dritte Auflage, Seite 183) Diese erkenntnistheoretische Begründung des Prinzips ist in der formalen Logik unstatthaft, wenn ihr nicht wenigstens die formale vorangeht. Von der objektiven Bedeutung der Begriffe darf in erster Linie gar nicht die Rede sein. Der Grund der logischen Wahrheit dieses Prinzips liegt vielmehr darin, daß es eine  condition sine qua non  [Grundvoraussetzung - wp] der formalen Notwendigkeit ist. Ohne dasselbe ist eine mit sich selbst zusammenstimmende Verknüpfung der Vorstellungen unmöglich; deshalb hat es in der formalen Logik unbeschränkte Geltung. - - - Bei dieser Gelegenheit sei vor einer Verwechslung gewarnt. Wenn man sagt, daß dieses Prinzip und verwandte "nicht an die Spitze der ganzen Logik gesetzt werden dürfen, da sie erst dann in ihrer wahren Bedeutung verstanden werden können, wenn man die Form der Begriffe und das Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Urteil schon kennengelernt hat" (a. a. O., Seite 182), so teile ich diese Ansicht vollkommen, sofern sie unter "Spitze" den Anfang der Darstellung versteht. Ich bin allerdings der Meinung, daß man die Logik organisch entwickeln und die Axiome gerade da einführen soll, wo ihre Funktion von Nöten wird; nur dann kann die Art ihrer Leistung ins richtige Licht treten. Sollte man sich aber unter "Spitze" das logische Fundament der Wissenschaft denken, dann muß ich entschieden behaupten, daß sie an der Spitze stehen. Sie bilden die allgemeinsten Kriterien der logischen Wahrheit, deren Geltung von keinen weiteren Voraussetzungen mehr abhängig ist. - - - Eingehender würdigt SIGWART das Prinzip der Identität; allein auch seine Darstellung ist mit Elementen durchsetzt, welche den Sinn der formalen Logik trüben, und auch der Grundgedanke seiner Ableitung ist so beschaffen, daß ich mich demselben unmöglich anschließen kann. SIGWART postuliert für die Logik "die Fähigkeit objektiv notwendiges Denken von nicht notwendigem zu unterscheiden, und diese Fähigkeit manifestiert sich in einem unmittelbaren Bewußtsein der Evidenz, welches notwendiges Denken begleitet." (Logik I, § 63). Diese Notwendigkeit ist zunächst eine "subjektiv erfahrene"; dann aber, "indem wir eine allen gemeinsame Vernunft voraussetzen, sind wir überzeugt, daß, was wir mit dem Bewußtsein unausweichlicher Notwendigkeit denken, auch von anderen so gedacht wird" (a. a. O.). Aus diesem Grund gilt uns unmöglich, daß "in einem inneren Akt des Einssetzens Verschiedenes möglich wäre, und der Eine gleiche Vorstellungen nicht gleichsetzt, der Andere verschieden gleich" (ebd. § 14, Seite 80). Ein Urteil ist uns also "darum objektiv gültig, weil es notwendig ist, Übereinstimmendes in Eins zu setzen." Diesem "Grundsatz der Übereinstimmung" wird dann als Bedingung noch das "Prinzip der Konstanz" hinzugefügt, welches die Fähigkeit behauptet, "Subjekts- und Prädikatsvorstellung jede für sich festzuhalten" (ebd. Seite 82). - - - Die Unklarheit in diesem Gedankenzusammenhang beruth darauf, daß der Begriff der formalen Notwendigkeit nicht festgehalten ist. In der formalen Logik heißt notwendig das, was der Voraussetzung wegen nichts anders sein kann. Schon aus diesem Begriff folgt, daß die formale Logik auf den Unterschied eines individuellen und allgemeinen Bewußtseins gar keine Rücksicht zu nehmen braucht. Die Entwicklung gilt eben für jedes Bewußtsein, das die Voraussetzung anerkennt. Es ist also überflüssig und daher unrichtig, dem Prinzip der Identität noch eine Beziehung zur Analogie der Bewußtseinsvorgänge in verschiedenen Individuen geben zu wollen. Die Frage ist vielmehr: wie ist in einem Bewußtsein, das die Voraussetung anerkennt, ein notwendiger Fortschritt zu anderen Urteilen möglich? Die Antwort lautet: Aufgrund des Prinzips der Identität. Somit wird dieses Prinzip allgemeine Voraussetzung der Logik, nicht aber ein dasselbe begleitendes Bewußtsein der Evidenz. Die "Erfahrung dieses Bewußtseins" dürfen wir nicht als Urtatsache zugrunde legen, denn ihre Möglichkeit soll ja eben erklärt werden. Das allgemeine Postulat bei SIGWART beruth also entweder auf einer falschen Ansicht von der Aufgabe der formalen Logik, oder es fällt zusammen mit dem Prinzip der Identität. Anstatt zu sagen: "Das Urteil ist uns darum objektiv gültig, weil es notwendig ist, Übereinstimmendes in Eins zu setzen", muß gesagt werden: Ein Urteil ist uns darum notwendig, weil es in einem andern enthalten ist. Dieses Enthaltensein ist darum möglich, weil der Satz der Identität gilt. Was ferner das Prinzip der Konstanz anbelangt, so kann ich nicht einsehen, daß es "wesentlich" oder unwesenstlich von dem der Übereinstimmung verschieden ist; denn Vorstellungen, "jede für sich festzuhalten" heißt, soweit es die Logik interessiert, nichts anderes, als sie in jedem beliebigen Moment als identisch wiedererkennen.
    9) KANT, Kr. d. r. V. Seite 149
    10) SIGWART unterscheidet den Satz des Widerspruchs ("A ist B" und "A ist nicht B" können nicht zugleich wahr sein) von dem "gewöhnlich sogenannten  Principium contradictionis  (A ist nicht non A) (a. a. O. Seite 144). Diese Unterscheidung ist ganz unnötig, denn der Satz, welcher das Verhältnis eines Prädikats zu seinem Subjekt betreffen soll, bezieht sich ebenfalls auf zwei Urteile, die nicht beide bestehen können; er sagt nämlich, daß ein gegebenes Urteil einem anderen Urteil, welches aus dem Subjektbegriff folgt, widerspricht. Wir erkennen den Widerspruch mit dem Begriff des Subjekts überhaupt ja nur dadurch, daß wir aus dem letzteren das entgegengesetzte Urteil entwickeln. Er gibt aber direkt den letzten Grund, die mangelnde Identität, in seiner Formel an. - - - Vollständig müßte auch sein Ausdruck lauten: "A ist A" und "A ist nicht A" können nicht beide wahr sein. In dieser Fassung legt das Prinzip seine ganze Genesis dar; man erkennt sofort, daß man ohne es gezwungen wäre, Identisches für nichtidentisch zu erklären. Weil beide Formeln durchaus das Gleiche bedeuten, ist es begreiflich, daß die Logiker in ihrem Gebrauch schwanken, und je nach Bedarf den für den einzelnen Fall bequemeren Ausdruck gebrauchen. - - - SIGWART gibt die Formel als theoretisch richtig zu; aber sie sei "in der Praxis unbrauchbar ... Denn so nackt, daß gesagt würde Gold ist Nicht-Gold, grün ist nicht-grün, Sein ist Nicht-Sein, tritt uns der Widerspruch nicht leicht entgegen" (Seite 154). Nun denke ich, wird es sich in der Wissenschaft der Logik zunächst um theoretisch Richtiges handeln; für die Praxis läßt sich dann die exakte Formel als Ideal betrachten; zuletzt wird es doch wohl Aufgabe der angewandten Logik sein, die Widersprüche so "nackt" als möglich darzustellen. - - - Für das "Zugleich", welches nach KANT "aus Unvorsichtigkeit" (Kr. d. r. V. Seite 149) in die Formel gemischt worden, erteilt SIGWART dem ARISTOTELES das Prädikat "vorsichtig" (a. a. O. Seite 146). Er erklärt KANTs Polemik gegen ARISTOTELES für einen "Schlag in die Luft" (ebd. 149). Ich meinerseits glaube nicht, daß KANT den ARISTOTELES hat schlagen wollen. Wen er ins Auge gefaßt und getroffen hat, sind vielmehr Diejenigen, welche einen dem ARISTOTELES entlehnten Satz zu einem Zweck verwenden, den er gar nicht erfüllen kann. Über die Sache selbst braucht nach dem Obigen nicht mehr gesprochen zu werden.
    11) SIGWART versuchte es in folgender Weise (a. a. O., Seite 157/58). Nach dem Satz des Widerspruchs sei von beiden Urteilen  A ist B  und  A ist nicht B  eines notwendig falsch. "Daß aber das eine notwendig wahr ist, ergibt sich sofort, weil nicht beide zugleich verneint werden können." Warum nicht? Hören wir den Grund. Wollte ich "verneinen, daß  A B  ist, und verneinen, daß  A  nicht  B  ist, so würde ich mit jener Verneinung sagen  A  ist nicht  B,  mit dieser  A  ist  B,  also in Widerspruch fallen." Nein! ich würde nicht in einen Widerspruch fallen, sondern im Widerspruch bleiben. Ich hätte bloß mit dem vorhandenen Widerspruch einige Operationen gemacht und des Satz des Widerspruchs vernachlässigt, der mir verbietet, mit solchen Urteilen überhaupt Entwicklungen vorzunehme. Aber geben wir das zu und betrachten die Folgerung. "Somit bleibt also zwischen Bejahung und Verneinung kein Mittleres übrig, das eine Beziehung des Prädikates  B  auf das Subjekt  A  enthalten könnte, ..." Ich gestehe, daß ich unfähig bin, einzusehen, worauf sich dieser Schluß gründet; ich sehe in den Prämissen nicht das mindeste Hindernis, anzunehmen, daß es irgendein Mittleres gibt. Der einzige Schluß, den ich aus der Ableitung ziehen kann, ist: Somit war das nicht der richtige Weg, den Widerspruch aufzuheben, und wir müssen einen neuen suchen. Der Begriff des Mittleren, der weder in dem des Widerspruchs noch in dem der Verneinung enthalten ist, ist eben die Ursache, daß unser Prinzip als selbständiger Grundsatz mit einer unmittelbaren Ableitung dastehen muß. - - - Außerdem hat SIGWART beim obigen Ableitungsversuch einen Satz vorausgesetzt, den ich nun meinerseits für abgeleitet halte, und zwar abgeleitet aus dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten. Es ist der Satz der doppelten Verneinung (duplex negatio affirmat) (ebd. Seite 155). Im Urteil:  A ist nicht B  liegt unmittelbar nichts Positives; es sagt bloß, daß das Urteil  A ist nicht B  ungültig ist; über die Gültigkeit des korrespondierenden Urteils  A ist B  wird gar nichts ausgemacht. Erst wenn ich weiß, daß ein drittes Verhältnis nicht möglich ist, sondern daß Begriffe entweder ineinander enthalten sind oder nicht, kann ich in der Ungültigkeit der Verneinung einen positiven Ertrag erblicken, indem dann das bejahende Urteil als die eine Hälfte der möglichen Erkenntnis übrig bleibt. So ist der Satz der doppelten Verneinung eine allgemeine Folgerung aus dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten.
    12) Wer sich über KANTs Auffassung des logischen Prinzips vom zureichenden Grund ausführlich orientieren will, lese die vorkritische Schrift: "Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen." Allg. Anm., wo bereits die vollständige Klarheit des späteren Standpunktes herrscht. Ich hebe hier nur  eine,  für die Funktion des Prinzips der Identität wichtige Stelle hervor (Werke I, Seite 158): "Eine logische Folge wird eigentlich nur darum gesetzt, weil sie einerlei ist mit dem Grund."
    13) Der Grundgedanke dieser Einteilung findet sich in dem Werk von SIGWART (Logik I, § 4, Seite 16) zur Ausführung gebracht, dem ich auch die Bezeichnungen "analytisch" und "normativ" entnommen habe.