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Kants Lehre [1/2]
Die Scheidung der sinnlichen und intelligiblen Welt
Völlig unvermutet mußte es nach diesem Eingeständnis sein, daß KANT am 20. August 1770 bei der Übernahme seines neuen Lehramts als ordentlicher Professor der Logik und Metaphysik eine Abhandlung verteidigte, die schon in ihrem Titel versprach, die Form der intelligiblen Welt bestimmt aufstellen und sie von der sinnlichen Welt in allen wesentlichen Zügen abgrenzen zu wollen. Denn was hier unter dem Gesamtbegriff der intelligiblen Welt zusammengefaßt wird: das ist in Wahrheit nichts anderes als jenes Reich der immateriellen Substanzen, in das uns noch eben der Zugang verwehrt zu werden schien. Und hier handelte es sich nicht mehr um eine literarische Gelegenheitsschrift, die der Laune des Augenblicks entsprungen war, sondern hier entwickelte ein strenger systematischer Denker Zug um Zug in genauer Rechenschaftsablegung das gesamte Programm seiner künftigen Lehr- und Forschertätigkeit. Eine eingehende Theorie des Intelligiblen, gegründet auf eine Untersuchung seiner Prinzipien und Voraussetzungen und durchgeführt durch alle Hauptteile der bekannten Metaphysik ist es, die uns jetzt dargeboten wird. Daß diese ganze Untersuchung sich durchweg in Fragen bewegt, zu denen die Data in einer anderen Welt, als in derjenigen, in der wir empfinden [MFK], gelegen sind: dies ist KANT keinen Augenblick lang zweifelhaft; aber er ist jetzt weit entfernt, auf diese Untersuchung, als eine "vergebliche Nachforschung" Verzicht zu tun. Sicher und unbeirrt schreitet er vorwärts, und wenn er, wie es in einer vorbereitenden Schrift natürlich ist, kein ausgeführtes Gesamtbild der intelligiblen Welt entwirft, so ist er doch überzeugt ihren allgemeinen Grundriß bestimmt und deutlich gezeichnet zu haben. Und nichts weist mehr in dieser Zeichnung auf die früheren Entwürfe und Versuche zurück: wie aus dem Nichts entsprungen steht das neue Bild der sinnlichen und der übersinnlichen Welt vor uns. Und doch müssen wir auch für diese Schrift eine gedankliche Vermittlung suchen, die uns gestattet, sie, wenn nicht an die früheren Lösungen, so doch an die früheren Probleme des kantischen Denkens anzuknüpfen. Welches Verhältnis besteht zwischen der Negation der "Träume eines Geistersehers" und den Positionen der Schrift über "die Form und die Prinzipien der sinnlichen und der intelligiblen Welt"? Betreffen beide denselben Gegenstand oder ist vielleicht das Thema der Metaphysik ein anderes geworden? und Wenn dem so wäre: - welche neuen Aufgaben sind, die inzwischen in KANT lebendig geworden sind und die jetzt im Mittelpunkt seines theoretischen Interesses stehen? Auf alle diese Fragen erteilen uns die Zeugnisse, die wir über KANTs Entwicklung in den Jahren von 1766 bis 1770 besitzen, keine unmittelbare, zumindest keine vollständige Antwort. Aber der Inhalt der Inauguraldissertation selbst ergänzt diese Lücke: denn er weist deutlich und unverkennbar auf den neuen Gedankenkreis hin, in welchen KANT jetzt eingetreten ist. Zum ersten Mal zeigt sich hier LEIBNIZ' Philosophie als eine ihn innerlich bestimmende Macht. Diese Behauptung scheint freilich paradox; denn behandelte nicht schon KANTs Erstlingsschrift über die Schätzung der lebendigen Kräfte ein Thema aus der Naturphilosophie von LEIBNIZ und hatte die Gesamtheit von LEIBNIZ Lehren ihn nicht weiterhin - zumindest in der Gestalt, die sie durch WOLFF und die Schulphilosophie erhalten hatten - Schritt auf Schritt begleitet? In Wahrheit aber zeigt gerade die häufige Erwähnung des Inhalts dieser Lehren bei KANT, daß ihr eigentümlichster philosophischer Geist ihm zunächst verschlossen blieb. Selbst die "Monadologia physica", die am nächsten an LEIBNIZ anzuklingen scheint, bildet hiervon keine Ausnahme; denn als physische Monadologie sucht sie die letzten Einheiten auf dem Gebiet des körperlichen Seins zu gewinnen. Die Monaden sind hier als Kraftzentren aufgefaßt, aus deren wechselseitigem Ineinanderwirken, aus deren Anziehung und Abstoßung sich die Materie, als ausgedehnte Masse, konstituiert. Diese dynamische Konstruktion verwendet daher durchgehend Begriffe,, die (wie der Begriff des körperlichen Elements, der Begriff der Fernkraft und des physischen Einflusses) in LEIBNIZ' Sinn schlechthin als Fiktionen zu bezeichen wären. Seinem eigentlichen metaphysischen Inhalt nach aber gilt der Monadenbegriff - im "Versuch über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral" - als ein Musterbeispiel für jenes von KANT bekämpfte "synthetische" Verfahren der Metaphysik, in dem die Grundbegriffe nicht sowohl durch Zergliederung der Erscheinungen in ihre Elemente abgeleitet, als vielmehr willkürliche "erdacht" werden (5). Auch dieses Urteil zeigt, daß KANT die ungeheure analytische Gedankenarbeit, in der LEIBNIZ seinen Substanzbegriff aus der Betrachtung der Phänomene, als deren "Prinzip" und "Fundament" gewonnen hatte, damals noch in keiner Weise zu überblicken und zu würdigen vermochte (6). Man muß sich diese bisherige Stellung zur Lehre LEIBNIZ' vergegenwärtigen, um zu ermessen, welche entscheidende Wandlung LEIBNIZ' "Nouveaux Essais sur l'entendement humain", als KANT sie zuerst kennenlernte, nunmehr in seiner Gesamtanschauung des Systems hervorbringen mußten. Über sechzig Jahre lang war dieses Werk in den Manuskripten der Bibliothek zu Hannover verborgen geblieben, bis es von RASPE im Jahr 1765 i seiner Ausgabe der "Oeuvres philosophiques" zum Druck befördert wurde. Jetzt aber mußte es mit der ganzen Kraft eines völlig neuen Eindrucks auf die Epoche wirken. Wie von den Toten auferweckt stand LEIBNIZ noch einmal mitten unter den Zeitgenossen. Nun erst trat die ganze Weite und Ursprünglichkeit seines Denkens, dies bisher durch die Schultradition verdunkelt worden war, klar und bestimmt hervor. In diesem Werk - dies fühlte man allgemein - handelte es sich nicht um ein vereinzeltes gelehrtes Produkt, sondern um ein Ereignis, das in die allgemeine Geistesgeschichte und all ihre Probleme und Interessen entscheidend eingriff. Auf diese Art haben HERDER und LESSING, der eine deutsche Übersetzung der "Nouveaux essais" geplant und begonnen hat (7), das Werk verstanden und aufgenommen. Auch sonst sind es eben diese Jahre von 1765 -1770 gewesen, die für die allgemeine Kenntnis und für das tiefere Verständnis der Lehre LEIBNIZ' in Deutschland das meiste getan haben: denn erst seit DUTENS' große Ausgabe im Jahr 1768 erschien, vermochte man das Ganze von LEIBNIZ' philosophischen und wissenschaftlichen Arbeiten, die zuvor verstreut oder unbekannt waren, mit einiger Genauigkeit und Vollständigkeit zu überblicken. Auch für KANT war damit eine ganze neue Quelle erschlossen. Daß er sich insbesondere mit den "Nouveaux essais" eingehend beschäftigt hat, dafür bieten seine Aufzeichnungen aus dieser Zeit mancherlei unzweifelhafte Belege (8). Zum ersten Mal trat ihm hier LEIBNIZ nicht nur als Naturphilosoph oder als spekulativer Metaphysiker, sondern als Kritiker der Erkenntnis entgegen. Jetzt begriff er, in welchem Sinn die Lehre von den eingeborenen Ideen und Wahrheiten mit dem System der Monadologie zusammenhing; wie sie auf der einen Seite dieses System begründete und auf der anderen Seite in demselben erst seine volle konkrete Betätigung finden sollte. Noch einmal sieht sich KANT damit vor die große Frage nach der Beziehung zwischen der Methodik der wissenschaftlichen Erkenntnis und der der Metaphysik gestellt. LEIBNIZ führt ihn auf sein eigenes Grundproblem zurück, das aber jetzt aus aller Verbindung mit konkreten Einzelfragen gelöst ist und eine schlechthin universelle Fassung gewinnt. Will man sich diesen Prozeß vergegenwärtigen, so darf man freilich nicht von dem ausgehen, was LEIBNIZ' System seinem tatsächlichen geschichtlichen Bestand nach bedeutet, sondern davon, wie es sich in KANTs Geist dargestellt hat. KANTs Interpretation einzelner der Begriffe und Sätze von LEIBNIZ ist von Mißverständnissen nicht frei; und sie konnte dies kaum sein, da, trotz der Gesamtausgabe DUTENS', die wichtigsten Quellen von LEIBNIZ' Philosophie, über die wir heute verfügen, - insbesondere der größte Teil des philosophischen und mathematischen Briefwechsels - im 18. Jahrhundert noch unerschlossen waren. Für die Geschichte von KANTs Geistesentwicklung aber ist dies von geringem Belang: denn hier kommt es nicht darauf an, was LEIBNIZ war, sondern wie KANT ihn gedeutet und gesehen hat. Als KANT später in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" LEIBNIZ' System noch einmal im Gesamtzusammenhang überblickte, da legte er allen Nachdruck darauf, daß die Monadologie nicht als ein Versuch zur Naturerklärung beurteilt werden darf, sondern daß sie ein
Denn im Streit zwischen LEIBNIZ und LOCKE war KANT sogleich - und wie es scheint ohne Zögern - auf die Seite des ersteren getreten. Die Herleitung der reinen Verstandesbegriffe aus der "Erfahrung" bei LOCKE ist ihm immer als eine Art von "generatio aequivoca" [Herstellung von Gleichheit - wp] erschienen: in keiner Epoche seines Denkens hat er sich bei dieser Art von "Geburtsbrief" beruhigt (13). Wenn KANT jemals "Empirist" war, so bedeutete dies für ihn nur die Forderung, daß die Gültigkeit der Begriffe in der Analyse des objektiven Inhalts der Erfahrung als gegründet aufgezeigt wird; aber er sah niemals den Nachweis der subjektiven psychologischen Herkunft eines Begriffs und seine Herleitung aus einfachen "Empfindungen" als die hinreichende oder als die notwendige Bedingung seiner Wahrheit an. Daß insbesondere Begriffe wie Möglichkeit, Existenz, Notwendigkeit, Substanz, Ursache usw. nebst allem, was mit ihnen zusammenhängt und aus ihnen folgt, auf diesem Weg niemals zu gewinnen und abzuleiten sind: darüber ist er sich jetzt völlig klar geworden. Denn da die Beziehungen, die sie aussagen, nicht selbst sinnlicher Einzelinhalte niemals aus dem Stoff der Wahrnehmungen herausgezogen werden (14). Will man hier davon sprechen, daß diese reinen Relationsbegriffe "durch Abstraktion" aus den besonderen Empfindungen des Gesichts, des Gehörs usw. gewonnen werden, so muß zuvor die Zweideutigkeit, die dem Begriff der "Abstraktion" selbst anhaftet, beseitigt werden. Der echte logische oder mathematische Begriff ist nicht von den sinnlichen Erscheinungen abstrahiert (denn dann enthielte er nichts, was nicht auch in ihnen als irgendwie gegenwärtiger Bestandteil vorhanden wäre), sondern er verhält sich vielmehr ihnen gegenüber abstrahierend, d. h. er stellt eine allgemeine Beziehung hin, ohne sich darum zu kümmern, ob sie sich in irgendwelchen sinnlichen Einzelbeispielen belegen und darstellen läßt. Er wäre demnach richtiger nicht als "conceptus abstractus" [abstrakter Begriff - wp], sondern als "conceptus abstrahens" [abstrahierender Begriff - wp] zu bezeichnen (15). In diesem Sinn werden auch die geometrischen Grundbegriffe von KANT, - bevor er in der Dissertation für Raum und Zeit die charakteristische methodische Bezeichnung der "reinen Anschauung" gewinnt - eine Zeitlang noch als "Ideen des reinen Verstandes" bezeichnet: denn auch sie sind Ausdrücke für Verhältnisse, die wir, um sie im Allgemeinen zu erkennen, nicht zuvor in besonderen Einzelfällen erprobt zu haben brauchen. Wir gewinnen freilich auch sie in gewissem Sinn "durch Abstraktion"; aber das Material, das dieser Abstraktion zugrunde liegt, sind nicht die Empfindungen, sondern die Tätigkeiten des Geistes selbst, die wir in ihrer immanenten Gesetzlichkeit und daher in ihrer Notwendigkeit erfassen.
Noch aber galt es zuvor, eine andere kritische Entscheidung zu treffen, die KANT in weit komplexere Fragen, als der Gegensatz zwischen LEIBNIZ und LOCKE, hineinführen mußte. Daß sein Urteil sich gegen LOCKE gewandt hatte, war für ihn selbst unbedenklich: - denn er selbst hatte immer sehr bestimmt zwischen dem "Empirismus" und der "Empirie" unterschieden. Aber durfte er im Aufbau der reinen intellektuellen Erkenntnis, den er jetzt unternahm, neben LOCKE auch NEWTON aufgeben? Und bestanden nicht zwischen diesem und LEIBNIZ gleichfalls die schwersten noch ungeschlichteten und wie es schien unschlichtbaren Gegensätze? Seit diese Gegensätze in dem polemischen Briefwechsel zwischen LEIBNIZ und CLARKE auf ihre schärfste Form gebracht worden waren, waren sie nicht mehr zur Ruhe gelangt. Die gesamte philosophische und wissenschaftliche Literatur des 18. Jahrhunderts ist noch von ihnen erfüllt. Überall stehen sich hier der Weltbegriff des Metaphysikers und Ontologen und der Weltbegriff des mathematischen Physikers schroff und unversöhnlich gegenüber. Diese Trennung wird zu einer allgemeinen Parole, unter der die geistigen Kämpfe der Zeit ausgefochten werden. Das größte wissenschaftliche Genie Deutschlands, LEONHARD EULER, hatte soeben diesen Widerstreit im Jahr 1768 in einem populären Werk: in den "Briefen an eine deutsche Prinzession", noch einmal in aller Ausführlichkeit entwickelt. Wenn der Metaphysiker - so war hier dargelegt - die Welt, um sie zu verstehen, in letzte einfache Teile zerlegt, so muß der Mathematiker umgekehrt darauf dringen, daß die Teilbarkeit der Materie, wie des Raumes, ins Unendliche geht und daß man daher hier niemals zu einem unzerlegbar Einfachen gelangt. Wenn jener das Wirkliche in eine Summe für sich bestehender punktueller Substanzen auflöst, die doch in ihrer Zusammensetzung das Phänomen (oder vielmehr den Schein) der Ausdehnung erzeugen sollen, - so weiß dieser, daß kraft der Kontinuität des Raumes und der Zeit immer nur von einer komplexeren räumlichen oder zeitlichen Beziehung zu einer anderen einfacheren Beziehung zurückzugelangen ist, daß es aber niemals gelingen kann, die Ausdehnung selbst aus Punkte, das Extensive aus dem Inextensiven hervorgehen zu lassen. Wenn ferner nach den hergebrachten Lehren der Metaphysik der reine Raum und die reine Zeit nichts für sich selbst sind, sondern beide immer nur als Bestimmungen, als "Akzidenzien" [Merkmale - wp] der allein wirklichen Körper und ihrer Bewegungen gedacht werden, so wird der Mathematiker und Physiker sich seinerseits freilich nicht damit bemengen, die Art der Realität festzustellen, die dem Raum und der Zeit zukommt; daß ihnen aber irgendeine solche Realität zuzusprechen ist und daß somit Ausdehnung und Dauer, auch abgelöst vom Ausgedehnten und Dauernden, ein selbständiges Sein besitzen, daran wird er unbedingt festhalten, weil es ihm ohne diese Annahme nicht gelingen würde, den obersten Gesetzen der Bewegung einen klaren und bestimmten Sinn zu geben. Das Beharrungsgesetz z. B. kann nicht eindeutig und scharf formuliert werden, wenn man nicht den reinen, oder, wie NEWTON ihn genannt hat, den absoluten Raum von allem, was in ihm enthalten ist, unterscheidet und ihn als ein selbständiges Ganzes anerkennt, mit Bezug auf welches von der Ruhe oder der Bewegung eines materiellen Systems gesprochen werden kann (18). Der schärfste und bestimmteste Einspruch gegen alle Anmaßung der Metaphysik in Fragen der Naturtheorie mitzusprechen war hier somit von einem Denker erhoben, für den KANT stets die tiefste Verehrung empfunden hatte, und den er, nach NEWTON, als den eigentlichen Schiedsrichter in allen Fragen der exakten und empirischen Wissenschaften anzusehen gewohnt war. Auf EULERs Verfahren, die sicheren Ergebnisse der Mathematik zum Prüfstein für allgemeine philosophische Sätze zu nehmen, an denen sich ihre Wahrheit oder Unwahrheit entscheiden muß, hatte sich KANT schon in der Vorrede zum "Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen" berufen; auf ihn hat er sich in der Abhandlung "Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum" vom Jahr 1768, die sich ausdrücklich als eine Erweiterung seiner "Reflexionen über Raum und Zeit", gestützt und in der Schrift "De mundi sensibilis etc." wird er noch einmal als "phaenomenorum magnus indagator et arbiter" [großer Ermittler von und Schiedsrichter über Phänomene - wp] gefeiert (19). Das eine stand demnach für KANT auch jetzt, da er selbst an eine Umbildung seiner Lehre ging, die ihn der Metaphysik wieder anzunähern schien, unzweifelhaft fest: daß, welche Geltung man den metaphysischen Grundsätzen auch zugestehen mochte, die Mathematik als reine und als angewandte Wissenschaft, in ihrer unbedingten Geltung sichergestellt und gegen alle "Schikanen" der Metaphysik geschützt werden mußte. Wie aber war dieser Zweck zu erreichen, wenn man, wie KANT es von jetzt ab tat, am Gegensatz zwischen der sinnlichen und der intelligiblen Welt in aller Schärfe festhielt? War es möglich, dem Mathematischen die lückenlose Anwendbarkeit auf das Physische zuzugestehen, ohne daß damit beides in seiner Natur und Wesenheit als gleichartig erklärt wurde? Hier gerät der Gedanke in ein eigentümliches Dilemma. Entschließt er sich, die volle Entsprechung zwischen dem Mathematischen und dem Empirischen zu behaußten, so daß es also keinen Satz der reinen Mathematik gibt, der nicht auch in der angewandten seine volle Gültigkeit besitzt, so kann, wie es scheint, auch der Ursprung der mathematischen Begriffe und ihr Erkenntniswert kein anderer, als der der empirischen Begriffe sein. Werden dagegen die mathematischen Wahrheiten als reine Verstandeswahrheiten betrachtet, die nicht von den Dingen, sondern von den Gesetzen und Tätigkeiten des "Intellekts selbst" abgeleitet sind: was verbürgt uns dann, daß die Dinge den reinen Begriffen, daß das Sinnliche dem Intelligiblen durchweg gemäß ist? Wollten wir hier auf eine "prästabilierte [im Voraus festgestellte - wp] Harmonie" zwischen beiden Gebieten zurückgreifen, so hätten wir damit in Wahrheit nur ein Wort gewonnen, nicht aber eine Lösung des Problems erreicht (20). Und in der Tat scheitert LEIBNIZ' System der Metaphysik gerade an diesem Punkt. Der Grundmangel dieses Systems ist, nach KANTs Urteil, eben der, daß die Form des "Rationalen", die in ihm aufgestellt und von ihm allein anerkannt wird, nur dadurch ihre Anwendbarkeit auf das empirische Sein behaupten kann, daß sie diesem letzteren einen falschen Begriff unterschiebt. Denn die Form, unter der das Empirisch-Wirkliche steht, ist der Raum und die Zeit: beide aber werden in LEIBNIZ' System nicht als spezifisch eigentümliche und reine Erkenntnismittel anerkannt, sondern nur als "verworrene Vorstellungen" behandelt. Die eigentliche und strenge "Wahrheit" kommt in diesem System nur den dynamischen Beziehungen zwischen den Substanzen, den Verhältnissen der einfachen Monaden zu, während all das, was wir in der Sprache des Raums und der Zeit aussprechen, uns niemals diese Wahrheit selbst, sondern immer nur ein mittelbares und getrübtes Bild von ihr gibt. Gilt diese Ansicht aber, dann hat die LEIBNIZ-WOLFFische Lehre an diesem Punkt sich selbst aufgehoben. Denn wenn die Substanzen das Erste, der Raum und die Zeit aber das Zweite und Abgeleitete sind (und zwar ein Abgeleitetes, das seinem Urbild niemals völlig entspricht), so wird aller Gehalt der Mathematik von der Wirklichkeit der Dinge abhängig. Damit aber wären wir in der Tat, wenn wir der Konsequenz des Gedankens nachgehen und sie nicht nach Willkür umbiegen wollen, wieder auf den Standpunkt einer empiristischen Begründung der Mathematik zurückgeführt; und es macht in der Sache selbst keinen Unterschied, daß er hier von ganz anderen Prämissen aus als bei LOCKE gewonnen wird. Denn überall wo die "Dinge" den "Begriff", nicht dieser jene bestimmt, ist nur zu einem zufälligen, nicht zu einem allgemeingültigen und notwendigen Wissen zu gelangen. Gelten also die Voraussetzungen des LEIBNIZ-WOLFFischen Systems und drücken Raum und Zeit die Struktur der "Wirklichkeit" - jedoch nicht in adäquater, sondern nur in verdunkelter und verworrener Weise - aus, so ist es um die Exaktheit und um die unbedingte Gewißheit alles Mathemathischen geschehen. Die Sätze der Mathematik würden alsdann immer nur relative und "komparative", nicht aber absolute Allgemeinheit und Wahrheit für sich in Anspruch nehmen können und der Gedanke, daß einmal der Inhalt der geometrischen Axiome und Lehrsätze durch fortschreitende Erfahrung verändert oder widerlegt werden könnte, wäre nicht mehr absurd. (21) Nur ein Weg ist uns noch gelassen, um all diesen Schwierigkeiten zu entgehen, - um der Mathematik ihre volle Freiheit, ihre Unabhängigkeit vom empirisch-Wirklichen zu geben und ihr doch andererseits ihre volle Übereinstimmung mit diesem empirisch-Wirklichen zu sichern. Sie müßte dem Gebiet der reinen geistigen Formen zugehörig bleiben und sich doch in eigentümlicher und spezifischer Weise, wie sie sonst keinem bloßen "Verstandesbegriff" zukommt, auf das Gebiet des Sinnlichen beziehen; sie müßte auf einem Erkenntnisprinzip beruhen, das zugleich "rational" und "sinnlich", zugleich "allgemein" und "individuell", zugleich "universell" und konkret wäre. Daß wir es aber hier nicht bloß mit einer willkürlichen und paradoxen Forderung zu tun haben, sondern daß dem, was hier verlangt wird, auch ein echtes "Datum" der Erkenntnis entspricht: das zeigt sich, wenn wir nunmehr an die genaue kritische Analyse der Raum- und Zeitform herantreten. Denn in dieser Form findet in der Tat all das, was soeben als bloßes Postulat aufgestellt wurde, seine vollständige und genaue Erfüllung. Raum und Zeit sind "allgemein": denn sie sind es, auf denen alle Möglichkeit der Gestaltung und der Stellenordnung überhaupt beruth, und die daher in jeder Aussage über eine bestimte und besondere Seinsgestalt, über eine einzelne empirische Struktur, schon vorausgesetzt werden müssen. Aber sie sind zugleich "konkret": denn in ihnen haben wir es nicht mit Gattungsbegriffen zu tun, die in einer Mehrheit von Einzelexemplaren verwirklicht sein können, sondern wir müssen beide, sofern wir sie in ihrer charakteristischen Bestimmtheit erfassen wollen, schlechthin als einzelne und "einzige" denken. Der Gattungsbegriff enthält seine verschiedenen Klassen "unter sich": wie etwa der Begriff des Baumes die "Unterarten" der Tanne, der Linde, der Eiche usw. umfaßt; - hier aber, beim Raum und bei der Zeit, gibt es keinen solchen Abstieg in subordinierte Arten. Wir mögen das Ganze von Raum und Zeit noch so weit zerlegen, so führt uns dies doch zu keinem gedanklich "Einfacheren", zu keinem Begriff von weniger komplexem Inhalt zurück, sondern in jedem Fuß und jeder Elle, in jeder Minute und Sekunde müssen wir, um sie überhaupt zu begreifen, die Totalität des räumlichen Beisammen und des zeitlichen Nacheinander mitdenken. Die Elle wäre nicht "im" Raum, die Sekunde nicht "in" der Zeit gedacht, wenn diese Forderung nicht erfüllt wäre: denn hierzu muß sie gegen alle übrigen Teile des Raumes und der Zeit abgegrenzt, diese also mit ihr zugleich vorgestellt werden. Für diese eigenartige Weise, das Einzelne auf das Allgemeine und dieses auf jenes zu beziehen, das Ganze in jedem Teil und mit jedem Teil zu erfassen, tritt nun ein neuer psychologischer und erkenntniskritischer Terminus ein. Überall, wo diese Art des Erfassens gefordert und möglich ist, haben wir es nicht mit der Form des bloßen Begriffs, sondern mit der Form der Anschauung zu tun (22). Und nun ist für KANT der entscheidende Gedanke gefunden, der ihn für die Lösung aller früheren Zweifel in sich schließt. Denn die Anschauung des Raumes und der Zeit, die man als eine selbständige und eigentümliche "Gegebenheit" der Erkenntnis anzuerkennen hat, schafft in der Tat für die Forderungen, die bisher als einander ausschließend erscheinen mußten, erst die echte Vermittlung. In ihr verknüpft sich das Moment der Reinheit mit dem Moment der Sinnlichkeit. Sinnlich sind Raum und Zeit, weil das Beisammen und das Nacheinander durch keine noch so weit getriebene Analyse jemals in bloße begriffliche Bestimmungen aufgelöst werden kann - "rein" sind beide, weil wir, auch ohne jede derartige Zerlegung in Begriffselemente vorzunehmen, die Funktion, die sie als Ganzes besitzen, uns zu völliger "Evidenz" bringen und sie in ihrer unbedingten, allem bloß Faktischen und Empirischen überlegenen Geltung erfassen können. Jetzt erst, nachdem wir bis zu diesem Punkt fortgeschritten sind, gibt es für uns eine Wissenschaft vom Sinnlichen, gibt es eine strenge und exakte Anwendung der Mathematik und ihrer notwendigen Bestimmungen auf die Phänomene und ihren Wandl und Ablauf. Zwei Grundarten der reinen Erkenntnis haben sich für uns geschieden: die eine, vermöge deren wir die Verhältnisse des "Intelligiblen", die andere, vermöge deren wir die Ordnung im Sinnlichen bestimmen. Nur die erstere Art, nur die reinen intellektuellen Begriffe lehren uns die Dinge kennen, wie sie sind, während die zweite, die anschauliche Erkenntnis in Raum und Zeit, uns lediglich die Welt der "Erscheinung" zugänglich und deutbar macht; aber innerhalb dieses ihres Gebietes bleibt ihr die volle Allgemeinheit und Notwendigkeit, die unbeschränkte Genauigkeit und Gewißheit gewahrt. (23) Damit ist zugleich für KANT die Entscheidung im Gegensatz zwischen Leibniz und Newton endgültig gefallen, wenngleich sie sich hier nicht in so einfacher Form, wie im Streit zwischen LEIBNIZ und LOCKE aussprechen läßt. Denn in diesem letzteren konnte KANT in allen wesentlichen Punkten dem Urteil von LEIBNIZ beipflichten: wenn er die Bezeichnung des "Angeborenen" verwarf und an seine Stelle die Behauptung ursprünglicher Gesetze des Geistes setzte, die jedoch erst in ihrer Ausübung erkannt werden, so war dies eher eine Verbesserung der Terminologie, als eine völlig neue sachliche Wendung, die er den Gedanken von LEIBNIZ gegeben hat. Im Kampf zwischen LEIBNIZ und NEWTON aber war es nun für ihn nicht mehr möglich, sich schlechthin für eine der beiden Parteien zu erklären; denn er ging jetzt in der Art seiner Problemstellung über die eine wie über die andere hinaus. Wenn EULER, in seinem Eintreten für NEWTON, lediglich das Interesse der empiristischen Forschung vertreten hatte, die vor jedem fremdartigen Anspruch bewahrt werden sollte, so ergab sich an dieser Stelle für KANTs philosophische Kritik ein schwierigeres und komplexeres Problem. Denn sie hatte anstelle der negativen Entscheidung die positive zu setzen; sie hatte nicht nur die Wissenschaft in ihren eigenen Grenzen zu sichern und zu behaupten, sondern zugleich das, was jenseits dieser Grenze, als das eigentümliche Gebiet der Metaphysik lag, genau zu bestimmen. Nur auf diese Weise konnte es gelingen, nicht nur die Übergriffe der Metaphysik in die Naturtheorie, sondern auch umgekehrt die Übergriffe von dieser in jene anzuwehren. Auch für diese letzteren Eingriffe aber bot die Entwicklung der mathematishen Physik im 18. Jahrhundert manches warnende Beispiel dar. KANT hätte dem Geometer und dem Physiker bei der Ableitung ihrer Sätze den Gebrauch des Begriffs des "absoluten Raums" gern zugestanden; denn im Grunde erschöpfte sich dieser Gebrauch doch in der Behauptung, daß jener Inbegriff, den wir in der Geometrie oder Mechanik als "Raum" bezeichnen, mit dem Inbegriff, den wir das Ganze der materiellen Welt nennen, nicht zusammenfällt, sondern ihm als ein unverwechselbar Eigenes gegenübersteht. Mit dieser These aber traf KANTs eigene Anschauung völlig überein; und er selbst hat sie in der Abhandlung des Jahres 1768 "Von dem ersten Grund des Unterschiedes der Gegenden im Raum" durch die Betrachtung rein geometrischer Verhältnisse zu stützen gesucht. (24) Was er hingegen nicht zugestehen konnte, war dies: daß man, wie es gleichfalls allenthalben geschah, aus der Natur dieses reinen mathematischen Raums Rückschlüsse zog, die die Grundprobleme der spekulativen Kosmologie und Theologie, die das Verhältnis von Gott und Welt, von Schöpfung und Ewigkeit betreffen. Auch hierin war NEWTON vorausgegangen: den Berechnungen und Experimenten der "Mathematishen Prinzipien der Naturlehre" und der "Optik" hatte er Abschnitte hinzugefügt, in denen er seine Lehre vom Raum als dem "Sensorium" der Gottheit und dem Organ der göttlichen Allgegenwart, zwar vorsichtig und zurückhaltend in der Form, aber doch sehr entschieden und dogmatisch im Inhalt, vorgetragen hatte (25). Und in den Streitschriften zwischen LEIBNIZ und CLARKE hatten sodann Fragen dieser Art zuletzt fast alle anderen überwuchert und verdrängt. Die dialektischen Widersprüche aber, in die man damit gerät, waren bereits von LEIBNIZ klar und scharf aufgezeigt worden. Nimmt man an - so hatte er gefolgert - daß Raum und Zeit Prädikate sind, die sich ohne Unterschied auf alles Sein erstrecken, die sich also in gleicher Weise auf Geistiges und Körperliches, auf Gott und auf die Welt anwenden lassen, so erscheint notwendig die Schöpfung als ein Akt, der sich im absoluten Raum und in der absoluten Zeit vollzieht. Sie hat somit ihr bestimmtes "Wo" und "Wann": d. h. es gibt einen festen Augenblick, mit dem sie anhebt und einen festen Ort, einen begrenzten Abschnitt des unendlichen Weltraumes, der ihr als Grundlage, als Behältnis für die aufzunehmende Materie, dient. Geht man aber daran, diesen Ort und diese Zeit in Gedanken irgendwie zu bestimmen, so verwickelt man sich alsbald in ein Netz von Antinomien [Widersprüchen - wp]. Denn da im "leeren" Raum und in der "leeren" Zeit überhaupt keine Stelle vo der andern irgendeinen Vorrang hat oder einen inneren Unterschied gegen sie aufweist, so läßt sich jeder Punkt, den wir hier hypothetisch als "Anfang" oder als räumliche "Grenze" der Schöpfung annehmen mögen, beliebig mit einem anderen vertauschen. Es ist demnach in dieser ganzen Betrachtungsweise nicht möglich, irgendein "Hier" zu setzen, ohne daß es sich uns unmittelbar in ein "Da" und "Dort", irgendein "Jetzt", ohne daß es sich uns gleichsam unter den Händen in sein Gegenteil, in ein "Früher" oder "Später" verwandelt (26). KANT, der an all diesen Problemen den regsten Anteil genommen hat - der Briefwechsel zwischen LEIBNIZ und CLARKE war ihm durch das Erscheinen von DUTENS' Leibniz-Ausgabe im Jahr 1768 von Neuem nahe gebracht worden und die Aufzeichnungen, die er in sein Handexemplar von BAUMGARTENs "Metaphysik" eingetragen hat, zeigen, wie eingehend er sich fortan mit ihm beschäftigt hat - ergreift die Frage, die hier gestellt war; aber er gibt ihr sofort eine weit allgemeinere Bedeutung. Der Widerspruch, der hier von LEIBNIZ aufgedeckt ist, ist kein vereinzelter: sondern er tritt überall da ein, wo überhaupt auf intelligible Gegenstände sinnliche Prädikate oder auf sinnliche Gegenstände intelligible Prädikate angewandt werden. Immer wenn dies geschieht, tritt jedem "Satz", den wir aufstellen können, sogleich sein "Gegensatz" gegenüber: und beide lassen sich mit scheinbar gleicher Bündigkeit und Notwendigkeit beweisen. KANT selbst berichtet, daß er sich in der Epoche, die der Inaugural-Dissertation vorangeht, in solchen antithetischen Beweisen geübt hat und daß ihm an ihnen erst das Charakteristische des neuen Lehrbegriffs: die prinzipielle und methodische Scheidung der Inhalte der Sinnenwelt von denen der Verstandeswelt zu vollem Bewußtsein gekommen ist.
Und damit ist nun ein Doppeltes geleistet. Die "Ansteckung", das contagium des Intelligiblen durch das Sinnliche, wie sie so deutlich in NEWTONs Gotteslehre hervorgetreten ist (29), ist beseitigt; auf der anderen Seite aber ist den Formen der Sinnlichkeit innerhalb ihres Bezirks, also für den ganzen Umkreis der Erfahrungsgegenstände die unbedingte Gewißheit und die durchgehende Anwendbarkeit gewährleistet. Die Metaphysiker wie die mathematische Physik sind in gleicher Weise befriedigt; jede hat in sich selbst ihren Schwerpunkt und ihr eigentümliches Gewißheitsprinzip gefunden. Hier lieft für KANT selbst das Hauptthema und der eigentliche Kern seiner Inaugural-Dissertation.
Bevor wir jedoch den neuen Weg beschreiten, der über die Inaugural-Dissertation hinausführt, blicken wir noch einmal auf die gedankliche Entwicklung zurück, in welcher die Resultate dieser Schrift entstanden sind. Nur relativ wenig äußere Fakta sind es, die sich für den Zeitraum, der zwischen den "Träumen eines Geistersehers" und der Dissertation liegt, mit Sicherheit feststellen lassen; aber wenn man sie zusammenhält, so gewinnt man nichtsdestoweniger von dem gedanklichen Fortschritt dieser Jahre ein klares Bild. Wir wissen, daß KANT in dieser Zeit LEIBNIZ' "Nouveaux Essais sur l'entendement humain" kennen lernt; daß er im Anschluß an sie eine Theorie der reinen Intellektualbegriffe entwirft, in welcher Raum und Zeit zunächst noch unmittelbar neben den reinen "Vernunftbegriffen" der Substan, der Ursache, der Möglichkeit und Notwendigkeit usw. stehen, und daß erst allmählich für ihn die scharfe Absonderung der "Elementarbegriffe der Sinnlichkeit", der "reinen Begriffe der Anschauungen" sich anbahnt. Wir können verfolgen, wie er, insbesondere auf EULERs Schriften gestützt, und im Hinblick auf die Diskussion zwischen LEIBNIZ und CLARKE den Streit der "Mathematiker" und "Metaphysiker" um das Raum- Zeitproblem für sich zu entscheiden versucht, wie er aber hierbei immer tiefer in dialektische Widersprüche verwickelt wird, bis ihm zuletzt, im Jahr 1769, das allgemeine Problem der Antinomien in seiner entscheidenden Bedeutung vor Augen steht (31). Mit dieser scharfen Fassung der Frage aber ist ihm nun zugleich die neue Lösung gegeben. "Thesis" und "Antithesis" der Antinomien sind nur zu vereinen, wenn man begreift, daß beide sich auf verschiedene Welten beziehen. Die Sonderung zwischen diesen beiden Welten festzustellen und damit erst jede in sich selbst wahrhaft zu gründen und zu sichern, dies bildet fortan die eigentliche Aufgabe der Metaphysik. Für sie also gilt es nicht, daß der "Gebrauch die Methode gibt", daß wir, wie in anderen Wissenschaften, mit einzelnen Versuchen und Denkschritten beginnen können, um erst nachträglich, wenn bereits eine bestimmte Summe von Einsichten gewonnen ist, nach den Prinzipien zu fragen, die unsere Erkenntnis geleitet haben. Die Frage nach der Methode ist hier vielmehr der eigentliche und der allein rechtmäßige Anfang aller Erkenntnis: methodus antevertit omnem scientiam [die Methode geht über alles Wissen - wp] (32). Was ohne die Beantwortung dieser Grund- und Vorfrage an dogmatischen Entscheidungen gefällt wird, ist als ein leeres Spielwerk des Geistes zu verwerfen. An diesem Punkt tritt mit besonderer Deutlichkeit hervor, inwiefern KANT, indem er einen neuen Standort des Denkens für sich erringt, doch zugleich aus der Kontinuität seiner bisherigen Gedankenentwicklung nicht heraustritt. Die Philosophie ist ihm noch immer eine "Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft; aber ein neues "Datum", das er vorher weder in seinem ganzen Umfang noch in seiner ganzen Tragweite erfaßt hatte, ist jetzt als Grundlage dieser Grenzbestimmung gewonnen. Das System der apriorischen Erkenntnisse ist das Fundament, auf das sich jede Scheidung der sinnlichen und der intelligiblen Welt zu stützen hat. LEIBNIZ hat einen ersten Entwiruf dieses Systems gegeben, aber er hat seine feineren Verzweigungen und Verwicklungen nicht gesehen und kenntlich gemacht; denn über dem gemeinsamen Prinzip, über der "Rationalität", die allen Elementen dieses Inbegriffs, die den logisch-ontologischen, wie den mathematischen Begriffen gleichmäßig eigen ist, übersah er die spezifischen Geltungsunterschiede, die hier nichtsdestoweniger bestehen. Die Inaugural-Dissertation hat in der Aufhellung dieser Unterschiede den ersten entscheidenden Schritt getan: jetzt galt es, nicht hierbei stehen zu bleiben, sondern immer schärfer und bestimmter die einzelnen Grenzlinien zu ziehen, bis die "Vernunft" als vollkommene Einheit und doch zugleich in der Besonderung und Gliederung aller ihrer Einzelmomente heraustritt.
1) Emil Arnold, Kants Jugend (Gesammelte Werke, Bd. III, Seite 205). 2) an Herder am 9. Mai 1768; siehe Kants Werke (Cassirer) Bd. IX, Seite 59 (im Weiteren abgekürzt z. B. III, 304) 3) Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie, Bd. II: "Reflexionen zur Kritik der reinen Vernunft", hg. von Benno Erdmann, Leipzig 1884; Nr. 5. - Ich habe diese "Reflexionen" (bei denen es sich um handschriftliche Bemerkungen handelt, die Kant dem Text der Lehrbücher, über die er gelesen hat, insbesondere dem Text von Baumgartens "Metaphysik" hinzugefügt hat) während sie in einer früheren Darstellung der Entwicklung der kritischen Philosophie von mir eingehend untersucht und benutzt worden sind hier absichtlich nur dort herangezogen, wo sich der Zeitpunkt ihrer Abfassung mit Sicherheit feststellen läßt, - sei es, daß sie selbst eine bestimmte Zeitangabe enthalten, sei es, daß diese sich aus ihrem Inhalt unmittelbar und unzweideutig ergibt. Wo diese Datierung fraglich ist oder wo sie sich doch nur mittelbar durch verwickelte sachliche Rückschlüsse gewinnen läßt, da habe ich lieber auf diese Belege verzichten, als die biographische Darstellung, die vor allem auf genaue und eindeutige Zeitangaben angewiesen ist, mit einem für sie nicht unerläßlichen und in vieler Hinsicht problematischen Material belasten wollen. Genauere Handhaben für die Datierung der "Reflexionen" wird voraussichtlich die Herausgabe des gesamten "Handschriftlichen Nachlasses" von Kant liefern, mit welcher Erich Adickes in der Akademie-Ausgabe von Kants Schriften begonnen hat. 4) Träume eines Geistersehers, Werke II, Seite 367f und 384f. 5) Bd. II, Seite 177. 6) Näheres hierüber in meiner Schrift "Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen", Marburg 1902, besonders Kapitel 6. 7) siehe Lessings Werke, Ausgabe Lachmann-Muncker, Bd. XV, Seite 521f. 8) Vgl. Kants "Reflexionen" Nr. 513, 273-278; zur Zeitbestimmung dieser Reflexionen siehe Adickes, Kant-Studien, Seite 164f und Erkenntnisproblem, zweite Auflage, Bd. 2, Seite 622f. 9) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 2. Hauptstück, Lehrsatz 4, Anmerkung 2 (IV, 413). 10) Kritik der reinen Vernunft, Anmerkung zur zweiten Antinomie (III, 318) 11) Siehe "Epistola ad Hanschium de Philosophia Platonica sive de Enthusiasmo Platonico; Opera; ed. Dutens, T. II, Seite 1. 12) Vgl. "De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis", § 7 (II, 411), sowie "Kritik der reinen Vernunft" (III, 212f) 13) Vgl. hierzu "Kritik der reinen Vernunft", zweite Auflage, Seite 119 und 167 (III, 106, 135). 14) De mundi sensibilis etc. § 8 (II, 411) 15) ebd. § 6 (II, 410) 16) Reflexionen zur Kritik der reinen Vernunft, Nr. 513 (zur Zeitbestimmung vgl. hier Anmerkung 3). Man stelle diesen Sätzen, um sich den geschichtlichen Zusammenhang mit Leibniz zu vergegenwärtigen, die Sätze aus der Vorrede der "Nouveaux Essais" gegenüber: "Vielleicht möchte sich unser gelehrter Verfasser (Locke) von meiner Ansicht nicht ganz entfernen. Denn nachdem er sein ganzes erstes Buch darauf verwendet hat, die angeborenen Erkenntnisse, sofern man sie in einem gewissen Sinn nimmt, zu verwerfen, gesteht er gleichwohl zu Anfang des zweiten und in der Folge, daß diejenigen Vorstellungen, welche nicht in der sinnlichen Empfindung ihren Ursprung haben, aus der Reflexion stammen. Nun ist aber die Reflexion nichts anderes als die Aufmerksamkeit auf das, was in uns ist; die Sinne aber gewähren uns das nicht, was wir schon in uns haben. Ist dies so, kann man dann leugnen, daß es in unserem Geist viel Angeborenes gibt, da wir sozusagen uns selbst angeboren sind? Und daß es in uns gibt: Sein, Einheit, Substanz, Dauer, Veränderung, Tätigkeit, Wahrnehmung, Vergnügen und tausend andere Gegenstände unserer intellektuellen Vorstellungen? Da eben diese Gegenstände unmittelbare und unserem Verstand stets gegenwärtige sind (obgleich wir uns wegen unserer Zerstreuungen und Bedürfnisse ihrer nicht immer bewußt sind), so kann man sich nicht wundern, wenn wir sagten, daß diese Vorstellungen mit allem, was davon abhängt, uns angeboren sind." Für Raum und Zeit siehe besonders "Nouveaux Essais" II, Seite 5: "Ideen... wie die von Raum, Form, Bewegung, Ruhe... sind... vom Geist selbst, weil sie Ideen von des reinen Verstehen sind, die aber einen Bezug zum Äußeren haben und mit den Sinnen wahrgenommen werden können." 17) De munde sensibilis etc. § 8; (III, 411) 18) Leonhard Euler, Briefe an eine deutsche Prinzession, Petersburg 1768; Theoria motus corporum solidorum seu rigidorum, Rostock und Greifswald 1765; Refléxions sur l'espace et le temps (Histoire de l'Academie des Sciences et Belles Lettres, Berlin 1748); Mechanica sive motus scientia analytice exposita, zweites Buch, Petropolis 1736-42; näheres über Euler und seinen Kampf gegen die "metaphysischen" Raum- und Zeitlehren siehe mein "Erkenntnisproblem, Bd. 2, zweite Auflage, Seite 472f und 501f. 19) Kants Werke II, Seite 206, 394, 431. 20) Vgl. Kants Urteil in einem späteren Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772 (IX, 102) und "De mundi sensibilis etc." § 22, Scholion (II, 426). 21) Siehe besonders "De mundi sensibilis etc." § 15; (II, 420); - es sei nochmals betont, daß es sich hierbei natürlich nicht um die wirkliche geschichtliche Ansicht handelt, die Leibniz von Raum und Zeit und vom Erkenntniswert der Mathematik besessen hat, sondern um hypothetische Schlußfolgerungen, von denen Kant behauptet, daß sie in den Prämissen von Leibniz' System gegründet sind. 22) siehe "De mundi sensibilis etc." § 13-15 (II, 414-422). 23) "De mundi sensibilis etc." besonders § 11 und 12 (II, 413f); § 4 (II, 403f). 24) siehe Bd. II, Seite 391f. 25) Newton, Philosophiae naturalis Principia mathematica, Lib. III (edit. Le Seur und Jacquier, Genf 1739, III, 673f); Optice, lat. redd. Samuel Clarke, Lausanne 1740, Seite 297f. 26) siehe den Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke (in meiner Ausgabe von Leibniz' Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie (Philosophische Bibliothek, Bd. 107/8, Bd. 1, Seite 134f, 147f, 188, 190). 27) Reflexionen zur Kritik der reinen Vernunft, Nr. 4. 28) Siehe "De mundi sensibilis etc." Sektion V: De Methodo circa sensitiva et intellectualia in Metaphysicis" (II, 427f). 29) "De mundi sensibilis etc." § 22 und 23; (II, 426, 428). 30) IX, 73. 31) Näheres über die Bedeutung des Antinomienproblems für Kants Entwicklungsgeschichte siehe Benno Erdmann, in der Vorrede zur Ausgabe der Reflexionen, Seite XXIVf. 32) De mundi sensibilis etc. § 23 (II, 427) |