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KUNO FISCHER
Kritik der kantischen Philosophie
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"Die Einwürfe, die unser natürliches Bewußtsein den Systemen großer Denker entgegenstellt, sind in den Augen der letzteren gewöhnlich die geringfügigsten, aber durch die fortwährende Hemmung, die sie auf das Verständnis und die Verbreitung jener Systeme ausüben, allemal die stärksten, denn sie lassen sich, wie unsere Gefühle und Empfindungen, nicht wegreden und sind, wie Schillers Wallenstein sagt: «wie die Weiber, die beständig zurück nur kommen auf ihr erstes Wort, wenn man Vernunft gepredigt Stunden lang.» Solchen hartnäckigen, in unserer natürlichen Denkweise festgewurzelten Bedenken ..."

"Die Empiristen, die, wie Bacon und Locke, keine andere Erkenntnis als die sinnliche gelten lassen, erklären die Dinge-ansich für unerkennbar, während die Rationalisten, wie Descartes und Leibniz, die Sinnlichkeit für einen verworrenen Verstand, das klare und deutliche Denken dagegen für die wahre Erkenntnisform und darum die Dinge ansich für die wahren Erkenntnisobjekte halten. Dann sind Dinge-ansich und Erscheinungen dieselben Objekte."

V o r w o r t

Nachdem ich die neue Bearbeitung meines Werkes über KANT in der dritten Auflage vollendet hatte, war ich schon bereit, die zweite Ausgabe des nächsten Bandes meiner "Geschichte der neueren Philosophie" zu besorgen, als der schwerste Schlag, der mein Leben treffen konnte und plötzlich traf, mit die Kraft und Lust zur Arbeit entriß, und ich habe Zeit bedurft, um sie im Weg des mühsam errungenen Arbeitens allmählich wiederzufinden.

Für jene neue im Druck befindliche Auflage des fünften Bandes, welcher FICHTEs Vorgänger, Leben und Lehre umfaßt, habe ich als neue "Einleitung zur Geschichte der nachkantischen Philosophie" die Kritik der kantischen geschrieben, die ich als Separatschrift hiermit veröffentliche. Die ersten vier Kapitel derselben sind völlig neu, das letzte gibt in umgearbeiteter Form den Inhalt des ersten der alten Auflage wieder. Da ich meine "Geschichte der neueren Philosophie" in dieser selbst nur mit der Bezeichnung "siehe dieses Werk usw." zitieren konnte, so mußte die gleiche Art der Anführung auch in die vorliegende Schrift übergehen, obwohl dieselbe unabhängig vom Gesamtwerk erschienen ist.

Ich habe es früher für richtig und dem Plan meines Werkes für angemessen gehalten, die "Kritik der kantischen Philosophie" mit der Entwicklungsgeschichte der nachkantischen, die in allen ihren Formen kritisch aus jener hervorgeht, zu verbinden und die ausführliche Beurteilung erst am Schluß des Ganzen zu geben, nachdem der Leser all die Standpunkte kennengelernt hat, welche die Lösung kantischer Probleme versucht und durch ihre Leistungen einen Einfluß auf das von KANT erleuchtete Zeitalter, das immer noch das unsrige ist, geübt haben. Auch bin ich dieser Ansicht geblieben, die dem historischen Denken entspricht. Da ich aber mit meiner Arbeit auch den Bedürfnissen der unmittelbaren Gegenwart dienen will, so habe ich mich überzeugen müssen, daß zusammenfassende und eingehende, von der richtigen Vorstellung des Ganzen geleitete Beurteilung der kantischen Lehre eine sehr zeitgemäße Forderung erfüllt und etwas dazu beitragen kann, die Irrtümer, die von vielen Seiten in der heutigen Tagesliteratur über KANT verbreitet werden, zu berichtigen. Ich denke an diejenigen, welche nach einer wahren Erkenntnis der Lehre KANTs redlich streben. Es ist besser, den großen Philosophen zu verstehen, ohne über ihn zu schreiben, als, wie es heutzutage nur zu häufig geschieht, über ihn zu schreiben, ohne ihn zu verstehen. Wir erleben oft genug das kläglich lächerliche Schauspiel, daß Leute der letzteren Art sich wechselseitig anpreisen oder einander auch anfallen, wie es eben das Geschäft und die hastige Jagd nach unverdientem Lohn mit sich bringt. Wenn sie in Polemik machen, so müssen die geringfügigsten Kleinigkeiten für große Dinge, der dreiste Ton statt der Gründe und die Ellenbogen für die Organe der Widerlegung gelten. Und die Reklame wagt alles. Ein unreifes und konfuses Buch, das vor einigen Jahren erschienen ist und kein besseres Schicksal haben konnte, als die Vergessenheit, die es in der Stille begraben hat, wird gegenwärtig als das Werk ausposaunt, welches den ersten und einzigen Fortschritt der Erkenntnislehre seit KANT gemacht hat. Es geht zu, wie auf dem Blocksberg [Hexenberg - wp]. "Ein Dilettant hat es geschrieben!" und Freund Servibilis ruft: "Mich dilettiert es, den Vorhang aufzuziehen!"

Eine Reihe kritischer Fragen über das kantische Hauptwerk, die ich in der Schlußabhandlung des dritten Bandes meiner "Geschichte der neueren Philosophie" untersuchen mußte, hat in ausführlichen und sachkundigen Beurteilungen meines Werkes auch einige Gegenerörterungen einsichtsvoller Männer zur Folge gehabt. Schon dadurch fühlte ich mich verpflichtet, jene Fragen wieder aufzunehmen und die dort begonnene Kritik in der umfassenden Weise auszuführen, wie ich es in der vorliegenden Schrift getan zu haben wünsche.


Die kantische Philosophie
als Erkenntnislehre

Um die kantische Philosophie zu beurteilen, müssen wir uns vor allen die Grundzüge ihres Systems in übersichtlicher Kürze vergegenwärtigen und jede schiefe oder falsche Auffassung, welche die Vorstellung derselben verdirbt, durch die sachgemäße und richtige entfernen. Denn man kann nur richtig beurteilen, was man richtig verstanden hat. Aus der kritischen Erkenntnis des Systems folgt die Begründung der in ihm enthaltenen neuen Probleme, die den Entwicklungsgang der nachkantischen Philosophie bestimmen. Ich werde daher von der Charakteristik der kantischen Lehre zur Kritik derselben fortschreiten und daraus die Aufgaben herleiten, die zu ihrer Umbildung und Fortbildung geführt haben.

Der gesamte Charakter der kantischen Philosophie vereinigt, wenn wir die Hauptsache ins Auge fassen, drei Grundzüge in sich, die richtig vorgestellt und verknüpft sein wollen, damit uns die volle Wesenseigentümlichkeit dieser Philosophie, die das letzte Jahrhundert beherrscht hat, einleuchtet: sie ist Erkenntnislehre, Freiheitslehre, Entwicklungslehre. Durch die neue Art ihrer Erkenntnislehre ist die neue Art ihrer Freiheitslehre, durch beide die ihrer Entwicklungslehre bedingt. Ich ordne diese Themata, wie sie im Gang der kritischen Untersuchung einander gefolgt sind.

Die erste Aufgabe, wodurch alle fundamentalen Fragen der kantischen Forschung bestimmt werden, frägt nach der Entstehung der menschlichen Erkenntnis. Es gibt keinen einfacheren Ausdruck, um den Charakter des Grundproblems und zugleich die Richtschnur zu bezeichnen, die den Philosophen in der Auflösung desselben geleitet hat, und nach der wir uns am Besten über die Art und Einrichtung seines Systems orientieren. Daß diese Aufgabe vor KANT niemals ernsthaft erkannt, geschweige denn gelöst worden ist, habe ich in meiner Charakteristik der kritischen Philosophie und der vorkantischen Standpunkte ausführlich genug dargelegt, um meine Leser auf jenen früheren Abschnitt verweisen zu können. (1)


I. Die Lehre von den Erscheinungen.
Der transzendentale Idealismus.


1. Die Entstehung der Erscheinungen

Wenn die Entstehung der menschlichen Erkenntnis erleuchtet werden soll, so sind die Bedingungen zu erforschen, die ihr vorausgehen, also im Vermögen unserer intellektuellen Natur enthalten sein müssen, aber nicht selbst schon Erkenntnis sein dürfen. Die Philosophen vor KANT hatten, die einen mit voller Absicht, die andern mit voller Selbsttäuschung, diese Voraussetzung gemacht und sich in der Erklärung der menschlichen Erkenntnis dogmatisch verhalten, daher hatten sie die Lösung verfehlt und in der Hauptsache nichts ausgerichtet. Deshalb mußte die Aufgabe reformiert und so gefaßt werden, daß die Faktoren der menschlichen Erkenntnis oder die Bedingungen zu derselben durch eine neue Erforschung der menschlichen Vernunft auf jenem Weg gesucht werden, den Kant den kritischen oder transzendentalen genannt hat. Die Erkenntnis ist unerklärt, solange ihre Entstehung dunkel bleibt. Dieser einleuchtende Satz gilt nicht bloß von der Erkenntnis, sondern auch von jedem ihrer Objekte, denn ein Objekt erkennen heißt soviel wie seine Entstehung einsehen: daher kann von einer Erkenntnis der Dinge nicht die Rede sein, solange der Ursprung der Objekte dunkel bleibt. Die Frage nach der Entstehung der menschlichen Erkenntnis fällt deshalb mit der Frage nach der Entstehung unserer Erkenntnistheorie oder der uns erkennbaren Dinge notwendigerweise zusammen. Alle unsere Erkenntnisobjekte sind und müssen Erscheinungen sein, die wir vorstellen, wobei es zunächst gar nicht in Frage kommt, ob sich darin das Wesen der Dinge adäquat oder nicht adäquat oder überhaupt gar nicht offenbart. Die Frage nach der Entstehung unserer Erkenntnisobjekte ist demnach gleichbedeutend mit der Frage nach der Entstehung der Erscheinungen oder der Erscheinungswelt, d. h. derjenigen Phänomene, die der menschlichen Vernunft als solcher einleuchten, oder die wie alle auf dieselbe gemeinsame Art vorstellung und erfahren. Der Inbegriff dieser Erscheinungen ist unsere Sinnenwelt. Es darf als eine feste und unbestrittene Tatsache gelten, daß wir eine solche gemeinsame Sinnenwelt haben und vorstellen, was unmöglich wäre, wenn wir die Dinge nicht auf übereinstimmende Art oder nach denselben Gesetzen vorzustellen genötigt wären. Die Frage nach der Entstehung der menschlichen Erkenntnis, sobald sie ernsthaft und gründlich unternommen wird, enthält die Frage nach der Entstehung unserer Sinnenwelt oder unserer gemeinsamen Weltvorstellung. Man kann das Problem der Erkenntnis nicht reformieren und die Bedingungen ihrer Entstehung nicht ergründen, ohne die Frage in dem eben ausgeführten Sinn zu stellen. Wie wir die Sternenwelt erst richtig zu betrachten vermögen, nachdem wir den Standpunkt gewonnen habe, aus dem uns die Lage und Bewegung unserer Erde einleuchtet, so können wir die gesamte Sinnenwelt überhaupt erst aus der Einsicht in den Standpunkt und die Tätigkeit unserer erkennenden Vernunft richtig auffassen und würdigen. Es verhält sich mit dem kritischen oder transzendentalen Standpunkt in der Philosophie, wie mit der kopernikanischen in der Sternenkunde.

Wenn wir einen Gegenstand selbst erzeugen, so ist uns die Entstehung desselben so einleuchtend, wie unsere eigene Tätigkeit, und er selbst daher vollkommen erkennbar. Wenn dagegen in einem Objekt etwas enthalten ist, das den Charakter des Gegebenen hat und behält, das wir nicht selbst hervorbringen oder nicht in unsere erzeugende Tätigkeit auflösen können, so wird an dieser Stelle unsere Erkenntnis auf eine undurchdringliche Schranke stoßen. Unsere Objekte sind demnach so weit vollkommen erkennbar, als sie unsere Produkte sind, d. h. so weit wir dieselben zu erzeugen und diese Erzeugung in unserem Bewußtsein zu erstellen vermögen: nur so weit reicht die Erkennbarkeit der Dinge. Demgemäß ist die Frage nach der Entstehung unserer Erkenntnis und ihrer Objekte, deren Inbegriff unsere gemeinsame Sinnenwelt ausmacht, näher so zu fassen, daß unter dieser Entstehung die Erzeugung durch die Faktoren oder das Vermögen unserer Vernunft verstanden wird. Wenn unsere Sinnenwelt das Produkt unserer Vernunft ist, so ist sie auch deren völlig einleuchtender Gegenstand; sie ist dieser Gegenstand, nur so weit sie jenes Produkt ist. "Denn nur so viel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zustande bringen kann." (2)


2. Die Idealität der Erscheinungen

Nun hat KANT gezeigt, daß in allen unseren Erscheinungen etwas ist, das den Charakter des Gegebeben hat und behält: nämlich unsere Eindrücke oder Empfindungen, die aber also solche noch keineswegs Gegenstände oder Erscheinungen, sondern nur deren Stoff sind, woraus nach den Gesetzen unserer vorstellenden Vernunft, d. h. durch die Formgebung unseres Anschauens und Denkens erst die Objekte oder Erscheinungen hervorgehen. So entsteht die Sinnenwelt aus dem Material unserer Eindrücke, die nach den notwendigen und unwillkürlich erfüllten Gesetzen unseres Vorstellens dergestalt geform und verknüpft werden, daß wir alle dieselb natürliche Ordnung der Dinge vorstellen. Die Gesetze des Vorstellens sind die Grundformen der Anschauung und des Verstandes: Raum, Zeit und Kategorien. Die unwillkürliche oder bewußtlose Erfüllung dieser Gesetze geschieht durch die Einbildung, während die Erkenntnis deselben die Sache der kritischen Forschung ist.

Da unsere Vorstellungsgesetze die Erscheinungen und die Erfahrung machen, so müssen sie der letzteren vorausgehen und sind daher nicht empirisch und a posteriori gegeben, sondern a priori oder transzendental: sie sind die Formen, die Empfindungen dagegen der Stoff oder die Materie aller Erscheinung. Diesen Stoff empfängt unsere Vernunft, er ist ihr gegeben, nicht durch sie: daher ist derselbe nicht a priori, sondern a posteriori. Doch darf man nicht sagen, daß uns die Eindrücke a posteriori oder empirisch gegeben sind. Dieser ungenaue und unrichtige Ausdruck verwirrt von Grund auf die Auffassung der kantischen Lehre. Was wir aus der Erfahrung schöpfen oder was durch dieselbe gegeben wird, das ist a posteriori oder empirisch. Ausdrücklich lehrt KANT: "Das, was lediglich von der Erfahrung erborgt ist, wird nur a posteriori oder empirisch erkannt." (3) Nun leuchtet ein, daß die Eindrücke, da sie den Stoff aller Erscheinung und Erfahrung ausmachen, zu den Bedingungen und Elementen der letzteren gehören, also zwar in ihr enthalten sind, aber nicht durch sie gemacht werden: nicht sie gehen aus der Erfahrung hervor, sondern diese aus ihnen. Empirisch ist, was uns durch Erfahrung gegeben wird: nun sind die Empfindungen das Material der Erfahrung, also zu derselben, nicht durch sie gegeben; daher sind sie wohl a posteriori, aber nicht empirisch. Ausdrücklich lehrt KANT: "Die Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindungen bezieht, heißt empirisch." (4) Der empirische Gegenstand setzt die Empfindung voraus. Obwohl sich dieses Verhältnis der Empfindung zur Erfahrung von selbst versteht, so ist es doch sehr nötig, die richtige Vorstellung desselben einzuschärfen, da man unzählige mal zu lesen findet: KANT habe gelehrt, daß die Form unserer Erkenntnis a priori, der Stoff derselben a posteriori oder empirisch gegeben ist. KANT soll widersinnigerweise gelehrt haben, daß der Stoff zur Erfahrung durch Erfahrung gegeben ist! Dann hat er die Erfahrung nicht erklärt, sondern, wie seine Vorgänger, vorausgesetzt; dann muß der Grund der Empfindungen in der Erfahrung gesucht werden, dann steckt das Ding-ansich in den Erscheinungen, dann wird die kantische Philosophie umgekehrt und steht auf dem Kopf.

Da unsere Sinnenwelt nur in Erscheinungen besteht, so ist dieselbe durchgängig phänomenal. Da der Stoff aller Erscheinung in Empfindungen, ihre Form in Anschauungen und Begriffen besteht, so sind die Elemente derselben durchaus subjektiver Art, ihre materialen wie formalen Bestandteile sind in unserer erkennenden Vernunft enthalten und haben den Charakter der Vorstellungen (das Wort im weitesten Sinn genommen): daher sind alle unsere Erscheinungen Vorstellungen, sie bestehen im Vorgestelltsein und sind durchgängig ideal. Diese Lehre von der Idealität aller Erscheinungen oder von deren Entstehung aus unseren Empfindungszuständen und Vernunftformen heißt "transzendentaler Idealismus".

Alle Erscheinungen sind in der Zeit, die äußeren auch im Raum. Wenn sie etwas enthalten würden, das unabhängig von unseren Vorstellungen und doch in Raum und Zeit wäre, so könnten die letzteren nicht die Grundformen unseres Vorstellens, also nicht bloße Anschauungen sein. Da nun Raum und Zeit reine Anschauungen und nichts Reales ansich sind, so muß alles, was in ihnen ist, durchgängig den Charakter der Vorstellung haben. Das Sein aller Gegenstände in Zeit und Raum besteht im Vorgestelltsein. Aus der kantischen Lehre von Raum und Zeit folgt daher die Lehre von der Idealität aller Erscheinungen; die transzendentale Ästhetik begründet jenen transzendentalen Idealismus, der die gesamte kantische Erkenntnislehre charakterisiert.

Weil Raum und Zeit die Anschauungsformen unserer Vernunft sind, darum sind die reinen Raum- und Zeitgrößen, als (da es andere Größen nicht gibt) die reinen Größen überhaupt die Produkte unserer anschauenden oder konstruktiven Vernunfttätigkeit und als solche vollkommen einleuchtend. Daher hat die Größenlehre oder die reine Mathematik vor allen übrigen theoretischen Wissenschaften den Charakter einer völlig klaren und reinen Vernunfterkenntnis, weshalb KANT ausdrücklich erklärt "daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden kann, als darin Mathematik anzutreffen ist." (5)

Eine Widerlegung der transzendentalen Ästhetik trifft den gesamten transzendentalen Idealismus, wie die Grundlage und den Charakter der kantischen Erkenntnislehre und der kritischen Philosophie überhaupt. Eine unrichtige Auffassung ist keine Widerlegung. Wir haben es jetzt mit solchen Auffassungen zu tun, welche den Sinn der kantischen Lehre verkennen und sie mit Gründen bestreiten, die nichts gegen dieselbe ausrichten.


II. Die Einwürfe gegen die
transzendentale Ästhetik

Gegen die kantische Lehre von Raum und Zeit als den beiden ursprünglichen Anschauungsformen unserer Vernunft erheben sich zwei Einwürfe, von denen der eine den ursprünglichen oder apriorischen (transzendentalen), der andere den anthropologischen Charakter jener beiden Vorstellungen in Abrede stellt: der erste verneint die unbedingte Geltung der mathematischen, insbesondere der geometrischen Axiome und macht die Raumvorstellungen von empirischen Bedingungen abhängig; der zweite verneint den anthropologischen Ursprung und Charakter jener Grundanschauungen, um die kosmologisch und universelle Geltung des Raums und der Zeit aufrechtzuhalten. Da beide Einwürfe so nahe liegen, daß sie der Philosoph unmöglich übersehen haben kann, so genügt es, den Sinn seiner Lehre klarzustellen, um die Fundamente derselben zu sichern.


1. Der erste Einwurf. Die relative
Geltung der geometrischen Axione.

KANT lehrt keineswegs die unbedingte Geltung der geometrischen Axiome, sondern eine von unseren Raumvorstellungen durchaus abhängige. Warum wir diese und keine andere Raumanschauung haben, warum unsere Vernunft überhaupt so und nicht anders eingerichtet ist: diese Frage läßt der Philosoph zwar nicht unberührt und ungeprüft, wohl aber ungelöst, ja er erklärt dieselbe ausdrücklich für unlösbar. Gemäß seiner Lehre darf man die Einrichtung der menschlichen Vernunft und die in ihr enthaltene Raumanschauung als eine Urtatsache ansehen, diese aber nicht als eine empirische bezeichnen, weil die Erfahrung das Produkt der Vernunft ist und nicht deren Bedingung.

Wenn es Flächenwesen gäbe, so würde für sie die zweidimensionale Raumanschauung eine Urtatsache sein, zufolge deren sie die stereometrischen Vorstellungen ebenso notwendig entbehren würden, wie wir dieselben haben und ausbilden müssen. Wenn von der ebenen Fläche gilt, daß zwischen zwei in ihr gelegenen Punkten die gerade Linie der kürzeste Weg ist, daß es zwischen beiden nur eine solche Linie gibt, daß zwei gerade Linien keinen Raum einschließen können usw., so werden diese Sätze nicht dadurch umgestoßen, daß es sich auf der Kugeloberfläche mit der Verbindung zweier Punkte, z. B. der Endpunkte des Durchmessers, anders verhält. Daß eine bestimmte räumliche Anschauung der einleuchtende Erkenntnisgrund ist, woraus gewisse Einsichten folgen, die unter dieser Voraussetzung einmal für immer, d. h. apodiktisch gelten: dies war die Tatsache, welche die Aufmerksamkeit unseres Philosophen gefesselt hat, und die er nur dadurch zu erklären vermochte, daß er den Urgrund aller unserer räumlichen Vorstellungen, den Raum selbst für eine Grundform unseres Vorstellens oder für eine Grundanschauung unserer Vernunft angesehen hat.

Die Geltung unserer mathematischen Einsichten ist folglich nach der ausdrücklichen Lehre unseres Philosophen keineswegs unbedingt, sondern von unserer Raum- und Zeitanschauung durchaus abhängig, aber sie ist unter dieser Voraussetzung apodiktisch, wie keine andere Art unserer theoretischen Erkenntnis. Mit den Bedingungen der Erkenntnis ändert sich auch deren Art. Setzen wir an die Stelle unseres diskursiven Verstandes den intuitiven, an die Stelle unserer sinnlichen Anschauung die intellektuelle, so geht die Erkenntnis nicht mehr den Weg der Erfahrung, sondern sieht und durchdringt alles mit einem Schlag (6). Setzen wir an die Stelle unserer äußeren dreidimensionalen Raumanschauung eine andere, so ändern sich demgemäß die Art und der Umfang der mathematischen Vorstellungen, aber nicht die apodiktische Gewißheit des auf Konstruktion und anschauende Einsicht gegründeten Urteils. Dieser Punkt enthält die zu erklärende und dem Charakter der Größenlehre eigentümliche Tatsache. Daher sind jene Einwürfe, die auf die Möglichkeit anderer Raumanschauungen eine andere Art der Geometrie und ihrer Axiome gründen, so wenig geeignet, die Lehre KANTs zu widerlegen, daß sie vielmehr auf diese Lehre sich berufen können und sollten.

Wenn man beweisen kann, daß 2 x 2 nicht in allen Fällen gleich 4 ist, daß in unserer Anschauung einer ebenen Fläche nicht in allen Fällen die gerade Linie den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten beschreibt usw., dann erst hat man die Lehre KANTs widerlegt. Ihm erschien die reine Mathematik als die einzige Wissenschaft, in welcher Erkennen und Erzeugen, Objekt und Produkt zusammenfallen. Weil die reinen Größen Konstruktionen oder Anschauungsprodukte sind, darum gelten ihm Raum und Zeit als unsere Vernunftanschauungen oder als unsere anschauende Vernunfttätigkeit selbst. Weil unsere Größenbegriffe die anschauliche oder sinnliche Größenerkenntnis voraussetzen, darum gelten ihm Raum und Zeit als die Grundformen unserer Sinnlichkeit, nicht als die des Verstandes.

Selbst wenn jene Einwürfe, die sich auf den empirischen Ursprung der Geometrie gründen wollen, stärker wären als sie sind, würden sie doch gegen die Lehre von der Idealität aller Erscheinungen nichts ausrichten, denn sie beziehen sich nur auf den Raum, nicht auf die Zeit. Ist die Zeit eine bloße Vorstellung oder Anschauungsform, so können die Erscheinungen in der Zeit nichts von aller Vorstellung Unabhängiges enthalten, also selbst nichts anderes als Vorstellungen sein. Nun sind in der Zeit alle Erscheinungen, die äußeren, wie die inneren. Sind aber die äußeren Erscheinungen Vorstellungen, so kann auch der Raum, da in ihm alle äußeren Erscheinungen sind, nichts Reales ansich, sondern nur die Grundform unserer äußeren Anschauung sein. Die transzendentale Idealität der Zeit begründet die Idealität aller Erscheinungen, auch die der äußeren, also auch die des Raumes.


2. Der zweite Einwurf.
Die natürliche Weltansicht.

Die Einwürfe, die unser natürliches Bewußtsein den Systemen großer Denker entgegenstellt, sind in den Augen der letzteren gewöhnlich die geringfügigsten, aber durch die fortwährende Hemmung, die sie auf das Verständnis und die Verbreitung jener Systeme ausüben, allemal die stärksten, denn sie lassen sich, wie unsere Gefühle und Empfindungen, nicht wegreden und sind, wie SCHILLERs Wallenstein sagt, "wie die Weiber, die beständig zurück nur kommen auf ihr erstes Wort, wenn man Vernunft gepredigt Stunden lang". Solchen hartnäckigen, in unserer natürlichen Denkweise festgewurzelten Bedenken ist unter allen kantischen Lehren von jeher die transzendentale Ästhetik am meisten ausgesetzt gewesen, weil sie behauptet, daß Raum und Zeit bloße Anschauungen der menschlichen Vernunft und unabhängig von dieser sind. Demnach können, wie es scheint, Raum und Zeit in die Welt erst mit unserer Vernunft, also mit dem Dasein der Menschheit eintreten und weder vor deren Entstehung gegeben sind, noch nach deren Untergang fortdauern. Nun müssen wir uns das Menschengeschlecht als entstanden und vergänglich vorstellen, während wir das Universum, das die Bedingungen des Ursprungs wie der Zerstörung der Erde und ihrer Bewohner in sich enthält, unmöglich ohne Raum und Zeit vorstellen können. Es erscheint daher höchst ungereimt, jene beiden Grundbedingungen allen natürlichen Daseins in die Einrichtung und die Schranken der menschlichen Vernunft einschließen zu wollen, als ob sie deren Besitz und Monopol wären. Hat doch KANT selbst, bevor er seine neue Lehre von der transzendentalen Idealität des Raumes und der Zeit einführte, die mechanische Entstehung und Entwicklung des Kosmos, die Naturgeschichte des Himmels, der Erde und ihrer organischen Geschöpfe gelehrt. Mit dieser entwicklungsgeschichtlichen Weltansicht steht nun die idealistische Lehre von Raum und Zeit allem Anschein nach im offenbarsten Widerstreit. Freilich muß der Philosoph diesen Widerstreit nicht empfunden haben, da er ihn nirgends zum Gegenstand einer besonderen Erörterung und Aufklärung gemacht hat. Indessen beharren jene Einwürfe des natürlichen Bewußtseins, das sich mit seinen Vorstellungen von Raum und Zeit in die kantische schlechterdings nicht zu finden weiß. Selbst ein Verehr und Kenner der kritischen Philosophie, ein Mann von bewunderungswürdigem und bewundertem Scharfsinn, schüttelte zu dieser Lehre den Kopf und pflegte zu sagen: "ich stehe vor ihr, wie das Kamel vor dem Nadelöhr". Aber KANTs Lehre von Raum und Zeit ist die Grundlage seiner Erkenntnislehre und der Weg zu seiner Freiheitslehre. Man wird daher von der kritischen Philosophie nichts übrig behaltenm, wenn man diese Lehre verwirft.

In Wahrheit ist kein Widerstreit zwischen KANTs naturgeschichtlicher Weltansich und seiner Vernunftkritik. Zunächst haben beide verschiedene Themata der Forschung: das der ersten ist die Welterklärung, das der zweiten die Begründung unserer Erkenntnis. Das Thema der Welterklärung lautet: wie ist nach natürlichen und mechanischen Gesetzen die Welt, in der wir leben, entstanden? Das der Vernunftkritik lautet: wie entsteht nach den Gesetzen unserer Vernunft und unseres Vorstellens jene unsere Welterklärung? Dort handelt es sich um die Erscheinungen der Natur, hier um die Erkennbarkeit derselben. Diese Erscheinungen wären nicht, was sie sind, d. h. sie könnten uns nicht erscheinen, wenn sie nicht einleuchtend und erkennbar wären. Das ganze Faktum unserer Weltvorstellung könnte nicht stattfinden, wenn die natürlichen Dinge unvorstellbar wären oder etwas Unvorstellbares enthalten würden. Dies müßte der Fall sein, wenn die Elemente, woraus sie bestehen, nicht durch den Charakter und die Bedingungen unseres Vorstellens bestimmt wären. Der Stoff derselben ist bestimmt durch die Art und Mannigfaltigkeit unserer Eindrücke, die wir vermöge unserer Sinnlichkeit empfangen und deshalb als gegeben betrachten: diese Eindrücke sind der Stoff unserer Erscheinungen. Die Form derselben ist bestimmt durch die Gesetze unseres Vorstellens, die wir als reine Vernunftformen betrachten, und deren Inbegriff unser Philosoph die reine Vernunft genannt hat: diese Gesetze machen die Form unserer Erscheinungen. Daher sind die letzteren durchgängig Vorstellungen, sie sind es ohne Rest. Aus dem Stoff der Empfindungen werden nach den Vernunftgesetzen unseres Anschauens und Denkens, wobei letztere teils den Charakter konstitutiver, teils den regulativer Prinzipien haben, die Erscheinungen, die Erfahrungsobjekte und die fortschreitende Erfahrungswissenschaft erzeugt. Diese Gesetze beherrschen die Erscheinungswelt, weil sie dieselbe machen: daher sind sie, so weit sich das Reich der Erscheinungen erstreckt, Weltbedingungen oder Weltprinzipien, deren Bedeutung völlig verkannt wird, wenn man ihnen nur anthropologische oder psychologische Geltung zuschreiben will: sie können nicht durch Psychologie begründet werden, weil sie diese selbst erst begründen. Die kantische Vernunftkritik ist keine anthropologische Untersuchung.

Hier widerlegen sich nun jene Einwürfe, welche unsere natürliche Weltansicht dem kritischen Philosophen und seiner Lehre von Raum und Zeit entgegenstellt. Raum und Zeit sind die Vernunftgesetze unseres Anschauens, die als solche die gesamte Sinnenwelt beherrschen, weil sie dieselbe überhaupt erst ermöglichen. Daher wird ihre kosmische oder universelle Geltung, die der natürliche Sinn mit Recht fordert und festhält, durch die Vernunftkritik so wenig aufgehoben, daß sie durch dieselbe erst wahrhaft begründet, zugleich aber dergestalt begrenzt wird, daß noch etwas ein kann, das unabhängig von Raum und Zeit ist, während das gewöhnliche Bewußtsein, unkritisch und ohne Selbstprüfung, wie es ist, den Raum als die ungeheure Schachtel und die Zeit als den ungeheuren Fluß ansieht, worin alles, was ist, enthalten sein muß.

Der Mensch als natürliches Individuum, wie ihn die Anthropologie betrachtet, gehört unter die Erscheinungen der Natur und ist ein Glied der Sinnenwelt, er ist aus einem bestimmen Weltzustand hervorgegangen, der ein Glied in der Kette der Weltveränderungen bildet und eine Reihenfolge früherer Weltzustände voraussetzt. Daß der Ursprung und die Entwicklung der Menschheit naturgeschichtlich betrachtet und erforscht werden muß, hat KANT so wenig verneint, daß er sich vielmehr diese Aufgabe selbst gesetzt und ihre Notwendigkeit aus den Bedingungen unserer Erkenntnis durch seine Vernunftkritik, insbesondere auch durch seine Lehre von Raum und Zeit begründet hat. Der naturgeschichtliche Mensch ist demnach keineswegs der Eigentümer von Raum und Zeit; diese sind nicht von ihm abhängig, sondern er ist, wie alle Erscheinungen überhaupt, durch sie bedingt. Wenn Raum und Zeit die reinen Anschauungen der menschlichen Vernunft genannt werden, so muß man wohl unterscheiden, in welchem Sinn dieses Wort zu nehmen ist: es bezeichnet den Menschen als das Subjekt des Erkennens, nicht als eines der Erkenntnisobjekte. Als Subjekt allen Erkennens, so weit wir das letztere untersuchen und zu prüfen imstande sind,m ist unsere Vernunft die Bedingung aller Objekte überhaupt, der gesamten Sinnenwelt, worin im Laufe der Zeit das natürliche Menschengeschlecht erscheint und sich in einer Zeitfolge entwickelt, welcher notwendigerweise eine Vorwelt vorausgeht und eine Nachwelt folgt. Denn alle Erscheinungen sind in der Zeit, jede hat ihre Zeitdauer, vor uns nach welcher Zeit ist, denn sie entstehen und vergehen, ausgenommen allein die Materie, welche beharrt. Aber das Subjekt des Erkennens ist nicht in der Zeit, sondern diese ist in ihm, denn sie ist die Grundform seines Vorstellens.

Wenn man dagegen mit SCHOPENHAUER Raum und Zeit als die Anschauungsformen unseres Intellekts betrachtet und zugleich zu tierischen Gehirnfunktionen erklärt, dann erst entsteht jene Ungereimtheit, die einen offenbaren circulus vitiosus [Teufelskreis - wp] beschreibt: Raum und Zeit sollen von einer Bedingung abhängig sein, die, wie die tierische Organisation und die ihr vorausgehenden Stufen der Natur und des Lebens, selbst nur möglich sind unter der Bedingung des Raumes und der Zeit. Sind diese letzteren, wie SCHOPENHAUER lehrt, das "principium individuationis", d. h. der Grund aller Vielheit und Verschiedenheit, so können sie unmöglich, wie doch SCHOPENHAUER ebenfalls lehrt, die Folge und Funktion individueller Organisation sein. Auch hat es ihm nie gelingen können, diesen fehlerhaften, in einem Charakterzug seiner Lehre begründeten Zirkel wegzureden oder aufzulösen.


III. Die Lehre von den
Dingen ansich.


1. Die Sinnlichkeit der reinen Vernunft

Das Subjekt des Erkennens ist nicht in Raum und Zeit, sondern diese sind in ihm, daher ist die gesamte Welt in Raum und Zeit lediglich Erscheinung oder Vorstellung: sie ist durchaus phänomenal und ideal. In dieser Lehre besteht der transzendentale Idealismus, der KANTs Erkenntnislehre begründet und charakterisiert. Wenn im Subjekt des Erkennens nichts gegeben, sondern alles durch dasselbe erzeugt wäre, so würde die Welt der Erscheinungen ohne Rest seine Schöpfung sein, dann wären seine Begriffe unmittelbare Anschauung, sein Erkenntnisvermögen würde in einem anschauenden Denken, d. h. in einem intuitiven Verstand oder in einer intellektuellen Anschauung bestehen, welcher, was sie erzeugt, sofort als Gegenstand oder Ding einleuchtet. Hier sind Erkennen und Schaffen völlig identisch, hier ist kein Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Anschauen und Denken, Gegenständen und Begriffen, Erscheinungen und Dingen ansich.

Ein solches Erkenntnisvermögen ist nicht ansich unmöglich oder undenkbar, aber es ist nicht das unsrige; dieses schafft die Dinge nicht, sondern entwickelt sich und seine Objekte. KANT hat wiederholt und stets auf das Nachdrücklichste gelehrt, daß unser Verstand diskursiv, nicht intuitiv, unsere Anschauung sinnlich, nicht intellektuell ist: er hat deshalb Sinnlichkeit und Verstand sorgfältig unterschieden und die menschliche Erkenntnis so erklärt, daß wir aus dem Stoff der Eindrücke und Empfindungen, die den Charakter des Gegebenen haben und behalten, die Erscheinungen und deren Erkenntnis (Erfahrung) hervorbringen.

Der intuitive Verstand, ist schöpferisch und darum göttlich, die menschliche Vernunft ist es nicht, auch nicht die reine oder das erkennende Subjekt, denn zum Charakter der reinen Vernunft, die KANT in seiner Kritik erforscht, gehört die Sinnlichkeit, d. h. das Vermögen, Eindrücke zu empfangen und zu empfinden oder auf mannigfaltige Art affiziert [angereizt - wp] zu werden. Man darf die Sinnlichkeit nicht mit den Sinnesorganen, die ihre Werkzeuge sind, noch mit den bestimmten Sinnesempfindungen, die durch jene vermittelt werden, identifizieren, denn zu den letzteren gehört die Einrichtung und Organisation des menschlichen Körpers. Aber unsere Sinnesempfindungen setzen als solche ein Vermögen der Sinnlichkeit oder Rezeptivität voraus, durch welches wir Eindrücke aufnehmen oder auf verschiedene Art affiziert werden können, und ohne welches uns aller erkennbare Stoff fehlen, unsere Erkenntnis leer bleiben, also überhaupt gar nicht stattfinden würde. Diese Sinnlichkeit rechnet KANT zur reinen Vernunft, da es sich nicht um die Art der Affektionen oder um eine Qualität der Eindrücke, sondern zunächst bloß um das Vermögen handelt, Gegebenes zu empfangen. Den gegebenen Stoff muß unsere Vernunft nach den Gesetzen ihres Vorstellens (Anschauens und Denkens) zu Erscheinungen, Erfahrungen und empirischer Erkenntnis verarbeiten und gestalten.

Unsere erkennende Vernunft würde schöpferisch, also göttlich sein, wenn sie nicht sinnlich, d. h. durch Eindrücke, die sie empfangen muß und nur verknüpfen oder ordnen kann, affizierbar wäre: daher verhält sie sich in ihrer Erkenntnis nicht stofferzeugend, sondern bloß formgebend, nicht schöpferisch, sondern architektonisch: sie ist, weil sie den Stoff nicht macht, sondern empfängt, rezeptiv und in dieser Rücksicht nicht ursprünglich, sondern abhängig. Durch ihre Sinnlichkeit ist aber die ganze Einrichtung ihres Erkennens bedingt. Ein anderes Vermögen ist die Sinnlichkeit, ein anderes der Verstand: jene ist stoffempfangend, dieser formgebend, jene verhält sich rezeptiv, dieser produktiv, jene ist leidend, dieser tätig, jene empfängt Eindrücke, dieser erzeugt Begriffe. Daher ist unser Anschauungsvermögen nicht intellektuell, sondern sinnlich, unser Verstand nicht intuitiv, sondern diskursiv, d. h. er muß die Anschauungen, die er empfängt, Teil für Teil auffassen, von Teil zu Teil zusammensetzend, von Anschauung zu Anschauung vergleichend, von Anschauungen zu Begriffen verknüpfend und urteilend fortschreiten. Daher sind die Objekte unserer erkennenden Vernunft nicht völlig ihre Produkte, sie werden aus Stoff und Form gebildet, jener ist ihr gegeben, diese wird durch sie gegeben oder hinzugefügt; daher besteht unsere Erkenntnis der Dinge (Objekte) in einer allmählichen Erfahrung, sie ist nicht mit einem Schlag fertig, sondern entsteht und entwickelt sich; wir müssen uns unsere Objekte nacheinander und darum auch nebeneinander vorstellen, da in der bloßen Sukzession [Aufeinanderfolge - wp] nichts beharren würde, also auch nichts vorgestellt werden könnte. Darum sind Zeit und Raum die Grundbedingungen unseres Vorstellens, sie sind, da ohne sie nichts vorgestellt werden kann, die Grundformen unseres Vorstellens, sie sind, da jede Anschauung Teil für Teil zusammengesetzt sein will, die Grundformen unseres Anschauens, und da unser Anschauungsvermögen nicht intellektuell, sondern sinnlich ist, die Grundformen unserer Sinnlichkeit: kurz gesagt, sie sind die Grundanschauungen unserer Vernunft.

Denken wir uns eine schöpferische oder göttliche Vernunft, so muß in dieser Erkennen und Schaffen, Vorstellung und Ding ein und dasselbe sein. "Wie sie gebeut [gebietet - wp], so steht es da!" In ihr gibt es weder Zeit noch Raum. Unsere Vernunft unterscheidet sich von der göttlichen durch ihre Sinnlichkeit, in ihr sind Zeit und Raum die notwendigen Formen allen Vorstellens und Erkennens. Das einzige sinnlich-vernünftige Wesen, welches wir kennen, sind wir selbst. Daher ist die sinnliche Vernunft für uns gleich der menschlichen. Weil zu der reinen Vernunft, die KANT in seiner Kritik untersucht und ergründet hat, die Sinnlichkeit gehört, darum hat er diese uns allein erkennbare Vernunft die menschliche genannt. Nun ist die Sinnlichkeit als stoffempfangendes Vermögen abhängiger und abgeleiteter Natur. Dies muß von der gesamten Einrichtung und Beschaffenheit unserer erkennenden Vernunft gelten, denn sie wäre ohne Sinnlichkeit eine ganz andere, als sie ist. (7)

Hören wir darüber den Philosophen selbst. Er sagt gleich im Eingang seiner transzendentalen Ästhetik:
    "Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Mittels der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe."

    "Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit sofern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung. Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch die Empfindung bezieht,m heißt empirisch. Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heiß Erscheinung. In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben; das aber,m welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung. Da das, worin sich die Empfindungen allein ordnen und in gewisse Form gestellt werden können, nicht selbst wiederum Erscheinung sein kann, so ist uns zwar die Materie aller Erscheinung nur a posteriorie gegeben, die Form derselber aber muß zu ihnen insgesamt im Gemüt a priori bereit liegen und daher abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden." (8)
Am Schluß der transzendentalen Ästhetik sagt KANT:
    "Es ist auch nötig, daß wir die Anschauungsart in Raum und Zeit auf die Sinnlichkeit des Menschen einschränken; es mag sein, daß alle endlich denkenden Wesen hierin mit dem Menschen notwendig übereinkommen müssen (wie wohl wir dieses nicht entscheiden können), so hört sie um dieser Allgemeingültigkeit willen doch nicht auf Sinnlichkeit zu sein, weil sie abgeleitet (intuitus derivatus), nicht ursprünglich (intuitus originarius), folglich nicht intellektuelle Anschauung ist, als welche aus dem eben angeführten Grund allein dem Urwesen, niemals aber sowohl einem seinem Dasein als auch seiner Anschauung nach, die sein Dasein in Beziehung auf gegebene Objekte bestimmt, abhängigen Wesen zuzukommen scheint, wiewohl die letzte Bemerkung in unserer ästhetischen Theorie nur als Erläuterung, nicht als Beweggrund gezählt werden muß." (9)

2. Das Ding ansich.

Unsere erkennende Vernunft verhält sich demnach zur Materie aller Erscheinung und Erkenntnis nicht erzeugend, sondern bloß empfangend, sie empfängt den Stoff vermöge ihrer Rezeptivität oder Sinnlichkeit, diese ist daher abhängig und bedingt. Hier entsteht nun die notwendige Frage nach dem Ursprung unserer Eindrücke oder Empfindungen. Da sie das Material sind, welches unsere Erkenntnisvermögen gestalten und ordnen, so können sie nicht aus den letzteren hervorgehen, sondern sind vielmehr die notwendigen Bedingungen, wodurch diese erregt und in Tätigkeit gesetzt werden. Da sie den Stoff aller Erscheinungen ausmachen, so können wir sie nicht aus den letzteren herleiten, ohne in den fehlerhaften Zirkel zu geraten, erst die Erscheinungen aus den Eindrücken und dann diese aus jenen entstehen zu lassen; sie können nicht aus der Sinnenwelt entspringen, da vielmehr die Sinnenwelt aus ihnen entspringt. Hieraus leuchtet ein, daß der Ursprung unserer Empfindungen keine Erscheinung, also auch kein erkennbares Objekt ausmacht, er ist der Gegenstand einer notwendigen Frage, aber nicht der einer möglichen Erkenntnis, er ist etwas, das aller Erfahrung vorausgeht und ihr zugrunde liegt, aber selbst niemals empfunden, vorgestellt, erfahren werden kann: dieser unbekannte und unerkennbare Gegenstand ist jenes transzendentale X, dem die kantische Lehre auf dem Weg ihrer Forschung jenseits, oder besser gesagt, diesseits der Grenzen der menschlichen Vernunft notwendig begegnen mußte.

Es muß etwas geben, das die Eindrücke, die wir empfangen, verursacht, das unserer Sinnlichkeit und damit der ganzen Beschaffenheit unserer erkennenden Vernunft, also auch den Erscheinungen und der Sinnenwelt insgesamt zugrunde liegt und eben deshalb nicht sinnlich, nicht Erscheinung, nicht Erkenntnisobjekt sein kann. Dieses "übersinnliche Substratum" nennt KANT das Ding-ansich und bezeichnet damit jenes transzendentale X, welches die Vernunftkritik in ihre Rechnung einführt und aus den nachgewiesenen Gründen einzuführen sich genötigt sieht. Es heißt "Ding-ansich" im Unterschied von allen Erscheinungen. Wenn unsere Vernunft nicht sinnlich, sondern göttlich, nicht stoffempfangend, sondern schöpferisch wäre, so würden ihre Vorstellungen die Dinge selbst sein, und es gäbe keinen Unterschied zwischen den Erscheinungen und den Dingen-ansich. Da sie aber sinnlich ist, so sind Raum und Zeit die Grundformen ihrer Anschauung, so sind ihre Erkenntnisobjekte Erscheinungen und diese bloß Vorstellungen, also keine Dinge-ansich. Daher muß unsere Vernunft unter dem Standpunkt ihrer kritischen Selbstüberprüfung die Erscheinungen von den Dingen-ansich auf das genaueste unterscheiden und jede Vereinigung beider als heillose Verwirrung ansehen.

Da nun der Gegenstände, die auf das Ding-ansich zu beziehen sind, oder der Beziehungen, die auf dasselbe hinweisen, viele und verschiedene sind, so erklärt sich, warum das Ding ansich bei unserem Philosophen in so vielen verschiedenen Beziehungen auftritt. Denn es ist als das übersinnliches Substratum unserer Sinnlichkeit zugleich das der gesamten Beschaffenheit unserer erkennenden Vernunft, also auch der verborgene Grund all unserer Erscheinungen, der äußeren wie der inneren, folglich das Substratum der gesamten Sinnenwelt. Im Hinblick auf unsere Sinnlichkeit, die lediglich stoffempfangend ist, gilt es als das stoffgebende Prinzip oder als die Ursache unserer Empfindungen, im Hinblick auf die Einrichtung unserer Anschauungs- und Denkart, d. h. als der Grund, daß wir anschauen und denken, äußere und innere Erscheinungen vorstellen. Da die Erscheinungen in Zeit und Raum sind und deshalb durchgängig in äußeren Beziehungen und Verhältnissen bestehen, so heißt das Ding-ansich im Unterschied davon "das Innere, was den Objekten ansich zukommt", ein Ausdruck, den man wohl verstehen muß, um nicht zu der grundfalschen Vorstellung verleitet zu werden, als ob das Ding-ansich irgendwo in den Erscheinungen steckt. Es ist nicht äußerlich, nicht auf Anderes bezogen und von Anderem abhängig, also überhaupt nicht in Raum und Zeit: dies bedeutet der obige Ausdruck. Da alle Erscheinungen empirische Objekte sind, so heißt das Ding-ansich im Unterschied davon "das transzendentale Objekt". Da alle Erscheinungen Vorstellungen sind und nicht etwa Gegenstände außer und unabhängig von derselben, so heißt das Ding-ansich "das wahre Korrelatum unserer Vorstellungen". Und da nur die Erscheinungen Erkenntnisobjekte sind, so bezeichnet das Ding-ansich die Grenze unserer Erkenntnis und gilt als "der Grenzbegriff unseres Verstandes". In all diesen mannigfaltigen Bezeichnungen sehen wir keinen Proteus [der Erste; früher Meeresgott der griechischen Mythologie - wp], der sich verwandelt, sondern ein und dieselbe Sache, die der Philosoph nach den verschiedenen Beziehungen, die auf dieselbe hinweisen, in verschiedenen Fassungen darzustellen genötigt ist.

Wir lassen ihn selbst reden. Es heißt in der Lehre vom Raum:
    "Der transzendentale Begriff der Erscheinungen im Raum ist eine kritische Erinnerung, daß überhaupt nichts, was im Raum angeschaut wird, eine Sache ansich noch der Raum eine Form der Dinge ist, die ihnen etwa ansich eigen wäre, sondern daß uns die Gegenstände ansich zwar nicht bekannt sind, und war wir äußere Gegenstände nennen, nichts anderes als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit sind, deren Form der Raum ist, deren wahres Korrelatum aber, d. h. das Ding-ansich, dadurch gar nicht erkannt wird noch erkannt werden kann, nach welchem aber auch in der Erfahrung niemals gefragt wird." (10)

    "Zur Bestätigung dieser Theorie von der Idealität des äußeren wie des inneren Sinnes, folglich aller Objekte der Sinne als bloßer Erscheinungen kann vorzüglich die Bemerkung dienen: daß alles, was in unserer Erkenntnis zur Anschauung gehört, nichts als bloße Verhältnisse enthält, der Örter in einer Anschauung (Ausdehnung), Veränderung der Örter (Bewegung) und Gesetze, nach denen diese Veränderung bestimmt wird (bewegende Kräfte). Was aber in einem Ort gegenwärtig ist oder was es außer der Ortsveränderung in den Dingen selbst wirkt, wird dadurch nicht gegeben. Nun wird durch bloße Verhältnisse doch nicht eine Sache ansich erkannt; also ist wohl zu urteilen, daß, da uns durch den äußeren Sinn nichts als bloße Verhältnisvorstellungen gegeben werden, dieser auch nur das Verhältnis eines Gegenstandes auf das Subjekt in seiner Vorstellung enthalten kann und nicht das Innere, was dem Objekt ansich zukommt. Mit der inneren Anschauung ist es ebenso bewandt." (11)
Das Substratum unserer äußeren und inneren Anschauung ist auch das unserer äußeren und inneren Erscheinungen, der Beschaffenheit unserer erkennenden Vernunft überhaupt, der Sinnlichkeit und des Verstandes, also der Grund unserer räumlichen Vorstellungen, wie unseres Denkens.
    "Das jenige Etwas, welches den äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt, was unseren Sinn so affiziert, daß er die Vorstellung von Raum, Materie, Gestalt usw. bekommt, dieses Etwas als Noumenon (oder besser als transzendentaler Gegenstand) betrachtet, könnte doch auch zugleich das Subjekt der Gedanken sein, wiewohl wir durch die Art, wie unser äußerer Sinn dadurch affiziert wird, keine Anschauung von Vorstellung, Willen usw., sondern bloß vom Raum und dessen Bestimmungen bekommen. Dieses Etwas aber ist nicht ausgedehnt, nicht undurchdringlich, nicht zusammengesetzt, weil alle diese Prädikate nur die Sinnlichkeit und deren Anschauung angehen, sofern wir von dergleichen (uns übrigens unbekannten) Objekten affiziert werden." (12)
Daß wir äußere und innere Erscheinungen vorstellen, Sinnlichkeit und Verstand haben, anschauen und denken: darin besteht die Einrichtung unserer erkennenden Vernunft. Wir entdecken, daß, aber nicht warum dieselbe so und nicht anders organisiert ist.
    "Die berechtigte Frage wegen der Gemeinschaft des Denkenden und Ausgedehnten würde also, wenn man alles Eingebildete absondert, darauf hinauslaufen: wie in einem denkenden Subjekt überhaupt eine äußere Anschauung, nämlich die des Raumes (eine Erfüllung desselben, Gestalt und Bewegung) möglich sein soll? Auf diese Frage aber ist es keinem Menschen möglich, eine Antwort zu finden, und man kann diese Lücke unseres Wissens niemals ausfüllen, sondern nur dadurch bezeichnen, daß man die äußeren Erscheinungen einem transzendentalen Gegenstand zuschreibt, welcher die Ursache dieser Art Vorstellungen ist, den wir aber gar nicht kennen, noch jemals einigen Begriff von ihm bekommen werden. In allen Aufgaben, die im Feld der Erfahrung vorkommen mögen, behandeln wir jene Erscheinungen als Gegenstände ansich, ohne uns um den ersten Grund ihrer Möglichkeit (als Erscheinungen) zu bekümmern. Gehen wir aber über deren Grenze hinaus, so wird der Begriff eines transzendentalen Gegenstandes notwendig." (13)
Der Philosoph EBERHARD in Halle, der nach der Erkenntnislehre des LEIBNIZ die kantische Vernunftkritik für entbehrlich und überflüssig gehalten hat, machte der letzteren den Einwurf, daß sie den Stoff unserer Sinnlichkeit, nämlich die Empfindungen, nicht ohne die Dinge ansich zu erklären vermag: "wir mögen wählen, welches wir wollen, so kommen wir auf Dinge-ansich". Unser Philosoph entkräftet diesen Einwurf, indem er ihn bejaht und berichtigt.
    "Nun ist ja das eben die beständige Behauptung der Kritik; nur daß sie diesen Grund des Stoffes sinnlicher Vorstellungen nicht selbst wiederum in Dingen, als Gegenständen der Sinne, sondern in etwas Übersinnliches setzt, was jener zum Grunde liegt und wovon wir keine Erkenntnis haben können. Sie sagt: die Gegenstände als Dinge ansich geben den Stoff zu empirischen Anschauungen (sie enthalten den Grund, das Vorstellungsvermögen seiner Sinnlichkeit gemäß zu bestimmen) aber sie sind nicht der Stoff derselben." (14)
In dem eben angeführten Satz steht wörtlich zu lesen, was jeder Kenner der Vernunftkritik weiß und keinen befremdet: daß die Gegenstände als Dinge-ansich den Stoff zu empirischen Anschauungen, d. h. die Empfindungen geben, aber nicht sind: sie sind deren Ursache. Mit Recht bemerkt auch ZELLER:
    "Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Kant ein Objekt in diesem Sinn jederzeit behauptet und die Sinnesempfindung von demselben hergeleitet hat."
Aus den vorhergehenden Sätzen erhellt sich, in welchem Sinn ZELLER dieses Objekt nimmt: er versteht darunter nach KANT "das transzendentale Objekt" oder "das Ding-ansich" (15). Indessen läßt ein heutiges Wochenblatt seinen Lesern auf anonymem Weg verkünden, daß nach KANT
    "die Dinge ansich nicht die Ursache unserer Sinnesempfindungen sind, auch nicht der Grund, daß wir Sinnesempfindungen haben können, wohl aber sind der Grund Gegenstände, deren Bedeutung zur Möglichkeit der Erfahrung der transzendentale Gegenstand heißt."
Die erste Behauptung ist grundfalsch und ein Zeugnis der Unwissenheit des Verfassers, die zweite ist völlig sinnlos und ein Zeugnis der Konfusion und des geschwätzigen Unverstandes, der das ganze Geschreibsel kennzeichnet. Wenn er mir vorwirft, daß ich die Ausdrücke "transzendentales Objekt" und "transzendentaler Gegenstand" für gleichbedeutend nehme und beide für kantische Bezeichnungen des Dings-ansich ansehe, so weißt er nicht, was KANT gelehrt hat. Wenn er mir aber vorwirft, daß ich "das Ding ansich" mit dem "Ding außer mir" verwechsle, so ist diese Angabe eine Lüge, da ich jene beiden Begriffe überall, wo die Rede davon ist, nach der Richtschnut der kritischen Philosophie auf das Genauest unterscheide und unterschieden wissen will. Es ist eine zwar jeder näheren Beachtung unwürdige, aber immerhin kuriose Tatsache, daß eine Lehre, von welcher KANT ausdrücklich erklärt hat, daß sie "die beständige Behauptung seiner Kritik" ist, heutzutage dem Philosophen abgesprochen und das sinnlose Gegenteil derselben zugeschrieben wird. Und dies geschieht selbst in einer sogenannten "gekrönten Preisschrift" über KANT. (16)

Es ist zur richtigen Würdigung und Beurteilung der kantischen Philosophie höchst wichtig, daß man die Lehre vom Ding-ansich in ihrer Entstehung wie in ihrem Umfang erkennt und nicht, wie gemeinhin geschieht, falsch und einseitig auffaßt, indem man die Dinge-ansich bloß auf die Erkenntnisobjekte oder Erscheinungen bezieht und in diese versetzt, als ob sie darin, wie der Kern in der Schale, enthalten wären, nur daß sie uns vermöge unserer sinnlichen Vorstellung verborgen bleiben. Die Empiristen, die, wie BACON und LOCKE, keine andere Erkenntnis als die sinnliche gelten lassen, erklären die Dinge-ansich für unerkennbar, während die Rationalisten, wie DESCARTES und LEIBNIZ, die Sinnlichkeit für einen verworrenen Verstand, das klare und deutliche Denken dagegen für die wahre Erkenntnisform und darum die Dinge ansich für die wahren Erkenntnisobjekte halten. Dann sind Dinge-ansich und Erscheinungen dieselben Objekte: die wahrgenommenen Gegenstände sind die Dinge, wie sie uns erscheinen, die klar und deutlich gedachten dagegen die Dinge, wie sie ansich sind. Dieselbe Sache ist nach der Art, wie wir sie vorstellen - ob sinnlich oder denkend, ob unklar oder klar, - Erscheinung oder Ding-ansich. In eben dieser Vermengung sah KANT den Grundirrtum der dogmatischen Philosophie, insbesondere den ihrer Metaphysik. Nach ihm sind beide völlig zu unterscheiden: Das Ding-ansich ist das übersinnliche Substratum der Erscheinungen, weil es das unserer erkennenden Vernunft ist, weil es das unserer Sinnlichkeit ist, die Empfindungen hat, aber nicht erzeugt, und Eindrücke empfängt, deren Ursache weder sie selbst noch eines ihrer Objekte sein kann.

LITERATUR - Kuno Fischer, Kritik der kantischen Philosophie, München 1883
    Anmerkungen
    1) Kuno Fischer, "Geschichte der neueren Philosophie", Bd. III, Buch I., Kapitel I und II, Seite 3-38.
    2) Kritik der Urteilskraft, § 68 (Bd. VI, Seite 258). Vgl. meine "Geschichte der neuern Philosophie", Bd. IV, Seite 483.
    3) Kr. d. V. Einleitung, Seite III, Anm (Bd. II, Seite 39)
    4) ebd. Transzendentale Ästhetik, § 1 (Seite 59f).
    5) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Vorrede (Bd. VIII, Seite 444). Vgl. dieses Werk: Bd. IV, Seite IV.
    6) vgl. unten III, 1.
    7) Über den diskursiven und intuitiven Verstand vgl. dieses Werk: Bd. IV, Buch III, Kapitel Vi, Seite 494-98.
    8) Kr. d. r. V., Transzendentale Elementarlehre, Teil 1, § 1 (Werke, Bd. II, Seite 59-60)
    9) ebd. § 81, Bd. II, Seite 86f.
    10) ebd. § 3, Bd. II, Seite 68f.
    11) ebd. § 8, Bd. II, Seite 83.
    12) Kr. d. r. V., (1781) Transzendentale Dialektik, Die Paralogismen der reinen Vernunft, Kritik des zweiten Paralogismus, Bd. II, Nachtrag, Seite 667.
    13) ebd. Betrachtungen über die Summe der reinen Seelenlehre (Bd. II, Seite 696f). Vgl. mit beiden Anmerkungen dieses Werkes: Bd. III, Seite 447, 458, 570.
    14) "Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (1790). Werke Bd. III (Geschichte der neuern deutschen Philosophie), Seite 352. In dieser Schrift findet sich eine Anmerkung (Seite 345), die einem der obigen Sätze Kants widerstreitet. In Rücksicht auf die zusammengesetzten Sinnenobjekte heißt es: "Ob das Übersinnliche, was jener Erscheinung als Substrat unterliegt, als Ding-ansich, auch zusammengesetzt oder einfach sei, davon kann niemand im Mindesten etwas wissen" usw. Doch hat Kant in dieser Kritik des zweiten Paralogismus ausdrücklich gelehrt: "Dieses Etwas aber ist nicht ausgedehnt, nicht undurchdringlich, nicht zusammengesetzt, weil alle diese Prädikate nur die Sinnlichkeit und deren Anschauung angehen." Selbst in unserer Anmerkung heißt es kurz vorher: "das, was der Möglichkeit des Zusammengesetzen zum Grunde liegt, was also allein als nicht zusammengesetzt gedacht werden kann, ist das Noumenon" usw.
    15) Eduard Zeller, Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz (zweite Auflage 1875) Seite 352-53.
    16) Grenzboten, Nr. 40 (1882), Seite 12. Vgl. Kurd Lasswitz, Die Lehre Kants von der Idealität des Raumes und der Zeit usw. (1883), Seite 132, Anmerkung.