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ERICH FRANZ
Das Realitätsproblem
in der Erfahrungslehre Kants

[2/2]

"An sämtlichen Hauptstellen, wo Kant den Begriff seines transzendentalen Idealismus entwickelt, fügt er hinzu, daß es sich dabei nur um die kritische Erinnerung handelt, die Erscheinungen nicht als etwas Absolutes zu betrachten, sondern als ein ideales Gebilde, an dessen Erzeugung das Subjekt selber Anteil hat. Im gewöhnlichen Leben aber und in der Praxis tue man recht, die äußeren Dinge so, wie wir sie kennen, als wirklich und selbstverständlich anzunehmen. ... Was die kritische Besinnung lehrt, ist nicht, daß wir die Dinge idealisieren sollen, sondern daß wir das Erkenntnisgebilde, in dem wir die Dinge erfassen, als zugleich abhängig von uns und als schöpferisches Erzeugnis unseres Geistes anzusehen haben."


2. Das transzendente Ding ansich
als Ursache der Erscheinungen

Bevor wir aber diese angedeutete, viel mißverstandene Konzeption KANTs darstellen, soll auf die oft und mit Recht bekämpfte Fassung der Ding-ansich-Lehre eingegangen werden, die keine noch so kunstvolle Apologetik je hat und wird retten können.

An diesem Punkt liegt es uns fern, die kantische Lehre halten zu wolen, wie andererseits das Eintreten für jene andere Fassung ebenfalls nicht im mindesten apologetischen Tendenzen entspringt.

Der Grundfehler KANTs ist hier der, daß er nicht scharf zwischen der sachlichen Qualität, der Erkenntnisbedeutung, dem Wahrheitswert der Erscheinungen unterscheidet und auf der anderen Seite ihrem realen Sein als psychischen Modifikationen und Vorstellungen des Bewußtseins. Hieraus entspringt sowohl die Theorie der Affektion durch ein äußeres kausierendes Ding, in Anlehnung an LOCKE, wie andererseits die Betonung der Subjektivität, des Vorstellungsseins der Erscheinung, als ein Nachklang von LEIBNIZ' Monadenlehre. Nach der Auffassung von VAIHINGER ("Zu Kants Widerlegung des Idealismus", Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, 1884, Seite 121f, an die sich REININGER ("Kants Lehre vom inneren Sinn", 1900, Seite 143f) anschließt, hat KANT in den Paralogismen der ersten Auflage der Kr. d. r. V. den problematischen Idealismus durch den dogmatischen geschlagen, da er nur die Vorstellungs realität der materiellen, körperlichen Welt rettet. Mit Recht bestreitet THOMSEN (a. a. O., Seite 248-257) diese Interpretation, da bei KANT der Realitätscharakter nicht im Vorstellungssein liegt, sondern im "empirischen Ding-ansich", auf das die Qualität einer bestimmten Vorstellungsklasse hinweist. Für die meines Erachtens richtige und von beiden genannten Seiten verfehlte Interpretation verweise ich auf die unten folgende Darstellung und bemerke kurz:
    1. Thomsens positive Auffassung ist von der kantischen unterschieden und dem Idealismus nicht so radikal entgegengesetzt wie die letztere.

    2. Die idealistische Interpretation von Vaihinger ist der kantischen Auffassung diametral entgegengesetzt; sie ist aber nicht ohne Berechtigung mit Rücksicht auf das oben angeführte Nachklingen der Monadenlehre. KANT denkt bei "Bewußtsein" statt an die Funktion manchmal auch an die Substanz. Verräterisch ist das "Inhärieren" der Erscheinungen.
LEIBNIZ' Monadenlehre bildet ebenso wie LOCKEs Theorie der äußeren kausalen Einwirkung die rohere, primitivere Unterlage, bzw. den Ausgangspunkt und das Sprungbrett für die neue und eigenartige Theorie KANTs.

Gegenüber der Darstellung VAIHINGERs, welche mit großer Schärfe die Differenzen der verschiedenen kantischen "Widerlegungen" des Idealismus herausarbeitet, wird hier die Auffassung vertreten, daß allen "Widerlegungen" dieselbe Gesamttheorie zugrunde liegt, von der aus insbesondere die Behandlung der Paralogismen in der ersten Auflage der Kr. d. r. V. einen einheitlichen, widerspruchsfreien Sinn bekommt. Der Gedankengang der aus der zweiten Auflage angeführten Stellen, sowie des dritten der sieben kleinen Aufsätze), der sich übrigens im wesentlichen genau so schon in der ersten Auflage findet, gibt sich auf das Deutlichste als demonstratio ex praeconcessis [Demonstration aus dem bereits Bestätigten - wp]: er beweist für den Standpunkt des empirischen Idealismus, daß die innere Wahrnehmung keineswegs etwas der äußeren voraus hat, sondern vielmehr allein im Zusammenhang mit ihr verständlich ist. Bezeichnend dafür ist auch, daß KANT den "Realismus", den er erweisen will, "Dualismus" nennt. An den Stellen aber, wie Prolegomena, Seite 69f, 164f, wo KANT sich auf die kategorialen Formen stützt, handelt es sich um das Problem der Einzelerfahrung; das Kriterium der Wahrheit im Gegensatz zum Schein ist der gesetzliche Zusammenhang.

Nimmt man jene seltsame Synthese der von LOCKE und LEIBNIZ übernommenen Auffassungen in ihrem äußeren, buchstäblichen Sinn, so kommt ein wunderliches Gebilde heraus. Das Widerspruchsvolle und Unfruchtbare einer derartigen Auffassung liegt auf der Hand. Zunächst, wenn alle Erkenntnis auf Erscheinungen beschränkt wird, hinter denen ein prinzipiell und absolut unerkennbares Ding ansich liegend gedacht wird, so ist nicht einzusehen, welchen Wert die Annahme eines solchen Dings haben kann, bei dem weder über das Daß noch das Was, weder über das Dasein noch über seine Qualität das Allergeringste auszumachen ist. Es wäre eine sinnlose und völlig unberechtigte Annahme. Dieses dunkle Ding-ansich würde das Zauberwort für alle Rätsel bedeuten, die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, der Abgrund, in den alle Gegensätze unterschiedslos zusammenfallen, Geist und Körper, Freiheit und Natur, Teleologie und Mechanismus.

Überhaupt bedeutet jede Art von Verdoppelungsmetaphysik, von Erdichtung einer transzendenten Welt nach dem Muster der empirischen, - wie KANT das in der transzendentalen Dialektik gezeigt hat, - einen Irrweg. Man möchte das Empirische erklären und greift zu einer transzendenten Ursache. Nun aber hat man wieder ein Transzendentes, das ebensowohl eine Erklärung verlangt, wenn man sich nicht einfach dem asylum ignorantiae [Zufluchtsort der Unwissenheit - wp] überantworten will; man ist also keinen Schritt weiter gekommen. Ein intelligibles Etwas aber als Ursache empirischer Wirkungen läßt sich gar nicht denken. Ursache und Wirkung müssen auf demselben Boden stehen, die phänomenale Wirkung macht auch die Ursache phänomenal. Die Intelligibilität wird ein leeres Wort. Gegenüber dieser Auffassung, die freilich der großen Grundkonzeption KANTs gegenüber ein bloßes Nebenprodukt und von nebensächlicher Bedeutung ist, besteht die bekannte Kritik JACOBIs durchaus zu Recht. Und ebenso hat an diesem Punkt SCHOPENHAUER recht, wenn er die kausale Ableitung der Erscheinung, bzw. die mittelbare Erschließung des Dings-ansich verwirft.

Blickt man schließlich auf den Zweck, der erreicht werden soll, nämlich die Erklärung der objektiv richtigen Erkenntnis, so zeigt sich die gänzliche Unfruchtbarkeit der Theorie. Denn jene äußere Ursache würde doch nur zu einem Sein der Erscheinungen (als Vorstelllungen) führen, ihre Qualität aber nicht berühren. Nur daß erkannt würde, wäre erklärt (6); für allen Inhalt, auf den es bei der Erkenntnis aber gerade ankommt, müßte man allein auf die freie Produktivität des Bewußtseins zurückgehen.

In der Tat erscheint es bei KANT gerade im Zusammenhang mit der transzendenten Ding-ansich-Auffassung oft so, als sei "das Mannigfaltige der Empfindung" eine qualitätslose Masse, ein dunkles, formloses Chaos, aus dem erste die sensuellen und intellektuellen Funktionen des Subjekts die wirkliche Erfahrung gestalteten. Es ist, als ob die Wahrnehmung mit ihrem Eigenwert und positiven Gehalt, mit dem Zwang, den sie mit sich führt, ganz ausgeschaltet wäre. Das ändert sich aber sogleich, wo jene äußerliche metaphysische Theorie zurücktritt und die Erscheinungswelt selber für uns zum Träger der Realität wird. Auf diese Seite des Ding-ansich-Begriffs ist später noch zurückzukommen.


3.
Das Ding ansich innerhalb der Erfahrung

Hier fassen wir zunächst das allgemeine Moment ins Auge, daß wir nach KANTs Auffassung in den Erscheinungen mit dem Ding-ansich in Beziehung treten, nicht mit einem Abbild oder einem abgeleiteten Sein, sondern mit der einen Wirklichkeit selber. Es gibt nicht ein Sein des Dings-ansich und daneben ein Sein der Erscheinungswelt; nicht eine Qualität des Dings ansich und daneben eine Qualität der Erscheinungswelt. Weder Sein noch Qualität werden verdoppelt, sondern in der Erscheinungsqualität fassen wir das Sein.

Wenngleich die transzendente Form der Ding-ansich-Lehre meist im Mittelpunkt der Debatten gestanden hat, tritt doch bei KANT selber die immanente Form weit stärker hervor. Wo sie aber berücksichtigt wurde, hat man bei KANT nur über Konfusion geklagt; seine Bestreitung des "Idealismus" behaupte bald die Realität der materiellen Welt, bald das Gegenteil. Man muß aber zuerst KANTs Gesamtauffassung erkennen und positiv würdigen. Nach ihr kann man sich sowohl so ausdrücken, daß die materielle Welt wirklich existiert, wie auch so, daß sie gar nicht existiert. Je energischer ich den Begriff "Erscheinung" als ideal fassen, desto selbstverständlicher erscheint der Realismus der Dinge selber. Wir haben es mit einer realen, wirklichen Welt zu tun, aber die Realität ist unabhängig von der räumlichen Form und allem, was an ihrer Qualität von der Relation zum erkennenden Subjekt bedingt ist. Wo KANT sich über Mißverstandenwerden beklagt, wo er die ihm vorschwebende, durchaus realistische Konzeption mit dem Gefühl der Selbstsicherheit und dem felsenfesten Glauben an die Geschlossenheit und Originalität seiner Auffassung in zum Teil paradoxen Wendungen deutlich zu machen sucht, da handelt es sich eben um diese immanente Ding-ansich-Auffassung. Es ist ein verhängnisvoller Fehler vieler neuerer KANT-Interpreten, die große positive Bedeutung dieser Theorie verkannt und sich der falschen Alternative zwischen transzendentem Ding-ansich und einer positivistischen Verabsolutierung der Phänomene überliefert zu haben. Freilich ist es vergebliche Mühe, das Sein in einem transzendenten Ding ansich verankern zu wollen; deshalb es aber auch für das Diesseits preiszugeben und in einem monistischen Sinn das Erkennen zu einem bloßen Denken oder zu einem Teil vom Lebensprozeß des Subjekts zu machen, ist ein verzweifelter und undurchführbarer Ausweg.

Daß allein in jener immanenten Auffassung alle Eigenart und Bedeutung der kantischen Lehre zu suchen ist, läßt sich nicht verkennen. Und jene gröbere metaphysische Form erhielt sich nur deswegen, weil man auch bei ihr an die feinere Form denken kann; sie liegt in gewissem Sinne in ihr "eingewickelt". Jene äußere kausale Ableitung der Erscheinungen ist als ein roher und etwas primitiver Versuch zu betrachten, den unbestreitbaren und unaufhebbaren Rezeptivitätscharakter aller Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen. Derselbe Gedanke wird auch in der Weise durchgeführt, daß das Ding-ansich in den Erscheinungen gegenwärtig gedacht wird. Ebenso ist es eine recht primitive und irreführende Vorstellung, wenn die Erkenntnis gelegentlich als ein Zusammengesetztes aus zwei Faktoren, einem subjektiven und einem objektiven, bezeichnet wird. Auch hier handelt es sich um den tieferen Gedanken, daß das Erkennen nicht etwas lediglich Passives ist, nicht ein Abbilden, Abspiegeln, Wiederholen, Kopieren, Verdoppeln, sondern etwas Neues, Eigenartiges, etwas sui generis [aus sich selbst heraus - wp], das weder einseitig vom erkennenden Subjekt, noch bloß von der objektiven Wirklichkeit her ausreichend erklärt werden kann. Der Erkennende ist dabei zwar von außen her gebunden, bestimmt, der Willkür entnommen, und doch bleibt ihm das Erkennen nichts Äußerliches, sondern ruft seine Aktivität wach und ist mit seinem innersten Wesen unlöslich verflochten. Wie der Begriff der "Erscheinung" auf der einen Seite die Abbildungstheorie ablehnt, so weist er andererseits doch hin auf das Ding-ansich, die objektive Wirklichkeit selber. Diese Beziehung auf die objektive Wirklichkeit ist das wesentliche Interesse und einzige Ziel der Erkenntnislehre. An dieser Aufgabe müht sich KANT ab; in diesem Hinausgehen über das bloße Denken und in der Rücksichtnahme auf die mit dem unabhängigen Sein gegebenen nicht-rationalen Elemente liegt die Eigenart und Tiefe seiner Erkenntnisaffassung begründet.

Sein Erstaunen über die Zumutung eines "Idealismus" ist durchaus ehrlich und berechtigt. Und sein wiederholter, energischer und zum Teil gereizter Protest dagegen entspringt nicht etwa dem bloßen Wunsch, diesem "Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft" nicht seinerseits Vorschub zu leisten, sondern dem Bewußtsein der realistischen Grundkonzeption, in der zugleich die angebliche Konfundierung von empirischem und transzendentem Ding-ansich begründet ist.

Am instruktivsten ist wohl das Ausgehen von der Behandlung der Paralogismen in der ersten Auflage, an deren Interpretation sich jede Auffassung des kantischen Phänomenalismus zu erproben hat. Haarscharf liegen hier die beiden Deutungsmöglichkeiten nebeneinander: seinsphilosophischer Idealismus oder erkenntnistheoretischer Phänomenalismus. In der ersten Ausgabe der Kr. d. r. V., Seite 306 ist die Rede vom "Intelligiblen, welches der äußeren Erscheinung, die wir Materie nennen, zum Grunde liegt". Seite 329 widerspricht KANT "jener erschlichenen dualistischen Vorstellung: daß Materie, als solche, nicht Erscheinung, d. h. bloße Vorstellung des Gemüts ... ist". Ist das nicht deutlich ein seinsphilosophischer Idealismus der äußeren, materiellen Welt gegenüber? (7) Und doch bestreitet KANT genau diesen Standpunkt im selben Atemzug. Ebenso steht es Prolegomena § 13, Anmerkung 2, wo KANT zu Anfang scheinbar den kräftigsten Idealismus lehrt: "Alle Körper mitsamt dem Raum, darin sie sich befinden, ... existieren nirgens anders als bloß in unseren Gedanken." Und herausfordernd fügt KANT hinzu: "Ist dies nun nicht der offenbare Idealismus?" Der nächste Absatz aber bringt, und mit vollem Recht, die Antwort: Nein! Vielmehr "gerade das Gegenteil davon". (Seite 67)

In der Tat ist der Idealismus KANTs ganz anderer Art, als daß er irgendeine Wirklichkeit antasten und herabsetzen könnte. Er betrifft gar nicht "die Existenz der Sachen", - die zu bezweifeln ist KANT nie in den Sinn gekommen, - "sondern bloß die sinnliche Vorstellung der Sachen". (Prolegomena, § 13, Anm. 3, Seite 72) Es ist ein erkenntnistheoretischer, kein seinsphilosophischer Idealismus. Das Sein der Dinge und die Assertion [Behauptung - wp] dieses Seins werden durch den "formalen Idealismus" überhaupt nicht berührt. Man darf die Erscheinung als solche in keiner Weise als ein Sein fassen, weder als reale Wirkung einer äußeren Ursache, noch als reale Modifikation einer Monadensubstand. Daß KANT gelegentlich dieses wie jenes tut, ist freilich unbestreitbar und oben erörtert worden. Deshalb bleibt daneben aber doch der erkenntnistheoretische Begriff der Erscheinung in voller Klarheit und Eindeutigkeit bestehen. Es handelt sich bei einer "Erscheinung" nur um den Inhalt der Vorstellung, um die Qualität, die Perspektive, in der wir die Dinge sehen.

Offenbar darf man von diesem Standpunkt aus KANT nicht zu einem Idealisten, weder der inteligiblen noch der empirischen, materiellen Welt gegenüber stempeln. Denn dieser Standpunkt kennt nicht zwei Welten oder Wirklichkeiten, deren Annahme eben schon einer Vermengung von seinsphilosophischem und erkenntnistheoretischem Idealismus entspringt. KANT ist zugleich idealistischer und realistischer. Die Erscheinungen sind in keiner Weise etwas Reales, wohl aber sind sie die Form, bzw. Qualität, in der wir die eine und einzige Realität fassen. Die erkenntnistheoretische Sünde, die Realität in ein intelligibles Jenseits zu legen, kann ich nicht begehen, ohne dieses transzendente Etwas positiv seiner Qualität nach zu bestimmen, wie dies LEIBNIZ in der Tat tut, KANT aber ablehnt. Der erkenntnistheoretische Idealismus KANTs statuiert weder eine transzendente Welt noch idealisiert er die materielle Welt; wir fassen das objektive Sein selber in der Qualität der Erscheinungen.

Nun versteht man auch die paradoxe Wendung, daß unser Verstand der "Natur" ihr Gesetz vorschreibt. Mit dieser Natur ist wahrlich nicht die Wirklichkeit gemeint.
    "Mein Verstand und die Bedingungen, unter denen er allein die Bestimmungen der Dinge in ihrem Dasein verknüpfen kann, schreibt den Dingen selbst keine Regel vor; diese richten sich nicht nach meinem Verstand, sondern mein Verstand müßte sich nach ihnen richten." (Prolegomena § 14, Seite 73)
Das "Widersinnische" und "Befremdliche" dieser Vorstellung verschwindet, sobald man bedenkt,
    "daß diese Natur ansich nichts als ein Inbegriff von Erscheinungen, folglich kein Ding-ansich, sondern bloß eine Menge von Vorstellungen des Gemüts ist." (Kr. d. r. V., A 126).

    "Denn Erscheinungen können, als solche, nicht außerhalb unserer selbst stattfinden, sondern existieren nur in unserer Sinnlichkeit." (Kr. d. r. V., A 135)
Eben diese Idealität der Erscheinungen ist der einzig mögliche Grund für die Deduktion der Kategorien (Kr. d. r. V., A 137).
    "Denn Gesetze existieren ebensowenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inhärieren [innewohnen - wp], sofern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht ansich existieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen, sofern es Sinne hat." (Kr. d. r. V., B 164)
Erscheinungen sind nur Vorstellungen von Dingen.
    "Als bloße Vorstellungen aber stehen sie unter gar keinem Gesetz der Verknüpfung als demjenigen, welches das verknüpfende Vermögen vorschreibt." (Kr. d. r. V., B 164)
Hat man sich einmal den von KANT in voller Schärfe charakterisierten Standpunkt des erkenntnistheoretischen Phänomenalismus zueigen gemacht, so fällt auf diese scheinbar radikal idealistischen, seinsphilosophischen Behauptungen ein überraschendes Licht. Nicht die materielle Welt soll in die psychische hineingenommen werden; nicht soll wie bei LEIBNIZ die materielle Natur in ein Vorstellungsdasein, in Monaden-Akzidenzien aufgelöst werden; sondern die "Erscheinung" wird noch weit radikaler verflüchtigt, zur bloßen völlig daseinsfreien Form bzw. Qualität um eben dadurch die Wirklichkeit selber unangetastet zu lassen.

Der Pessimismus und die Klagen über die Unerkennbarkeit des Dings-ansich können nur da auftauchen, wo man sich dunkel ein bestimmtes transzendentes Ding denkt und mit seiner Erkennbarkeit rechnet. Es liegt aber nicht so, daß wir in falsches Bild hätten, dem die Wirklichkeit nicht entspricht; auch nicht so, daß wir nur einen Teil, nicht die Hauptsache erkennen. Das Ding-ansich darf nicht als letzter Rest aufgefaßt werden, auf den wir am Ende der Erfahrung stoßen. Es ist kein Konkurrent der Erfahrungsdinge, sondern in der Form, der Qualität der Erscheinungswelt haben wir die eine reale, konkrete Wirklichkeit.

Wir sind dem Ding-ansich am Anfang wie am Ende gleich fern und nah. Unsere Erkenntnis faßt, prinzipiell und aufs Ganze gesehen, unbeschadet der subjektiven Irrtumsmöglichkeit im Einzelfall, die objektive Wirklichkeit. Nur mit der allgemeinen Einschränkung, daß Erkenntnis etwas Neues und Eigenes ist und nicht eine Wiederholung des Seins. Im Begriff der Erkenntnis liegt unaufhebbar die doppelte Beziehung, einmal zur Wirlichkeit, die den Gegenstand der Erkenntnis bildet, andererseits zur Natur des erkennenden Subjekts.

Im Erkennen einer Wirklichkeit bin ich nicht frei, sondern gebunden. Das kommt bei KANT zum Ausdruck in der "Empfindung". Mag die allgemeine Form der Anschauung wie des Denkens sich antizipieren lassen; die konkreten Inhalte werden allein durch die bestimmte Wahrnehmung gegeben. Doch handelt es sich bei der Realität keineswegs nur um das Problem der Empfindung. Ist eine objektive Wirklichkeit konstitutiv für die Wahrheit meiner Erkenntnis, so schließt das keineswegs die Folgerung ein, daß diese Realität und diese Erkenntnis sich ähnlich oder gleich sein müßten. Etwas so Einfaches ist Erkenntnis nicht. Wenngleich alle wahre Wirklichkeitserkenntnis durch ein objektives Sein ideal determiniert wird, so ist sie zugleich doch mit dem Wesen und dem Lebensprozeß des erkennenden Subjekts verflochten. In dieser allgemeinen Form ist die "Organisationstheorie" [sinnliche Organisiertheit des Menschen - wp] durchaus berechtigt, nicht negativ als Bezeichnung einer unüberschreitbaren Schranke, sondern positiv als Charakteristik der Erkenntnis. Erkennen geht das Innere des Menschen an; es steckt sozusagen ein Stück von ihn darin. Ob sie wahr ist? Dem unabhängigen Urbild gleich, ähnlich? Mit dieser Forderung erklärt KANT so wenig einen Sinn verbinden zu können wie mit der, daß die Empfindung des Roten mit der objektiven entsprechenden Eigenschaft des Zinnobers Ähnlichkeit haben muß (Prolegomena 68). Im Einzelnen hängt selbstverständlich die Wahrheit der Erkenntnis vom guten Beobachten und vom Eingliedern der Beobachtungen ab. Der allgemeine Charakter aller Erkenntnis, daß sie in Relation zum erkennenden Bewußtsein steht (Kr. d. r. V., B 69/70 Anm. und 609), kann ihren Wahrheitswert nicht schädigen. In den Vorstellungen als solchen liegt weder Wahrheit noch Irrtum, sondern erst im Urteil über sie (Prolegomena § 13, Anm. III, Seite 69; Erdmanns Reflexionen I, 41; Metaphysische Anfangsgründe der Naturlehre, Phän. 1. Anm.). Alle phänomenalen Aussagen sind wahr, wenn die Restriktion auf das Subjekt hinzugefügt wird (Kr. d. r. V. B, 43, 52). Man muß den Grundgedanken KANTs befreien von den bestimmteren Anwendungen und Zusätzen, die KANT ihm gegeben hat und die in ihrer Konsequenz diesen Grundgedanken selbst wieder zerstören. Der allgemeine Gedanke besagt nur dies, daß das Sein uns nur in der Form der Erkenntnis zugänglich ist. Sein und Erkenntnis sind stets durch eine Kluft voneinander geschieden und können nie zusammenfallen. Die Wirklichkeit erkennen heißt weder sie schaffen noch sich in sie verwandeln. In diesem allgemeinen Sinn bleibt die Wirklichkeit wie überhaupt jeder Gegenstand der Erkenntnis "transzendent". Nur darf man diese Transzendenz nicht als eine neue metaphysische Realität verstehen, die zur empirischen hinzukommt. Ebensowenig darf man jene unüberbrückbare Kluft verstehen als eine Kluft innerhalb des Seins oder innerhalb der Erkenntnis, als trennte sie ein empirisches Sein von einem metaphysischen oder ein subjektives Erkenntnisbild von einer objektiven Seinsqualität.

Mit welcher Entschiedenheit und trotz allen störenden Beiwerks mit welcher Klarheit KANT diesen Gedanken geltend macht, zeigt sich auf Schritt und Tritt. So wendet er sich gegen die Aufstellung des Dings-ansich als eines begehrenswerten Ziels der Erkenntnis, das in seiner Unerreichbarkeit all unsere tatsächliche Erkenntnis herabdrücken und entwerten würde; und er verweist dem gegenüber auf das fruchtbare "Bathos [Tiefe - wp] der Erfahrung" als das einzige Gebiet, auf welchem wir die Wirklichkeit fassen und erkennen können. Daß in unserem Erkennen zugleich ein schöpferisches Moment steckt, braucht deshalb doch nicht übersehen zu werden.

KANT hat jenen Hauptgedanken leider dadurch getrübt, daß er mit dieser Unterscheidung von Erscheinung und Ding-ansich jene anderen von Form und Stoff der Erfahrung zusammengebracht hat, und diese letztere wieder mit der Unterscheidung eines subjektiven und objektiven Faktors der Erkenntnis. In Wahrheit kann jene Verbindung des Objektiven und Subjektiven, wie KANT sie beschreibt, überhaupt nicht rückgängig gemacht und auseinandergenommen werden. KANT begeht hier einen doppelten Fehler. Einmal vermengt er die rationale Konstrutkon von Raum und Zeit mit dem in der realen Wahrnehmung gegebenen Raum und der Zeit selber und subjektiviert infolgedessen mit jener auch diese. Andererseits begünstigt gerade die gröbere Auffassung von der metaphysischen Transzendenz und realen Kausalität der Dinge-ansich die Auffassung der "Materie der Empfindung" als einer gleichsam chaotischen formlosen Masse, die sich erst unter der Hand des Subjekts organisiert und zu einem bestimmten Erkenntnisinhalt wird. Es ist aber deutlich, daß diese Funktion des Subjekts sich nur auf die allgemeine Form der Erkenntnis, nicht den konkreten Inhalt in seiner Differenziertheit bezieht. Das tritt bei KANT nur deswegen zurück, weil die Frage nach dem Umfang und der Rolle der apriorischen Elemente das eigentliche Thema seiner Untersuchung bildet. Auch von hier aus wird deutlich, daß das Gegebensein und die Unableitbarkeit der "Materie der Empfindungen" ebenfalls nur einen wenngleich unzureichenden Ausdruck für denselben Gedanken darstellt, für den das "Affizieren" des transzendenten Dings-ansich eine noch unzureichendere Formulierung war. Hier wie dort ist der eigentliche Sinn die ideale Abhängigkeit des bestimmten Erkenntnisgehalts von der in der Erkenntnis erfaßten Wirklichkeit. So hebt KANT, wie auch RIEHL mit Recht betont, oft hervor, daß der bestimmte Gehalt der Wahrnehmung sich auf keine Weise antizipieren läßt (vgl. Kr. d. r. V., B 165) und daß in dieser Beziehung die Forderung eines allgemeinen Wahrheitskriteriums ungereimt ist (Kr. d. r. V., B 83). Mag man noch so stark die Aktivität und das schöpferische Moment des Subjekts betonen, deshalb bleibt der besondere Inhalt der Erfahrung doch etwas fest Gegebenes und taucht gewissermaßen in seiner Gesamtheit in dieses Medium ein.

Ich habe die paradoxen Ausdrücke, daß das Ding-ansich bei KANT "qualitativ" aufzufassen ist, daß es eine "formale" Bedeutung hat und der Erfahrung "immanent" gedacht wird, mit Absicht verwendet, um auf diesen oft übersehenen Tatbestand nachdrücklicher hinzuweisen. Das Ding-ansich ist in der Erfahrung gegenwärtig als deren Wirklichkeit; in anderer Bedeutung freilich ist es "transzendent", sofern es über das Bewußtsein des Erkennenden hinausliegt. Nur von hier aus werden die neuen und wertvollen Gedanken KANTs sowie der ganze Zusammenhang seiner Erkenntnislehre begreiflich. Daß im Übrigen auch KANT in den Fehler verfällt, an die Stelle der idealen Abhängigkeit der Erkenntnis von ihren Objekten eine reale zu setzen, bei welcher die Vorstellungen als Wirkungen einer äußeren Ursache erscheinen, ist bekannt genug. Ferner wendet KANT des Ausdruck "Ding-ansich" auch auf die absoluten, transzendenten Objekte der gemeinen Metaphysik und Religion an, auf Dinge, die ihrem Begriff nach über die Erfahrung hinaus liegen und darum nur Gegenstände einer hypothetischen, nicht-menschlichen Erkenntnis sein könnten (8). Von ganz anderer Art und Bedeutung ist aber die Rolle, welche das Ding-ansich nicht als hypothetischer Gegenstand einer hypothetischen Erkenntnis, sondern als das reale Substrat unserer tatsächlichen Erfahrung spielt.

Solange ich es mit der Erfahrung selber zu tun habe, taucht weder der Gedanke der Idealität der Erscheinungen auf noch der Korrelatbegriff des Dings ansich. Im täglichen Leben wie in den positiven Wissenschaften nehmen wir mit Recht die Dinge so, wie sie uns gegeben sind, als objektiv und real. An sämtlichen Hauptstellen, wo KANT den Begriff seines "transzendentalen Idealismus" entwickelt, fügt er hinzu, daß es sich dabei nur um die "kritische Erinnerung" handelt, die Erscheinungen nicht als etwas Absolutes zu betrachten, sondern als ein ideales Gebilde, an dessen Erzeugung das Subjekt selber Anteil hat. Im gewöhnlichen Leben aber und in der Praxis tue man recht, die äußeren Dinge so, wie wir sie kennen, als wirklich und selbstverständlich anzunehmen. (Kr. d. r. V., B 45, 332f, 524f; A 330); sie haben empirische Realität. Was die kritische Besinnung lehrt, ist nicht, daß wir die Dinge idealisieren sollen, sondern daß wir das Erkenntnisgebilde, in dem wir die Dinge erfassen, als zugleich abhängig von uns und als schöpferisches Erzeugnis unseres Geistes anzusehen haben. Der "transzendentale Idealismus" will und kann nicht der Erfahrung Konkurrenz machen; er ist ein Urteil über die Gesamtheit der Erfahrung, das an den Einzelheiten nichts ändert. Nicht ein neues Gebiet von "Dingen ansich" soll aufgetan werden jenseits des Bereichs der Erfahrung, sondern derselbe Tatbestand soll von zwei Seiten aus betrachtet werden. Die Kritik lehrt, "das Objekt in zweierlei Bedeutung nehmen;" (Kr. d. r. V., B XXVII) sie fordert, daß der "Gegenstand der Erscheinung von ihm selber als Objekt ansich unterschieden wird;" (Kr. d. r. V., B 69) die Scheidung ist eine begriffliche, keine reale. Der Dualismus aber und die Transzendenz, die in der Tat bestehen bleiben, sind das Auseinanderfallen von Sein und Erkenntnis. Stehe ich in der konkreten Erfahrung darin und den Dingen gegenüber, so nehme ich sie selbstverständlich als real. Stelle ich mich aber in Gedanken außerhalb der bestimmten Einzelerfahrung auf einen [höheren - wp] Standpunkt, wo sowohl die zu erkennenden Dinge als auch die erkennenden Subjekt mir gegenüberstehen, so sehe ich, daß zwar beide einer Wirklichkeit angehören, daß aber die Art, wie beide in der Erfahrung gegeben sind, nicht absolut genommen werden darf. Dieses Erkennen ist kein empirisch gebundenes, auf die konkreten Einzeldaten bezügliches, sondern das Entwerfen einer allgemeinen Theorie, in diesem Fall des kritischen, formalen Idealismus. Jenes ist der Standpunkt des täglichen Lebens und der Einzelwissenschaften, dieses der Philosophie. Der Gedanke des zugrundeliegenden "Dings ansich", das "ohne Zweifel zu tief verborgen" liegt (Kr. d. r. V., B 334), verliert seine Fremdheit und mythologische Art, wenn man bedenkt, daß auch das erkennende Subjekt unter ihm begriffen ist. Seine Annahme soll und kann die Geschlossenheit der Erfahrung nicht stören, fällt vielmehr nur ein Urteil über die Gesamtheit der Erfahrung.

Und nun stellt sich, um einen kantischen Ausdruck aus einem anderen Zusammenhang auch hier anzuwenden, eine schwer zu vermeidende Täuschung ein, eine unvermeidliche Jllusion, die es zu entlarven gilt.

Wenn man nämlich von der Wirklichkeit der materiellen Dinge und psychischen Vorgänge, zugleich aber von eine "Ding-ansich" redet, so verdoppelt man unwillkürlich das Sein, als würde es ein ursprüngliches und abgeleitetes geben. Indessen das Sein ist einfach und eindeutig; es kann nicht gesteigert oder doppelt gesetzt werden. Man begeht den Fehler, den Standpunkt des täglichen Lebens und den der Philosophie miteinander zu vermengen. Von jenem, der die äußeren Gegenstände unmittelbar als real nimmt, kommt man her und behält dessen Voraussetzung auch beim Übergang zu einem kritischen, philosophischen Standpunkt bei, ohne zu bedenken, daß hier eben jener Gedanke der Objektivität im Begriff des "Dings-ansich" zum Ausdruck kommt; daß das einheitliche Objekt der naiven Auffassung auf dem kritischen Standpunkt in "Ding-ansich" und "Erscheinung" auseinanderfällt.

Ebenso wenn man erkennt, daß die besondere Qualität, in der wir die Dinge erkennen, mit unserem eigenen Ich unlösbar verknüpft und ein Erzeugnis der schöpferischen Tätigkeit unseres Geistes ist, so stellt sich gleich die Forderung ein, erkennen zu wollen, wie denn die objektive Wirklichkeit nun beschaffen ist nach Abzug dieses subjektiven Anteils; eine Forderung, die offenkundig unerfüllbar und sinnlos ist.

Auf diese falsche Frage werden nun nach verschiedenen Richtungen hin falsche Antworten gegeben. Zuerst gibt es die richtige Voraussetzung, daß uns nur die Erscheinungen bekannt sind. Daran knüpft man nun die falsche Folgerung, daß also das "Ding-ansich" unbekannt, dunkel, geheimnisvoll ist; während in Wahrheit der produktive Charakter im Wesen aller Erkenntnis liegt und die Forderung eines völligen Zusammenfalls von Sein und Erkenntnis sinnlos ist. Daß man in anderer Beziehung auch vom rezeptiven, bzw. dualistischen Charakter der Erkenntnis zu reden hat, widerspricht dem nicht. Die subjektive Form ist es, die wir in die Erfahrung hineinlegen; dem besonderen Gehalt nach aber hat alle Wissenschaft lediglich analytischen Charakter und ist an das Gegebene gebunden.

Weiter ist es durchaus richtig, den vernunftmäßigen, schöpferischen Charakter unserer Erkenntnis zu betonen, die mehr als ein bloßes totes Abspiegeln ist. Nun aber kommt die falsche Folgerung, daß die Wirklichkeit selber, da die Synthese aus dem erkennenden Subjekt stammt, folgerichtig als unlogisch, chaotisch, unvernünftig, ohne Synthese und Zusammenhang sein muß.

Oder der sinnliche Charakter unserer Erkenntnis wird hervorgehoben, woraus dann der nichtsinnliche Charakter der Dinge selber gefolgert wird, als sei die Wirklichkeit zeitlos und unräumlich und werde nur in der sinnlichen Erfahrung so gewissermaßen ausgedehnt und auseinandergezogen.

Von dieser fehlerhaften Verdoppelung findet sich auch bei KANT noch ein Rest, wenn er vom "Ding-ansich" sagt, es sei uns "ohne Zweifel zu tief verborgen", "ein bloßes Etwas, wovon wir nicht einmal verstehen würden, was es ist, wenn es uns auch jemand sagen könnte" (Kr. d. r. V., B 333f). Bei ihm stehen diese Begriffe aber so auf der äußersten Grenze, daß sie keinen Schaden anrichten und die positiven erkenntnistheoretischen Grundgedanken nicht trüben können. Der erkenntnistheoretische Optimismus und die Bejahung der empirischen Erkenntnis bildet den Grundzug der kantischen Lehre, vor einer Hypostasierung [Vergegenständlichung - wp] und positiven Bestimmung des Dings-ansich hütet er sich streng. Allen Versuchen synthetischer Konstruktion der Welt steht er gänzlich zurückhaltend gegenüber und bescheidet sich bewußt mit einer Philosophie des Gegebenen. Er nimmt die differenzierte mannigfaltige Welt einfach als gegeben hin, ohne das principium individuationis mit SCHOPENHAUER erst in Raum und Zeit zu erblicken. Er macht selbst keinen Versuch, die innere und äußere Erfahrung, Psychisches und Physisches auseinander abzuleiten und nimmt beide Gebiete empirisch in ihrer Verschiedenheit einfach als gegeben hin.

Jenen verfehlten Versuchen gegenüber gilt es zu begreifen, daß weder das Verdoppeln des Seins noch des Erkenntnisbildes einen Sinn hat. Vielmehr handelt es sich um etwas Einmaliges und Einzigartiges. Die Tatsache und Möglichkeit der Erkenntnis ist so sehr ein Letztes, daß alle Versuche des Zerlegens und Erklärens sie nicht auflösen und begreiflich machen können, sondern im Gegenteil nur Schwierigkeiten schaffen. Erkenntnis ist als solche stets etwas Ideales, ein Gelten, kein Sein. In ihm erlebt der Geist nicht weniger als im praktischen Handeln seine schöpferische Tätigkeit und ist gleichwohl in der Besonderheit des Einzelnen von der vorgefundenen Wirklichkeit bestimmt. Alles Reden von einer hypothetischen nichtmenschlichen oder nichtsinnlichen Erkenntnisart, wie alles Bezugnehmen auf eine über die empirisch gegebene noch hinausliegende hypothetische metaphysische Wirklichkeit kann am Ende ernsthaft doch nichts anderes bedeuten als eine Charakterisierung der uns allein möglichen Erkenntnis, bzw. der uns gegebenen Wirklichkeit in ihrer Eigenart.


4. Der Begriff "Erscheinung"
in der neueren Philosophie

Der Begriff "Erscheinung" ist unter den in der Philosophie meist gebrauchten Ausdrücken wie Natur, Subjekt, Wahrheit usw. wohl derjenige, bei dessen Verwendung am meisten Unklarheit und Verwirrung herrschen. Das Wort "Erscheinung" ist durch seine Verwendung in ganz verschiedenen Systemen geschichtlich stark belastet. Die Irrtümer und Verwirrungen bei diesem wie bei ähnlichen Ausdrücken entspringen vor allem daraus, daß ihr Inhalt als allzubekannt und allgemein geläufig angesehen wird. Man hält sich an das Wort und beachtet nicht, daß unversehens und unbemerkt unter der Hand sich eine neue Bedeutung einschleicht.

KANT hat den zumal in der antiken Philosophie vielgebrauchten Ausdruck von der LEIBNIZ-WOLFFschen Schule übernommen, wo die Körper "phaenomena bene fundata" sind, objektive Erscheinungen einer geistigen Welt von Monaden.

KANT selber hat aber diesen Begriff ganz anders gewandt. Er verzichtet durchauf aus eine positive Bestimmung der erscheinenden Dinge selber und denkt nicht daran, die Wirklichkeit idealistisch in geistige Wesen aufzulösen. Er läßt den Dingen ihre volle Wirklichkeit und behauptet nur, daß wir diese Wirklichkeit nur unter gewissen Formen zu erkennen vermögen; und dieses subjektive Bild der Dinge, wie es in unserer Erkenntnis vorliegt, trägt bei KANT also LEIBNIZ gegenüber einen ausgeprägt subjektiven Charakter.

Für die Verwendung des Begriffs in neuerer Zeit, zumal bei den Neukantianern, ist es bezeichnend, daß er selbständig genommen wird und ohne Beziehung auf den Korrelatbegriff des "Dings-ansich", welche bei KANT selber durchaus grundlegend ist. Da man nämlich mit der gröberen transzendenten Ding-ansich-Auffassung KANTs nichts anfangen kann, so verwirft man den Begriff überhaupt oder läßt ihn allenfalls wie F. A. LANGE und HERMANN COHEN als Grenzbegriff gelten. Man hält sich bei KANT an die allgemeine psychologische Bestimmung des Begriffs, die der Philosoph zu Beginn der transzendentalen Ästhetik (Kr. d. r. V. 34) gibt, Erscheinung sei "der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung". Da nun nach der transzendentalen Logik der Begriff des Objekts erst durch die begriffliche Arbeit der Kategorien aufgebaut wird, so tritt dieser Begriff des Objekts an die Stelle des realen Dings-ansich. Auf diese Weise glaubt man einerseits die Schwierigkeiten des Realismus zu vermeiden und andererseits durch eine Betonung des logischen, begrifflichen Moments doch dem materialen, psychologischen Idealismus zu entgehen.

Daß dieser Versuch ebensowenig den Grundgedanken KANTs entspricht, als er sachlich gelungen erscheint, ist eine Hauptthese dieser Arbeit. Der Begriff der "Erscheinung" verliert ohne den Korrelatbegriff des "Dings-ansich" durchaus Sinn und Berechtigung; ihm ist die Doppelbeziehung zum Ich wie den Dingen wesentlich. Mit vollem Recht erklärt KANT mehrfach, es sei absurd, Erscheinungen anzunehmen ohne etwas, das in ihnen erscheint (Kr. d. r. V. XXVI-XXVII); und mit Unrecht hat man von jener Ansicht aus KANT vorgeworfen, er habe sich lediglich durch das Wort Erscheinung täuschen und zu dieser Annahme verführen lassen. Umgekehrt wäre es bei jener Auffassung ehrlicher und konsequenter, den Ausdruck "Erscheinung" aufzugeben, wie es LIEBMANN in der Tat vorschlägt. (Vgl. hierüber Vaihinger, Kommentar zur Kr. d. r. V. II, Seite 359):
    "Diejenigen Kantianer, welche den Begriff des Dings-ansich als widerspruchsvoll erkennen und verwerfen, mußten naturgemäß auch den Korrelatbegriff der Erscheinung verwerfen und vermeiden. Diese lobenswerte Konsequenz haben indessen nur wenige zu ziehen den Mut gehabt. Am schneidigsten geschah dies seitens Liebmann, Kant und die Epigonen, Seite 27: »Kant nennt die in Raum und Zeit gegebene Mannigfaltigkeit von Datis der inneren und äußeren Erfahrung: Erscheinung. - Wie kommt er darauf? Was berechtigt ihn dazu? Die Welt darf und muß sich diesen Titel verbitten, denn sie wird durch ihn ihrer Dignität, der ihr zugestandenen empirischen Realität, d. h. Wirklichkeit, verlustig. In dem Titel: Erscheinung würde offenbar das liegen, daß etwas vorausgesetzt werden soll, was erscheint.«"
Der Unterschied dieses neukantischen Erscheinungsbegriffs vom kantischen entspricht dem der beiden Grundmotive der kantischen Erkenntnislehre, dem allgemeinen Bewußtseinsphänomenalismus einerseits, nach welchem das im Bewußtsein Gegebene im Unterschied von den Dingen selber als Erscheinung bezeichnet wird, der Gegenüberstellung von Form und Stoff der Erkenntnis andererseits, nac der das formlos sinnlich Gegebene vor der Bearbeitung durch den Intellekt, gewissermaßen das Rohmaterial der Erkenntnis, Erscheinung genannt wird. Nur kann im System KANTs die Unterscheidung von Form und Stoff der Erkenntnis, die ganz auf dem Gebiet der Erkenntnispsychologie liegt, auf keine Weise für die Unterscheidung der idealen Erkenntnis von den realen Dingen eingesetzt werden; beide Motive vertragen und ergänzen sich vielmehr.

VAIHINGER unterscheidet bei KANT eine Verwendung des Ausdrucks Erscheinung in "neutraler" und eine in "prägnanter" Bedeutung; nach der ersteren ist Erscheinung "der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung"; nach der letzteren der Gegensatz zum "Ding ansich", von KANT selber als "transzendentaler Begriff der Erscheinung" bezeichnet. Zur ersteren Bedeutung bemerkt VAIHINGER (Kommentar II, 35):
    "Diese Definition ist in Anbetracht gerade dieser Hauptfrage noch ganz neutral, sie ist rein psychologisch, und läßt es noch ganz unentschieden, welchen erkenntnistheoretischen Wert denn nun dieser Gegenstand einer empirischen Anschauung haben soll, - ob wir in ihm den Gegenstand selbst ergreifen, wie er wirklich ist, ob nur ein, wenn auch treues, Abbild desselben, ob überhaupt kein Bild, sondern eine ganz heterogene [ungleichartige - wp] Wirkung desselben in uns usw."

    "Auch die neuere philosophische Sprache bedient sich des Ausdrucks Erscheinung in diesem neutralen Sinn mit Vorliebe; sie spricht von den physischen und psychischen Erscheinungen, ohne damit weiter sagen zu wollen, als was Kant hier als Gegenstand der empirischen Anschauung bezeichnet." (a. a. O.)
Nimmt man der "Erscheinung" das Korrelat, das "Ding-ansich", so wird unausweichlich die "Erscheinung" selbständig, und man hat nun die Wahl, sich auf die Seite des Subjekts oder Objekts, des Psychischen oder Physischen zu schlagen. Auf der einen Seite nimmt man Erscheinungen als äußere materielle Dinge im Sinne des objektiven Realismus, was durch den geläufigen Ausdruck "Naturerscheinungen" begünstigt wird; auf der anderen Seite faßt man die Erscheinungen als psychisches Geschehen auf und bezeichnet mit diesem Ausdruck all psychischen Inhalte im Gegensatz zum Physischen. Oder endlich man bezeichnet als Erscheinungen letzten neutrale "Elemente", die sowohl das Psychische wie das Materielle in sich schließen und mehr oder weniger nach der einen oder anderen Seite hin gedeutet werden können. Sind Materialismus und Spiritualismus sonst Gegensätze, so fließen sie hier ineinander über; die äußersten Gegensätze berühren sich, bzw. gehen ineinander über. Von diesem Gesichtspunkt aus gehören die mannigfachen Bildungen und Nuancen des modernen Positivismus, so sehr sie sich in Einzelheiten und allgemeiner Stimmung der Betrachtung unterscheiden mögen, eng zusammen, der "Korrelativismus" von LAAS, die "immanente Philosophie" von SCHUPPE, von SCHUBERT-SOLDERN, REHMKE u. a. der "Empiriokritizismus" von AVENARIUS, der "Psychomonismus" und Empfindungsmonismus von VERWORN und MACH usw. Auf diese allgemeinen "Bewußtseinsdaten werden nun Bestimmungen angewandt, welche man sonst nur entweder dem Psychischen oder dem Physischen beizulegen pflegte, und der abgschliffene Ausdruck "Erscheinung" begünstigt es, daß Voraussetzungen beibehalten werden, die eigentlich nur einem von dem eigenen ganz verschiedenen Standpunkt angehören (9).

Weiter verbindet sich im täglichen Leben mit dem Begriff der "Erscheinung" oft die Bedeutung des Bekannten, Offenbarten, Gegebenen, im Unterschied von einem Unbekannten, Verborgenen, das nicht gegeben ist und von einer unkritischen Auffassung, wie COMTE sie als die zweite, metaphysische Erkenntnisstufe beschreibt, als die unsichtbare Ursache des Gegebenen angenommen, bzw. erdichtet wird. Die Erscheinungen sind Wirkungen, Äußerungen oder Symptome einer unbekannten "Ursache" oder eines "Wesens". Und nun erscheint es selbstverständlich, auch hier die alte Regel anzuwenden, daß man nicht, um Bekanntes zu erklären, zu Unbekanntem, zu verborgenen Kräften oder Vermögen seine Zuflucht nehmen darf, sondern vielmehr beim Gegebenen stehen zu bleiben hat.

Eine Einteilung und Übersicht über die verschiedenen Verwendungen von "Erscheinung" erhält man am besten durch die Anwendung der beiden sich kreuzenden Unterscheidungen, einmal, ob man "Erscheinung" in seiner Korrelation zum "Ding-ansich" nimmt oder einfach und selbständig, sodann ob man den Begriff erkenntnistheoretisch faßt oder seinsphilosophisch, metaphysisch. Nimmt man die Korrelation erkenntnistheoretisch, so erhält man den Bewußtseinsphänomenalismus KANTs, der die Erscheinungen als ideale Erkenntnisgebilde auffassen lehrt, in denen wir die Dinge selber fassen. Nimmt man den einfachen Begriff Erscheinung erkenntnistheoretisch, so erhält man die in den neukantischen Richtungen verbreitete Bedeutung von dem der Anschauung gegebenen Erkenntnismaterial, vor seiner Formung und Bearbeitung durch den Verstand. Die Tätigkeit der Wissenschaft ist "Objektivierung der Erscheinungen". Es handelt sich dann nur um eine Charakteristik der verschiedenen Formen, bzw. Stufen der Erkenntnis. Man treibt, ohne dies freilich immer selbst zugeben zu wollen, lediglich Erkenntnispsychologie.

Auf der anderen Seite steht die metaphysische, seinsphilosophische Fassung des Begriffs. Nimmt man hier die Beziehung zum Ding-ansich, so ergibt sich ein doppeltes Sein, ein wahres, ursprüngliches, und ein sekundäres, abgeleitetes. Diese Auffassung verbindet sich gern mit religiösen und christlichen, bzw. platonischen Vorstellungen von der Eitelkeit und Vergänglichkeit der sichtbaren Welt im Gegensatz zur Unvergänglichkeit des Überirdischen und Ewigen. Auch der statische Monismus und Pantheismus, der zwar theoretisch von großer Armut und Unklarheit ist, aber auf gefühlsmäßig idealistisch und religiös veranlagte Gemüter eine ungeheure Anziehungskraft ausübt, gehört hierher. Er sieht in aller Vielheit die letzte Einheit, in aller Veränderung das Unveränderliche, in allem Zeitlichen das Ewige. Das Werden und die Mannigfaltigkeit der Dinge sind nur Schein, die Zeit ist nur eine trübende, verhüllende Wolke. Irrtümlich hat man auch KANTs Lehre so ausgelegt. Ist nämlich nach KANT die Materie Erscheinung, so überträgt man die kompaktere Vorstellung der materiellen Welt auf den Erscheinungsbegriff, anstatt umgekehrt die Vorstellung des Materiellen idealistisch aufzulösen. So ergibt sich jener wunderliche Begriff von Erscheinung, mit dem man die Vorstellung eines Seins verbindet, eine sogenannte "objektive Erscheinung", d. h. ein sekundäres, abhängiges Sein, sei es, daß es kausal vom Ding-ansich abgeleitet wird oder daß es als Manifestation und äußere Darstellung eines inneren "Wesens" der Dinge gilt. Dieses Innere selbst, das Wesen ist verborgen; wir halten uns an seine Erscheinung, die materielle, sinnliche Welt, an den "farbigen Abglanz", den "Schleier der Maja".
    "Solche deutliche Erkenntnis und ruhige, besonnene Darstellung dieser traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt ist eigentlich die Basis der ganzen kantischen Philosophie, ist ihre Seele und ihr allergrößtes Verdienst."
In diesem Urteil spricht SCHOPENHAUER (Kritik der kantischen Philosophie, Werke, Bd. 1, Ausgabe Griesebach, Seite 537) diese Auffassung aus, die er in bekannten Religionen und Philosophien, vor allem aber in der Lehre KANTs wiederfindet; doch muß hinzugefügt werden, daß andere Stellen bei SCHOPENHAUER eine Auslegung verlangen, die dem genuinen Sinn der kantischen Lehre weit näher steht. Das Verfehlte jener metaphysischen Fassung des Gegensatzes von Erscheinung und Ding-ansich liegt nämlich darin, daß innerhalb des Seins eine Spaltung vorgenommen wird. Der Begriff des Seins ist in Wirklichkeit aber eindeutig und kann weder gesteigert noch vermindert werden. Es kann nicht etwas in höherem Grad "sein" als ein anderes, ebenso wie eine Aussage, bei der es sich um Wahrheit handelt, nur entweder wahr oder nicht wahr, dagegen nicht mehr oder weniger wahr sein kann als eine andere.

Läßt man aber das metaphysische Substrat weg, weil man die erkenntnistheoretische Unfruchtbarkeit dieser, wenngleich gefühlsinnigen Mystik durchschaut, so kommt man beim einfachen Erscheinungsbegriff an, der nun selbständig ist und entweder, die Rolle des "Dings-ansich" übernehmend, objektiv und materiell, oder in Anlehnung an den subjektiven Charakter des früheren, auf das "Ding-ansich" bezüglichen Erscheinungsbegriff als psychisches Sein bestimmt werden kann. Daneben steht die schon erwähnte "neutrale" Auffassung des Positivismus, sowie die monistische Erkenntnislehre WILHELM WUNDTs, welche hinter den Gegensatz von Physischem und Psychischem, Objekt und Subjekt zurückzugehen sucht. Nimmt man die selbständigen Erscheinungen als materielle Wirklichkeit, so langt man beim naiven Realismus an. Der Kreislauf ist zurückgelegt; man steht wieder da, wo KANT angefangen hatte. Die Sinnendinge sind das Reale; ob man sie noch "Erscheinungen" tauft oder nicht, ist gleichgültig und ändert nichts an ihrem Charakter. Endlich bleibt noch der Weg, die selbständigen Erscheinungen metaphysisch nach der idealen Seite zu nehmen, also als psychische Vorstellungsrealität. Dies ist der Standpunkt von LEIBNIZens Monadologie, der auch vielfach von Kantianern unter entsprechender Umdeutung der kantischen Ausdrücke vertreten worden ist. Für KANT selber war besonders die metaphysische, idealistische Verflüchtigung der materiellen Welt das Anstößige an dieser Lehre; ja selbst der "skeptische Idealismus", die Ungewißheit über die Realität der Außendinge, erschien ihm als ein "Skandal der Philosophie". Es ist daher ein kräftiges Mißverstehen, wenn man gemeint hat, KANT habe diesen skeptischen, methodischen Idealismus vom Standpunkt des materialen metaphysischen Idealismus aus bestritten. Der letztere steht ihm vielmehr noch weit ferner. Er behauptete vielmehr aufgrund eines erkenntnistheoretischen Idealismus einen metaphysischen Realismus.

Eine besondere Stellung nimmt WILHELM WUNDT ein. Er verwirft KANTs Erscheinungsbegriff von verschiedenen Seiten aus. Einmal nimmt er ihm als eine Art Sein, eine "Art relativer Wirklichkeit" ()(System der Philosophie, Bd. 1, Seite 91, 260) und insofern als eine Halbheit, einen Versuch, dem konsequenten Subjektivismus auszuweichen; andererseits findet er den Begriff des "Dings-ansich" widersprechend und damit auch den Korrelatbegriff "Erscheinung" unhaltbar. Dennoch hält er den letzteren fest und gibt ihm ein neues Korrelat, nämlich die Wirklichkeit, wie sie sich nach der Berichtigung der Wahrnehmungserkenntnis durch die wissenschaftliche Bearbeitung herausstellt.
    "Der wahre Gegensatz zur Erscheinung ist daher nicht ein für uns für immer unerkennbar bleibendes Ding-ansich, sondern die Wirklichkeit, auf deren Erkenntnis alle Bearbeitung unserer unmittelbaren Erfahrung gerichtet ist." (Philosophische Studien VII, 45)

    "Diese Vertauschung des wahren Gegensatzes Erscheinung und Ding-ansich halte ich für einen der schwersten Fehler der kantischen Philosophie." (a. a. O., 46)
Diese Verwerfung des Dings-ansich sowohl in jenem Sinn, in welchem es seinem Inhalt nach schon bestimmt ist (als Seele, Gott usw.) und seinem Begriff nach das Gebiet der Erfahrung überschreitet, als auch in der unklaren und fehlerhaften Wendung eines richtigen Grundgedankens, der Vorstellung nämlich, daß ein hinter der Erfahrung liegendes Etwas die reale Ursache der Erscheinungen ist, ist in der Tat berechtigt und notwendig. Dagegen ist der eigentlich positive Sinn des Dings-ansich und seiner Beziehung zu den Erscheinungen ein anderer. Das Ding-ansich ist die "Wirklichkeit", die wir im idealen, daseinsfreien Gebilde der Erscheinungen fassen. Es ist zwar dem Bewußtsein "transzendent", aber der Erfahrung "immanent". In dem transzendere zu ihm besteht alle Erkenntnis. WUNDT nimmt Erscheinung also einerseits in erkenntnispsychologischem Sinn, als eine primitive Erkenntnisstufe im Gegensatz zu einer entwickelteren; andererseits bedeutet bei ihm das unmittelbar Gegebene doch mehr als bloß etwas Psychisches; es liegt über den Gegensatz von Objekt und Subjekt hinaus, wie ja auch die wissenschaftliche Erkenntnis bei ihm auf ein reales Objekt geht. Aber diese Mittelstellung, diese eigenartige Synthese von Realismus und Idealismus, die WUNDT postuliert, ist doch äußerst unbestimmt und kaum vollziehbar. Der eigentliche Grund dafür ist die Verkennung des Verhältnisses von Erkenntnis und Sein. Es war der große grundsätzliche Fehler, die ideale, erkenntnistheoretische Beziehung mit einer realen, metaphysischen zu verwechseln, wenn einerseits LOCKE einen realen Einfluß der Dinge auf das Subjekt lehrt, andererseits LEIBNIZ ein metaphysisches Sein der Vorstellung in der Monade annimmt, oder wenn endlich LOTZE die Erkenntnis unter den Allgemeinbegriff der realen Wechselwirkung bringt (Logik von 1874, Seite 513f). Es ist im Grunde der gleiche Fehler bei WUNDT, das Verkennen der unaufhebbaren, in der Erkenntnis aber stets überschritten werdenden Kluft von Sein und erkennendem Bewußtsein. Man meint das "transzendere" vermeiden und alles auf einer Ebene haben zu müssen, dabei aber wird der dualistische Charakter aller Erkenntnis verkannt und der erkenntnistheoretische Gesichtspunkt mit dem metaphysischen verwechselt.
LITERATUR - Erich Franz, Das Realitätsproblem in der Erfahrungslehre Kants, Berlin 1919
    Anmerkungen
    6) Nimmt man das Daß des Erkennens seiner praktischen Seite nach, so hat es einen guten Sinn, von der Kausalität der Dinge auf uns zu reden. Die Dinge, bzw. die Eindrücke "bestürmen" uns, oft mehr, oft weniger. Es scheint, daß Kant dieses Moment, analog auch bei der Aktivität des Bewußtseins, mit im Auge gehabt hat. Nur muß es selbstverständlich vom Problem des Erkenntnisinhalts durchaus getrennt werden.
    7) So urteilt Vaihinger, Straßburger Abhandlungen, Seite 119f: Wenn Kant sich hier gegen den "dogmatischen Idealismus" wendet, der sich auf die Materie bezieht, so sei er im hellsten Unrecht. Das sei vielmehr sein eigener, ihm im wesentlichen mit Berkeley wie mit Leibniz gemeinsamer Standpunkt. Daher findet Vaihinger grelle Widersprüche bei Kant in demselben Gedankenzusammenhang, ja demselben Satz (!). Kant habe sein Versprechen, diesen dogmatischen Idealismus zu widerlegen, nicht gehalten, und zwar deshalb, weil er es nicht habe halten können. Meines Erachtens ist diese Gesamtauffassung nicht richtig. Die von Kant versprochene und von Vaihinger vermißte Widerlegung des dogmatischen Idealismus findet sich genau an der von Kant bezeichneten Stelle und in der ebenda geforderten Weise: die zweite Antinomie behandelt und widerlegt den monadologischen Standpunkt, der den Begriff einer objektiven materiellen Welt widersprechend findet. Daß aber Kant bei der Behandlung der Paralogismen im entscheidenden Punkt auf der Seite von Leibniz steht, ist meines Erachtens nicht richtig. Bei Leibniz wird die Idealität des Raumes in objektiver Weise abgeleitet und bestimmt: die realen Substanzen sind unkörperlich. Bei Kant dagegen handelt es sich um die subjektive Idealität, die Bewußtseinsgegebenheit. Der Raum ist sozisagen eine subjektive Perspektive, in der das Subjekt die objektiven Dinge erfaßt. Vgl. auch Ristitsch, "Die indirekten Beweise des transzendentalen Idealismus", 1910, Seite 18 und 19. - Die in Kants Opus posthumum anklingende fichtesche Konstruktion, daß die materielle Welt einerseits eine Vorstellung des transzendentalen Ich sein soll, zugleich aber das empirische Ich affiziert, kann nicht als die für Kant charakteristische Meinung gelten, sondern nur als eins der mancherlei möglichen krausen Nebenprodukte, wie sie sich bei einer Festhaltung der fehlerhaften Ableitung und Bestimmung des Dings-ansich ausspinnen lassen.
    8) Dieser Verwendung wird Vorschub geleistet dadurch, daß Kant dem "Ding-ansich" nicht das "Ding-für-uns" oder die "Wirklichkeit-für-uns" gegenüberstellt, sondern den Ausdruck "Erscheinung" = Phänomenon = "Sinnenwesen" benutzt, der dann den Gegensatz zum Noumenon = "Verstandeswesen" nahelegt.
    9) Mit Recht spottet Stumpf (Zur Einteilung der Wissenschaften, Abhandlung der Berliner Akademie der Wissenschaften von 1906, Seite 18f) über den nutzlosen Pleonasmus [Doppelmoppel - wp] und vermeintlichen Tiefsinn der Ausdrucksweise, allen Gegenständen des Denkens in gleicher Weise den Index "Gedachtes" anzuhängen. Man möchte die Vorteile des Idealismus und Realismus verbinden und bestimmt den Idealismus daher so harmlos und farblos wie möglich, entleert und entwertet ihn aber am Ende völlig. Ebenso wie dem Begriff der "Erscheinung", der hier schließlich ein Name für "objektiver Gegenstand" wird, geht es dem Begriff des "Bewußtseins überhaupt", der dem psychischen Gebiet entnommen ist, aber so sublimiert wird, daß er nicht mehr die mindeste Beziehung zum Psychischen Hat, sondern nur allgemein "Gesetzlichkeit" oder "Zusammenhang" bedeutet. Damit soll nicht die Möglichkeit eines berechtigten und vernünftigen Gebrauchs dieses Begriffes bestritten werden.