cr-2tb-1E. KönigFrischeisen-KöhlerS. BryszJ. Baumann    
 

ERICH FRANZ
Das Realitätsproblem
in der Erfahrungslehre Kants


"Untersuchungen, die sich den Begriff des Seins in ausgesprochener Weise zum Problem machen, seinen Inhalt analysieren, ihn in Beziehung setzen zu den Begriffen  Erkenntnis, Werden, Gelten, Wert finden sich bei  Kant nicht. Er nimmt das Sein als letzten unauflöslichen Begriff, warnt vor der Verwechslung der kopulativen und prädikativen Verwendung der Vokabel  sein und erklärt das Sein für die absolute Position irgendeines sonstwie inhaltlich bestimmten Dings samt allen seinen Prädikaten. Am elementarsten kommt bei ihm das Bewußtsein von der Bedeutung des Realitätsproblems im Begriff des Dings-ansich zum Ausdruck."

 "Jacobi  erkennt nicht, daß die von  Kant ins Subjekt zurückgenommenen Erscheinungen nicht die Wirklichkeit selber bedeuten, sondern nur den Inhalt unserer Erkenntnis, der als solcher etwas Ideales ist. Daß aber dieser Inhalt sich nichtsdestoweniger auf eine Wirklichkeit bezieht, die mit der Erkenntnis  gemeint ist, das ist die selbstverständliche, von  Kant nie preisgegebene, aber den idealistischen Auslegungen seines Hauptwerks gegenüber in den  Prolegomena und der zweiten Auflage der  Kritik der reinen Vernunft mit berechtigter Schärfe geltend gemachte Voraussetzung."

"Wenn alle Erkenntnis auf Erscheinungen beschränkt wird, hinter denen ein prinzipiell und absolut unerkennbares Ding ansich liegend gedacht wird, so ist nicht einzusehen, welchen Wert die Annahme eines solchen Dings haben kann, bei dem weder über das  Daß noch das  Was, weder über das  Dasein noch über seine  Qualität das Allergeringste auszumachen ist. Es wäre eine sinnlose und völlig unberechtigte Annahme. Dieses dunkle Ding-ansich würde das Zauberwort für alle Rätsel bedeuten, die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, der Abgrund, in den alle Gegensätze unterschiedslos zusammenfallen, Geist und Körper, Freiheit und Natur, Teleologie und Mechanismus."


Vorwort

Die folgende Untersuchung möchte unter dem Gesichtspunkt des Realitätsproblems einen Beitrag zur Kritik der kantischen Philosophie liefern, freilich nicht einer von fremden Maßstäben ausgehenden, sondern einer immanenten Kritik, welche sich auf die Grundgedanken KANTs selber stützt und von da die unhaltbaren Ergebnisse ausscheidet. Einzig eine solche Kritik scheint mir auch angemessen und fruchtbar zu sein.

Als das feste Fundament, von dem auszugehen ist, betrachte ich zwei Grundgedanken:

Erstens  die "transzendentale Deduktion" in ihrer objektiven Fassung (1), welche ohne jede fremde Voraussetzung die Realität der Vernunftform und damit die Möglichkeit der Wissenschaft in einem strengen Sinn begründet; ferner in ganz analoger Weise auf dem Gebiet der Ethik und Religionsphilosophie die Auffassung, welche die Begriffe des Guten und Gottes allein aus der Vernunft ableitet. Beides entspricht sich auf das Genaueste.

Den Gegensatz bildet hier der  Positivismus  im Sinne HUMEs, welche die eigentümliche Dignität und objektive Gültigkeit jener Zusammenhang stiftende Begriffe leugnet, sie vielmehr im Theoretischen wie Praktischen lediglich als Erzeugnisse und Hilfsmittel empirischer Individuen ansieht. Dieser Positivismus zeigt sich verwandt mit dem mittelalterlichen  Nominalismus jene objektive Fassung der "transzendentalen Deduktion" dagegen dem  "Realismus",  sofern man darunter nur nicht konkrete Hypostasierungen [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] versteht, sondern die Anerkennung der objektiven Realität und Subsistenz jener allgemeinen Begriffe, welche in der Erfahrung Ordnung und Zusammenhang stiften und in der Moral und Religion durch die Reinheit ihres Vernunftursprungs Heteronomie und Aberglauben fernhalten. In den wichtigen Kantschriften COHENs und seiner Schule, RIEHLs sowie WINDELBANDs und RICKERTs, die sämtlich die subjektiv-idealistische Auslegung KANTs ablehnen, ist Wert und Recht jener objektiven Auffassung stark hervorgehoben.

Zweitens  sehe ich als Grundlage an KANTs  metaphysischen (2)  Realismus (3), der die Rückseite seines erkenntnistheoretischen Idealismus bildet und in der eigenartigen Erneuerung der alten Unterscheidung von "Erscheinung" und "Ding-ansich" zum Ausdruck kommt. Den Gegensatz bildet hier der metaphyhsische, materiale  Idealismus in welcher Form auch immer er auftritt. An diesem Punkt befinden sich die genannten Hauptrichtungen des Neukantianismus im Gegensatz zu KANT, mit Ausnahme von RIEHL (4), der mit allergrößtem Nachdruck und mit vollem Recht den Realismus der Dinge selber als die entscheidende Grundlage der kritischen Philosophie KANTs behauptet. So lebhaft ich RIEHL hierin zustimme, so wenig vermag ich ihm doch in seiner eigenen, bestimmteren Ausgestaltung jenes Realismus zu folgen. - KANT lehrt aufgrund eines Idealismus der Erkenntnis einen Realismus der Dinge selber, wobei man bei "Ding" oder "Sache" natürlich nicht an den Gegensatz zu "Person" denken und ebensowenig einen starren, mathematischen Substanzbegriff, der das Werden ausschließt, im Sinn haben darf. Die Dinge selber bedeuten vielmehr einfach die  Wirklichkeit KANTs Idealismus der Erkenntnis stützt und unterbaut den Realismus der Dinge. Sein Erstaunen und seine Abwehr gegenüber der Zumutung eines metaphysischen (seinsphilosophischen) Idealismus sind durchaus berechtigt. Die meisten neueren Anhänger KANTs verkennen den wesentlich  rezeptiven Charakter aller Erkenntnis.  Die Wahrheit einer Erkenntnis ist nichts Unabhängiges und Selbständiges, sondern besteht in der idealen Beziehung zu ihrem Gegenüber, sei dies ein ideeller Sachverhalt oder eine Wirklichkeit. Ebensowenig wie die immanente Konstruktion des allgemeinen Objektbegriffs in der "transzendentalen Analytik" in KANTs Sinn einen Ersatz für den Begriff der unabhängigen Realität bieten soll oder kann, ebensowenig kann der allgemeine, für die immanente Erkenntnischarakteristik wertvolle Begriff der Normalität die Beziehung auf das für die Wahrheit der Erkenntnis konstitutive, sei es ideale oder reale Gegenüber ersetzen. Daß alle Objekterkenntnis in logische Kategorien eingebettet ist, beweist ebensowenig dagegen wir der Hinweis auf die stetige Korrelation von Objekt und Subjekt. Das "Objekt", welches Gegenstand der Erkenntnis und in ihr gegenwärtig ist, ist begrifflich durchaus verschieden von einem Objekt, das "objektiv" tatsächlich da ist und Gegenstand der Erkenntnis sein kann oder auch nicht. Ebensowenig hilft der Hinweis auf die bekannten Mängel der sogenannten Abbildungs- oder Abspiegelungstheorie. Jene Beziehung der Erkenntnis auf ein unabhängiges Gegenüber fällt mit der Abbildungstheorie, deren Verkehrtheit uneingeschränkt zugegeben wird, durchaus nicht zusammen. Eben das ist der Fehler jener Betrachtungsweise, daß sie den  Begriff des "Dings-ansich" zu grob und niedrig ansetzt  und dann hinterher nichts mit ihm anfangen kann. Ich verweise hier auf den grundlegenden Abschnitt weiter unten: Das Ding-ansich innerhalb der Erfahrung. In diesem Abschnitt habe ich in die Verwirrung, welche bei der Verwendung des Ausdrucks  Erscheinung"  herrscht, Klarheit zu bringen versucht.

Neben diesen beiden Grundkonzeptionen KANTs finden sich nun allerlei  Nebenprodukte  mannigfachen Ursprungs. Für eine immanente Kritik ist es erschwerend, daß KANT in seiner Darstellung die verschiedenen Konzeptionen vielfach auszugleichen und die Nähte zu überspinnen versucht hat. Andererseits ist eine starke Hilfe die für KANT persönlich charakteristische imponierende Wahrhaftigkeit und intellektuelle Redlichkeit, welche "zuletzt die eigenen Produkte nicht mehr verschont" und auch vor Widersprüchen und Paradoxien nicht zurückschreckt. Die neuere Kantliteratur, zumindest soweit sie den Leistungen KANTs gerecht wird, neigt vielfach zum Fehler einer tendenziös apologetischen Auslegung seiner Schriften. Dadurch aber werden die Probleme verschleiert und die Selbständigkeit des eigenen Denkens, worauf doch am Ende alles ankommt, gehemmt. So sehr ich daher jene wertvollen Grundgedanken KANTs festhalte und in helles Licht zu rücken suche, so offen erkenne ich an, daß geschichtlich bei KANT eine Reihe von Nebenprodukten vorliegen, welche die Klarheit des Ganzen trüben und in ihr Konsequenz zu völlig anderen und selbständigen Gedankensystemen führen. Dahin gehört die Lehre vom  transzendenten Ding an sich,  das durch seine Kausalität die Erscheinungen verursacht; dahin der "Kantianismus vulgaris", den man als  dogmatischen Agnostizismus  bezeichnen kann und der in VAIHINGERs "Philosophie des Als-Ob" so glänzend als Kompromiß und Halbheit entlarvt worden ist, die Auffassung nämlich, welche das "Wesen" der Natur in ein undurchdringliches Dunke hüllt und auf religiösem Gebiet die Objekte des Glaubens zuerst hypostasiert und dann für geheimnisvoll und unerkennbar erklärt. Schließlich die Subjektivierung der Vernunft, wie sie in neuerer Zeit von VAIHINGER wie von den verschiedenen Richtungen des  Positivismus  und  Pragmatismus  vertreten wird.

Ich habe mich bemüht, die Nähte aufzulösen und die einzelnen Gedankenzusammenhänge möglichst sauber und geschlossen für sich herauszustellen. Kein Kundiger wird es hier für überflüssige Spielerei und Scholastik halten, wenn ich den einzelnen Wurzeln und Formen des kantischen Phänomenalismus nachgehe und zur deutlichen Unterscheidung verschiedene Ausdrücke für sie präge. So ist die allgemeine Relation der Erkenntnis auf das Bewußtsein streng zu unterscheiden von der speziellen auf die  Vernunft.  Die Vernunftelemente der Erkenntnis haben sozusagen eine  doppelte  Subjektivität, und  ein  Phänomenalismus ruht auf dem anderen. Nur  deshalb  kann der Verstand der "Natur" ihr Gesetz vorschreiben, weil diese Natur etwas Ideales ist. Wiederum liegt jener allgemeine "Bewußtseinsphänomenalismus" in einer doppelten Form vor, einer positiv-objektiven, nach welcher in den Erscheinungen die Dinge selber zum Ausdruck kommen, wenngleich in bestimmter Modifikation, und einer skeptischen, negativ-subjektiven, welche auf dem Begriff der Schranke, der gleichsam mathematischen Abgegrenztheit des Bewußtseins beruth, auf dem Begriff der Monade, die keine Fenster hat. Ebenso gibt es bei der Unterscheidung von Form und Stoff der Erkenntnis eine positiv-objektive und negativ-subjektive Fassung.

Soweit es sich im folgenden um eine  Darstellung  der kantischen Lehre handelt, werden die großen neueren Arbeiten über KANT vorausgesetzt, auf theoretischem Gebiet die von COHEN, RIEHL, VAIHINGER, PAULSEN, VOLKELT usw. Von Belegstellen aus KANT sind nur die am meisten charakteristischen angeführt; und nur an den für die Gesamtauffassung wichtigen Punkten wird ausführlicheres Material beigebracht. Es liegt ja für jeden Kenner der kantischen Schriften klar zutage, daß man ohne eine energische systematische Durchdringung und ohne Berücksichtigung der Gegeninstanzen mit einzelnen KANT-Stellen so ziemlich alles belegen kann, was man will. Daß die folgende Darstellung vielfach sehr knapp ist und gedrängt, wird Lesern, die nicht gründlich in KANT eingearbeitet sind, zu Beginn vielleicht das Verständnis erschweren; andere wieder werden es dem Verfasser zu danken wissen.

Eine kritische Auseinandersetzung mit KANT führt unausweichlich in die systematischen Fragen der Gegenwart hinein, doch bin ich auf sie nur insoweit eingegangen, als es im Zusammenhang meines Hauptthemas geboten schien. Die Überzeugung, daß die Philosophie sich nicht in Erkenntnistheorie erschöpfen kann, sondern stets ein metaphysisches Fundament suchen und sämtliche großen Kulturgebiete zusammenschließen muß; daß das bloß analytische, kritische Denken ergänzt werden muß durch ein positives und produktives, diese Überzeugung scheint sich in der Gegenwart wieder allgemeiner und kräftiger durchzusetzen. (vgl. z. B. WINDELBAND, Nach hundert Jahren, Kantstudien Bd. 9, Seite 15 und EWALD, Die deutsche Philosophie im Jahre 1910, Kantstudien Bd. XVI, Seite 383) In einer Zeit, wo auf systematischem Gebiet in der Philosophie die Gegensätze so scharf und so mannigfach sind wie heute, erscheint KANTs Mahnung zu unbefangener Prüfung und zur Vorsicht gegenüber dem Andersdenkenden doppelt beherzigenswert: "Namen, welche einen Sektenanhang bezeichnen, haben zu aller Zeit viel Rechtsverdrehung bei sich geführt." (Vorrede zur "Kritik der praktischen Vernunft")

Die vorliegende Arbeit, deren Druck durch die Zeitumstände lange verzögert wurde, bildet die Fruacht langjähriger Kantstudien und steht inhaltlich im Zusammenhang mit meiner Preisarbeit über KANTs Wahrheitsbegriff (vgl. Kantstudien, Bd. 19, Seite 462f), die ich ebenfalls nach völliger Neubearbeitung demnächst herauszugeben denke. In einer besonderen Arbeit werde ich ferner das Realitätsproblem in der Religionsphilosophie KANTs behandeln.



1.
Realitätsproblem und Ding-ansich

Das philosophische Interesse KANTs ist zunächst wesentlich logischer, formaler Natur. Gegenüber allen positiven Aussagen über die Wirklichkeit, wie sie sich bei vielen anderen Denkern finden, verhält sich äußerst zurückhaltend und behandelt sie nur problematisch. Sein wesentlichstes Interesse aber ist dies, die Linien scharf zu ziehen, welche die verschiedenen Gebiete begrenzen, die Umrisse, welche sie charakterisieren. Er ist der Kritiker, der die Ansprüche abwägt, der Richter, der zwischen den Parteien entscheidet, ohne selbst Stellung zu nehmen.

Insbesondere bekämpft er die begriffliche Vermengung des Empirischen und Intelligiblen. So ist die volkstümliche Metaphysik, die er in der "transzendentalen Dialektik" bekämpft, ein solches Mischgebilde. Das Intelligible wird hier versinnlich und hypostasiert [verdinglicht - wp]. Der Name  Gott  z. B. macht es nicht. Tatsächlich "würden die Elemente meines Begriffs immer in der Erscheinung liegen". (Prolegomena § 57) Man erhält Bastardgebilde, ein "hölzernes Eisen", eine zwecklose Verdopplung des Erfahrungsgebietes, eine Pseudo-Metaphysik. Es ist so, "als wenn Unwissende, die gerne in der Metaphysik pfuschen möchten, sich die Materie so fein, so überfein, daß sie selbst darüber schwindlig werden möchten, denken, und dann glauben, auf diese Art sich ein geistiges und doch ausgedehntes Wesen erdacht zu haben". (Kritik der praktischen Vernunft, § 3, Anm. 1) Ähnliche Ausführungen z. B. "Träume eines Geistersehers", Seite 8 und "Prolegomena", § 45) Beim Gottesbegriff ist die Einsicht wichtig, daß es sich um eine Idee unserer eigenen Vernunft handelt, die als solche nicht "unerforschlich" sein kann. Es muß zuerst "ein Begriff von Gott zur Richtschnur dienen, ob die Erscheinung auch mit all dem übereinstimmt, was zum Charakteristischen einer Gottheit erforderlich ist".

Dieser Gesichtspunkt wird für KANT der Schlüssel für die Erklärung und Beurteilung aller dogmatischen Metaphysik; in als jenen Gedankenbildungen zeigt er den empirischen Prototyp der metaphysischen Projektion auf. Die Annahme von Seelensubstanzen ist "Übertragung dieses meines Bewußtseins auf andere Dinge". Die Idee der systematischen Einheit der Erfahrung wird irrtümlich in einen konkreten "Grund der systematischen Weltverfassung" verwandelt.

Wird so die intelligible Sphäre von den Jllusionen einer schematisierenden Metaphysik befreit, so wird umgekehrt die Erfahrungssphäre bereichert und konsolidiert, indem jene Vernunftelemente in sie hineingezogen werden und einen immanenten Gebrauch bekommen. Besonders bezeichnend für diese kritische Auffassung KANTs sind seine beliebten Ausdrücke "als" und "sofern", die auf den hypothetischen Charakter des Besprochenen hinweisen. (zum Beispiel "Dinge als Ersheinungen" usw.)

Auf der anderen Seite steht aber dennoch auch das Realitätsproblem durchaus im Mittelpunkt von KANTs Philosophie. Aus dem Gegensatz zu den logischen Begriffsanalysen der WOLFFschen Schule ist ja, unter dem starken Eindruck der empiristischen englischen Philosophie, seine Erkenntnislehre entstanden. Der Begriff des "Transzendentalen", der "synthetischen Urteile a priori", die Lehre vom Urteil als Quell der Objektivität, die Lehre vom Ding-ansich als Voraussetzung der Erkenntnis, dies alles sind ja Mittel, das Realitätsproblem zu lösen und dem Nicht-Rationalen, Gegebenen gerecht zu werden. Und gerade hier ist die Auffassung KANTs bis heute stark umstritten und werden wir in die aktuellen philosophischen Fragen der Gegenwart hineingeführt.

Untersuchungen, die sich den Begriff des Seins in ausgesprochener Weise zum Problem machen, seinen Inhalt analysieren, ihn in Beziehung setzen zu den Begriffen  Erkenntnis, Werden, Gelten, Wert  finden sich bei KANT nicht. Er nimmt das Sein als letzten unauflöslichen Begriff, warnt vor der Verwechslung der kopulativen und prädikativen Verwendung der Vokabel "sein" und erklärt das Sein für die absolute Position irgendeines sonstwie inhaltlich bestimmten Dings samt allen seinen Prädikaten. Am elementarsten kommt bei ihm das Bewußtsein von der Bedeutung des Realitätsproblems im Begriff des Dings-ansich zum Ausdruck.

Scheint es gelegentlich, als wolle er den allgemeinen Begriff des Seins in den speziellen des empirischen Daseins aufgehen lassen, so widerspricht dem dieser Begriff des Dings-ansich, der in ähnlicher Art neben den des empirischen Daseins tritt, wie der absolute Kausalbegriff der Freiheit neben die Kausalität als Relation zwischen den Phänomenen. Freilich, das Dasein als absolute Position ist etwas lediglich Formales, ein substantivierter Infinitiv, zu dem der Inhalt, die empirischen Dinge, als  genitivus subjectivus  hinzugehören. Das Ding-ansich scheint aber ein bestimmter, besonderer Inhalt zu sein und ebensogut wie die empirischen Dinge unter die Form der absoluten Positition fallen zu können. In der Tat ist diese Verbindung nicht unberechtigt und tritt manchmal auch bei KANT zutage. Nur ist zu beachten, daß der Begriff des  Dings-ansich  neben einer  inhaltlichen  dogmatisch-metaphysischen Verwendung auch eine sozusagen  formale  Bedeutung gewinnt und in die sinnliche Erfahrung eintaucht. Neben der oft und mit Recht kritisierten äußerlichen, gewissermaßen quantitativen Auffassung, welche das Ding-ansich in ein konkret gedachte intelligibles Jenseits weist, wird die kantische Erkenntnislehre von einer feineren, gleichsam  qualitativen Auffassung des Dings ansich  durchzogen, die sich freilich unter dem Druck verschiedener entgegenstehender skeptischer bzw. metaphysischer Vorurteile nicht frei entfalten kann. Auf  diese  Form der  Ding-ansich-Lehre  als auf das eigentlich dauernd Wertvolle und Bleibende an ihr, soll im folgenden der Nachdruck gelegt werden. Die vielfachen neueren Versuche, das Wertvolle der kantischen Erkenntnislehre unter Aufgabe des Ding-ansich-Begriffs festzuhalten, scheinen mir nicht zum Ziel zu führen, da sie sich vom Begriff der  Realität  und damit auch dem der Erkenntnis entfernen.

FRIEDRICH HEINRICH JACOBI hat bekanntlich in seinem berühmten Aufsatz "Über den transzendentalen Idealismus" (Beilage zum Gespräch über "Idealismus und Realismus", Breslau 1787) die Behauptung aufgestellt, ohne die Voraussetzung affizierender Dinge könne man nicht in das kantische System hineinkommen, mit ihr aber nicht darin bleiben. Der "transzendentale Idealist" müsse, um den unerträglichen Widersprüchen zu entgehen, "den Mut haben, den kräftigsten Idealismus, der je gelehrt worden ist, zu behaupten und selbst vor dem Vorwurf des spekulativen Egoismus sich nicht zu fürchten" (Seite 229). Diese Polemik JACOBIs ist nicht ohne Berechtigung gegenüber jener gröberen metaphysischen Auffassung von affizierenden Dingen, die sich dem Wortlaut nach im Anschluß an LOCKE zwar auch bei KANT findet, aber nicht KANTs eigene neue Konzeption wiedergibt und nur deshalb stehen bleiben konnte, weil man in einem allgemeineren Sinn im "Affizieren" einen gröberen Ausdruck für das "Zugrundeliegen" und ideale Bestimmen sehen kann. JACOBI hat zwar darin recht, daß er es bei der Annahme eines transzendenten, aber völlig unerkennbaren Dings-ansich für stilwidrig und unerlaubt erklärt, dennoch über dieses Ding-ansich etwas "glauben" und "wahrscheinlich finden" zu wollen. Er irrt aber durchaus, wenn er KANT einen materialen Idealismus zuschreibt, und er mißversteht die Stellen, in denen KANT sich als Idealist zu bekennen scheint. JACOBI erkennt nicht, daß die von KANT ins Subjekt zurückgenommenen Erscheinungen nicht die Wirklichkeit selber bedeuten, sondern nur den Inhalt unserer Erkenntnis, der als solcher etwas Ideales ist. Daß aber dieser Inhalt sich nichtsdestoweniger auf eine Wirklichkeit bezieht, die mit der Erkenntnis "gemeint" ist, das ist die selbstverständliche, von KANT nie preisgegebene, aber den idealistischen Auslegungen seines Hauptwerks gegenüber in den Prolegomena und der zweiten Auflage der  Kritik der reinen Vernunft  mit berechtigter Schärfe geltend gemachte Voraussetzung.

KANT lehnt jene Auffassung, wonach man erst durch einen  Schluß  von der Wirkung auf die Ursache zum Ding-ansich kommt, auf das Nachdrücklichste ab, da man auf diese Weise nie zu voller Sicherheit gelangt. JACOBI aber führt eben diese Stellen an, mißversteht sie aber offenbar in dem Sinne, als wolle KANT hier seine eigene Auffassung darstellen, während er, wie der Zusammenhang ergibt, sich nur auf den Standpunkt seiner Gegner versetzt, den er ablehnt. (5)

Geht man, wie billig, bei der Inhaltsbestimmung des Ding-ansich-Begriffs von der  Dissertation  des Jahres 1770 aus, so ist das Reale hier die intelligible Welt. Diese letztere Vorstellung hat KANT nie aufgegeben; ja, man kann sagen, daß sie in den späteren ethischen Schriften eher stärker als schwächer hervortritt. Der Umstand, daß sie sich hier mit einer sehr sublimierten Auffassung des Intelligiblen verträgt, dürfte auch für das richtige Verständnis der Dissertation nicht bedeutungslos sein.

Nach der Kr. d. r. V. liegt dagegen die Realität für uns in der Erscheinungswelt. Das Ding ansich wird entweder ein völlig unerkennbares und damit wertloses transzendentes Etwas oder es bezeichnet ganz allgemein die nicht positiv zu bestreitende Möglichkeit einer nichtmenschlichen Erkenntnisart und ihr korrespondierender Objekte. Alles Licht fällt auf die  Erfahrung Man merkt KANT die Freude des  Bejahens  an, das Glück, eine "Apologie der Sinnlichkeit" zustande gebracht, den Weg zu dem "fruchtbaren Bathos [Tiefe - wp] der Erfahrung" gefunden zu haben. Der erkenntnistheoretische Pessimismus dem Intelligiblen gegenüber ist ein Optimismus der konkreten Erfahrung gegenüber. Dieser Erfahrungsoptimismus macht sich aber auch schon in der Dissertation gelten; die Verstandeserkenntnis des Intelligiblen tritt dagegen zurück und ist im übrigen auch lediglich symbolisch.

Man darf also den Hauptunterschied zwischen der Dissertation und der Kr. d. r. V. nicht darauf zuspitzen, daß in der früheren Schrift die reale Welt erkennbar, in der späteren dagegen unerkennbar sei. Bei dieser Auffassung erscheint das Festhalten der Kr. d. r. V. am Erscheinungscharakter der Erfahrung als bloßes Residuum des früheren, nun aber aufgegebenen Standpunktes.  In Wirklichkeit aber hat das Ding ansich auch für den Standpunkt der Kr. d. r. V. eine wesentliche und durchaus legitime Bedeutung.  Denn die Erscheinungen als solche sind nicht die Wirklichkeit, das Ding-ansich. So lebhaft KANT sie bejaht, er verweigert ihnen doch den Charakter der Realität, des Seins. Er ist weit entfernt, sie im Sinne eines Positivismus zu verabsolutieren; aber in ihnen kommt doch die Wirklichkeit selber zum Ausdruck. KANT hat eine außerordentlich feine, vielfach verkannte Auffassung vom Begriff der Erscheinung und vom Verhältnis des Erkennens zur Wirklichkeit. Und es ist zum Teil gerade die Feinheit und Tiefe dieser eigenartigen Konzeption, wodurch die gegnerische Kritik hervorgerufen wurde. Hier ist in der Tat ein Punkt, wo KANT weiter gesehen und tiefer gedacht hat als viele seiner Kritiker bis in die jüngste Gegenwart. Nun wäre es freilich nicht nur gewagt, sondern einfach irrig, das stetige Wiederauftauchen der Debatten über KANTs Ding-ansich-Auffassung, dieses in der Geschichte der Philosophie fast beispiellose Kuriosum, einfach auf das Konto des mangelhaften Verständnisses von Lesern wie Kritikern KANTs zu setzen. Sollte der Grund nicht auch bei KANT  selber  liegen? Ganz gewiß. Aber wie es einerseits verkehrt wäre, KANT apologetisch umzudeuten und die eigene, aus bestimmten KANT-Stellen herausgelesene Auffassung auch den widerstrebenden Stellen aufzudrängen, so falsch wäre es andererseits auch, sich nur an Einzelstellen zu halten und eine Reihe verschiedener, zusammenhangloser Auffassungen aufzustellen. Vielmehr liegt der Fall so, daß für KANT in besonders starkem Maße zutrifft, was für jeden produktiven, die Entwicklung fördernden Denker gilt, daß nämlich seine Gedanken weiter reichen als die besonderen Formulierungen, in denen er sie einfängt und die oft nur von anderen übernommen und an älteren Konzeptionen orientiert sind. Gerade bei KANT findet man auf Schritt und Tritt bestimmte Gedanken und Probleme "eingewickelt" in allgemeinere; eine gröbere, primitivere und eine feinere Fassung stehen nebeneinander. Der Kritiker hat da die Aufgabe, einerseits die roheren Formulierungen anzuerkennen, andererseits aber vor allem die weiter weisenden und auch bei jener Formulierung im Grunde vorschwebenden Gedanken selber aufzusuchen.

Es sei an dieser Stelle nur vorläufig darauf hingewiesen, wo bei KANT selber der  Realismus des der Erfahrung gleichsam immanenten Dings ansich  zum Ausdruck kommt und wo die bisherige KANT-Literatur auf dieses Problem gestoßen ist. Bei KANT selber kommt insbesondere in Betracht: die Behandlung der  Paralogismen  in der ersten Auflage (Prolegomena, § 13 samt Anmerkungen). Die kausale Ableitung des Dings-ansich, die sich an LOCKEs Theorie anlehnt, ist keineswegs die einzige bei KANT, was selbst SCHOPENHAUER (Parerga und Paralipomena, "Fragmente zur Geschichte der Philosophie) anerkennt. Das "Affizieren", "Zugrundeliegen", "Korrespondieren" sind allgemeinere Ausdrücke;  dasselbe  Objekt soll in zweierlei Bedeutung genommen werden. KANTs Meinung ist im Grunde nicht die, daß ein transzendentes Ding, das ebenso wie die hypostasierten Ideen mit dem Verdint der "transzendentalen Dialektik" verfallen müßte, unsere Erfahrung verursacht, sondern er kennt nur  eine  Wirklichkeit und sieht  in  der Erfahrung selber das Ding-ansich.

So interpretiert SIMMEL in seinem Buch über KANT das "Affizieren" als nicht-kausal. EDUARD von HARTMANN und VOLKELT werfen KANT einen Rückfall in den "naiven Realismus" vor, da er oft die Erfahrungswelt und das Ding-ansich identifiziert. THOMSEN wirft in einem in vieler Hinsicht ausgezeichneten und klärenden Aufsatz über KANTs Ding-ansich (Kantstudien, Bd. 8, Seite 193f) KANT die Verwechslung von "transzendentem" und "empirischem Ding-ansich" vor; der Philosoph habe sich durch die leeren Worte "Ding-ansich" und "Erscheinung" täuschen lassen. RIEHL betont, und zwar mit vollem Recht, aufs stärkste KANTs Realismus, übertreibt aber, wenn er die kausale Ableitung des Dings-ansich bei KANT überhaupt ableugnet (zum Beispiel "Philosophischer Kritizismus", Bd. 1, Seite 569f). VAIHINGER wendet sich in dem scharfsinnigen Exkurs über "die affizierenden Gegenstände" (Kommentar zur Kr. d. r. V., II, Seite 35f) gegen die von BECK, FICHTE, LIEBMANN, LANGE, COHEN versuchte Beschränkung von KANTs "Affizieren" auf die Erscheinungen und findet bei KANT eine "doppelte Affektion, eine transzendente und eine empirische" (Seite 52). Er stellt fest, daß KANT nicht selten von einem realen, von unserer Vorstellung unabhängigen Gegenstand redet, der demnach nicht das transzendente Ding-ansich ist; so  Prolegoma  § 14, erster Absatz.

All diese Aussagen der genannten KANT-Forscher weisen trotz der mancherlei Abweichungen doch auf denselben Tatbestand bei KANT hin und sind geeignet, uns vorläufig auf das in Frage stehende Problem aufmerksam zu machen.


2.
Das transzendente Ding ansich
als Ursache der Erscheinungen

Bevor wir aber diese angedeutete, viel mißverstandene Konzeption KANTs darstellen, soll auf die oft und mit Recht bekämpfte Fassung der  Ding-ansich-Lehre  eingegangen werden, die keine noch so kunstvolle Apologetik je hat und wird retten können.

An diesem Punkt liegt es uns fern, die kantische Lehre halten zu wolen, wie andererseits das Eintreten für jene andere Fassung ebenfalls nicht im mindesten apologetischen Tendenzen entspringt.

Der  Grundfehler  KANTs ist hier der, daß er nicht scharf zwischen der sachlichen Qualität, der Erkenntnisbedeutung, dem  Wahrheitswert  der Erscheinungen unterscheidet und auf der anderen Seite ihrem  realen Sein  als psychischen Modifikationen und Vorstellungen des Bewußtseins. Hieraus entspringt sowohl die Theorie der Affektion durch ein äußeres kausierendes Ding, in Anlehnung an LOCKE, wie andererseits die Betonung der Subjektivität, des Vorstellungsseins der Erscheinung, als ein Nachklang von LEIBNIZ' Monadenlehre. Nach der Auffassung von VAIHINGER ("Zu Kants Widerlegung des Idealismus", Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, 1884, Seite 121f, an die sich REININGER ("Kants Lehre vom inneren Sinn", 1900, Seite 143f) anschließt, hat KANT in den Paralogismen der ersten Auflage der Kr. d. r. V. den problematischen Idealismus durch den dogmatischen geschlagen, da er nur die  Vorstellungs realität der materiellen, körperlichen Welt rettet. Mit Recht bestreitet THOMSEN (a. a. O., Seite 248-257) diese Interpretation, da bei KANT der Realitätscharakter nicht im Vorstellungssein liegt, sondern im "empirischen Ding-ansich", auf das die Qualität einer bestimmten Vorstellungsklasse hinweist. Für die meines Erachtens richtige und von beiden genannten Seiten verfehlte Interpretation verweise ich auf die unten folgende Darstellung und bemerke kurz:
    1.  Thomsens  positive Auffassung ist von der kantischen unterschieden und dem Idealismus nicht so radikal entgegengesetzt wie die letztere.

    2. Die  idealistische  Interpretation von  Vaihinger  ist der kantischen Auffassung  diametral entgegengesetzt;  sie ist aber nicht ohne Berechtigung mit Rücksicht auf das oben angeführte Nachklingen der Monadenlehre. KANT denkt bei "Bewußtsein" statt an die  Funktion  manchmal auch an die  Substanz.  Verräterisch ist das  "Inhärieren"  der Erscheinungen.
LEIBNIZ' Monadenlehre bildet ebenso wie LOCKEs Theorie der äußeren kausalen Einwirkung die rohere, primitivere Unterlage, bzw. den Ausgangspunkt und das Sprungbrett für die neue und eigenartige Theorie KANTs.

Gegenüber der Darstellung VAIHINGERs, welche mit großer Schärfe die Differenzen der verschiedenen kantischen "Widerlegungen" des Idealismus herausarbeitet, wird hier die Auffassung vertreten, daß allen "Widerlegungen"  dieselbe Gesamttheorie  zugrunde liegt, von der aus insbesondere die Behandlung der Paralogismen in der ersten Auflage der Kr. d. r. V. einen einheitlichen, widerspruchsfreien Sinn bekommt. Der Gedankengang der aus der zweiten Auflage angeführten Stellen, sowie des dritten der sieben kleinen Aufsätze), der sich übrigens im wesentlichen genau so schon in der ersten Auflage findet, gibt sich auf das Deutlichste als  demonstratio ex praeconcessis  [Demonstration aus dem bereits Bestätigten - wp]: er beweist  für den Standpunkt des empirischen Idealismus,  daß die innere Wahrnehmung keineswegs etwas der äußeren voraus hat, sondern vielmehr allein im Zusammenhang mit ihr verständlich ist. Bezeichnend dafür ist auch, daß KANT den  "Realismus",  den er erweisen will,  "Dualismus"  nennt. An den Stellen aber, wie  Prolegomena,  Seite 69f, 164f, wo KANT sich auf die kategorialen Formen stützt, handelt es sich um das Problem der Einzelerfahrung; das Kriterium der Wahrheit im Gegensatz zum Schein ist der gesetzliche Zusammenhang.

Nimmt man jene seltsame Synthese der von LOCKE und LEIBNIZ übernommenen Auffassungen in ihrem äußeren, buchstäblichen Sinn, so kommt ein wunderliches Gebilde heraus. Das Widerspruchsvolle und Unfruchtbare einer derartigen Auffassung liegt auf der Hand. Zunächst, wenn alle Erkenntnis auf Erscheinungen beschränkt wird, hinter denen ein prinzipiell und absolut unerkennbares Ding ansich liegend gedacht wird, so ist nicht einzusehen, welchen Wert die Annahme eines solchen Dings haben kann, bei dem weder über das  Daß  noch das  Was,  weder über das  Dasein  noch über seine  Qualität  das Allergeringste auszumachen ist. Es wäre eine sinnlose und völlig unberechtigte Annahme. Dieses dunkle Ding-ansich würde das Zauberwort für alle Rätsel bedeuten, die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, der Abgrund, in den alle Gegensätze unterschiedslos zusammenfallen, Geist und Körper, Freiheit und Natur, Teleologie und Mechanismus.

Überhaupt bedeutet jede Art von Verdoppelungsmetaphysik, von Erdichtung einer transzendenten Welt nach dem Muster der empirischen, - wie KANT das in der  transzendentalen Dialektik  gezeigt hat, - einen Irrweg. Man möchte das Empirische erklären und greift zu einer transzendenten Ursache. Nun aber hat man wieder ein Transzendentes, das ebensowohl eine Erklärung verlangt, wenn man sich nicht einfach dem  asylum ignorantiae  [Zufluchtsort der Unwissenheit - wp] überantworten will; man ist also keinen Schritt weiter gekommen. Ein intelligibles Etwas aber als Ursache empirischer Wirkungen läßt sich gar nicht denken. Ursache und Wirkung müssen auf demselben Boden stehen, die phänomenale Wirkung macht auch die Ursache phänomenal. Die Intelligibilität wird ein leeres Wort. Gegenüber dieser Auffassung, die freilich der großen Grundkonzeption KANTs gegenüber ein bloßes Nebenprodukt und von nebensächlicher Bedeutung ist, besteht die bekannte Kritik JACOBIs durchaus zu Recht. Und ebenso hat an diesem Punkt SCHOPENHAUER recht, wenn er die kausale Ableitung der Erscheinung, bzw. die mittelbare Erschließung des Dings-ansich verwirft.

Blickt man schließlich auf den  Zweck der erreicht werden soll, nämlich die Erklärung der objektiv richtigen Erkenntnis, so zeigt sich die gänzliche Unfruchtbarkeit der Theorie. Denn jene äußere Ursache würde doch nur zu einem  Sein  der Erscheinungen (als Vorstelllungen) führen, ihre  Qualität  aber nicht berühren. Nur  daß  erkannt würde, wäre erklärt (6); für allen  Inhalt,  auf den es bei der Erkenntnis aber gerade ankommt, müßte man allein auf die freie Produktivität des Bewußtseins zurückgehen.

In der Tat erscheint es bei KANT gerade im Zusammenhang mit der transzendenten Ding-ansich-Auffassung oft so, als sei "das Mannigfaltige der Empfindung" eine qualitätslose Masse, ein dunkles, formloses Chaos, aus dem erste die sensuellen und intellektuellen Funktionen des Subjekts die wirkliche Erfahrung gestalteten. Es ist, als ob die  Wahrnehmung  mit ihrem Eigenwert und positiven Gehalt, mit dem Zwang, den sie mit sich führt, ganz ausgeschaltet wäre. Das ändert sich aber sogleich, wo jene äußerliche metaphysische Theorie zurücktritt und die Erscheinungswelt  selber  für uns zum Träger der Realität wird. Auf  diese  Seite des Ding-ansich-Begriffs ist später noch zurückzukommen.


3.
Das Ding ansich innerhalb der Erfahrung

Hier fassen wir zunächst das allgemeine Moment ins Auge, daß wir nach KANTs Auffassung in den Erscheinungen mit dem Ding-ansich in Beziehung treten, nicht mit einem Abbild oder einem abgeleiteten Sein, sondern mit der einen Wirklichkeit selber. Es gibt nicht ein Sein des Dings-ansich und daneben ein Sein der Erscheinungswelt; nicht eine Qualität des Dings ansich und daneben eine Qualität der Erscheinungswelt. Weder Sein noch Qualität werden verdoppelt, sondern in der Erscheinungsqualität fassen wir das Sein.

Wenngleich die transzendente Form der Ding-ansich-Lehre meist im Mittelpunkt der Debatten gestanden hat, tritt doch bei KANT selber die immanente Form weit stärker hervor. Wo sie aber berücksichtigt wurde, hat man bei KANT nur über Konfusion geklagt; seine Bestreitung des "Idealismus" behaupte bald die Realität der materiellen Welt, bald das Gegenteil. Man muß aber zuerst KANTs Gesamtauffassung erkennen und positiv würdigen. Nach ihr kann man sich sowohl so ausdrücken, daß die materielle Welt wirklich existiert, wie auch so, daß sie gar nicht existiert.  Je energischer ich den Begriff "Erscheinung" als ideal fassen, desto selbstverständlicher erscheint der Realismus der Dinge selber.  Wir haben es mit einer realen, wirklichen Welt zu tun, aber die Realität ist unabhängig von der räumlichen Form und allem, was an ihrer Qualität von der Relation zum erkennenden Subjekt bedingt ist. Wo KANT sich über Mißverstandenwerden beklagt, wo er die ihm vorschwebende, durchaus realistische Konzeption mit dem Gefühl der Selbstsicherheit und dem felsenfesten Glauben an die Geschlossenheit und Originalität seiner Auffassung in zum Teil paradoxen Wendungen deutlich zu machen sucht, da handelt es sich eben um diese immanente Ding-ansich-Auffassung. Es ist ein verhängnisvoller Fehler vieler neuerer KANT-Interpreten, die große positive Bedeutung dieser Theorie verkannt und sich der falschen Alternative zwischen transzendentem Ding-ansich und einer positivistischen Verabsolutierung der Phänomene überliefert zu haben. Freilich ist es vergebliche Mühe, das Sein in einem transzendenten Ding ansich verankern zu wollen; deshalb es aber auch für das Diesseits preiszugeben und in einem monistischen Sinn das Erkennen zu einem bloßen Denken oder zu einem Teil vom Lebensprozeß des Subjekts zu machen, ist ein verzweifelter und undurchführbarer Ausweg.

Daß allein in jener immanenten Auffassung alle Eigenart und Bedeutung der kantischen Lehre zu suchen ist, läßt sich nicht verkennen.  Und jene gröbere metaphysische Form erhielt sich nur deswegen, weil man auch bei ihr an die feinere Form denken kann; sie liegt in gewissem Sinne in ihr "eingewickelt".  Jene äußere kausale Ableitung der Erscheinungen ist als ein roher und etwas primitiver Versuch zu betrachten, den unbestreitbaren und unaufhebbaren  Rezeptivitätscharakter  aller Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen. Derselbe Gedanke wird auch in der Weise durchgeführt, daß das Ding-ansich in den Erscheinungen gegenwärtig gedacht wird. Ebenso ist es eine recht primitive und irreführende Vorstellung, wenn die Erkenntnis gelegentlich als ein Zusammengesetztes aus zwei Faktoren, einem subjektiven und einem objektiven, bezeichnet wird. Auch hier handelt es sich um den tieferen Gedanken, daß das Erkennen nicht etwas lediglich Passives ist, nicht ein Abbilden, Abspiegeln, Wiederholen, Kopieren, Verdoppeln, sondern etwas  Neues, Eigenartiges,  etwas  sui generis  [aus sich selbst heraus - wp], das weder einseitig vom erkennenden Subjekt, noch bloß von der objektiven Wirklichkeit her ausreichend erklärt werden kann.
LITERATUR - Erich Franz, Das Realitätsproblem in der Erfahrungslehre Kants, Berlin 1919
    Anmerkungen
    1) Dabei ist abgesehen von der besonderen subjektiven Wendung, welche KANT seinen Gedanken zweifellos auch gegeben hat. In seiner objektiven Auffassung steht KANTs Gedanke der WOLFFschen Lehre von der  veritas obiectiva  nahe. Daß man KANT nicht verstehen kann, wenn man nicht neben den subjektiv-psychologischen Wendungen vor allem die objektive Auffassung berücksichtigt, zeigt sich auf Schritt und Tritt, so bei den folgenden Grundbegriffen:  "Möglichkeit der Erfahrung"; "Quellen"  (= principia) der Erkenntnis; Unterscheidung von  "Wahrheit"  und  "Traum (= sommnium obiective sumtum; vgl.  Prolegomena,  Anhang, Seite 167, Anmerkung); Kritik der reinen  "Vernunft";  der  "Verstand,  welcher der "Natur" ihr Gesetz vorschreibt; die  "Erscheinungen",  welche den objektiven Erkenntnisgehalt der subjektiven "Vorstellung" bezeichnet, usw.
    2) Den Ausdruck  "metaphysisch"  gebrauche ich dabei zunächst nicht in dem Sinne, in welchem er die Probleme des Übersinnlichen bezeichnet, sondern in dem von  "seinsphilosophisch".  Es handelt sich um Aussagen oder Voraussetzungen über die Wirklichkeit, im Gegensatz zu formalen, hypothetischen Erörterungen und zur Erkenntniskritik. Daß mit dem Aufwerfen dieser Fragen noch nichts über ihre Beantwortung entschieden wird, ist selbstverständlich. Es ist aber auch nicht schwer einzusehen, daß kein Denker, wenn er sich nur selbst versteht, um eine metaphysische Stellungnahme in diesem Sinne, wie immer sie ausfallen mag, herumkommt.
    3) Daß ich den Ausdruck  "Realismus"  in diesem Zusammenhang als Gegensatz zu  "Idealismus"  gebrauche, im Zusammenhang der anderen Hauptfrage aber dem mittelalterlichen Sprachgebrauch nach als Gegensatz zu  Nominalismus,  bzw.  Positivismus,  kann meines Erachtens zu keinem Mißverständnis Anlaß geben.
    4) Auch WUNDT vertritt in eigenartiger Weise einen Realismus.
    5) Auf diese Stelle bei JACOBI bezieht sich wieder FICHTE (zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, 1797, Werke Bd. I, Seite 482), indem er hinzufügt, AENESIDEMUS-SCHULZE habe KANT "jene arge Inkonsequenz vernehmlich genug gerügt". An FICHTE wieder lehnt sich SCHOPENHAUER an, wenn er KANT die kausale Ableitung des Dings-ansich vorwirft und einen Gegensatz zwischen dem Idealismus der 1. Auflage und dem Realismus der 2. Auflage der Kr. d. r. V. konstruiert. Auch ZELLER (Vorträge und Abhandlungen III, Seite 283, Anm. 29) scheint nicht gesehen zu haben, daß KANT an der erwähnten Stelle nicht von sich aus redet, sondern den Standpunkt seiner Gegner darstellt.
    6) Nimmt man das  Daß  des Erkennens seiner  praktischen  Seite nach, so hat es einen guten Sinn, von der Kausalität der Dinge auf uns zu reden. Die Dinge, bzw. die Eindrücke "bestürmen" uns, oft mehr, oft weniger. Es scheint, daß KANT dieses Moment, analog auch bei der Aktivität des Bewußtseins, mit im Auge gehabt hat. Nur muß es selbstverständlich vom Problem des Erkenntnisinhalts durchaus getrennt werden.