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ERICH ADICKES
Kant und das Ding ansich

"Ein Verzicht auf die Dinge-ansich hätte für Kant nicht mehr und nicht minder bedeutet als einen Zusammenbruch seines Systems als Ganzem. Denn der Begriff der Dinge ansich als wirklicher transsubjektiver Wesenheiten bildet nun einmal in gewissem Maß seine Grundlage. Ohne ihn gibt es keine Antwort auf die nach Kant durchaus berechtigte Frage nach der letzten Ursache der Empfindungen bzw. Erscheinungen: sie muß nach ihm eine transzendente sein. Und sowohl die Moralphilosophie wie die Moraltheologie stehen und fallen mit dem Begriff einer wirklich existierenden übersinnlichen Welt."


Einleitung

1. Seit MAIMON, BECK und FICHTE hat man immer wieder Versuche gemacht, KANT von seinem angeblichen Hauskreuz, dem Ding-ansich, zu befreien. Zwei Motive waren es hauptsächlich, die dazu gedrängt haben. Man wollte ihn konsequenter machen, als er in Wirklichkeit war und selbst sein wollte. Zu diesem Zweck glaubte man die Unstimmigkeiten in seiner Lehre von Ding-ansich dadurch heben zu können, daß man sich einseitig an die wenigen radikal klingenden Stellen hielt und sie in noch viel radikalerem Sinn auffaßte, als sie gemeint waren; die zahlreichen Äußerungen dagegen, in denen KANT die Existenz affizierender Dinge-ansich behauptet oder als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt hat, deutete man im Sinn jener wenigen gewaltsam um oder ging noch lieber schweigend und achtlos an ihnen vorüber. Und der so mit Kunst und Zwang konsequent gemachte KANT mußte es sich dann gefallen lassen, als Kronzeuge für eine Art des Idealismus zu dienen, die nicht die seine war, zu der die seinige vielmehr nur dadurch fortgebildet werden konnte, daß man die sie charakterisierende realistische Grundlage, eben die Existenz von affizierenden Dingen-ansich beseitigte.

Eine solche Behandlung ist das gerade Gegenteil von historischer Auffassung. Sie war begreiflich im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, als KANTs Schule sich gegenüber der LEIBNIZ-WOLFFischen wie gegenüber der Popularphilosophie siegreich durchgesetzt hatte. Da trat mit geschichtlicher Notwendigkeit jener Spaltungsprozeß ein, in dessen Verlauf jeder von den selbständig gewordenen Jüngern den echten kantischen Glauben für sich in Anspruch genommen hat. Und auch im 19. Jahrhundert, als der Ruf: "Zurück zu Kant!" so eindringlich ertönte, war es verständlich, wenn sich mitten in jener Zeit des Historismus doch eine unhistorische Auffassung breit machte. Denn das "Zurück zu Kant!" war ebensosehr ein Zeichen systematischer wie historischer Einstellung. So weit es aber jenes war, wollte man doch nicht nur KANT, sondern auch sich selbst bringen. Und so legte man dann sich selbst und die eigenen Ansichten in KANT hinein und glaubte sie in ihm wiederzufinden.

Heute scheint mir die Zeit einer rein historischen Behandlung der Kantprobleme günstiger zu sein. Die 200-jährige Wiederkehr seines Geburtstags fordert geradezu auf, uns über seine Lehre endlich klar und - einig zu werden. Von grundlegender Bedeutung für deren Auffassung ist die Frage des Dings-ansich. Darum trete ich gerade jetzt mit dieser Schrift hervor (1). Sie will eine Huldigung für KANT sein und möchte ihn dadurch ehren, daß sie sein wahres geistiges Gesicht historisch treu darstellt.

Auf Polemik habe ich mich nur in seltenen Fällen eingelassen, statt dessen aber die Tatsachen selbst sprechen lassen, indem ich dem Leser alle wichtigen Stellen, die für das Ding-ansich-Problem von Bedeutung sind, vorgeführt habe.

Was ich wünsche und hoffe, ist: daß diese Schrift zur Grundlage einer öffentlichen Diskussion seitens der Vertreter der verschiedenen Kantinterpretationen gemacht wird (2). Es ist zu erwarten, daß eine solche Diskussion, wenn sie unter steter Berücksichtigung der Tatsachen, d. h. unter fortwährendem Zurückgreifen auf die einzelnen KANT-Stellen, vor sich geht, zu einer Annäherung der Ansichten, vielleicht sogar zu einer Einigung führt.

Allerdings darf die Gegenseite sich nicht auf allgemeine Wendungen beschränken, wie etwa die berüchtigte BECKs und FICHTEs von den pädagogischen Rücksichten, aus denen KANT seine Leser nicht sofort auf den Gipfel der Transzendentalphilosophie geführt hat, sondern sie in einem langsamen Aufstieg aus den Niederungen des realistischen Dogmatismus, in denen die Atmosphäre noch von den Dünsten der Dinge-ansich verunreinigt ist, erst allmählich an die reine Höhenluft habe gewöhnen wollen. Das wäre keine pädagogische Kunst, sondern eine recht unpädagogische, das Verständnis ungeheuer erschwerende und falsche Auffassungen geradezu herbeizwingende Torheit gewesen.

Man darf sich auch nicht mit der Behauptung begnügen, das Ding-ansich werde von KANT selbst als ein problematischer Begriff und als ein bloßer Grenzbegriff bezeichnet. Das geschieht freilich an einigen Stellen. Aber man darf nicht aufgrund dieser wenigen Äußerungen, die im Folgenden ihre Erklärung finden werden, den zahlreichen anderen Stellen Gewalt antun, an denen das Ding-ansich von KANT als ein Haupt- und Grundbegriff seines Systems behandelt wird.

Und auch die Behauptung wäre nicht durchschlagend, daß KANTs Verhältnis zum Ding-ansich ganz in dem Nachweis aufgeht, warum und an welchem Punkt der TP sein Begriff vom Verstand mit Notwendigkeit hervorgebracht wird. Was KANT an zahlreichen Stellen als notwendig fordert und als selbstverständlich annimmt, ist nicht der Begriff des Dings-ansich, sondern die extramentale Existenz einer Vielheit uns affizierender Dinge-ansich.

Jede Kantauffassung muß den im Folgenden besprochenen Äußerungen sowohl in ihrer Gesamtheit wie in ihren Einzelheiten gerecht werden. Die Gegenseite hätte also nachzuweisen, weshalb KANT, wenn er in Wirklichkeit keine Dinge-ansich angenommen, trotzdem so überaus häufig ihre extramentale Existenz behauptet hat und sogar die Kategorien auf sie anwandte. Sie dürfte an diesen Stellen weder schweigend vorübergehen noch sie vergewaltigen, sondern müßte sie in psychologisch einwandfreier Weise erklären; dabei wäre auf ihre große Zahl wie auf die stark affirmativen [zustimmenden - wp] Wendungen in ihnen entsprechendes Gewicht zu legen.


Erster Abschnitt
Das Dasein einer Vielheit von Dingen-ansich
als Selbstverständlichkeit

2. Nach meiner Überzeugung ist für KANT in seiner ganzen kritischen Zeit die transsubjektive Existenz einer Vielheit von Dingen-ansich, die unser Ich affizieren, eine nie bezweifelte, absolute Selbstverständlichkeit gewesen. Das gilt auch, im Gegensatz zu VAIHINGERs Als-ob-Philosophie Seite 722-724 vom Opp, wie in meiner Schrift über dieses Werk Seite 669-718 eingehend nachgewiesen ist. WINDELBANDs Annahme (3), daß es in den 70-er Jahren eine Phase gegeben hat, in der KANT das Ding-ansich für eine bloße Fiktion, ja sogar für ein absolutes Unding erklärt hat und daß diese Phase sich auch inRV1 noch in den skeptisch klingenden Äußerungen der Abschnitte über die Phaenomena und Noumena und die Amphibolie [Zweideutigkeit - wp] der Reflexionsbegriffe geltend macht, ist eine reine Konstruktion, für die in KANTs handschriftlichem Nachlaß, dessen Quelle gerade für die 70er Jahre sehr reichlich fließt, auch nicht das Geringste spricht.

Nur wenn man KANTs Stellung zu den Dingen-ansich in der angegebenen Weise auffaßt, kann man einer großen Reihe von Behauptungen gerecht werden, die sich durch seine ganze kritische Periode von 1781-1800 hinziehen.

Am Anfang und am Ende stehen zwei Äußerungen, nach denen es schon im Begriff der Erscheinung liegt, daß ihr ein Ding-ansich entspricht. Im berüchtigten Abschnitt über die Phaenomena und Noumena inmitten von oft angeführten, angeblich stark skeptischen Ausführungen lesen wir RV1 251f:
    "Die Sinnlichkeit und ihr Feld, nämlich das der Erscheinungen, wird selbst durch den Verstand dahin eingeschränkt: daß sie nicht auf Dinge-ansich, sondern nur auf die Art geht, wie uns, vermöge unserer subjektiven Beschaffenheit, Dinge erscheinen. Dies war das Resultat der ganzen transzendentalen Ästhetik, und es folgt auch natürlicherweise aus dem Begriff einer Erscheinung überhaupt: daß ihr etwas entsprechen muß (4), was ansich nicht Erscheinung ist, weil Erscheinung nichts für sich selbst und außerhalb unserer Vorstellungsart sein kann, folglich, wo nicht ein beständiger Zirkel herauskommen soll, das Wort Erscheinung schon eine Beziehung auf etwas anzeigt, dessen unmittelbare Vorstellung zwar sinnlich ist, was aber ansich, auch ohne diese Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit (worauf sich die Form unserer Anschauung gründet), etwas, d. h. ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand sein muß."
Also völlige Selbstverständlichkeit, was die Existenz des ansich Seienden betrifft! Sie ist für KANT überhaupt kein Problem, geschweige denn irgendwie zweifelhaft. Der Begriff der Erscheinung würde geradezu sinnlos werden, wenn ihr nicht ein Ding-ansich entspräche. Aber alsbald folgen nun die Einschränkungen mit Bezug auf die (theoretische) Erkennbarkeit: wir wissen von den Dingen-ansich nichts, es fehlt jede Anschauung und damit auch jede Möglichkeit des Erkennens, und darum kann auch von einem Begriff des Noumenon in einem positiven Sinn gar keine Rede sein (5).

Genau dieselbe Lage finden wir im VII., aus dem Jahr 1800 stammenden Konvolut des Opp, in dem KANT das Ding-ansich angeblich klar und unzweideutig als bloße Fiktion erkannt und anerkannt hat (Vaihinger, Philosophie des Als-ob, 724). In Wirklichkeit redet er C 581f von den "Gegenständen als Erscheinungen, ... wo ein Unterschied des Objekts = X (6) als Erschinung vom Gegenstand als Ding-ansich schon im Begriff liegt." Also noch ganz dieselbe Stellung wie RV1 251f: hinsichtlich der Existenz der Dinge-ansich keinerlei Zweifel! Aber sofort wird auch hier ihre (theoretische) Erkennbarkeit geleugnet, indem KANT forfährt:
    "Um aber Erkenntnis zu sein, dazu wird Anschauung und nicht bloß Apperzeption (7), sondern Apprehension [Zusammenfassung - wp] des Gegenstandes (in der Wahrnehmung) erfordert",
und die ist ebenso unmöglich, weil jene Anschauung eine intellektuelle sein müßte, die uns aber versagt ist.

In der Vorrede zu RV2 XXVIf wird, wegen Mangels an jeglicher Anschauung auf dem Gebiet der Dinge-ansich, die Einschränkung aller nur möglichen spekulativen (= reinen theoretischen) Erkenntnis der Vernunft auf bloße Gegenstände der Erfahrung willig zugestanden, aber zugleich hinzugesetzt:
    "Gleichwohl wird, welches wohl gemerkt werden muß, doch dabei immer vorbehalten, daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge-ansich, wenngleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre (8), was da erscheint." (9)
Eine Anmerkung fügt hinzu: die Erkenntnis eines Gegenstandes setzt den Nachweis seiner (realen) Möglichkeit, sei es aufgrund der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit, sei es a priori durch Vernunft, voraus; denken dagegen kann man jeden widerspruchslosen Begriff, um einem solchen aber objektive Gültigkeit oder reale Möglichkeit beizulegen, dazu wird etwas mehr erfordert, doch braucht dieses Mehr nicht in theoretischen Erkenntnisquellen gesucht zu werden, könne vielmehr auch in praktischen liegen. - Diese Stelle ist in hohem Maße bemerkenswert, einmal wegen der Entschiedenheit, mit der sie die Annahme von Erscheinungen ohne entsprechende Dinge-ansich geradezu als eine Ungereimtheit bezeichnet, andererseits weil diese Erklärung inmitten einer prinzipiellen Erörterung über Wesen, Aufgabe und zweifachen Nutzen der RV steht, also bei einer Gelegenheit abgegeben wird, wo KANT von höherer Warte aus auf sein großes Unternehmen zurückblickt. Mag sich ihm auch bei dieser Rückschau das ursprüngliche Kräfteverhältnis der einzelnen Tendenzen bis zu einem gewissen Grad verschoben haben: darüber, ob er Dinge-ansich als eine transsubjektive Wirklichkeit annimmt oder nicht annimmt, mußte er sich auf jeden Fall völlig klar sein, und die Redewendung von der "Ungereimtheit" gewinnt so betrachtet programmatische Bedeutsamkeit.

Sie tritt übrigens auch schon in den P auf. Nach § 57 Anfang wäre es eine Ungereimtheit, wenn wir von irgendeinem Gegenstand mehr zu erkennen hofften, als zur möglichen Erfahrung desselben gehört.
    "Es würde aber andererseits eine noch größere Ungereimtheit sein, wenn wir gar keine Dinge ansich (10) einräumen oder unsere Erfahrung für die einzig mögliche Erkenntnisart der Dinge ... ausgeben wollten." (IV 350f = RV1.
In demselben Paragraphen (IV 354) wird von der Sinnenwelt gesagt: sie
    "ist nichts als eine Kette nach allgemeinen Gesetzen verknüpfter Erscheinungen, sie hat also kein Bestehen für sich, sie ist eigentlich nicht das Ding-ansich und bezieht sich als (!) notwendig (!) auf das, was den Grund dieser Erscheinung enthält, auf Wesen, die nicht bloß als Erscheinung, sondern als Dinge ansich erkannt werden können."
Weiterhin (IV 355) stellt KANT fest, daß Erscheinungen
    "sich wirklich (11) auf etwas von ihnen Unterschiedenes (folglich gänzlich Ungleichartiges) beziehen, indem Erscheinungen doch jederzeit eine Sach ansich voraussetzen und also darauf Anzeige tun, man mag sie nun näher erkennen, oder nicht."
Ähnlich in § 59 (IV 360):
    "Die Sinnenwelt enthält bloß Erscheinungen, die doch nicht Dinge-ansich sind, welche letztere (Noumena) also der Verstand, eben darum weil er die Gegenstände der Erfahrung für bloße Erscheinungen erkennt, annehmen (12) muß."
Ferner § 32 (IV 314f):
    "In der Tat, wenn wir die Gegenstände der Sinne wie billig als bloße Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hierdurch doch zugleich, daß ihnen ein Ding-ansich zugrunde liegt, ob wir dasselbe gleich nicht, wie es ansich beschaffen ist, sondern nur seine Erscheinung, d. h. die Art, wie unsere Sinne von diesem unbekannten Etwas affiziert werden, kennen. Der Verstand also, eben dadurch, daß er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein (13) von Dingen-ansich zu, und so fern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zugrunde liegen, folglich bloßer Verstandeswesen nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich ist."
Nach RV2 564f (RV1 536f) ist Freiheit nicht zu retten, wenn Erscheinungen Dinge-ansich sind:
    "Wenn dagegen Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der Tat sind, nämlich nicht für Dinge-ansich, sondern bloße Vorstelungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind."
RV2 566 (RV1 538) heißt es, daß den Erscheinungen, "weil (!) sie ansich keine Dinge sind, ein transzendentaler Gegenstand zugrunde liegen muß, der sie als bloße Vorstellungen bestimmt." Nach RV2 55 (RV1 38) hat die Erscheinung
    "jederzeit zwei Seiten, die eine, da das Objekt ansich betrachtet wird (unangesehen der Art, dasselbe anzuschauen, dessen Beschaffenheit aber eben darum jederzeit problematisch bleibt), die andere, da auf die Form der Anschauung dieses Gegenstandes gesehen wird, welche nicht im Gegenstand ansich, sondern im Subjekt, dem derselbe erscheint, gesucht werden muß."
Die transsubjektive Existenz des Dings-ansich ist auch hier eine Selbstverständlichkeit: es ist mit der Erscheinung ohne weiteres gegeben (14) als ihre eine Seite (bei der von unserer sinnlichen Auffassungsweise gänzlich abstrahiert wird), die Notwendigkeit eines Daseins ist also schon im Begriff der Erscheinung implizit enthalten; problematisch bleibt nur, wegen des Mangels an jeder Anschauung und der daraus folgenden (theoretischen) Unerkennbarkeit, seine Beschaffenheit.

Ganz ähnlich spricht KANT sich GR (IV 451 aus: sobald der Unterschied zwischen Erscheinungen und Dingen ansich einmal "gemacht", d. h. dem Zusammenhang nach: einmal zu Bewußtsein gekommen ist,
    "so folgt von selbst, daß man hinter den Erscheinungen doch noch etwas Anderes, was nicht Erscheinung ist, nämlich die Dinge ansich, einräumen und annehmen muß, obgleich wir uns von selbst bescheiden, daß, da sie uns niemals bekannt werden können, sondern immer nur, wie sie uns affizieren, wir ihnen nicht näher treten und, was sie ansich sind, niemals wissen können."
In UR (V 196) heißt es schließlich in demselben Sinn:
    "Der Verstand gibt, durch die Möglichkeit seiner Gesetze a priori für die Natur, einen Beweis davon, daß diese von uns nur als Erscheinung erkannt wird, folglich (!) zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben; aber läßt dies gänzlich unbestimmt."
Alle diese Stellen zeigen überzeugend, wie selbstverständlich es für KANT ist, daß Erscheinungen Dinge-ansich voraussetzen und auf sie Anzeige tun, daß also die Bejahung der Existenz der letzteren als transsubjektiver Wesen mit der Kennzeichnung der Erfahrungsgegenstände als Erscheinungen ohne weiteres gegeben ist. Die Leugnung jener würde, weil sie schon im Begriff der Erscheinung als deren notwendige Kehrseite enthalten sind, geradezu eine Ungereimtheit darstellen.

Die Zitate sind auch nicht etwa als Beweise für das Dasein von Dingen-ansich gemeint. Als solche würden die meisten von ihnen in die Zusammenhänge, in denen sie stehen, gar nicht hineinpassen. Und außerdem: als Beweisen ginge ihnen jegliche Beweiskraft ab. Denn KANT führt ja keine Gründe an, sondern stellt nur das Dasein von Dingen ansich als eine Selbstverständlichkeit hin: nicht als etwas zu Beweisendes, sondern als eine Voraussetzung, über die man eigentlich gar keine Worte zu verlieren braucht.

3. Keinerlei Unsicherheit spricht aus den in § 2 zusammengestellten Äußerungen, keine Einschränkungen werden hinzugefügt. Es liegt eben, was die Existenz der Dinge ansich betriff, für KANT überhaupt kein Problem vor. Sie ist ihm eine unbewiesene Prämisse, von der er ausgeht, als sei sie so sicher wieder der sicherst bewiesene Grundsatz.

Nichts ist für die philosophischen Systeme so bezeichnend, wie die unbewiesenen Prämissen, auf denen sie aufgebaut sind, und nichts läßt in die geheimsten Herzenskammern ihrer Schöpfer einen so tiefen Blick tun wie gerade sie. In unserem Fall beweisen sie, wie stark die realistische Tendenz in KANT war, und wie fern ihm deshalb jeder extreme Idealismus liegen mußte.

Die Art, wie er sich an den angeführten zahlreichen Stellen zu sehr verschiedenen Zeiten bald in Erörterungen, die speziele dem Ding-ansich-Problem gewidmet sind, bald in nur gelegentlichen Äußerungen, bals in zusammenfassenden Rückblicken immer wieder in derselben Weise für die Existenz der Dinge ansich als transsubjektiver Wesenheiten ausgesprochen hat, als für etwas, was überhaupt gar nicht anders sein und von keinem irgendwie bezweifelt werden kann, schließt ein Schwanken seiner Ansichten in diesem Punkt völlig aus. Es wäre psychologisch unbegreiflich, wenn er trotz jener zuversichtlichen Behauptungen dann und wann Bedenken hinsichtlich der Existenz der Dinge-ansich gehabt und geäußert hätte; wären derartige Zweifel je in seine Seele gekommen, dann hätte er unmöglich so viele Stellen niederschreiben können, die im geraden Gegenteil die absolute Zweifellosigkeit dieser Existenz behaupten.

Diesen Stellen gegenüber versagen auch alle Auslegekünste, alles Gerede nach Art BECKs und FICHTEs von pädagogischen Rücksichten und einer Anbequemung an die herrschende realistische Denkweise, jeder Hinweis auf den angeblichen Geist, der hinter den Worten als das eigentlich Wahre gesucht werden muß. Die Worte sind so klar und eindeutig, daß über ihren Sinn und ihre Bedeutung gar kein Streit sein - kann oder auf jeden Fall nicht sein sollte und auch nicht sein würde, wenn nur das Streben nach historischer Wahrheit das maßgebliche Motiv wäre und nicht bei Vielen in erster Linie das Bedürfnis nach einer aktuellen Verwertung von Kants Lehren. Die Worte behaupten auch nicht etwa nur die Notwendigkeit des Ding-ansich-Begriffs als eines unvermeidlichen Denkprodukts, eines bloßen ens rationis [Sache der Vernunft - wp], sondern vielmehr die Selbstverständlichkeit und Tatsächlichkeit des realen Daseins der Dinge-ansich als wirklicher transsubjektiver Wesenheiten. Kämen nur eine oder zwei solche Stellen als seltene Ausnahmen neben lauter abweichenden, skeptisch klingenden Äußerungen in Betracht, so könnte man vielleicht versucht sein, sie mit List und Gewalt hinwegzudeuten. Aber gegenüber einem Dutzend derartiger Stellen verfangen diese Mittelchen nicht, und außerdem: eines wirklichen Historikers sind sie nicht würdig. Ihm ist höchstes Gebot: die Tatsachen anerkennen um jeden Preis.

Und diese Tatsachen zeigen nun auch, daß KANT unbedenklich von einer Mehrheit von uns affizierenden Dingen-ansich redet und offenbar der Meinung ist, daß jeder Erscheinung auch ein Ding-ansich entspricht. Er wendet also faktisch die Kategorien Einheit, Vielheit, Realität (Dasein) und Kausalität auf das ansich Seiende an.

4. Doch liegt die Sache nicht so, daß ihm die letztgenannte Kategorie als Sprungbrett gedient und er also erst durch einen Kausalschluß von den Erscheinungen bzw. den Empfindungen aus den Weg rückwärts zu den Dingen ansich gefunden hätte. Das ist allerdings schon oft behauptet worden, so auch von SCHOPENHAUER in seiner früheren Zeit. Aber schon RIEHL (Philosophischer Kritizismus, Bd. 1, 1908, Seite 566f)) hat eine Stelle aus den "Parerga und Paralipomena" angeführt, die eine reifere Erkenntnis zeigt: nach ihr geht KANTs Lehre dahin, daß zwar die apriorische, allgemeine Form der Erscheinung nur subjektiv ist, daß dagegen ihr bloß a posteriori zu erkennender, vom Subjekt unabhängiger empirischer Gehalt (Stoff) dem Ding-ansich zugeschrieben werden muß, als Äußerung "seines selbsteigenen Wesns durch das Medium all jener apriorischen Formen hindurch". RIEHLs Erörterung bewegt sich in denselben Bahnen wie diese späteren Ausführungen SCHOPENHAUERs, und RIEHL schließen sich auch FRANZ STAUDINGER (15) und ALEXANDER WERNICKE (16) an.

Diese letzten drei Forscher lassen speziell auch in und mit der Empfindung die Beziehung auf das Ansich-Seiende unmittelbar gegeben sein. Sobald man aber die Empfindung in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, kann man, fürchte ich, nicht um den Rückschluß anhand des Kausalgesetzes herumkommen. Sie ist nach Art und Eigenschaften so ganz vom Subjekt abhängig, daß sie wohl als auf die Einwirkung eines Transzendenten hin von uns hervorgebracht, also als dessen indirekte Wirkung, begriffen, nicht aber gleichsam als transzendente Macht oder wenigstens als deren Zeuge oder Stellvertreter erlebt werden kann.

Legt man also, wie die Zitate zu fordern scheinen, gerade hierauf Gewicht: daß schon in den Erscheinungen selbst das Transzendente sich zur Geltung bringt und von uns als eine uns fremde Macht gespürt wird, so wird man gut tun, von den Empfindungen möglichst abzusehen. Und da trifft es sich gut, daß die Lehre von der doppelten Affektion in dieselbe Richtung weist. Denn sie betrachtet als die direkten Ursachen der Empfindungen nicht die Dinge-ansich, sondern die Erscheinungsgegenstände, die der sekundären Sinnesqualitäten entkleidet und also in der Form von Kraftkomplexen gedacht werden müssen. Unsere Sinne sind Teile unseres Körpers, der mit den Körpern ringsumher in einer Wechselwirkung steht und nur von ihnen unmittelbar beeinflußt werden kann, nicht von den Dingen-ansich, die vielmehr, genau genommen, nur unser Ich-ansich (seiner Sinnlichkeit nach) affizieren können.

Diese Kraftkomplexe als Erscheinungen des Ich-ansich sind gemeint, wenn von den "Erscheinungen" gesagt wird, daß sie jederzeit eine Sache ansich voraussetzen und also darauf Anzeige tun (IV 355), wenn es heißt, daß den "Erscheinungen" etwas ansich Seiendes entsprehen muß (RV1 251f), daß das wahre Korrelatum der "äußeren Gegenstände" das Ding-ansich selbst ist (RV2 45)), daß letzteres ihnen zum Grunde liegt (RV1 358, 379f; RV2 566, 568; IV 314, 337 (17) 344, 459; V 6, FO 155), ferner wenn KANT von dem übersinnlichen Substrat der "Erscheinung" (bzw. der Materie, der Natur, der Körperwelt) redet (VIII 207, 209, 248f; V 196, 449 und öfter).

Alle diese Wendungen entspringen der Überzeugung, daß wir uns nicht etwa erst mühsam anhand ungewisser Rückschlüsse von den Erscheinungen zum ansich Seienden hinzutasten brauchen, daß es uns vielmehr in ihnen unmittelbar entgegentritt, seinem Wesen nach zwar unerkennbar, seinem Dasein nach aber in keiner Weise zweifelhaft. KANTs Ausgangspunkt bilden nicht die Erscheinungen, und seine Frage geht dementsprechend nicht dahin, ob ihnen etwas ansich Seiendes korrespondiert, und wie der Weg zu ihm zu finden ist. Sein Ausgangspunkt ist vielmehr die erfahrungsmäßig gegebene Wirklichkeit: in ihr entdeckt er gewisse apriorische Zutaten des Geistes und schließt daraus, daß sie und ihre Gegenstände von uns nicht erkannt werden, wie sie ansich sind, sondern nur, wie sie uns erscheinen. Dieses Erscheinung-Sein ist ihre eine Seite; damit ist aber ohne weiteres gegeben, daß ihm ein Ansich-Sein als andere Seite entspricht.

Auch entwicklungsgeschichtlich stellt sich die Sache so dar. In der Inauguraldissertation von 1770 hält KANT noch (bzw. wieder) eine transzendente Metaphysik für möglich aufgrund des usus realis [tatsächlichem Gebrauch - wp] der reinen Verstandesbegriffe. Die Sinnenwelt freilich ist wegen der Apriorität und Subjektivität der sinnlichen Anschauungsformen zur Erscheinung geworden. Aber die von keiner Rücksicht auf Raum und Zeit getrübten reinen Begriffe vermögen sie und ihre Gegenstände zu erkennen, wie sie ansich sind, unangesehen unserer subjektiven Art sie anzuschauen. In den 70-er Jahren sieht KANT sich gezwungen, auch für die reinen Begriffe um ihrer Apriorität willen ihre Subjektivität (wenngleich nur mit gewissen Einschränkungen) zuzugeben, vor allem aber anzuerkennen, daß sie mangels jeglicher Anschauung keinerlei Erkenntnisse des ansich Seienden zu verschaffen imstande sind. Dies wird also jetzt völlig unerkennbar (wenigstens auf theoretischem Weg), sein Dasein aber bleibt dadurch unangefochten. Es gehört nach wie vor zur Wirklichkeit als ihre eine Seite, nur daß diese uns theoretisch absolut unzugänglich ist und wir ganz auf die Erscheinungsseite beschränkt sind. Aber so wenig es eine konvexe Kugeloberfläche gibt ohne die konkage Innenseite, so wenig eine Erscheinung ohne entsprechendes Ding-ansich. Daher die Mehrdeutigkeit des Terminus "Gegenstand", die das Verständnis von KANTs Schriften so sehr erschwert: er ist zugleich Ding ansich und Erscheinung, als jenes steht er außerhalb unseres Bewußtseins und affiziert unser Ich-ansich, als diese ist er mit unseren apriorischen Formen behaftet und bildet als unsere Vorstellung einen Teil unserer Bewußtseinswelt.

Alles Apriorische ist nach KANT subjektiven Ursprungs und, soweit die Sinnlichkeit in Betracht kommt, sicher auch von nur subjektiver Gültigkeit. Anders das bloß a posteriori Feststellbare und Erkennbare, wie die Gestalten der Dinge, die empirisch aufgefundenen Naturgesetze, die räumliche Verteilung, spezifische Verschiedenheit und Stärke der bewegenden Kräfte (der Ursachen der Empfindungen), ihr Zusammenwirken und Ineinandergreifen, die ganze große Mannigfaltigkeit und doch auch wieder Gleichmäßigkeit in den Erscheinungen, Vorgängen und Verhältnissen, die Eigentümlichkeiten der organischen Welt. All das betrachtet KANT als etwas vom Subjekt durchaus Unabhängiges.

Der Gedanke, daß es von uns selbst unbewußterweise nicht etwa nur in zeitlich-räumliche Ordnung gebracht wird, sondern ganz und gar geschaffen wird, war ihm nie mehr als eine Ungereimtheit. In BERKELEYs Lehre hat er sich nie recht hineinversetzen können: indem sie das Unbeseelte nur in Form von Perzeptionen bestehen läßt, ihm aber jede selbständige (wenn auch unräumliche) Wirklichkeit, jedes Ansich-Sein abspricht, verwandelt sie angeblich die Körperwelt in bloßen Schein; wenn er BERKELEY das Epitheton [Nachbemerkung - wp] "der gute" gibt (RV1 71) und auf seine Gedanken den Ausdruck "Hirngespinste" anwendet (IV 293), so soll ihm das offenbar seinen Platz nicht allzu fern vom philosophischen Tollhaus anweisen. Und ebensowenig hätte er mit FICHTEs Lehren und denen der modernen Immanenzphilosophie anfangen können, hätte er auch ernsthaft versucht, sich in sie hineinzudenken.

Die realistische Tendenz war viel zu stark in ihm. Sie machte es ihm unmöglich, an derartigen extrem-idealistischen Ansichten Geschmack zu finden, und ließ es ihm als selbstverständlich erscheinen, daß die Wirlichkeit überall da, wo nicht apriorische, rein subjektive Zutaten mit Sicherheit in ihr nachweisbar sind, ein zuverlässiger Zeuge von etwas Transzendentem ist. Alles a posteriori Gegebene konnte er nur als durch etwas ansich-Seiendes gegeben begreifen. Und so wurde ihm dieses Aposteriorische zwar nicht zum Transzendenten selbst- das war ausgeschlossen, weil es nur in apriorischen subjektiven Formen gegeben und von ihnen nicht zu trennen ist -, aber doch zu einer unmittelbaren Manifestation des Transzendenten.

5. Aus den obigen Zitaten spricht eine ganz bestimmte Art des Erlebens, die ihn von den extrem-idealistischen Philosophen durchaus unterscheidet. Ein solches inneres Erleben ist überall die Quelle des Neuen und Eigenartigen in den philosophischen Systemen, es ist von logischen Prozessen und wissenschaftlichen Deduktionen unabhängig, weil ursprünglicher als sie, setzt sich eben darum aber auch häufig im Gegensatz zu ihnen durch. In einem derartigen Erleben ruhen nun auch die starken Wurzeln des Ding-ansich-Begriffs. Daher seine unverwüstliche Kraft, allen Konsequenzen der Transzendentalphilosophie zum Trotz! Daher die Selbstsicherheit, mit der er sich zur Geltung bringt!

Und jenes Erleben besteht bei KANT eben darin, daß er in einem aposteriorischen Stoff der Erscheinungsgegenstände einen Hauch des Transzendenten spürt, daß er in ihm des letzteren Gegenwart und Macht gleichsam unmittelbar wahrzunehmen meint, daß er ihn erlebt, "als ob" er das Transzendente selbst ist (18). Natürlich ist er darüber keinen Augenblick im Zweifel, daß er auch beim Stoff nur mit Erscheinungen zu tun hat und daß es ganz unmöglich ist, ihn jemals aus unseren subjektiven Auffassungen und Zutaten herauszuschälen. Gewiß kann das Transzendente nie Gegenstand und Inhalt der Erfahrung werden, aber es offenbart sich doch im Stoff einer jeden Erscheinung, dieser tut Anzeige darauf, weist darauf hin als auf ein notwendiges Korrelatum, in jeder Erscheinung steckt das Transzendente drin als das Erscheinende, freilich durch unzerreißbare Schleier verhüllt und darum theoretisch unerkennbar.

FRIEDRICH HEINRICH JACOBI hat einmal (Werke II, 22f) gesagt, KANT stütze sich nicht nur am Ende, in der praktischen Philosophie, sondern auch schon am Anfang auf ein höheres Vermögen; dieses legt den Grund und Eckstein des Gebäudes mit der absoluten Voraussetzung eines Dings-ansich, das sich weder in den Erscheinungen noch durch sie dem Erkenntnisvermögen offenbart, sondern allein mit ihnen, auf eine den Sinnen und dem Verstand unbegreifliche, durchaus positive oder mystische Weise. Es liegt ein richtiger Kern in der Behauptung. Freilich von Mystik und höherem Vermögen kann keine Rede sein. Was JACOBI so ausdeutet, ist in Wirklichkeit nichts Anderes, als jenes eigenartige, stark realistisch gefärbte Erleben KANTs (19), das ihn im Stoff der Erscheinungen eine ihm fremde, transzendente Macht empfinden läßt uns so zur Folge hat, daß jeder Erfahrungsgegenstand für ihn in einer notwendigen, selbstverständlichen Beziehung zu einem entsprechenden Ding-ansich steht.

Dieses realistische Erleben, das wir erschließen müssen, um die Zitate des§ 2 psychologisch erklären zu können, und die ihm entspringende realistische Tendenz haben KANTs Philosophieren wesentlich mitbestimmt. Sie waren es vor allem, die ein für allemal (oder auch: immer wieder von Neuem) die Grenze festgelegt haben, bis zu der sein Idealismus gehen konnte; sie hatten zur Folge, daß die Annahme der extramentalen Existenz einer Vielheit affizierender Dinge ansich die unaufgebbare Grundlage seines Systems wurde und immer geblieben ist.

Dieses System muß man stets als Ganzes betrachten, wenn man KANTs Stellung zum Ding-ansich-Problem begreifen und in wirklich wissenschaftlichem Geist behandeln will. Es geht nicht an, die TP herauszutrennen und auch in ihr wieder nur eine der in ihr vorhandenen Tendenzen zu Wort kommen zu lassen, um schließlich dann das ganze Problem auf die eine Frage zu beschränken: zu welchen Ansichten über das Ding-ansich KANT hätte kommen müssen, wenn er diese eine Tendenz konsequent und einseitig bis zu Ende verfolgt hätte. Das ergibt ein Zerrbild von seinem Denken.

Aber selbst wenn man in dieser einseitigen Weise verfährt, so steht am Ende des Weges doch kein Idealismus nach FICHTEs oder COHENs Art mit seiner völligen Verleugnung der Dinge ansich, sondern nur das Zugeständnis, daß man vom Boden der einseitig durchgeführten rein theoretischen TP aus über das Sein oder Nichtsein und erst recht über die Beschaffenheit der Dinge-ansich keine wissenschaftlich (d. h. also hier: transzendentalphilosophisch) begründeten Aussagen machen kann. Diese Konsequenz hat KANT selbst, wie wir sehen werden, in seiner RV nur an einigen wenigen Stellen (später im Opp dagegen öfter) gezogen, und sogar an diesen Stellen richtet sich seine Skepsis nicht gegen die Existenz, sondern nur gegen die Beweisbarkeit und Erkennbarkeit der Dinge-ansich. Jede Skepsis gegen die Existenz würde er auch hier verworfen haben, wie schon das erste Zitat von § 2(RV1 251f) zeigt.

Auch wo er als strengen Transzendentalphilosoph gewisse Gedanken einseitig zuende denkt, ist und bleibt er doch derselbe Mensch mit einem stark realistisch gefärbten Erleben, dieselbe einheitliche Denkerpersönlichkeit, die neben dem Transzendentalphilosophen auch noch den Metaphysiker und Moralphilosophen umfaßt. Und wenn die TP auf eine Frage keine entscheidende Antwort geben kann (wie es bei der Frage nach dem extramentalen Sein oder Nichtsein der Dinge ansich der Fall ist, sobald man sich einseitig an gewisse transzendentalphilosophische Gedanken hält und sie konsequent zu Ende denkt), so ist diese Frage damit nicht beseitigt: für den Menschen, Metaphysiker und Moralphilosophen KANT besteht sie weiter und fordert gebieterisch eine Antwort.

Daß aber diese Antwort nur bejahend sein dürfte, konnte für KANT keinen Augenblick zweifelhaft sein, auch nicht bei der Niederschrift der am skeptischsten klingenden Stellen. Seine realistische Tendenz war nach dem Zeugnis von überaus zahlreichen Äußerungen so stark, daß, wenn man nicht ein psychologisch ganz unmögliches Bild von ihm bekommen soll, nicht damit gerechnet werden darf, sie habe auch nur dann und wann geschwiegen und eine auch nur vorübergehende Skepsis gegenüber der extramentalen Existenz der Dinge-ansich aufkommen lassen. Eine solche Skepsis und erst recht ein Verzicht auf die Dinge-ansich hätte für KANT nicht mehr und nicht minder bedeutet als einen Zusammenbruch seines Systems als Ganzem. Denn der Begriff der Dinge ansich als wirklicher transsubjektiver Wesenheiten bildet nun einmal in gewissem Maß seine Grundlage. Ohne ihn gibt es keine Antwort auf die nach KANT durchaus berechtigte Frage nach der letzten Ursache der Empfindungen bzw. Erscheinungen: sie muß nach ihm eine transzendente sein. Und sowohl die Moralphilosophie wie die Moraltheologie stehen und fallen mit dem Begriff einer wirklich existierenden übersinnlichen Welt. Darum mußte der Gedanke, vom Standpunkt einer strengen, einseitig konsequent gemachten TP aus die ganze Ding-ansich-Frage zu erledigen, für KANT völlig undiskutierbar sein.

Es hat wohl wie gesagt, wenn auch verhältnismäßig selten, die in skeptischer Richtung verlaufenden Fäden seiner TP aufgegriffen und verfolgt. Aber auch dann war das Resultat nur ein Zweifel an der Beweisbarkeit und Erkennbarkeit, nicht an der Existenz der Dinge-ansich. Einen Zweifel an dieser machte ihm auch dann sein starkes, realistisches Erleben im Verein mit der Rücksicht auf Moralphilosophie und Moraltheologie unmöglich. Aber gerade der Umstand, daß jenes Erleben einen so festen, uneinnehmbaren Wall gegen alle ernstgemeinten Angriffe auf die Dinge-ansich bildete, mochte es ihm dann umso unbedenklicher erscheinen lassen, in den relativ seltenen Augenblicken einseitiger transzendentalphilosophischer Denkkonsequenz jene unten ausführlich zu besprechenden radikalen Äußerungen niederzuschreiben, die das Verständnis seiner Ding-ansich-Lehre so außerordentlich erschwert haben.

In seiner Besprechung meines Werkes über KANTs Opp im "Literarischen Zentralblatt" (1923, Seite 84), läßt WILLY MOOG mich behaupten,
    "daß die Annahme der Existenz von Dingen-ansich und der Existenz Gottes ein Glaube oder eine Privatansicht (20) Kants gewesen ist, daß Kant aber, wo er als strenger Transzendentalphilosoph spricht, die Existenzvorstellung ausschaltet."
Bei "ausschalten" denkt man unwillkürlich an ein völliges Verwerfen der Existenz von Dingen-ansich. Sollte auch MOOG das zum Ausdruck bringen wollen, so hätte er meine Ansicht nicht richtig wiedergegeben. Was ich behauptet habe, ist nur, daß die TP nach vielen Stell des Opp nicht imstande ist, dem Begriff des Dings-ansich, den sie als notwendigen Gedanken aus sich selbst hervorbringt, mit ihren Mitteln eine objektive Realität zu verschaffen, d. h. die extramentale Existenz von Dingen ansich zu erweisen. MOOG fährt dann fort:
    "Aber Kant selbst sagt nirgends, daß er neben den ausdrücklich geäußerten philosophischen Lehren noch eine besondere, ihm persönlich unbezweifelbare metaphysische Privatmeinung hat, und wenn er sie gehabt hat, ist sie als unwissenschaftlicher Glaube für die Interpretation seines Systems jedenfalls ohne Belang. Gewiß ist Kant weder Skeptikter noch ein Vorgänger von Vaihingers Als-ob-Lehre, aber er ist darum doch kein Metaphysiker in dem Sinne, daß ihm die Existenz von Dingen-ansich und das Dasein Gottes etwas schlechthin Unbezweifelbares wäre. Im System des Kritizismus ist diese metaphysische Existenz oder Nichtexistenz durchaus irrelevant, dagegen spielt die Idee des Dings-ansich mit ihrer negativ abgrenzenden Bedeutung ... allerdings eine Rolle."
Will man auch schon die Existenz (nicht nur die Beschaffenheit) der Dinge-ansich als ein rein metaphysisches Problem bezeichnen, so ist mir das recht. Dann ist aber auch ganz sicher, daß KANT ein Metaphysiker war. Und die Behauptung, daß ihm die metaphysische Existenz oder Nichtexistenz der Dinge-ansich durchaus irrelevant gewesen ist, wird MOOG angesichts der Zitate des § 2 und der in den folgenden §§ zu besprechenden Stellen nicht aufrecht erhalten können, ohne die Tatsachen zu vergewaltigen. Denn mit der bloßen "Idee" des Dings-ansich ist da überall nichts anzufangen; was KANT verlangt, bzw. als selbstverständlich und unbezweifelt gewiß annimmt oder voraussetzt, ist gerade die extramentale Existenz. Diese Existenz und nicht die bloße Idee der Dinge-ansich bildet den Ausweis zahlreicher Stellen ein wesentliches Bestandstück des kritischen Systems und gehört gerade zu den von KANT am häufigsten "ausdrücklich geäußerten philosophischen Lehren". Mit so einem allgemeinen, prinzipiell ablehnenden Gewaltspruch, wie dem von MOOG, kommt die Wissenschaft nicht weiter. Er verstößt zu offenbar gegen die Tatsachen. Wollen die Gegner das nicht zugeben, dann müssen sie durch eine weder gekünstelte noch gewaltsame Einzelinterpretation der zahlreichen ihnen entgegenstehenden Äußerungen KANTs ihre Ansicht wahrscheinlich machen.

Ob man die Annahme der Dinge-ansich durch KANT einen Glauben nennt oder nicht, ist ziemlich gleichgültig. Ist sie ein Glaube, dann auf jeden Fall kein unwissenschaftlicher, sondern höchstens vorwissenschaftlicher: er stützt sich auf KANTs starkes realistisches Erleben, aus ihm zieht er immer wieder neue Kraft. Dieses Erleben aber ist, wie wir gesehen haben, nicht nur rein menschlich von Bedeutung, sondern auch philosophisch. Obwohl selbst nicht mehr wissenschaftlich begründet, hilft es doch den wissenschaftlichen Standpunkt der TP, insbesondere den Idealismus, zu bestimmen. Aus ihm erwächst eine wichtige unbewiesene Prämisse des Systems, und darum trägt es selbst gleichsam keinen privaten, sondern einen offiziellen, systematischen Charakter.
LITERATUR - Erich Adickes, Kant und das Ding ansich, Berlin 1924
    Anmerkungen
    1) Sie ist schon vor Jahren geschrieben und war ursprünglich als erster Teil eines Werks über "Kants Lehre von der doppelten Affektion unseres Ich als Schlüssel zu seiner Erkenntnistheorie" gedacht, das schon in meinem Buch über "Kants Opus potumum" (1920) in Aussicht gestellt wurde. Es wird, als zweiter Teil der vorliegenden Schrift, hoffentlich noch im Laufe dieses Jahres erscheinen. - Ich zitiere aus Kants "Opus postumum" als Opp, die "Kritik der reinen Vernunft" als RV1 bzw. RV2, die der "praktischen Vernunft" als PrV, die der "Urteilskraft" als UR, die "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" als GR, die "Prolegomena" als P, die "Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik" (ed. Kirchmann) als FO, die Kant-Ausgabe der Berliner Akademie ohne Titel nur durch Band und Seitenzahl (VI 13), die Jahrgänge 1882-84 der "Altpreußischen Monatsschrift" als A, B, C. "Transzendentalphilosophie" ist als TP abgekürzt.
    2) Aber ohne das Problem der doppelten Affektion mit hineinzuziehen, weil das die Diskussion zu sehr komplizieren würde.
    3) Windelband, Über die verschiedenen Phasen der kantischen Lehre vom Ding-ansich, in der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie", Bd. 1, 1877, Seite 224f.
    4) Wohlgemerkt: "ihr", der Erscheinung, nicht etwa nur: daß ihrem Begriff ein Begriff des Dings-ansich als bloßes Denkprodukt entspricht. Nach dem Folgenden geht die klare Ansicht Kants dahin, daß, wenn man den Begriff und das Wort "Erscheinung" auf einen Erfahrungsgegenstand anwendet, man damit zugleich ein ihm entsprechendes Ding-ansich als einen außerhalb unseres Bewußtseins existierenden, also transsubjektiven Gegenstand voraussetzt.
    5) Die entsprechende Parallelstelle in RV2 306 ist im Anfang von § 25 ausführlich behandelt.
    6) Der richtige Platz für den Ausdruck "= X" war nach "ansich".
    7) = denkende Erfassung im Begriff.
    8) "wäre", nicht etwa nur: "gedacht würde"; das "etwas" kann deshalb auch nicht der bloße Begriff des Dings-ansich sein, sondern nur dieses selbst als zugrunde liegendes transsubjektives Wesen, "was da erscheint".
    9) Vgl. hierzu auf Blatt 29 des IV. Konvolut des Opp die Worte: "Nehmen wir die Welt als Erscheinung, so beweist sie geradezu das Dasein von Etwas das nicht Erscheinung ist" (mein Werk über das Opp Seite 44).
    10) d. h. als wirklich existierende, transsubjektive Wesen.
    11) Also nicht nur in unseren Gedanken, so daß der Begriff des Dings-ansich nur ein notwendiges Denkprodukt wäre; sondern das von den Erscheinungen Unterschiedene, was sie als Sache ansich voraussetzen, existiert außerhalb unseres Bewußtseins und speziell außerhalb unseres Gedankens von dieser Sache als der transsubjektive Gegenstand, auf den der Gedanke sich bezieht, den er meint.
    12) d. h. als transsubjektive Wesen.
    13) Nicht etwa nur den Begriff als vom Verstand mit Notwendigkeit hervorgebracht.
    14) Aber natürlich nicht in dem Sinn "gegeben", in welchem die Empfindungen oder auch Erscheinungsgegenstände es sind; bei ihnen ist Gegeben-Sein so viel wie Erfahrbarkeit, während das Ansich ja nie in den Kreis der Erfahrung (in Raum und Zeit) eintreten kann. Trotzdem aber liegt in jeder Erscheinung doch schon eine Anzeige auf ein entsprechendes Ding-ansich, und insofern kann man sagen, daß die Existenz des letzteren mit der Erscheinung ohne weiteres "gegeben" ist.
    15) Staudinger, Noumena, 1884, Seite IV, 24-36, 66, 112 und öfter. Staudinger steht zwar der Marburger Schule nahe, überragt aber Cohen und die meisten seiner Schüler weit an historischem Blick und vorurteilsloser Anerkennung der Tatsachen. Cohens Auffassung der Ding-ansich-Lehre fertigt er Seite 49 kurzerhand durch den Satz ab: "Dadurch mündet Kants Lehre in einen Platonismus aus, der erheblich von der Absicht ihres Urhebers entfernt sein dürfte." Und Seite 30f behauptet er mit Recht: "Die Existenz von Etwas ansich steht mauerfest bei Kant und ist nicht auch in irgendwelche Bewußtseinsfaktoren oder Ideen zu verflüchtigen."
    16) Alexander Wernicke, Die Theorie des Gegenstandes und die Lehre vom Ding ansich bei Immanuel Kant, 1904, Seite 15f, 19, 21, 23.
    17) Diese Stelle ist sehr bezeichnend: nach ihr "bedeutet das Ich in dem Satz: Ich bin, nicht bloß den Gegenstand der inneren Anschauung (in der Zeit), sondern das Subjekt des Bewußtseins, so wie Körper nicht bloß die äußere Anschauung (im Raum), sondern auch das Ding-ansich, was dieser Erscheinung zugrunde liegt."
    18) Nur von dieser Tatsache aus läßt sich eine wenig beachtete Bemerkung in dem Abschnitt über den Schematismus begreifen. Kant schreibt dort (RV1 143, RV2 182): "Realität ist im reinen Verstandesbegriff das, was einer Empfindung überhaupt korrespondiert; dasjenige also, dessen Begriff ansich ein Sein (in der Zeit) anzeigt ... Da die Zeit nur die Form der Anschauung, folglich der Gegenstände als Erscheinungen ist, so ist das, was an diesen der Empfindung entspricht, die transzendentale Materie aller Gegenstände als Dinge-ansich (die Sachheit, Realität)." Daß hier nur ein Versehen vorliegt und "Dinge-ansich" verschrieben ist für "Erscheinungen", welcher Begriff in den Zusammenhang freilich durchaus passen würde, ist nicht wahrscheinlich. Daß an Dinge-ansich im empirischen oder physischen Verstand wie RV2 45, 63, 313f; RV1 393 zu denken sein soll, ist ausgeschlossen: dann hätte es gegenüber dem sonst durchgehend festgehaltenen Sprachgebrauch eines besonderen Hinweises bedurft. Der Wortlaut aber, wie er vorliegt, wird nur verständlich, wenn man sich vor Augen hält, daß sich Kant in dem a posteriori gegebenen Stoff der Erscheinungen, ihrer Realität oder Sachheit, das Ding-ansich unmittelbar, wenn auch unerkennbar, offenbart, daß er, wie ich es im Text ausgedrückt habe, diese Erscheinungsrealität erlebt, "als ob" sie die Realität der Dinge-ansich ist.
    19) Dieses Erleben ist, wie aus dem obigen Zusammenhang hervorgeht, meiner Ansicht nach nicht etwa eine besondere Erkenntnisquelle, sondern eine rein subjektive Auffassung, eine Interpolation [nachträglicher Einschub - wp]: es wird etwas in die Wahrnehmung hineingedeutet, aber ganz unbewußter Weise. Dieses Hineinlegen ist etwas durchaus Ursprüngliches, Vor-Logisches und darum auch Irrationales, was von der Persönlichkeit als Ganzem und ihrer Eigenart abhängt, gerade so wie die Tatsache, daß mir dieses Gesicht sympathisch, jenes unsympathisch ist. Darum aber kann jenes Erleben auch nicht (oder wenn: dann jedenfalls nur wenig) durch Überlegung und Willkür beeinflußt werden, und darum setzt es sich auch bei Kant immer von Neuem siegreich durch, allen Konsequenzen zum Trotz, die aus gewissen Prämissen der TP fließen. Diesen gemäß - und eine zwischen Tatsache und Deutung scharf scheidende Forschung kann ihnen meiner Ansicht nach nur beipflichten - dürfte er eigentlich nur von den Erscheinungen als allein Gegebenem auf die Dinge ansich als auf ihre Voraussetzung oder ihr übersinnliches Substrat zurückschließen. Aber seine Persönlichkeit ist stärker als diese Konsequenzen und die ihnen zugrunde liegenden Prämissen (neben denen übrigens auch noch andere, dem Ding-ansich günstigere stehen): und so erlebt er faktisch immer wieder in jeder Erscheinung etwas Transzendentes als mit ihr unmittelbar gegeben und in ihr unsichtbar, raum- und zeitlos gegenwärtig.
    20) Ich hoffe, daß hier ein Versehen Moogs vorliegt. Ich habe zwar oft behauptet, daß Kant über die Beschaffenheit der Dinge-ansich Privatansichten gehabt und sie auch öffentlich angedeutet hat (er dachte sie sich monadenartig). Aber ich habe niemals die Annahme der Existenz von Dingen anisch als eine Privatansicht Kants bezeichnen wollen, diese Existenz vielmehr stets als einen integrierenden Bestandteil seines Systems betrachtet. Sollte ich den Ausdruck "Privatansicht" irgendwo auch auf die Annahme der Existenz von Dingen-ansich angewandt haben, so läge ein Flüchtigkeitsversehen vor, aus dem ich bitten würde, keine Konsequenzen zu ziehen.