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GÜNTHER PATZIG
Das Problem der Objektivität
und der Tatsachenbegriff


"Da Wissenschaft als die Bemühung definiert werden kann, begründete Einsichten über Sachverhalte von allgemeiner Bedeutung zu erreichen, ist Tendenz auf Wahrheit eine notwendige und, zusammen mit der Relevanz und einleuchtenden Begründung, hinreichende Bedingung des wissenschaftlichen Charakters einer Behauptung. Wenn nun der Wahrheitsbegriff und der Tatsachenbegriff ins Schwanken geraten, muß auch der Wissenschaftsbegriff undurchsichtig werden."

"Wer über einen Wettlauf von zwei Personen berichtet, der eine Teilnehmener habe den zweiten Platz erreicht, während der andere Vorletzter geworden sei, erzeugt auf der Basis eindeutig wahrer Aussagen durch die Ausnützung gewisser pragmatischer und semantischer Kommunikationskonventionen einen falschen Eindruck. Das Verschweigen der Tatsache, daß  nur zwei  Teilnehmer an dem Wettlauf teilgenommen haben, erweckt die Vorstellung, daß der tatsächlich Unterlegene (der einen zweiten Platz errang) besser abgeschnitten habe als der Sieger, von dem gesagt wird, er sei  Vorletzter  gewesen."

Mit den folgenden Bemerkungen möchte ich den Versuch machen, ein unter den Historikern heute nach meinem Eindruck ziemlich verbreitetes Leiden, wenn nicht zu heilen, so doch zu lindern, das ich, etwas übertreibend, "methodlogischen Masochismus" nennen möchte. Es gibt freilich Historiker, die sich um Fragen der Methodologie überhaupt nicht kümmern und dergleichen Probleme gern den Philosophen und Wissenschaftstheoretikern überlassen. Sie halten jede Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit historischer Forschung und Wahrheitsermittlung für nutzlos oder sogar schädlich und berufen sich dabei gern auf die Geschichte vom Tausendfüßler, der erst in dem Augenblick wie angewurzelt stehenblieb und nicht mehr laufen konnte, als er darüber nachzudenken begann, wie er es eigentlich anstellte, seine Füße so regelmäßig voreinander zu setzen. Diese Abneigung gegen Grundlagenfragen wird auch durch das Beispiel derjenigen Historiker anscheinend gerechtfertigt, die beim Nachdenken über Methodenprobleme schnell in einen hypochondrischen Trübsinn verfallen, obwohl sie, sozusagen werktags, solide historische Arbeit leisten können.

Dieser zweiten Gruppe von Historikern, an die ich mich vor allem wenden möchte, scheint bei näherer Prüfung alles ins Wanken zu geraten, worauf sich der Anspruch der Historie, Wissenschaft zu sein, gründen könnte. Wissenschaftliche Objektivität als Sachgerechtigkeit und intersubjektive Verbindlichkeit scheint sich, je mehr man über die Sache nachdenkt, als ein unerreichbares Ziel, ja als eine Jllusion zu erweisen. Auf jeder Stufe der wissenschaftlichen Arbeit des Historikers mischt sich ja unaufhebbar Subjektives ein: schon die Auswahl des Forschungsgegenstandes ist von vorgegebenen Auffassungen über seine mögliche Bedeutung und Relevanz abhängig. Die Daten, mit denen der Historiker arbeitet, vor allem die Quellen und Dokumente, sind schon von Vorurteilen, Parteimeinungen und Interessen der jeweiligen Autoren geprägt. Erst recht muß beim Versuch der "Erklärung" von historischen Ereignissen eine Bewertung von Faktoren nach ihrem relativen Gewicht vorgenommen werden; die Kriterien eines solchen Gewichtung können aber kaum zwingend und allgemeingültig begründet werden. Moralische Bewertung von Handlungen und Entwicklungen läßt sich schon deshalb nicht vermeiden, weil der Historiker sich einer natürlichen Sprache, nämlich der der Gesellschaft, der er angehört und für die vor allem er schreibt, bedient; die Ausdrucksmittel, die solche Sprachen für historische Vorgänge bereitstellen, sind stets mehr oder weniger wertgeladen. Nimmt man die überall nachweisbaren Prägungen, Vorurteile, Befangenheiten hinzu, in denen sich die Zugehörigkeit zu einer Nation, einem Kulturkreis, einer sozialen Schicht oder Klasse niederschlägt, so erscheint es fast aussichtslos, einen Standard wissenschaftlicher Objektivität auch in der Geschichtsschreibung zu erreichen, der (jedenfalls dem Historiker) in den Naturwissenschaften selbstverständlich zu sein scheint. Auch die von vielen Autoren als Gegenmittel empfohlene ständige und redliche Reflexion auf die jeweils eigenen kollektiven und individuellen Vorurteile kann nicht hinreichende Zuversicht auf ihre Wirksamkeit wecken. Wir wissen aus Beispielen der Vergangenheit genug, daß zu den stärksten Verformungen der Weltansicht nicht so sehr die bewußt eingenommenen Standpunkte beitragen, sondern daß hier gerade die vorbewußten Auffassungsbeschränkungen, ja Wahrnehmungsblindheiten wirksam zu werden pflegen, die sich auch der angestrengtesten Reflexion des erkennenden Subjekts entziehen. Und was sich in der Vergangenheit regelmäßig als Störfaktor erwiesen hat, das müssen wir auch für unsere eigene wissenschaftliche Erkenntnistätigkeit stets in Rechnung stellen.

Es ist nun meine Absicht, dieses düstere Bild etwas aufzuhellen, vor allem der Tendenz entgegenzuwirken, das Kind, dessen Lebenschancen man nicht hoch einschätzt, dann auch gleich mit dem Bad auszuschütten. Auch die Naturwissenschaften, an deren Objektivität man im Vergleich zu den Geisteswissenschaften wenig zweifelt, sind in den letzten Jahren im Zusammenhang der Diskussion zwischen KARL POPPER, THOMAS KUHN und IMRE LAKATOS in ihrer ganzen Komplexität, was das Problem der  Objektivität  angeht, sichtbarer geworden. Auch die Naturwissenschaften vollziehen sich nicht in einem keimfreien Klima eindeutiger Tatsachenbefunde (Beobachtungen) und ebenso klarer Kriterien im Hinblick auf die Bewertung von Hypothesen. Vormeinungen und Interpretationen gehen schon in die Beobachtungen der Naturwissenschaftler ein. Ein Paradigmenwechsel innerhalb einer Wissenschaft kann auch die methodologischen Grundsätze ändern, die bislang als Objektivitätsstandards akzeptiert waren. Statt einer strikten wissenschaftlichen Objektivität, repräsentiert durch die Naturwissenschaften auf der einen Seite und einer unaufhebbaren Subjektivität auf der Seite der Geisteswissesschaften, speziell der Historie, haben wir vielmehr eine Gemengelage und ein Spektrum wechselnder Anteile an subjektiven und objektivitätserhaltenden Faktoren in beiden Wissenschaftsgebieten vor uns. Wissenschaftlichkeit ist nicht an den Besitz eines uneingeschränkten Objektivitätsgrades gebunden, sondern hängt mit dem Bestehen methodischer Standards zusammen, deren Respektierung und Anwendung eine Verbesserung des Objektivitätsgrades sicherstellt. An die Stelle der Frage: Ist die Geschichtswissenschaft objektiv? muß vielmehr die vernünftigere Frage treten: Was trägt, ceteris paribus [bei sonst gleichen Umständen - wp], zur höheren Objektivität der Ergebnisse historischer Untersuchungen bei? Selbst der Historiker, der seine fundamentalen Zweifel hinsichtlich der "Objektivität der Historie" (pauschal genommen) keineswegs verhehlen würde, dürfte wohl keinerlei Bedenken haben, eine solide historische Arbeit "objektiver" zu nennen als eine Geschichtsklitterung, die hauptsächlich Propagandazwecken dienen soll, oder eine Arbeit, die dogmatische Grundsätze ungeprüft übernimmt, wie das bei christlicher oder marxistischer Geschichtsmetaphysik der Fall zu sein pflegt.

Bei einer solchen Untersuchung dürfte auch der Begriff der "Tatsache" eine wichtige Rolle spielen. Auch dieser Begriff ist im Zeichen der Methodenhypochondrie unter den Historikern unverdient in Mißkredit geraten. Zwischen dem Begriff der Tatsache und dem Begriff der Wahrheit besteht nun eine innere Verknüpfung, weil eine Tatsache nicht anders definiert werden kann als das, was vorliegen muß, wenn der Satz, der diese Tatsache behauptet, wahr sein soll. Der Sachverhalt, der von einem Satz behauptet wird, ist eine Tatsache genau dann, wenn dieser Satz wahr ist. Deshalb ist es gut verständlich, daß auch der Wahrheitsbegriff zum Gegenstand kritischer Erörterungen gemacht worden ist, mit der Tendenz, den aristotelischen Korrespondenzbegriff der Wahrheit, dem man heute als seine exaktere Fassung den "semantischen Wahrheitsbegriff" an die Seite stellt, als unzulässig, weil naiv auszuweisen und seine Verwendung in wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen abzulehnen. Mit einigen solchen exemplarischen Fehlinterpretationen des Tatsachen- und Wahrheitsbegriffs wollen wir uns im Folgenden näher beschäftigen. Derlei Vorstellungen haben einen verwirrenden Einfluß auf die Denkweise vieler Wissenschaftler und auf die wissenschaftstheoretische Diskussion ausgeübt. Da Wissenschaft als die Bemühung definiert werden kann, begründete Einsichten über Sachverhalte von allgemeiner Bedeutung zu erreichen, ist Tendenz auf Wahrheit eine notwendige und, zusammen mit der Relevanz und einleuchtenden Begründung, hinreichende Bedingung des wissenschaftlichen Charakters einer Behauptung. Wenn nun der Wahrheitsbegriff und der Tatsachenbegriff ins Schwanken geraten, muß auch der Wissenschaftsbegriff undurchsichtig werden. Die Rolle des Historikers ist dann der Situation eines Bergsteigers vergleichbar, der, während er mühsam im Gestein nach Griffen für den Aufstieg zum Gipfel sucht, plötzlich von der Vorstellung, die ihm vielleicht eingeredet worden ist, geplagt wird, am Ende gebe es gar keinen Gipfel des Berges oder er klettere nicht wirklich, sondern träume nur.

Die Arbeit des Historikers ist sicherlich schon schwierig genug, auch wenn die Mühen nicht hinzutreten, die durch Auseinandersetzung mit Scheinproblemen entstehen müssen. Es lohnt sich deshalb, Überlegungen zu durchlaufen, die geeignet sein dürften, einige dieser Scheinprobleme als solche festzumachen, damit die methodologische Reflexion sich hinfort mit den wirklichen Schwierigkeiten befassen kann. Zunächst müssen wir versuchen, uns auf einen Begriff von "Objektivität" zu einigen, der für unsere Zwecke hinreichend klar bestimmt ist. Der Ausdruck ist, wie sich leicht zeigen läßt, weder durch den allgemeinen Sprachgebrauch normiert, noch wird man bei Philosophen und Wissenschaftstheoretikern eine allgemein akzeptierte Definition finden. Es scheint mir unter diesen Umständen nützlich, von den drei Bedeutungskomponenten auszugehen, die ADAM SCHAFF in seinem Buch "Geschichte und Wahrheit" unterscheidet: "Objektiv" bedeutet erstens soviel wie "vom Objekt, vom Gegenstand kommend". Zweitens die Bedeutungskomponente der Allgemeingültigkeit, nach der "objektive Erkenntnis" Erkenntnis von allgemeinem, nicht nur von individuellem Wert ist. Drittens unterscheidet SCHAFF die Bedeutungskomponente "objektiv" gleich "frei von emotionaler Färbung und damit verbundener Parteilichkeit" (1). Bei SCHAFF scheint mir eine Bedeutungskomponente nicht berücksichtigt, die doch häufig vorkommt: Objektivität wird häufig mit absoluter Wahrheit gleichgesetzt, und absolute Wahrheit auch in dem Sinne verstanden, daß eine objektive Darstellung nicht bloß in jeder Hinsicht zutreffend sein muß, sondern den jeweils dargestellten Gegenstand auch vollständig erfassen muß. In diesm sehr extremen Sinn von Objektivität kann menschliche Erkenntnis, wie man leicht sieht, nie vollkommen objektiv sein, da es nie gelingen wird, einen Gegenstand vollständig zu erfassen und seiner Erkenntnis gleichsam auszuschöpfen.

Soll uns etwa jedes dieser genannten Merkmale für sich genommen schon Objektivität verbürgen, oder sollen wir annehmen, daß erst alle zusammen das ausmachen, was wir unter dem zugestandenermaßen unscharfen Prädikat "objektiv" verstehen wollen?

Diese Frage ist wohl im Hinblick auf die Art von Allgemeingültigkeit am leichtesten zu beantworten, die im bloßen Konsens der Mitforschenden in einem wissenschaftlichen Gebiet besteht. Diese Auffassung ist besonders deutlich von WILLIAM H. WALSH in seiner  Introduction to Philosophy of History  (2) vertreten worden. WALSH meint, für die Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnis im Bereich der Naturwissenschaften sei nicht so sehr die Tatsache, daß Naturwissenschaftler sich mit einem von ihnen unabhängigen Gegenstand, nämlich der physischen Welt, befassen, verantwortlich, als vielmehr die Tatsache, daß die Naturwissenschaften ein allgemein akzeptiertes Verfahren des Nachdenkens über ihre Gegenstände entwickelt hätten ("a standard way of thinking about its subject matter"). Diese Auffassung läßt sich leicht an KANT anschließen, in dessen Auffassung Allgemeingültigkeit als notwendige Übereinstimmung unter Subjekten verstanden wird: "Das Objekt bleibt an sich selbst immer unbekannt, wenn aber durch den Verstandesbegriff die Verknüpfung der Vorstellungen, die unserer Sinnlichkeit von ihm gegeben sind, als allgemeingültig bestimmt wird, so wird der Gegenstand durch dieses Verhältnis bestimmt und das Urteil ist objektiv." (3) Wir brauchen hier nur beiläufig daran zu erinnern, daß der freilich auch von KANT als immer noch notwendig angesehene Brückenschlag von der subjektiven Zwangsläufigkeit von Vorstellungsverknüpfungen zur objekt-orientierten Allgemeingültigkeit nur durch einen umfassenden Beweis eingelöst werden kann, daß nur bei der Voraussetzung eben des Kategoriensystems, das KANT aufgestellt hat, Einheit der Erfahrung überhaupt und damit objekt-orientierte Wissenschaft möglich ist. Gibt man nun die Idee einer solchen "transzendentalen Deduktion" der reinen Verstandesbegriffe auf - und es gibt wohl viele Gründe, die dafür sprechen, daß wir eine solche transzendentale Deduktion nicht führen können -, dann hat man natürlich auch nicht mehr das Recht, aus der Gleichläufigkeit von Erkenntnisoperationen bei verschiedenen Subjekten (der sogenannten "scientific community") schon auf die Objektivität der so erreichten Aussagen zu schließen. Ebensowenig könnte man aus der bloßen Tatsache, daß eine bestimmte Menge von Computern gleich programmiert sind, auf die Richtigkeit der von ihnen ausgeworfenen Resultate schließen. Übrigens müßte man wohl gegen die Auffassung von WALSH außerdem noch einwenden, daß die methodische Übereinstimmung der Naturwissenschaftlicher (ihr sogenannter "standard way of thinking") längst nicht so lückenlose ist, wie er die Sache darstellt. Die Methodendiskussionen in den Naturwissenschaften, insbesondere in ihren theoretisch anspruchsvolleren und zur Zeit noch nicht endgültig fixierten Teilen, sind, wie sich jeder überzeugen kann, außerordentlich lebhaft. Außerdem gilt aber, und dies scheint mir das wichtigere Argument: selbst wenn wir einen vollständigen Konsens im Hinblick auf Methodenfragen in irgendeinem Wissenschaftsbereich voraussetzen könnten, würde die allein noch keine ausreichende Basis für Objektivitätsansprüche ausmachen. Vielmehr scheint die Sache so zu liegen: Nicht der Konsens der Physiker macht eine physikalische Aussage zu einer These, deren Objektivitätsanspruch wir immer ernstzunehmen bereit sind. Vielmehr werden, so meinen wir, nur solche physikalischen Hypothesen die Chance haben, einen Konsens der Physiker, wenigstens in methodischer Hinsicht, für sich zu gewinnen, die auch noch andere sachliche Gründe für sich anführen können.

Es wäre doch beispielsweise möglich, daß sich im Bereich der Astrologie, wo es vermutlich mehrere "Schulen" gibt, eine einzige Schule derartig durchsetzte, daß alle Astrologen nur noch nach den Methoden dieser Schule ihre Horoskope stellen. Daraus würde aber doch wohl noch nicht folgen, daß diejenigen, die an der Objektivität der astrologischen Hypothesen und Theorien zweifeln, diese Zweifel nun aufgeben würden. Schulstreit in einer Wissenschaft über die Methoden ist für sich genommen weder ein Grund, an der möglichen Objektivität der Ergebnisse dieser Wissenschaft zu zweifeln, noch gilt, daß die Übereinstimmung unter den Wissenschaftspraktikern einer Disziplin schon die Objektivität ihrer Ergebnisse sicherstellen könnte. Man kann höchstens sagen, daß Übereinstimmung unter den Fachleuten einer Disziplin ceteris paribus ein Indiz für Objektivität der in dieser Disziplin aktzeptierten Verfahren und Resultate sein kann. Jedoch kann ein Objektivitätsanspruch nicht aus dem Konsens der Fachleute eines Sachgebietes abgeleitet werden, und erst recht gilt nicht, daß dieser Konsensus das wäre, was eigentlich gemeint ist, wenn wir von der Objektivität einer Disziplin und ihrer Methoden und Resultate sprechen.

Kommen wir nun zum zweiten Komplex: Objektivität als Darstellung der Sache, wie sie selbst ist, ohne Abzug und ohne Zutat, Objektivität als reine "Widerspiegelung" der Sache (wie ADAM SCHAFF das noch ausdrückt (4), also als absolute Wahrheit. Inzwischen ist es doch wohl allgemeine Ansicht, ja man kann sagen Einsicht geworden, daß als Ziel wissenschaftlicher Bemühungen nicht mehr nur die "Erkenntnis der Wahrheit" in dem Sinne gelten kann, daß Wissenschaft an der Einsammlung wahrer Sätzes, bloß als solcher, besonders interessant wäre. Es gibt viele wahre Sätze, die in keiner Wissenschaft auftauchen und von der Wissenschaft mit Recht vernachlässigt werden. Ob ich heute morgen zur Frühstück ein gekochtes Ei gegessen habe oder nicht, interessiert die Wissenschaft nicht, ebensowenig wie die Frage, wieviele Bewohner unseres Planeten Nachnamen haben, die mit dem Buchstaben "A" anfangen. Der Wissenschaft geht es um Sätze, die sich durch einen hohen Informationsgehalt auszeichnen, um Sätze mit erheblichen Folgerungsmengen, die uns Einsichten in wichtige Zusammenhänge eröffnen können, speziell um solche Sätze, die etwas zur Lösung von schon diskutierten Problemen beitragen. Dieses Thema ist inzwischen so geläufig, daß ich mich darauf beschränken möchte, den schönen, auch von KARL POPPER zitierten Vierzeiler von WILHELM BUSCH hier anzuführen:
    Zweimal zwei gleich vier ist Wahrheit.
    Schade, daß sie leicht und leer ist.
    Denn ich wollte lieber Klarheit
    über das, was voll und schwer ist. (5)
In diesem Zusammenhang zwischen Relevanz und Wahrheit als notwendiger Kennzeichen wissenschaftlicher Sätze hat auch ERHARD SCHEIBE in seinem vortreffliche Aufsatz "Wissenschaft und Wahrheit" (6) den vernünftigen, wenn auch von dessen Vertretern nicht immer richtig erkannten Sinn jeder sogenannten "Kohärenztheorie" der Wahrheit gesehen. Darauf werden wir im späteren Zusammenhang noch kurz zurückkommen. Daß die eben nur locker skizzierte Informationslosigkeit, Bedeutsamkeit oder Relevanz für den Charakter einer Aussage eben als wissenschaftliche Aussage sogar noch vor der Wahrheit rangieren kann, geht schon aus der einfachen Überlegung hervor, daß Sätze, die Negationen von bloß approximativ wahren naturwissenschaftlichen oder anderen wissenschaftlichen Aussagen sind, natürlich im strikten Sinne des Wortes wahr sind, daß sich aber andererseits für solche Sätze im allgemeinen kaum ein Wissenschaftler interessieren würde. Eine wissenschaftliche Abhandlung, in der fast jeder Satz nicht stimmt, wird nicht dadurch zu einer wissenschaftlichen Höchstleistung, daß man vor alle Sätze ein Negationszeichen schreibt. Es ist allgemein bekannt, daß die KEPLER'schen Gesetze der Planetenbewegung nur näherungsweise, daher nicht strikt, daher eigentlich nicht wahr sind. Also ist die Negation der KEPLERschen Gesetze wahr. Aber eine solche Negation bietet uns nicht hinreichend Informationen, um sie wissenschaftlich interessant zu machen. Hoher Informationsgehalt läßt uns auch solche Sätze vorläufig akzeptieren, von denen wir wissen, daß sie nicht strikt, sondern nur approximativ wahr sind.

Dieser Zusammenhang zwischen Wahrheit und Bedeutsamkeit, bzw. Informationsfülle und Relevanz von Sätzen, die mit Recht als wissenschaftliche Aussage sollen gelten können, hat manche Autoren zu dem Versuch angeregt, einen besonderen wissenschaftlichen Wahrheitsbegriff einzuführen, in den die Relevanz gleichsam eingearbeitet worden ist. Wahr, im wissenschaftlichen Sinn, soll demnach nur das genannt werden können, was zur Einheit des Weltverständnisses beiträgt. Wahrheit wird damit eine Sache des Grades und, da Objektivität an Wahrheit in diesem neuen Sinn gebunden zu sein scheint, gibt es dann auch entsprechende Grade der Objektivität. Diesen Weg hat beispielsweise ERNST TUGENDHAT in seiner Studie "Zum Verhältnis von Wissenschaft und Wahrheit" (7) eingeschlagen. Mein Respekt vor den wissenschaftlichen Verdiensten des Autors und seiner auch in diesem Aufsatz klar zutage tretenden philosophischen Kompetenz kann mich doch nicht daran hindern, seinen Gedankengang als fehlerhaft, ja abwegig zu bezeichnen. Der Relevanzaspekt wird, wenn man es kurz formulieren soll, von TUGENDHAT dadurch in den Wahrheitsbegriff selbst verlegt, daß er der Wissenschaft als Aufgabe die Erkenntnisbemühung um das "Ganze" zuschreibt. Ein wissenschaftlicher Satz wird dann in dem Maße wahr, in dem der zur Erkenntnis des Ganzen beiträgt. TUGENDHAT verweist auch darauf, daß nach seiner Meinung richtige Einzelaussagen das Ganze und seine Erkenntnis so verhüllen können, daß sie "unwahr" (8) werden. Demgegenüber möchte ich doch festhalten: Teilwahrheiten sind eben nur, was sie sind, nämlich  Teil wahrheiten. Aber sie sind deshalb in ihrem Wahrheitscharakter doch nicht beeinträchtigt. Es ist in einem wohldefinierbaren Sinn nur die halbe Wahrheit, wenn jemand darauf hinweist, daß beispielsweise die Zahl der Krebserkrankungen in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Denn zur Beurteilung dieser Tatsache und ihrer Einordnung in einen Zusammenhang ist es natülich auch wichtig, hinzuzunehmen, daß die durchschnittliche Lebenserwartung und damit auch die Zahl der von dieser Krankheit Gefährdeten regelmäßig gestiegen ist und außerdem die Verbesserung unserer Diagnosemöglichkeiten zu einer höheren Zahl erkannter Krebsfäll geführt hat. Wenn auch die genannte Aussage nur ein Teil der Wahrheit ist, und zur richtigen Erkenntnis des Gesamtzusammenhangs ergänzungsbedürftig scheint, so ist doch die genannte Aussage, soweit sie geht, um nichts weniger wahr, und zwar ganz wahr und nicht etwa bloß halb wahr. Teilwahrheiten in diesem Sinne sind nicht bloß teilweise wahr, wie es diejenigen Aussagen sind, die man Halbwahrheiten nennt, wie es zum Beispiel die Aussage wäre, daß in der Bundesrepublik die Frauen den Männern gleichgestellt seien. Denn diese Aussage ist nur so weit wahr, als sie sich auf Rechtsregelungen bezieht, keineswegs aber im Hinblick auf die tatsächlichen Chancen in Bildung und Beruf.

Die Gleichsetzung von Teilwahrheiten mit solchen Aussagen, die nur teilweise wahr sind, scheint hinter der oft vertretenen Ansicht zu stehen, historische Forschung könnte schon deshalb nicht volle Objektivität erreichen, weil sie immer nur Ausschnitte und Teilaspekte der Wirklichkeit, die sie erfassen soll, in den Blick nehmen kann. Man spricht in diesem Zusammenhang gern von notwendig "einseitiger" Betrachtungsweise. Aber es ist natürlich wissenschaftstheoretisch betrachtet, ein entscheidender Unterschied, ob an Teilwahrheiten im Bewußtsein, daß es sich um solche handelt, vorträgt, oder ob man sich selbst und/oder dem Leser suggeriert, die vorgetragene Teilansicht sei schon die ganze Wahrheit über den jeweils behandelten Gegenstand oder historischen Prozeß. Es entspricht der Unterscheidung zwischen Teilwahrheiten und Aussagen, die nur zum Teil wahr sind, daß wir fragmentarische und perspektivische Auffassungen mit Recht objektiv nennen können. Die objektivitätsgefährdende Fehlerquelle liegt in der möglichen  suggestio falsi  Behauptung von Falschem als Wahres - wp] oder der  suppressio veri  [Unterdrückung von Tatsachen - wp], die durch einen uneingelösten Totalitätsanspruch ins Spiel kommen. Es ist in diesem Zusammenhang für die wissenschaftstheoretische Beurteilung, wenn auch vielleicht nicht für die moralische, gleichgültig, ob man nur fahrlässig, oder sogar absichtlich die semantischen oder pragmatischen Konventionen der sprachlichen Kommunikation dazu verwendet, den Teilcharakter und die Aspekthaftigkeit der jeweils vorgetragenen Ansicht zu verhüllen. Wer über einen Wettlauf von zwei Personen berichtet, der eine Teilnehmener habe den zweiten Platz erreicht, während der andere Vorletzter geworden sei, erzeugt auf der Basis eindeutig wahrer Aussagen durch die Ausnützung gewisser pragmatischer und semantischer Kommunikationskonventionen einen falschen Eindruck. Das Verschweigen der Tatsache, daß nur zwei Teilnehmer an dem Wettlauf teilgenommen haben, erweckt die Vorstellung, daß der tatsächlich Unterlegene (der einen zweiten Platz errang) besser abgeschnitten habe als der Sieger, von dem gesagt wird, er sei "Vorletzter" gewesen. Hier wird auch durch die Verwendung des Ausdrucks "Vorletzter" für den Sieger in einem Wettstreit zwischen nur zwei Partnern eine semantische Konvention verletzt, die darin besteht, daß man den Ausdruck "Vorletzter" nur für jemanden verwendet, der in einem größeren Feld die zweitletzte Stelle eingenommen hat.

Der illegitime Weg von den wahren Aussagen zu  der  Wahrheit im Ganzen, von Einzelheiten zu dem übergreifenden Zusammenhang, in dem die Einzelheiten ihren Platz haben, wird besonders von den Autoren eingeschlagen, die sich mit dem Gedanken nicht befreunden können, daß die Wissenschaften, auch die historischen Wissenschaften, es jedenfalls auch mit einzelnen, wohlbestimmten Tatsachen zu tun haben, und daß die Objektivität von Wissenschaften dort jedenfalls am wenigsten problematisch sein dürfte, wo sie sich auf solche ("harten") Tatsachen stützen kann. besonders charakteristisch für ein solches Verfahren ist beispielsweise die Argumentation des amerikanischen Historikers CARL BECKER (1873 -1945) in seinem erst posthum veröffentlichten Aufsatz "What are Historical Facts?" (9) BECKERs Thesen sind die folgenden: Die "einfachen" Tatsachen, mit denen der Historiker rechnet, sind in Wirklichkeit außerordentlich kompliziert, in Wirklichkeit handelt es sich um "Verallgemeinerungen" von vielen tausend Einzeltatsachen, die vom Historiker als "eine" Tatsache aufgefaßt werden. Die Tatsache ist daher ein "Symbol", eine einfache Aussage, die eine Verallgemeinerung vieler Tatsachen repräsentiert. Daher ist nicht das historische Ereignis mit der "Tatsache" gleichzusetzen, sondern die Aussage über das Ereignis, die heute gemacht wird. Daraus folgt, daß historische Tatsachen ihren Ort im Bewußtsein des Historikers haben. Diese Argumentation BECKERs ist seit ihrer Veröffentlichung im Jahre 1955 mehrfach, auch von SCHAFF in seinem zitierten Buch (10), kritisiert worden. Jedoch ist über der Kritik an BECKERs Thesen fast regelmäßig die fundamentale Tatsache übersehen worden, daß BECKER in seiner Argumentation mehrfach massive Kategorienverwechslungen unterlaufen. Zum Beispiel wird die von ihm als exemplarisch behandelte Tatsache "Cäsar hat im Jahre 49 vor Christus den Rubikon überschritten" daraufhin befragt, ob diese Tatsache so einfach sei, wie sie aussieht. Nach BECKER zeigt sich, daß die Tatsache aus einer Fülle von Einzeltatsachen besteht, weil der Vorgang einer Flußüberschreitung durch eine ganze Armee kompliziert genug erscheint. Der Vorgang steht auch in Beziehung zu allen möglichen anderen Vorgängen, die vorausliegen und folgen, Beziehungen, die von der schlichten Tatsachenfeststellung ausgeblendet werden, die sogenannte historische Tatsache aber überhaupt erst zu etwas machen, mit dem sich der Historiker zu beschäftigen Anlaß findet. In einem solchen Gedankengang wird offenbar erstens die Tatsache mit den jeweils zugeordneten Ereignissen oder Vorgängen verwechselt. Die Tatsache kann nicht in Einzeltatsachen zerlegt werden, jedoch wird man einen Vorgang aus Einzelvorgängen zusammengesetzt denken können. Die Tatsache  p  ist genau das, was den Satz "p", wenn er wahr ist, wahr macht, nicht mehr und auch nicht weniger (11). Die Aussage über einen Vorgang oder ein Ereignis wird nicht wahrer dadurch, daß sie mehr Einzelheiten berücksichtigt. Sie wird dadurch spezifizierter; ob sie an wissenschaftlichem Wert gewinnt, hängt jeweils davon ab, ob die zusätzliche Information für die Fragestellung, um die es wissenschaftlich geht, von Bedeutung ist. Der Satz, daß man Hund FIDO heute morgen den Briefträger gebissen hat, bezieht sich auf eine Tatsache. Diese Tatsache ist genau die, die der Satz ausspricht. Selbstverständlich könnte man den Vorgang auch noch detaillierter beschreiben, zum Beispiel hinzufügen, daß der Briefträger ins linke Hosenbein gebissen wurde, daß FIDO dieser oder jener Hunderasse angehört, braunschwarz gefleckt ist usw. Auch der Name des Briefträgers, seine berufliche Laufbahn, sein Lebensalter und dergleichen könnte noch als Information hinzugefügt werden. Es ist die Aufgabe des Wissenschaftlers, seine Tatsachenerhebungen und Tatsachendarstellungen auf der Spezifikationsebene anzusiedeln, die nicht ein Maximum, sondern ein Optimum an Information liefert. Die Vorstellung ist zwar naheliegend, aber irrig, daß die "eigentliche" Tatsache die unendlich detaillierte Beschreibung eines Ereignisses oder Zustandes wäre und entsprechend, daß wir uns der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung durch Spezifikation und Konkretisierung nähern könnten. Da die Beziehungen, zu denen jeder Gegenstand und jede Person, die in einer Tatsachenbeschreibung eine Rolle spielen, zu allen anderen Gegenständen und Personen stehen, zu einer detaillierteren Beschreibung notwendig hinzugehören, wird eine solche Spezifizierung nicht aufhören können, ehe sie nicht eine Beschreibung der gesamten Wirklichkeit einschließt. Dies liegt wohl auch der Vorstellung zugrunde, die sich in dem Diktum HEGELs "Das Wahre ist das Ganze" ausdrückt. Aber diese Auffassung ist nicht haltbar; auch eine Tatsachenbeschreibung, die keineswegs voll spezifiziert ist, ist, wenn das, was sie behauptet, tatsächlich der Fall ist, in eben demselben Sinn wahr, in dem auch eine vollständige Weltbeschreibung wahr sein könnte. Es ändert nichts an der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung, wenn man einräumt, das, was in der Tatsachenbehauptung festgestellt wurde, könnte auch noch anders, nämlich faktenreicher, dargestellt werden. Es ist wiederum eine Kategorienverwechslung, wenn Becker sagt, jede einfache Tatsache sei in Wirklichkeit eine hochkomplexe Tatsache. So kann der Eindruck entstehen, als seien Tatsachen etwas Ungreifbares und Rätselhaftes. Völlig unhaltbar ist die anschließende These, wir müßten nicht die Tatsachen, sondern nur die Behauptungen von Historikern über vergangene Ereignisse oder Zustände als den eigentlichen Gegenstand der historischen Diskussion ansehen, weil wir doch immer nur mit Behauptungen, nicht unmittelbar mit Tatsachen der Vergangenheit Kontakt aufnehmen und konfrontiert werden könnten. Wenn dies gelten würde, so könnten wir dieses Prinzip von der Satzebene auch auf Eigennamen übertragen und müßten dann sagen, daß Historiker nicht über Personen, sondern nur über ihre Eigennamen handeln, da wir natürlich nicht SOKRATES und PLATON, NAPOLEON und BISMARCK selbst vor uns haben, sondern nur ihre Namen, wie sie in Inschriften, Dokumenten und historischen Abhandlungen angeführt werden. Diese Behauptung ist nach philosophischen Grundsätzen etwa gleichzuachten der These, daß wir Menschen nicht eigentlich in Häusern, sondern nur in Sinnesdaten von Häusern wohnen, weil uns Häuser ja auf keine andere Weise als durch Sinneswahrnehmungen zugänglich werden.

Aus dieser BECKER'schen Kategorienverwechslung folgt dann auch, daß die historischen Tatsachen sich im Kopf der Historiker befinden, da sie ihrer Natur nach Gedanken sind oder Behauptungen, die jemand aufstellt, und solche Behauptungen nur im "Geiste" oder im Kopf von Individuen auftreten können. Hier fehlt BECKER die Einsicht, daß Gedanken und Inhalte von Sätzen zeitlose Entitäten sind, die auch nirgends lokalisiert werden können. Der Satz des PYTHAGORAS hat weder einen Ort noch eine Zeitstelle, und ebenso hat die Tatsache, daß CÄSAR im Jahre 49 den Rubikon überschritten hat, keine zeitlich-räumliche Fixierung. Das Ereignis, auf das sich die Tatsache bezieht, ist zeitlich und räumlich lokalisierbar. Ebenso handelt es sich um ein raumzeitliches Ereignis, wenn jemand die Behauptung aufstellt, die der Tatsache entspricht. Aber die Tatsache, daß CÄSAR im Jahre 49 vor CHRISTUS den Rubikon überschritten hat, braucht ebensowenig eine raum-zeitliche Fixierung, wie die Tatsache, daß zwei mal zwei vier ist.

Hat man sich einmal auf den gefährlichen Gedanken eingelassen, ein Ereignis oder ein Vorgang könnten nur wahrheitsgemäß oder objektiv erfaßt sein, wenn sie vollständig, allseitig oder erschöpfend dargestellt wären, so würde man einer schlichten Auffassung wissenschaftlicher Wahrheit als Übereinstimmung mit den Tatsachen nicht mehr folgen können und eher einer Kohärenztheorie vertrauen, die den Wahrheitswert einzelner Aussagen daran mißt, ob sie sich in das Ganze unserer Erkenntis widerspruchsfrei einfügen lassen. Jedoch scheint klar, daß wir das nicht meinen, wenn wir einen Satz wahr nennen.

Wenn der Satz "Rome had won universal empire half-reluctant, throug a series of accidents, the ever-widening claims of military security and the ambition of a few men" [Rom war halb widerwillig zu einem Weltreich geworden: durch eine Reihe von Unfällen, durch die immer größer werdenden Ansprüche an militärische Sicherheit und den Ehrgeiz von einigen Männern. - wp] (um nur einen beliebigen Satz eines Historikers herauszugreifen) (12) wahr ist, dann ist er deshalb wahr, weil es so ist, wie er sagt, und nicht deshalb, weil er mit anderen Sätzen, die wir für wahr halten, zusammenstimmt oder aus ihnen folgt. Es gilt natürlich, daß wir zu der Einsicht in die Wahrheit eines solchen Satzes meistens nicht dadurch gelangen, daß wir der Tatsache, die er behauptet, gleichsam gegenübertreten und sie mit dem Satz vergleichen können. Vielmehr versichern wir uns der Wahrheit solcher Sätze im allgemeinen dadurch, daß wir feststellen, in welchem Maß sie mit anderen Sätzen, die wir schon für wahr zu halten Grund haben, zusammenstimmen.

Richtig ist auch, daß alle unsere Tatsachenfeststellungen von Voraussetzungen, die wir immer schon machen, abhängig sind. Auch die Ausdrücke, mit denen wir solche Sätze bilden, stehen in gewissen Sinnhorizonten, die auf das, was wir mit Hilfe dieser Ausdrücke formulieren, wesentlich einwirken. Es gibt gute Argumente für die Kohärenztheorie der Wahrheit. Diese Situationen kann man am besten, wie mir scheint, dadurch theoretisch bereinigen, daß man die  Kohärenztheorie  und die  Korrespondenztheorie  für verschiedene Aufgaben heranzieht: solange wir uns dafür interessieren, was wir eigentlich meinen, wenn wir eine wissenschaftliche Aussage wahr nennen, müssen wir die Korrespondenztheorie heranziehen. Geht es aber darum herauszufinden, welche unserer wissenschaftlichen Aussagen nun im einzelnen wahr sind, das heißt um Verifikationsprobleme, wird man die Kohärenztheorie der Wahrheit zur Rate ziehen müssen. Die Korrespondenztheorie wäre demnach für die Definition des Begriffs der Wahrheit, die Kohärenztheorie für die Kriterien seiner Anwendung zuständig (13). Anders als KARL POPPER möchte ich aber doch daran festhalten, daß wir nicht nur eine korrespondenztheoretische Definition des Wahrheitsbegriffs als eines Ideals, an dem wir alle Wahrheitsansprüche messen können, haben, sondern daß wir auch, im lebensweltlichen Vorverständnis und in der Wissenschaft, unproblematische Beispiele unbezweifelbar wahrer Sätze vor uns haben. Wahre Sätze, wissenschaftlich wahre Sätze, auch wenn sie einer unmittelbaren Verifikation nicht unterzogen werden können, verhalten sich zu den vielleicht tiefliegenden und komplexen Tatsachen, die von ihnen behauptet werden, genauso, wie sich der schlichte Satz, daß ich heute morgen zum Frühstück ein gekochtes Ei gegessen habe, zu eben der Tatsache verhält, die der Satz ausspricht. Und wenn auch die Tatsachen, auf die der Historiker zunächst bezogen ist, nämlich die Tatsachen über historische Ereignisse und Zusammenhänge, nicht so unmittelbar als Tatsachen greifbar sein mögen wie die eben genannte, so gibt es doch auch für den Historiker unbezweifelbare Daten, nämlich zum Beispiel das Vorhandensein bestimmter Schriftzüge auf bestimmten an bestimmten Orten vorgefundenen Inschriftsteinen, die Tatsache, daß eine Folge von Sätzen in einer Urkunde geschrieben steht, die der Historiker jetzt vor sich hat, und derlei mehr. Insofern sind die Verifikationsschwierigkeiten, die wir in jeder Wissenschaft, und natürlich auch in den Geschichtswissenschaften, stets vor uns haben, kein für sich hinreichender Grund, an der Möglichkeit der Objektivität wissenschaftlicher und speziell geschichtswissenschaftlicher Einsichten generell zu zweifeln. Es bleibt aber wichtig, daß Objektivität in der Geschichtswissenschaft wesentlich auch davon abhängt, daß die stets notwendige Selektivität und das Fragmentarische des jeweiligen Geschichtsverständnisses als Einschränkung jedes Totalitätsanspruchs unserer Wirklichkeitserfassung bewußt bleiben und auch als solche anerkannt werden. Mit diesen Formulierungen nähere ich mich, wie man sofort sieht, einem Satz von JÖRN RÜSEN: "Objektiv ist historische Erkenntnis in dem Maße, wie sie über ihre gesellschaftlichen Bedingungen aufgeklärt ist oder sich aufklären läßt." (14) Ich glaube aber nicht, daß die Reflexion das Maß der Objektivität abgeben kann, ich glaube auch nicht, daß es nur die gesellschaftlichen Bedingungen sein sollen, deren Reflexionsgrad das Maß an Objektivität definieren kann.

Wir kommen nun zu dem letztgenannten Störfaktor möglicher Objektivität, nämlich Objektivität als Freiheit von Emotionen, von Parteilichkeit, von der Leitung durch Sonderinteressen. Hierfür kann man einen Ausspruch von JOHN DEWEY anführen, der in dem Artikel von CHRISTOPHER BLAKE "Can History be Objective?" zitiert wird. "To be intellectually  objective  is to discount an eliminate merely personal factors in the operations by which a conclusion is reached." [Wer intellektuell "objektiv" sein will, muß die überwiegend persönlichen Faktoren unberücksichtigt lassen, bzw. eleminieren in den Operationen die zu einer Schlußfolgerung führen. -wp]. (15) Man darf inzwischen wohl als allgemein akzeptiert ansehen, daß die Verfahren, mit denen wir wissenschaftliche Hypothesen gewinnen, grundsätzlich zu unterscheiden sind von den Verfahren, mit denen wir die Tragfähigkeit solcher Hypothesen überprüfen  (context of discovery  und  context of justification).  Für die Gewinnung von Hypothesen kann uns sozusagen alles willkommen sein, was den Prozeß fördert; es ist von vielen Autoren schon mit Recht darauf hingewiesen worden, daß beispielsweise ohne leidenschaftliche Beteiligung an einer wissenschaftlichen Diskussion oder emotionales Interesse an den Gegenständen der Forschung kaum Anstrengungen gemacht werden dürften, die von der Größenordnung sind, die für die Gewinnung bedeutender neuer Einsichten nun einmal vorausgesetzt werden muß. "The operation, by which a conclusion is reached" - schon dieser Ausdruck erinnert uns daran, daß die Einsicht noch relativ jung ist, nach der die Logik nicht den Gang des wissenschaftlichen Denkens regeln kann, und erst recht nicht den Gang des wissenschaftlichen Denkens beschreiben soll. Vielmehr gibt die Logik uns Regeln an die Hand, nach denen wir über den wissenschaftlichen Wert der Argumente entscheiden können, die für die wie auch immer erreichten Resultate des Nachdenkens und Forschens vorgebracht werden können.

Besondere persönliche Zuneigung zu einer historischen Person mag den einen Historiker zu seiner Arbeit inspirieren. Ein anderer mag durch Empörung über die unerträgliche Ausbeutung der Arbeiter im Frühkapitalismus zu seinen Untersuchungen veranlaßt werden. Parteienhaß und nationalistische Emotionen können den Blick schärfen, so daß man bekannte Dinge in neuem Licht sieht. Für die Objektivität der erreichten Ergebnisse kommt es darauf nicht an, aus welchen emotionalen Quellen die wissenschaftliche Anstrengungen, die zu ihrer Erreichung nötig waren, gespeist werden. Freilich können solche Motive auch nicht an die Stelle von Argumenten treten, und es ist eine Sache der Erfahrung, daß ein gewisser emotionaler Untergrund, oder eine Interessenlage auch auf die Resultate durchschlagen kann, die ein Wissenschaftler der Öffentlichkeit vorlegt. Schon ARISTOTELES wußte, und hat es in seiner "Politik" ausgesprochen, daß niemand in Angelegenheiten, die seine eigenen Interessen betreffen, besonders zuverlässig urteilt. (16)

Jedenfalls hat die Ansicht etwas Weltfremdes, man müsse ein umso besserer Historiker sein, je weniger man für leidenschaftliches Engagement und Emotionen anfällig ist. Man kann sich kaum vorstellen, daß jemand etwa die Geschichte der STALIN'schen Schauprozesse oder der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik gegenüber den Juden oder die ständigen Wortbrüche HITLERs im Hinblick auf seine "letzten" territorialen Anforderungen in der Zeit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf eine angemessene Weise wissenschaftlich darstellen könnte, der nicht dabei Empörung über die Menschenverachtung, die Brutalität und Niedertracht, die sich in solchen Verhaltens weisen darstellt, empfindet. Angesichts solcher Tatsachen nichts zu empfinden, und eine solche moralische Beurteilung auch nicht in die Art der Darstellung einfließen zu lassen, würde man nicht "objektiv", sondern wohl bloß "gefühllos" nennen. Es gibt Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge, zu deren "objektiver" Erfassung eben auch eine moralische Reaktion gehört. Objektiv in diesem Sinne heißt daher nicht frei von moralischer Beurteilung oder moralischer Bewunderung bzw. Empörung, sondern frei von unangemessenen moralischen Beurteilungen oder emotionalen Reaktionen.

Ich fasse zusammen: Die vorstehend behandelten prinzipiellen Angriffe auf die Möglichkeit objektiver Ergebnisse in den historischen Wissenschaften sind nicht zwingend. Aber damit, daß man Angriffe auf die These der Möglichkeit objektiver Befunde in den historischen Wissenschaften abgewiesen hat, hat man diese Möglichkeit selbst noch nicht bewiesen. Wir fragen also abschließend: Was konstituiert das Recht, eine These aufgrund vorliegender Befunde und im Hinblick auf rationale Argumentationsverfahren aufzustellen? Und das heißt: Was macht eine historische Untersuchung oder Darstellung objektiv?

Objektivität ist offenbar eine Sache des Grades. Es ist wohl zweckmäßig, eine These, eine Darstellung, eine Erklärung dann "ideal-objektiv" zu nennen, wenn sie an allgemein akzeptierte lebensweltliche Voraussetzungen jedes Verständnisses anknüpft (das wird im allgemeinen durch Formulierung in einer natürlichen Sprache erreicht), sich auf allgemein zugängliche Tatsachen stützt und aus ihnen mit logisch als korrekt anerkannten Argumentationsschritten entwickelt werden kann. Wie weit man nun die Ansprüche auf Objektivität dieser Ideal-Objektivität annähern will, und in welchem Umfang man der Schwierigkeit der Materie nachgibt und Abstriche macht, muß wohl im Einzelfall entschieden werden. Wichtig ist es vor allem, die Resignation zu vermeiden, die sich beim Wissenschaftler leicht einstellt, wenn ihm immer wieder vorgehalten wird, in seinem Arbeitsbereich sei ohnehin keine objektive Einsicht zu erlangen und deshalb könne man sich viel Arbeit sparen, wenn man sich gleich von vornherein der jeweils herrschenden Zeitströmung anpaßt. Wenn es auch keine streng objektiven Sätze und Erkenntnisse in den Geisteswissenschaften gibt, so gibt es doch ein wohlformulierbares Objektivitätsideal und die Möglichkeit, jeweils objektivere von weniger objektiven Untersuchungsverfahren, Auffassungen und Resultaten zu unterscheiden. Und das sollte für erwachsene Menschen genug sein; es ist jedenfalls genug für die tägliche wissenschaftliche Arbeit.
LITERATUR Koselleck / Mommsen / Rüsen (Hg): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977
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    Anmerkungen
    1) ADAM SCHAFF, Geschichte und Wahrheit, Wien-Frankfurt-Zürich 1970, Seite 72f. Vgl. auch Seite 233.
    2) WILLIAM HENRY WALSH, An introduction to philosophy of history, London 1951, Seite 96
    3) IMMANUEL KANT, Prolegomena, Akademie-Ausgabe, Bd. 4, Seite 299
    4) SCHAFF, Geschichte und Wahrheit, Seite 72
    5) KARL R. POPPER, Objective Knowledge. An evolutionary approach. Oxford 1972, Seite 54, Anm. 22 (deutsch: Objektive Erkenntnis, 2. Auflage, Hamburg 1974)
    6) ERHARD SCHEIBE, Wissenschaft und Wahrheit, Gymnasium 80, 1973.
    7) ERNST TUGENDHAT, "Zum Verhältnis von Wissenschaft und Wahrheit" in: Colloquium Philosophicum, Studien, Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel-Stuttgart 1966
    8) TUGENDHAT, a. a. O. Seite 399
    9) CARL L. BECKER, What are historical facts? in The Western political quarterly, Bd. 8, 1955
    10) ADAM SCHAFF, Geschichte und Wahrheit, Seite 177f
    11) Vgl. GÜNTHER PATZIG, Sprache und Logik, Göttingen 1970, Kap.  Satz und Tatsache,  bes. Seite 59f.
    12) RONALD SYME, The Roman revolution, Oxford 1939, Seite 440.
    13) KARL POPPER, Conjectures and refutations, London 1962, Seite 224f; NICHOLAS RESCHER, The coherence theory of truth, Oxford 1973
    14) JÖRN RÜSEN in "Philosophische Rundschau", Bd. 21, 1974, Seite 43
    15) CHRISTOPHER BLAKE, Can history be objective?  Mind,  Nr. 64, bes. Seite 63
    16) ARISTOTELES, Politik, T 16, 1287a 41-1287b 3.