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Friedrich Nietzsche und das Erkenntnisproblem [3/4]
Dritte Periode (1) An der Pforte der dritten Periode steht die Gestalt Zarathustras. Seine Reden, reich und überreich an Gedanken, Stimmungen, Erlebnissen, sind etwa das Gegenteil eines Handbuches der Erkennnistheorie. Wenn wir jedoch den alten, graubärtigen "Mittlerweisen" näher ausforschen nach seinen Gründen und Hintergründen, so tut er uns den Gefallen und ergreift selbst das Wort zu einer kleinen Rede über die Dinge der Erkenntnis.
"Der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für Etwas am Leib. Der Leibt ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinn, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt. Werkzeug des Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du Geist nennst, ein kleines Werk - und Spielzeug deiner großen Vernunft ... Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende; so eitel sind sie ... Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser - der heißt Selbst. In deinem Leib wohnt er, dein Leib ist er. Es ist mehr Vernunft in deinem Leib, als in deiner besten Weisheit. Und wer weiß denn, wozu dein Leib gerade deine beste Weisheit nötig hat? Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge. Was sind nur mir diese Sprünge und Flüge des Gedankens? sagt es sich. Ein Umweg zu meinem Zweck. Ich bin das Gängelband des Ich und der Einbläser seiner Begriffe." [46f]
"Wille zur Wahrheit" heißt ihr's, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig macht? Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heißt ich euren Willen! Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit gutem Mißtrauen, ob es schon denkbar ist. Aber es soll sich euch fügen und biegen! So will's euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geist untertan, als sein Spiegel und Widerbild. Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht [165] ... Und dieses Geheimnis redete das Leben selber zu mir: "Auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und Fußstapfen meines Willens: wahrlich, mein Wille zur Macht wandelt auch auf den Füßen deines Willens zur Wahrheit!" [167f] "Werte legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, - er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! Darum nennt er sich "Mensch", das ist: der Schätzende [86]. Dieses Ich und des Ich Widerspruch und Wirrsal redet noch am redlichsten von seinem Sein, dieses schaffende, wollende, wertende Ich, welches das Maß und der Wert aller Dinge ist. [43] "Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer Tugend! ... Eure schenkende Liebe und eure Erkenntnis diene dem Sinn der Erde! Also bitte und beschwöre ich euch. Laßt sie nicht davonfliegen vom Irdischen und mit den Flügeln gegen ewige Wände schlagen! Ach, es gab immer so viel verflogene Tugend! Führt, gleich mir, die verflogene Tugen zur Erde zurück, ja, zurück zu Leib und Leben: daß sie der Erde ihren Sinn gebe, einen Menschen-Sinn! [112] "Gott ist eine Mutmaßung; aber ich will, daß euer Mutmaßen nicht weiter reicht, als euer schaffender Wille. Könntet ihr einen Gott schaffen? - ... Gott ist eine Mutmaßung: aber ich will, daß euer Mutmaßen begrenzt ist in der Denkarbeit. Könntet ihr einen Gott denken? - aber dies bedeute euch Wille zur Wahrheit, daß alles verwandelt werde in Menschen-Denkbares, Menschen-Sichtbares, Menschen-Fühlbares! Eure eigenen Sinne sollt ihr zu Ende denken! und was ihr Welt nanntet, das soll erst von euch geschaffen werden; eure Vernunft, euer Bild, euer Wille, eure Liebe soll es selber werden! Und wahrlich, zu eurer Seligkeit, ihr Erkennenden! [123f] "Die Vergangenen zu erlösen, und alles "Es war" umzuschaffen in ein "So wollte ich es!" - das hieße mir erst Erlösung! [206] Seligkeit muß es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs [312] ... Dies heißt mir Erkenntnis: alles Tiefe soll hinauf - zu meiner Höhe! [182] ... Ich liebe den, welcher lebt, damit er erkenne, und welcher erkennen will damit einst der Übermensch lebe." [16] In diesen Orakelsprüchen Zarathustras offenbart uns der dritte NIETZSCHE seine charakteristischen Anschauungen über die erkentnistheoretischen Fragen. Freilich in der Zusammenstellung treten auch die Widersprüche deutlicher hervor: das "Ich" ist schöpferisches Wertmaß der "Dinge" - und doch bis in den letzten Grund hinab bestimmt vom Ding, vom Leib; das Denken ein "Zu Ende denken der Sinne" - und doch ein freies Schalten und Schaffen; die "Wahrheit wird skeptisch verdächtigt als Täuschung und leerer Schein - und doch für die eigenen Lehren in Anspruch genommen; die Welt soll durchweg die Ausgestaltung des einen Lebens sein - und doch mit lebensfeindlichen Potenzen reichlich durchsetzt; das "Werden" wird als absolut zufällig geschildert - und doch als berechenbar, bestimmbar zugunsten eines Zukunftideals. Der Übergang von der zweiten zur dritten Periode zeigt sich in der eigentümlichen Unsicherheit, mit der die "Hinterwelt" einerseits durch das Wort "Mutmaßung" als theoretische Möglichkeit zugegeben, andererseits als symptomatisches Produkt dekadenten Denkens entwertet wird. Wenn nun Zarathustra einmal das Wort fallen läßt: "Für jede Seele ist jede andere Seele eine Hinterwelt" [317], so lehrt er selbst, daß es mit dem "Zu Ende Denken der Sinne" schon bei der "anderen Seele" aus ist. O Zarathustra, der du mit deiner besten Weisheit zu Brüdern und von Brüdern redest, bist du am Ende selbst noch ein Hinterweltler"? - Die Ergänzungen und Fortführungen, welche die anderen Werke dieser dritten Periode zu den Worten Zarathustras bringen, lassen sich am übersichtlichsten unter folgende drei Fragen ordnen: 1. Gibt es ein "reines Erkennen"? 2. Wie steht es um die "Außenwelt"? 3. Was ist "Wahrheit"? - 1. "Hüten wir uns, meine Herren Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein "reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis" angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solcher kontradiktorischer Begriffe wie "reine Vernunft", "absolute Geistigkeit", "Erkenntnis ansich": - hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedacht werden kann, ein Auge, das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem die aktiven und interpretierenden Kräfte unterbunden sein sollen, fehlen sollen ... Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches "Erkennen"; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu WOrt kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser "Begriff" dieser Sache, unsere "Objektivität" sein." [VII, 429] Es ist konsequent gedacht, wenn uns nun nach NIETZSCHE jede Philosophie in erster Linie über nichts anderes Auskunft gibt, als über die Rangordnung der innersten Triebe in der Natur ihres Autors [VII, 15]. Nicht nur, daß es in der jeder Philosophie einen Punkt gibt, wo die "Überzeugung" des Philosophen auf die Bühne tritt [VII, 16] - es ist zumeist, wofür selbst KANT und SPINOZA zum Beweis dienen müssen, "ein abstrakt gemachter und durchgesiebter Herzenswunsch von ihnen" [VII, 13] - nicht nur dies, sondern schon "bei jedem kardinalen Problem redet ein unwandelbares "das bin ich", ein "geistiges Fatum", ein Unbelehrbares ganz da unten" [VII, 191]. Folgerichtigerweise kann man daran zweifeln, ob ein Philosoph "letzte und eigentliche" Meinungen überhaupt haben kann. Es ist etwas Willkürliches daran, daß er hier stehen blieb, zurückblickte, sich umblickte, daß er hier nicht mehr tiefer grub und den Spaten weglegte - es ist auch etwas Mißtrauisches daran. Kurz: "jede Philosophie ist eine Vordergrundsphilosophie"; "jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie" [VII, 268]. Am Beispiel des Stoizismus zeigt uns NIETZSCHE, daß im letzten Grund jede Philosophie die Welt nach ihrem Bild schafft; sie ist "der geistige Wille zur Macht, zur "Schaffung der Welt", zur causa prima" [VII, 17f]. Damit bringt NIETZSCHE auch die Erscheinung in Zusammenhang, daß "ein gewisse Grundthema von möglichen Philosophien" immer wieder ausgefüllt wird, und erklärt uns so "die wundersame Familienähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophierens", die nebenbei auch durch die "gemeinsame Philosophie der Grammatik" und die dahinter verborgenen "physiologischen Werturteile und Rassebedingungen" bedingt ist [VII, 31f]. Den Trieb zum "reinen Erkennen", den NIETZSCHE nicht leugnet, erklärt er uns in doppelter Weise. Einmal nennt er ihn eine "aufgeputzte Skepsis und Willenslähmung" [VII, 154], nennt ihn "Nihilismus" und Anzeichen einer verzweifelnden sterbensmüden Seele. Andererseits bezeichnet er ihn als die feinste Sublimierung der "Grausamkeit" [siehe VII, 187], als versteckte Moral. "Die Erkenntnis um ihrer selbst willen - das ist der letzte Fallstrick, den die Moral legt: damit verwickelt man sich noch einmal völlig in sie." [VII, 93] Wie nun das Erkenntnisstreben gleichzeitig ein "Weh-tun-wollen am Grundwillen des Geistes", ein Zwingen "wider den Hang des Geistes und oft genug auch wider die Wünsche des Herzens zu erkennen" [VII, 187] sein soll, und doch andererseits das "Durchsieben" und "Zurechtmachen" eines Herzenswunsches, darüber würden wir von NIETZSCHE gern Näheres hören. Aber auch wenn diese Schwierigkeit zu lösen ist, ist es verräterisch, daß NIETZSCHE sich doch veranlaßt sieht, in engeren Grenzen die Möglichkeit eines "reinen Erkennens" zuzugestehen. Bei den "eigentlich-wissenschaftlichen" Menschen, "da mag es wirklich so etwas wie einen Erkenntnistrieb geben, irgendein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen, tapfer darauf losarbeitet, ohne daß die gesamten übrigen Triebe des Gelehrten wesentlich dabei beteiligt sind" [VII, 15]. Dieser "objektive Mensch" ist aber nur "ein kostbares, leicht verletzliches und getrübtes Meßwerkzeug und Spiegelkunstwerk, das "in die Hand eines Mächtigeren gehört" [VII, 150]. - Welche Gebiete nun, genauer umschrieben, diesem "Messen und Spiegeln" zugänglich oder verschlossen sind, ob ihm das ganze Reich der "Objekte" offen steht, oder welche Schranken ihm sonst gezogen sind, darüber hat sich NIETZSCHE nicht deutlicher ausgesprochen. - Auch darauf wollen wir aufmerksam machen: wenn NIETZSCHE uns das "Befragen verschiedener Affekte über dieselbe Sache" empfiehlt, so zeigt uns dieser Satz, soweit er sich praktisch durchführen läßt, als wissenschaftliches Ziel gerade die Unabhängigkeit - nicht Abhängigkeit - einer Erkenntnis vom Affekt. 2. Sehen wir schon bei dieser Frage, daß sich die Skepsis NIETZSCHEs nicht zu Ende durchführen läßt, so nehmen wir dasselbe wahr bei der Frage nach der "Außenwelt". - Obwohl NIETZSCHE seine beiden "Landsleute" KOPERNIKUS und BOSCOVICH gerade deshalb feiert, weil sie die bisher größten Triumphe über die Sinne davongetragen haben [VII, 22], nimmt er selbst seine Stellung in einem ausgesprochenen Sensualismus. Nach seiner Meinung ist es unmöglich, mit gutem Gewissen Physiologie zu treiben bei einer idealistischen Auffassung von den Sinnesorganen. Wenn die Außenwelt das Werk unserer Organe ist, dann sind es auch unsere Organe. "Aber dann wären unsere Organe selbst - das Werk unserer Organe! Dies ist, wie mir scheint, eine gründliche reductio ad absurdum: gesetzt, daß der Begriff causa sui [Ursache seiner selbst - wp] etwas gründlich Absurdes ist" [VII, 25]. "Von den Sinnen her kommt erst alle Glaubwürdigkeit, alles gute Gewissen, aller Augenschein der Wahrheit [VII, 104]. "Wir besitzen heute genau soweit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne anzunehmen, - als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Mißgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft oder Formalwissenschaft." [VIII, 78] Doch "unsere Sinne lernen es spät und lernen es nie ganz, feine treue vorsichtige Organe der Erkenntnis zu sein." "Die voreiligen Hypothesen, Erdichtungen, der gute dumme "Wille zum Glauben", der Mangel an Mißtrauen und Geduld", sind "zuerst entwickelt" [VII, 122]. Der Tatsachensinn ist erst "der letzte und wertvollste aller Sinne" [VIII, 307]. Also ein ungeprüfter Sensualismus wäre nach NIETZSCHE fehlerhaft. Wir leben in einer "vereinfachten, durch und durch künstlichen, zurechtgedichteten, zurechtgefälschten Welt" [VII, 42]. Selbst die Physik, die doch den Augenschein und die Handgreiflichkeit für sich hat, ist nur eine Weltauslegung - nach [VII, 24]. "Von jeder Stelle aus gesehen ist die Irrtümlichkeit der Welt, in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann" [VII, 54]. Verfälscht ist diese Welt von drei vermeintlichen "inneren Tatsachen" aus. Das älteste dieser psychologischen Vorurteile ist das vom "Willen als Ursache", daraus folgte die Konzeption eines Bewußtseins ("Geist") als Ursache und schließlich die des Ichs ("Subjekt") als Ursache. Indem man Wille, Geist und Ich in die Dinge hineinprojizierte, schuf man die Begriffe: Sein, Ding, Substanz, Atom, Ding-ansich. [VIII, 93f, 79f, siehe VII, 33, 324] Diese Begriffe, zur Zeit der rudimentärsten Psychologie in die Sprache eingedrungen, wirken nun als "Sprach-Metaphysik" aus der Zeit des groben Fetischwesens zu uns herüber, - "und in Indien wie in Griechenland hat man den gleichen Fehlgriff gemacht: "Wir müssen schon einmal in einer höheren Welt heimisch gewesen sein (- statt in einer sehr viel niederen was die Wahrheit gewesen wäre!) ..." Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben ..." [VIII, 79f] Nachdem die "inneren Tatsachen" sich sämtlich als Fabeleien erwiesen haben, muß als erkenntnistheoretischer Hauptsatz aufgestellt werden: "Sofern die Sinne das Werden, das Vergehen, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht" [VIII, 77]. Außer dieser Welt des absoluten Werdens gibt es keinerlei Welt des "Seins". Eine Welt des Seins "ist nur aus dem Widerspruch zur "wirklichen Welt" heraus erdichtet und trägt die "Kennzeichen des Nicht-Seins, des Nichts" [VIII, 81]. "Damit wird Heraklit ewig Recht behalten, daß das Sein eine leere Fiktion ist. Die "scheinbare" Welt ist die einzige: die "wahre Welt" ist nur hinzugelogen." [VIII, 77] "Von einer anderen Welt als dieser zu fabeln, hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, daß nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist: im letzteren Fall rächen wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines anderen, eines besseren Lebens". [VIII, 81, 2f] Das "Werden" vollzieht sich in vollkommener Zwecklosigkeit und Unschuld [VIII, 100f]. Die Rede von einer "Gesetzmäßigkeit der Natur" ist nur eine schlechte Interpretation, die den demokratischen Instinkten der modernen Seele entspricht mit ihrer Losung "Überall Gleichheit vor dem Gesetz, - die Natur hat es darin nicht anders und nicht besser als wir." Die gleichen Erscheinungen in der Natur können interpretiert werden im Sinne absoluter tyrannischer Willkür mit dem Hauptsatz: "Jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz." [VII, 347] Was diesen letzten Gedanken betrifft, so konstruiert NIETZSCHE einen Gegensatz, wo er doch nur dem formalen Satz von der Gesetzmäßigkeit der Natur eine ganz im Geist der modernen Naturwissenschaft gedachte, inhaltliche Ergänzung gibt. Schon der Ausdruck "Macht" zeigt uns, daß er mit seinem Sensualismus nicht auskommt, denn eine "Macht" zeigen uns die Sinne nirgends. Zudem blickt aus den Worten "Macht" und "Ihre" verräterisch genug das "Ding" mit seinen Eigenschaften hervor - genau in dem Sinn, wie die moderne Naturwissenschaft das Wort verwendet, nämlich aller anthropomorphen Zutaten entledigt und auf eine Synthese von Eigenschaften reduziert. So sieht sich NIETZSCHE auch genötigt, die Begriffe "Ursache" und "Wirkung", die er einmal sogar aus dem "stärksten der Instinkte, dem Instinkt der Rache" abzuleiten versucht hatte [XII, 300], wieder freizugeben als "konventionelle Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung" [VII, 33]. So gesteht er auch in Bezug auf die "Seele" zu, daß er nur zu neuen Fassungen der Seelenhypothese den Weg bahnt, wie zum Beispiel "sterbliche Seele", "Seele als Subjekts-Vielheit", "Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte" [VII, 23]. Doch wir wollen hier auch die nähere Ausführung nicht übergehen, die NIETZSCHE seinem Satz von der "Macht" an anderer Stelle gibt. Er will die Psychologie als "Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht" gefaßt sehen und sie damit als die "Herrin der Wissenschaften", als den "Weg zu den Grundproblemen" wieder zu Ehren bringen [VII, 35f]. Wenn uns nichts anderes gegeben ist, als die "Realität" unserer Triebe, so ist es vom Gewissen der Methode aus geboten, den Versuch zu machen, ob man nicht mit dieser einzigen Kausalität ausreichen kann. An Willenskausalität glauben wir - das ist eben unser Glaube an Kausalität. "Wille" kann aber nur auf "Wille" wirken. Da nun unser weitverzweigtes Triebleben sich aus einer Grundform des Willens erklären läßt, aus dem "Willen zur Macht", so wäre die Welt, "von innen gesehen", auf ihren "intelligiblen Charakter" hin bestimmt und bezeichnet: "Wille zur Macht" und nichts außerdem" [VII, 56f]. - Wir stehen hier im Zentrum der NIETZSCHE'schen Metaphysik. Was tut hier NIETZSCHE aber anderes, als seine "inneren Tatsachen" in das Weltgeschehen hinein interpretieren, in eben demselben Sinne, wie er es oben gerügt hat, wie er es früher einmal als "sehr naive Verdrehung" bezeichnet hatte [XII, 34]? Wird hier nicht der "Wille", den NIETZSCHE selbst in einer vortrefflichen Ausführung gegen SCHOPENHAUER als ein höchst kompliziertes Phänomen geschildert hatte [VII, 28], genau nach dem "ältesten psychologischen Vorurteil" zum Weltprinzip erhoben? Wird nicht mit lauter Begriffen operiert, die oben abgewiesen sind, Kausalität, Einheit, Gesetzmäßigkeit usw. selbst "Dinge-ansich"? Sind wir hier nicht mitten im Aufbau einer "wahren" Welt, einer Welt des "Seienden"? 3. NIETZSCHE sagt im "Antichrist": "Der vornehme Hohn eines Römers, vor dem ein unverschämter Mißbrauch mit dem Wort "Wahrheit" getrieben wird, hat das neue Testament mit dem einzigen Wort bereichert, das Wert hat, - das seine Kritik, seine Vernichtung selbst ist: "Was ist Wahrheit!" ... [VIII, 281] Dieses Thema: Was ist Wahrheit? variiert NIETZSCHE in seinen letzten Werken mit besonderer Vorliebe. "Was zwingt uns überhaupt zu der Annahme, daß es einen wesenhaften Gegensatz von "wahr" und "falsch" gibt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen ...?" [VII, 55] Es ist zwar der Glaube an die Gegensätze der Werte der "Grundglaube der Metaphysiker", der "im Hintergrund all ihrer logischen Prozeduren" steht [VII, 10]. Aber "man darf zweifeln, erstens ob es Gegensätze überhaupt gibt, und zweitens, ob jene volkstümlichen Wertschätzungen und Wertgegensätze ... nicht vielleicht nur Vordergrundschätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven ... Es wäre möglich, daß dem Schein, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Wert zugeschrieben werden müßte. Es wäre sogar noch möglich, daß was den Wert jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein." [VII, 11] NIETZSCHE macht wohl auch den Versuch, die Möglichkeit einer "Wahrheits"-Erkenntnis auf erkenntnistheoretischem Weg in Abrede zu stellen. "Wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz "ich denke" ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, - zum Beispiel, daß ich es bin, der denkt, daß überhaupt ein Etwas es sein muß, das denkt, daß Denken eine Tätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, daß es ein "Ich" gibt, endlich, daß es bereits feststeht, was mit Denken zu bezeichnen ist, - daß ich weiß, was Denken ist" [VII, 26f]. "Anstelle jeder unmittelbaren Gewißheit"; an welche das Volk im gegebenen Fall glauben mag, bekommt dergestalt der Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik in die Hand." "Unmittelbare Gewißheit", "absolute Erkenntnis", "Ding-ansich" schließen immer eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp] ein. "Wer sich mit der Berufung auf eine Art Intuition der Erkenntnis getraut, jene metaphysischen Fragen sofort zu beantworten" ... dem wird ein Philosoph von heute mit Lächeln zu verstehen geben: "Mein Herr, es ist unwahrscheinlich, daß Sie sich nicht irren, aber warum auch durchaus Wahrheit?" [VII, 26f] Am letzten Ende sind es jedoch nicht Gründe, die NIETZSCHE zur Skepsis gegenüber der "Wahrheit" bestimmen, sondern Motive. "Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurteil, daß Wahrheit mehr wert ist, als Schein". [VII, 55] Unter direktem Hinweis auf die von uns früher angeführte Stelle aus der "Fröhlichen Wissenschaft" führt NIETZSCHE aus, daß "der Glaube an einen metaphysischen Wert, einen Wert ansich der Wahrheit" [VII, 470] nichts anderes ist, als das "asketische Ideal" selbst "in seiner strengsten, geistigsten Formulierung, esoterisch ganz und gar, allen Außenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest als sein Kern" [VII, 480]. "Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, gibt es auch ein neues Problem: das vom Wert der Wahrheit [VII, 471]. Nachdem die Wahrhaftigkeit alle anderen Werte umgestürzt hat, "zieht sie am Ende ihren stärksten Schluß, ihren Schluß gegen sich selbst" [VII, 482]. "Wir freien Geister sind ... eine leibhafte Kriegs- und Siegeserklärung an allen alten Begriffe von wahr und unwahr" [VIII, 288]. Dem rechten Philosophen widersteht selbst das Wort "Wahrheit, weil es zu großtuerisch klingt. [VII, 417] Man sieht, hier spielen fortwährend zwei Probleme ineinander: das von der Möglichkeit der Wahrheit und das vom Wert der Wahrheit - sie sind bei NIETZSCHE bezeichnenderweise nicht klar geschieden. Wie nun die Frage nach dem Wert der Wahrheit in erkenntnistheoretischer Beziehung eben die Möglichkeit einer Wahrheit zur Voraussetzung hat, so ist NIETZSCHE auch sonst, trotz seiner extremen skeptischen Anwandlungen, immer wieder bereit, die Möglichkeit einer Wahrheitserkenntnis zuzugestehen [siehe VII, 59, 159, 302]. Das Pathos der Wahrheit läßt er sich nicht gern entgehen und namentlich in seiner Polemik gegen das Christentum macht er von demselben einen ausgiebigeren Gebrauch, als man bei seinen Ansichten übe den Wert der Wahrheit erwarten sollte [siehe VIII, 213, 224, 257, 295] Im Reich der Wahrheit sind die Gesetze der Logik gleichsam die letzten und stärksten Festungen. Hier müssen wir NIETZSCHEs Angriffe vor allem beobachten. - Er beklagt den Niedergang der Logik als Handwerk [VIII, 115], verlangt kritische Zucht von den Philosophen [VII, 160], macht selbst die Gesetze der Logik streng geltend (wenn er zum Beispiel den Begriff causa sui als den besten Selbstwiderspruch bezeichnet [VII, 39]. Doch sagt er uns, daß auch hinter der Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung Wertschätzungen stehen, "deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben" [VII, 12]. (Die Beispiele, die er anführt: die Bevorzugung des Bestimmten vor dem Unbestimmten, der Wahrheit vor dem Schein - gehören nicht in die Logik, sondern in die Erkenntnistheorie.) Wenn er nun andererseits den Satz aufstellt, daß die Falschheit eines Urteils noch kein Einwand gegen dasselbe ist, daß vielmehr gefragt werden muß, wieweit ein Urteil Art-erhaltend, Leben-fördernd ist, und daß die falschesten Urteile ("zu denen die synthetischen Urteile apriori gehören") uns die unentbehrlichsten sind [VII, 12f; siehe VII, 20f] - so erhalten wir eine Logik, die sich nach den Forderungen der Lebenshaltung gebildet hat und deren fundamentalste Übertretung doch gerade für die Lebenserhaltung wieder als das Unentbehrlichste erwiesen worden ist. Wie oben motiviert, wenden wir uns nun gleich dem 15. Band zu, in dem sich ein ungeheures Trümmerfeld von Gedanken vor uns auftut, bestimmt zum Bau einer gewaltigen Zwingburg gegenüber allen modernen Werten. Ein "System" im üblichen Sinn war allerdings, bei der erklärten Abneigung NIETZSCHEs gegen Systeme, wohl auch hier nicht zu erwarten, dagegen sollten offenbar alle Gedankengruppen einheitlich vom Hauptgedanken des "Willens zur Macht" beherrscht werden. - Weitaus am meisten kommt für unseren Zweck in Betracht das Kapitel: "Der Wille zur Macht als Erkenntnis"; wir ergänzen jedoch wieder durch anderwärts sich findende Gedanken. Um den Vergleich mit den Hauptbänden zu erleichtern, ordnen wir hier die Anschauungen NIETZSCHEs gleichfalls um die dort im Vordergrund stehenden drei Fragen; es sind ja im wesentlichen die Fragen nach dem subjektiven Vorgang, nach dem objektiven Inhalt, sowie nach dem Gesamtwert des Erkennens. Doch ergeben sich, gegenüber der Einordnung der einzelnen Gedanken in den Hauptwerken, mancherlei Verschiebungen, die auf einer anderen Wendung derselben Ideen durch NIETZSCHE beruhen. 1. Die Frage: Gibt es ein "reines Erkennen"? vertieft sich hier zu einer Kritik des "Bewußtseins" überhaupt. NIETZSCHE geht wieder zu CARTESIUS zurück und greift die beiden Worte an: Ich denke! Die Argumentation des CARTESIUS: "Es wird gedacht, folglich gibt es Denkendes" setzt unseren Substanzbegriff als wahr apriori voraus und macht unserer grammatischen Gewöhnung, die zum Tun den Täter erfordert, ein logisch-metaphysisches Postulat [265f]. Wie aber der Täter fingiert ist, so ist es auch das Tun. "Denken, wie es die Erkenntnistheoretiker ansetzen, kommt gar nicht vor: das ist eine ganz willkürliche Fiktion, erreicht durch die Heraushebung eines Elements aus dem Prozeß und Subtraktion aller übrigen, eine künstliche Zurechtmachung zum Zweck der Verständlichung ..." [266]. "Das Bewußtsein liefert uns nie ein Beispiel von Ursache und Wirkung" [269]. "Zwischen Gedanken ein unmittelbares, ursächliches Band anzunehmen, wie es die Logik tut - das ist eine Folge der allergröbsten und plumpesten Beobachtung. Zwischen zwei Gedanken spielen noch alle möglichen Affekte ihr Spiel; aber die Bewegungen sind zu rasch, deshalb verkennen wir sie, leugnen wir sie ..." [266]. Hinter der Bewußtseinswelt steht das viel ausgedehntere Reich der unbewußten Nerventätigkeit. Im Vorübergehen erwähnt NIETZSCHE einmal die Theorie, die aus physischen und psychischen Phänomenen die zwei Offenbarungen ein und derselben Substanz macht, und weist sie zurück, denn "der Begriff Substanz ist vollkommen unbrauchbar, wenn man erklären will" [268]. "Die Direktion, bzw. die Obhut und Vorsorglichkeit im Hinblick auf das Zusammenspiel der leiblichen Funktionen tritt uns nicht ins Bewußtsein; ebensowenig wie die geistige Einmagazinierung: daß es dafür eine oberste Instanz gibt, darf man nicht bezweifeln: eine Art leitendes Komitee, wo die verschiedenen Hauptbegierden ihre Stimme und Macht geltend machen. "Lust", "Unlust" (- die NIETZSCHE anderswo als "späte und abgeleitete Intellektphänomene" [266], als "Begleiterscheinungen", "Wirkungen innerhalb des eingeleiteten Prozesses der Reaktion" bezeichnet [268] -) sind Winke aus dieser Sphäre: der Willensakt desgleichen: die Ideen ebenso [272]. Für diese innere Welt gehen uns alle feineren Organe ab, sodaß wir eine tausendfache Komplexität noch als Einheit empfinden, sodaß wir eine Kausalität hineinerfinden, wo jeder Grund der Bewegung und Veränderung uns unsichtbar bleibt." [269] Alles, was bewußt wird, ist eine Enderscheinung, ein Schluß - und verursacht nichts; alles Nacheinander im Bewußtsein ist vollkommen atomistisch" [268]. Das Bewußtsein hat "im Gesamtprozeß der Adaption und Systematisierung" keine Bedeutung [268]. "In zweiter Rolle, fast indifferent, überflüssig, bestimmt vielleicht zu verschwinden und einem vollkommenen Automatismus Platz zu machen" [268], ist es kein "Gesamtsensorium und oberste Instanz" [273], sondern ein durch die Relation mit der Außenwelt entwickeltes "Mittel der Mitteilbarkeit" [272f], "nicht die Leitung, sondern ein Organ der Leitung [273]. Die "Bewußtseinshöhen" sind nur "ein Überschuß, soweit sie nicht Werkzeuge sein müssen für die animalischen Funktionen", das Bewußtsein ist "nur ein Mittel in der Entfaltung und Machterweiterung des Lebens" [335f]. Zum Beweis für die untergeordnete Rolle des Bewußtseins weist NIETZSCHE, in Weiterführung früher ausgesprochener Gedanken [VIII, 95f], vor allem hin auf die "chronologische Umdrehung" von Ursache und Wirkung auf dem Gebiet der "inneren Welt" [270]. "Die Grundtatsache der inneren Erfahrung ist, daß die Ursache imaginiert wird, nachdem die Wirkung erfolgt ist". [270] "Die ganze innere Erfahrung beruth darauf, daß zu einer Erregung der Nervenzentren eine Ursache gesucht und vorgestellt wird - und daß erst die gefundene Ursache ins Bewußtsein tritt: diese Ursache ist schlechterdings nicht adäquat der wirklichen Ursache, - es ist ein Tasten aufgrund der ehemaligen "inneren Erfahrungen", das heißt des Gedächtnisses" [271]. Das Gedächtnis "konserviert aber auch die Gewohnheit der alten Interpretationen ..., so daß die innere Erfahrung in sich noch die Folgen aller ehemaligen falschen Kausalfiktionen zu tragen hat". [271] Beispiele dafür sind das Traumleben, wo uns auch ein Zustand erst bewußt wird, "wenn die dazu erfundene Kausalkette ins Bewußtsein getreten ist", oder der physische Schmerz, der "an eine Stelle des Leibes projiziert wird, ohne dort seinen Sitz zu haben", oder die Sinnesempfindung, die wir naiv als bedingt durch die Außenwelt ansetzen, während "die eigentliche Aktion der Außenwelt immer unbewußt verläuft" und das Stück Außenwelt, das uns bewußt wird, nachgeboren ist nach der Wirkung, die auf uns ausgeübt wird und "nachträglich projiziert als deren Ursache." So suchen wir auch einen Grund zu einem Gedanken, bevor uns dieser noch bewußt ist: "und dann tritt zuerst der Grund und dann dessen Folge ins Bewußtsein." [270f] In Summa: "Man muß den Phänomenalismus nicht an der falschen Stelle suchen: nichts ist phänomenaler, (oder deutlicher:) nichts ist so sehr Täuschung, als diese innere Welt, die wir mit dem berühmten "inneren Sinn" beobachten [267]. Den Text seiner inneren Erlebnisse abzulesen einfach als Text "ohne eine Interpretaion dazwischen zu mengen", ist "die späteste Form der inneren Erfahrung, - vielleicht eine kaum mögliche ..." [272] Alles, was uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt", die zugrundeliegenden Kausalvereinigungen sind uns "absolut verborgen - und vielleicht eine reine Einbildung" [266].Wir haben diese innere Welt "mit denselben Formen und Prozeduren behandelt wie die "äußere Welt". Wir stoßen nie auf Tatsachen [266] - "Parmenides hat gesagt: Man denkt das nicht, was nicht ist - wir sind am anderen Ende und sagen was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein." [281] Auf diese scheinbare innere Welt aber haben wir den ganzen stolzen Bau unserer Vernunftherrlichkeit begründet. Das Bewußtsein wurde unsinnig überschätzt, aus ihm wurde eine Einheit, ein Wesen gemacht, dem die Erkenntnis als Fähigkeit gegeben ist, der "Geist" erschien als Ursache, namentlich überall dort, wo Zweckmäßigkeit und System sich fand, allerlei "fingierte Synthesen und Einheiten" wie zum Beispiel "Vernunft" wurden in die Dinge und hinter die Dinge projiziert, die wahre, gute, geistige Welt fälschlicherweise der Instinktwelt übergeordnet [269f, 272]. "Alle philosophisch-moralischen Kosmo- und Theodizeen, "alle höchsten Werte in der bisherigen Philosophie und Religionsphilosophie" ruhen auf dem Grundirrtum, daß "eine Art der Mittel als Zweck mißverstanden" und "das Leben und seine Machtsteigerung umgekehrt zum Mittel erniedrigt wurde." [337] Da wir auf die letzten erkenntnistheoretischen Gedanken NIETZSCHEs später zurückkommen, weisen wir hier nur kurz auf eine verräterische Stelle der Ausführungen hin: Das richtige Ablesen der inneren Erfahrungen ist die "späteste" Form der inneren Erfahrung "vielleicht eine "kaum" mögliche! - 2. Wir wissen bereits, daß NIETZSCHE der "Außenwelt" den Charakter des absoluten Werdens zuschreibt, in dem jede anscheinende Zweckmäßigkeit nur Zufall ist [289]. Für den hieraus sich ergebenden Nominalismus findet NIETZSCHE da markante Wort: "Warum sollte die Idee eines komplexen Faktums eine der Bedingungen dieses Faktums sein?" [268] Durch die Annahme eines "absoluten Werdens" ist die Zeit als reale Größe eingeführt. NIETZSCHE denkt sie, im Zusammenhang mit seiner Lehre von der ewigen Wiederkehr, als unendlich, während er Raum und Kraft beschränkt denkt, und zwar den Raum nicht kugelförmig, da sonst eine Gleichgewichtslage erreicht sein müßte [siehe 406, 411]. Immerhin streiten sich beim Raumproblem noch zwei Anschauungen in NIETZSCHE, eine, die ihren charakteristischsten Ausdruck in dem Satz findet: "Mit festen Schultern steht der Raum gestemmt gegen das Nichts. Wo Raum ist, da ist Sein" [XII, 239], und die andere, die dazu neigt, auch "den euklidischen Raum" als eine "Idiosynkrasie [Eigentümlichkeit - wp] bestimmter Tierarten" zu kennzeichnen [XV, 278]. Die "werdende" Welt ist als solche unformulierbar. "Erkenntnis und Werden schließt sich aus" [279, siehe 297]. Es muß erst ein "Wille zum Erkennbar-machen", ein "Wille zur Täuschung" vorhergehen [279, 297]. Nur so ist es möglich, Herr zu werden über die "formlos-unformulierbare Welt des Sensationen-Chaos" [280], über das "Sensationen-Wirrwarr" [286]. Nun ist das Leben "auf die Voraussetzung eines Glaubens an Dauerndes und Regulär-Wiederkehrendes gegründet" [287]. "Unsere psychologische Optik wird dadurch bestimmt, daß Mitteilung notwendig ist, und daß zur Mitteilung etwas fest, vereinfacht, präzisierbar sein muß, wieder erkennbar" [280]. So werden "Logisierung", "Rationalisierung", "Systematisierung" notwendig als "Hilfsmittel des Lebens" [288]. "Die leichtere Denkweise siegt über die schwierigere" und "die Lehre vom Sein, vom Ding, von lauter festen Einheiten ist hundertmal leichter als die Lehre vom Werden, von der Entwicklung" [280]. Ja: "je mächtiger das Leben wird, umso breiter muß die erratbare, gleichsam seiend gemachte Welt sein" [288]. Aber es handelt sich dabei mmer nur um "eine bestimmte Tierart, welche nur unter einer gewissen relativen Richtigkeit, vor allem Regelmäßigkeit ihrer Wahrnehmungen (so daß sie Erfahrung kapitalisieren kann) gedeiht" [275], und in der deshalb "eine ordnende, vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende Macht" sein muß [279] - "In einer werdenden Welt ist Realität immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken, oder eine Täuschung aufgrund grober Organe, oder eine Verschiedenheit im Tempo des Werdens" [305]. Nicht völlig damit vermittelt, setzt sich bei NIETZSCHE der frühere Gedankengang fort, daß die "Seele", das "Ich" "als Urtatsache gesetzt" und "überall hineingelegt" wurde, wo es ein Werden gibt [305]. Der Ichbegriff ist "unser ältester Glaubensartikelt" [316]. Wir erfahren wieder, wie sich vom Ich aus die übrigen Begriffe entwickeln als "hypothetische Wesen" [287, siehe 281, 282]. Auch Begriffe wie "Accidens", "Attribut" [282], "Form", "Gattung", "Idee" verdanken ihre Entstehung dem Gehorsam gegen unsere metaphysisch-logische Dogmatik, die künstlich scheidet "zwischen dem, was tut, und dem, wonach das Tun sich richtet" [284, siehe 268]. Auch "alle Voraussetzungen des Mechanismus, Stoff, Atom, Druck und Stoß, Schwere sind nicht "Tatsachen ansich", sondern Interpretationen mit Hilfe psychischer Fiktionen". [314] Da nun der Subjektivbegriff der böse Feind ist, der alles Unkraut ausgesät hat, so richtet sich NIETZSCHEs Angriff noch einmal energisch gegen diesen Gegner. Das "Subjekt" ist nur "die Terminologie unseres Glaubens an eine Einheit unter all den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls", wobei wir viele gleiche Zustände an uns als die Wirkung eines Substrates auffassen, während nur das Gleichsetzen der Tatbestand ist, nicht die Gleichheit [282]. NIETZSCHE führt ferner die psychologischen Tatsachen an, daß die Sphäre eines Subjekts beständig wächst und sich vermindert, der Mittelpunkt des Systems sich beständig verschiebt, daß das Subjekt, "im Falle, daß es die angeeignete Masse nicht organisieren kann" in zwei zerfällt, oder ein schwächeres Subjekt zu seinem Funktionär umbildet [283]. Mit solchen Gedanken über das "Subjekt", durch die er tatsächlich nur auf die Schwierigkeiten populärer Vorstellungen hinweist, glaubt NIETZSCHE nun, so ziemlich alle unsere Begriffe entwertet zu haben. [286f] Merkwürdigerweise findet sich aber mitten unter den anderen Aufzeichnungen auch ein Versuch, gerade vom "Subjekt" aus ein Weltbild zu entwerfen: Die Frage ist, ob nicht "das Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen, Fälschen die bestgarantierte Realität selbst ist: kurz, ob nicht das, was "Dinge setzt", allein real ist; und ob nicht die "Wirkung der äußeren Welt auf uns" auch nur die Folge solcher wollenden Subjekte ist. ..." dann wäre unsere zurechtgemachte Scheinwelt "eine Art Defensiv-Maßregel," - eine Überwältigung von Aktionen anderer Wesen ... Das Objekt wäre dann nur "ein modus des Subjekts" [281] - Mit diesen Gedanken sind wir schon auf dem Boden der Metaphysik. Als Selbstkritik des Erkenntnistheoretikers NIETZSCHE am Metaphysiker NIETZSCHE stellen wir den anderen (zeitlich späteren) Gedanken daneben: "Daß das Objekt etwas ist, das von Innen gesehen Subjekt wäre, ist eine gutmütige Erfindung, die, wie ich denke, ihre Zeit gehabt hat." [273] Die eben skizzierten metaphysischen Gedanken sind gewissermaßen nur Ausläufer zum Hauptgebirgsgang von NIETZSCHEs Metaphysik, der sich im XV. Band breit und mächtig vor uns erhebt. Wenn wir aber seinen Linien schärfer mit dem Auge folgen, so erkennen wir überall dieselben Begriffe wieder, die NIETZSCHE zuvor kritisiert und entwertet hatte. Wenn NIETZSCHE von der Metaphysik SCHOPENHAUERs gesagt hat, SCHOPENHAUER habe den dummen Teufel zum Gott gemacht, so löst sich bei NIETZSCHE die Welt in lauter kleine, böse Teufel auf. - Alles Werden ist ein "Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen", ein "Kampf" [288]. "Der Wille zur Akkumulation von Kraft ist spezifisch für das Phänomen des Lebens" [314]. Dieser Wille zur Macht, "der allem Geschehen inhäriert" [333], darf jedoch, als Ursache der Entwicklung, weder als werdend, noch als geworden gedacht werden [339]. Doch eigentlich gibt es nicht einen Willen; "es gibt Willenspunktuationen, die beständig ihre Macht mehren und verlieren" [323]. So dürfen wir "relativ" wieder von Atomen und Monaden reden ("und gewiß ist, daß die kleinste Welt an Dauer die dauerhafteste ist." [323] Es sind "dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu anderen dynamischen Quanten". Ihr Wille zur Macht ist aber "nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos." [317] "Ein Quantum Wille zur Macht [316] ist "durch die Wirkung, die es übt, und die, der es widersteht, bezeichnet." [315] "Jeder spezifische Körper" strebt nun danach, "über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen." [321f; siehe 307f] Er stößt "auf die gleichen Bestrebungen anderer Körper und endet, sich mit denen zu arrangieren ("vereinigen"), welche ihm verwandt genug sind: - so konspirieren sie dann zusammen zur Macht ..." [322]. Es entstehen "komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens" [323], "herrschaftliche Zentren" [322]. (Selbst der "Ding"-Begriff erscheint; ein "Ding" ist die Summe seiner Wirkungen, synthetisch gebunden durch einen Begriff, Bild." [319] Auch der menschliche Organismus ist nichts anderes, als "ein solcher nach Wachstum von Machtgefühlen ringender Komplex von Systemen" [327]. Die Welt ist "nur ein Wort für das Gesamtspiel dieser Aktion". Die "Realität" besteht exakt in der "Partikular-Aktion und Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze" [308], denn "jedes Kraftzentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive" [307]. Was man Ursache und Wirkung nennt, und fälschlich nach Analogie des menschlichen "Freiheits"gefühls und der menschlichen "Absicht" aufgefaßt hat [318f], ist "ein Kampf zweier an Macht ungleicher Elemente", bei dem "ein Neuarrangement der Kräfte" erreicht wird [320]. Die Berechenbarkeit des Geschehens liegt in der "Wiederkehr identischer Fälle" [320], die "Notwendigkeit" darin, "daß ein und dasselbe Geschehen nicht auch ein anderes Geschehen ist, [285; siehe 315, 320] die "Zweckmäßigkeit" in einer gewissen "Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel" [289]. Mechanik ist "eine bloße Semiotik der Folgen" [315] und "noch dazu im Bild (Bewegung ist eine Bilderrede)" [313; siehe 317] Bis in die geistigsten Gebiete hinein denkt NIETZSCHE seinen Gedanken durch. Da unsere Erkenntnis "in dem Maß wissenschaftlich geworden" ist, "als sie Zahl und Maß anwenden kann", so wäre "der Versuch zu machen, ob nicht eine wissenschaftliche Ordnung der Werte einfach auf einer Zahl- und Maßskala der Kraft aufzubauen wäre" [368], denn "alle Wertschätzungen sind nur Folgen und engere Perspektiven" im Dienst des Willens zur Macht. [333] Selbst die Religion erscheint. Das Wort "Gott" ist allenfalls zu brauchen für den "Kulminations-Moment", den "Machthöhepunkt" in diesem sich ewig vergottenden und entgottenden Dasein. [339] Es obliegt uns hier nicht, an diesem Weltbild Kritik zu üben. Die Gegenüberstellung von NIETZSCHEs Erkenntniskritik und Metaphysik hat aber vielleicht am Deutlichsten gezeigt, wie NIETZSCHE sich an einer unmöglichen Aufgabe versucht hat: er will beweisen, daß alle unsere Begriffe irrtümlich sind und beweist damit, daß er selbst nicht ohne sie auskommt. - 3. Unsere Wertschätzung der "Wahrheit" sucht uns NIETZSCHE von drei Seiten her zu entwurzeln, von der Logik, der Moral und der Psychologie aus. a) Was die Entstehung der Kategorien betrifft, so steht sich eine sensualistische und eine biologische Betrachtungsweise bei NIETZSCHE unausgeglichen gegenüber. Alle unsere Vernunftkategorien sind sensualistischer Herkunft: abgelesen von der empirischen Welt" [287], entwickelt "im Glauben an die Wahrheit der Sinnesurteile" [305]. Doch diese Gedanken treten zurück hinter anderen.
Betrachten wir z. B. den Satz vom Grunde "Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen, mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine "Notwendigkeit" aus, sondern nur ein Nichtvermögen" [276]. Der Satz vom Widerspruch behauptet entweder, daß dem Seienden entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werden können, oder daß sie ihm nicht zugesprochen werden sollen. Da das erstere voraussetzen würde, daß man das Seiende anderswoher bereits kennt, so kann der Satz kein Kriterium der Wahrheit enthalten, sondern nur einen "Imperativ über das, was als wahr gelten soll". Zudem ist unser Glaube an Dinge "die Voraussetzung für den Glauben an die Logik" [277; siehe 279, 297]. "Gesetzt, es gäbt ein solches Sich-selbst-identisches gar nicht, wie es jeder Satz der Logik (auch der Mathematik) voraussetzt, ... so hätte die Logik eine bloß scheinbare Welt zur Voraussetzung". [276] Sie gilt dann "nur von fingierten Wesenheiten, die wir geschaffen haben" [278, 279]. Zusammengefaßt: "Logik ist der Versuch, nach einem von uns gesetzten Seinsschema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger: uns formulierbar, berechenbar zu machen ..." [278]. Wir haben, längst bevor die Logik uns zum Bewußtsein kam, ihre Postulate ins Geschehen hineingelegt und finden sie nun darin vor, vermeinen aber, "diese Nötigung verbürge etwas über die Wahrheit." [285] "Die subjektive Nötigung, hier nicht widersprechen zu können, ist eine biologische Nötigung." Der Instinkt der Nützlichkeit steckt uns im Leib: "wir sind beinahe dieser Instinkt ... Welche Naivität aber, daraus einen Beweis zu ziehen, daß wir damit eine Wahrheit ansich besäßen! ... [279] Als "Erleichterung" war die Logik gemeint, als "Ausdrucksmittel", - "nicht als Wahrheit - später wirkte sie als Wahrheit ..." [280] Die "Winkelperspektive" der Nützlichkeit erlaubt uns über Subjekt und Objekt keinerlei Aussagen, "mit denen die Realität berührt würde." [273] - Es ist lehrreich genug, NIETZSCHE hier seine Skepsis bis zu den anerkanntesten Gesetzen der Logik durchführen zu sehen. Wenn er freilich die Grundgesetze der Logik aus dem Glauben an "gleiche Dinge" ableiten will, so läßt sich umgekehrt behaupten, daß der Glaube an gleiche Dinge die Grundgesetze der Logik schon voraussetzt. b) In einer weiteren Reihe von Gedanken sucht uns NIETZSCHE zum Bewußtsein zu bringen, wie der Bau der Wahrheit auf das morsche Fundament leichtsinniger moralischer Voraussetzungen gegründet ist. - Der ursprünglichste Denkakt, soweit er nicht Gewohnheit, sondern ein Recht voraussetzt, "überhaupt für wahr zu halten oder für unwahr zu halten", ist bereits beherrscht von einem Glauben, "daß es für uns Erkenntnisse gibt, daß Urteilen wirklich die Wahrheit treffen kann" [277]. Das "begriflliche Widerspruchsverbot geht von dem Glauben aus, daß wir Begriffe bilden können, daß ein Begriff das Wesen eines Dings nicht nur bezeichnet, sondern faßt [277f]. So ist das ganze Gebiet der Erkenntnis durchsetzt mit moralischen Werten. Das Vertrauen zur Vernunft, die Geringschätzung des Scheins, die Verachtung des Wechselnden und des Widerspruchs, die Verbindung der Begriffe Wahr und Gut sind lauter moralische Vorurteile [292]. Die einzelnen erkenntnistheoretischen Grundstellungen (Materialismus, Sensualismus, Idealismus) lassen sich auf Wertschätzungen zurückführen [304]. Im letzten Grund ist "die Wertschätzung: ich glaube, daß das und das so ist, das Wesen der Wahrheit." [273] Auch in diesen Wertschätzungen verkündigen sich überall Erhaltungsbedingungen, "daß eine Menge Glauben da sein muß; daß geurteilt werden darf, daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werte fehlt", auch "daß wir in unserem Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen": - "das ist die Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens", aber für "Wahrheit" ist damit nichts bewiesen." [274] - c) Schließlich schlägt NIETZSCHE noch einen psychologischen Weg ein, um uns die "Wahrheit" zu verdächtigen. - Nicht die logische Bestimmtheit, Durchsichtigkeit, wie CARTESIUS sagt, ist das Kriterium der Wahrheit; "woher weiß man, daß die wahre Beschaffenheit der Dinge in diesem Verhältnis zu unserem Intellekt steht? Vielmehr "die am meisten das Gefühl von Macht und Sicherheit gebende Hypothese" wird vom Intellekt "bevorzugt, geschätzt und folglich als wahr bezeichnet." "Der Intellekt setzt sein freiestes und stärkstes Vermögen und Können als Kriterium des Wertvollsten, folglich Wahren ..." [289]. Wahr von Seiten des Gefühls aus ist, "was das Gefühl am stärksten erregt", von Seiten des Denkens aus "was dem Denken das größte Gefühl von Kraft gibt", von Seiten des Tastens, Sehens, Hörens aus "wobei am stärksten Widerstand zu leisten ist"; also "die höchsten Grade in der Leistung erwecken für das Objekt den Glauben an dessen "Wahrheit", das heißt Wirklichkeit" [290]. Es gibt "Grade des Seienden", für die unser Grad von Lebens- und Machtgefühl (Logik und Zusammenhang des Erlebten) das Maß abgibt. [281f] Alles "Ansich" ist demnach eine widersinnige Konzeption [302], denn unsere Welt ist "essentiell eine Relationswelt" [307]. "Sie hat unter Umständen von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: ihr Sein ist essentiell an jedem Punkt anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt - und diese Summierungen sind in jedem Fall gänzlich inkongruent". [307] Alles "Objektive" ist nur eine "Grad-Differenz", nur ein "falscher Artbegriff und Gegensatz innerhalb des Subjektiven" [306]. - Dieser Perspektivismus ist nur "eine komplexe Form der Spezifität." [321] Somit ist auch der Begriff "Wahrheit" im Grunde widersinnig [324]. Doch, da eine Gattung nichts Wichtigeres zu tun hat, als sich zu erhalten und zu leben, so dürfen wir immerhin von "Wahrheit" reden [300; siehe 306]. Jedes Wachsen des Willens zur Macht bringt nun auch ein Mehr an Erkenntnis mit sich. "Eine Art ergreift so viel Realität, um über sie Herr zu werden, um sie in Dienst zu nehmen" [275]. Der Wille zur Wahrheit ist "ein Fest- machen, ein Wahr-, Dauerhaft- machen". "Wahrheit" ist "nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre, - sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß abgibt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der ansich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen - nicht ein Bewußtwerden von etwas, das ansich fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den Willen zur Macht" [287]. - NIETZSCHEs erkenntnistheoretische Ausführungen schließen sich zuletzt zusammen zu einer gemeinsamen Front und einem überaus kühnen Sturmangriff gegen die "wahre", die "andere" Welt [308f, 292f, 297f]. Damit meint er sowohl die Begriffswelt der Philosophie, als auch die metaphysische Welt der Religion und Moral. Philosophie, Religion und Moral sind nach seiner Auffassung alle drei "Symptome der Dekadenz", da sie aus einem "Instinkt der Lebensmüdigkeit" heraus [312], statt in Vernunft und Logik die Mittel zur "nützlichen Fälschung" zu sehen, in ihnen Kriterien der Wahrheit zu haben glaubten [299], und diese unsere Erhaltungsbedingungen als Prädikate des Seins projizierten [274]. "Wir haben keine Kategorien, nach denen wir eine wahre und eine scheinbare Welt scheiden dürften" [303]. Der Gegensatz zu unserer "scheinbaren", das heißt "zurechtgemachten" Welt [306] ist nicht die "wahre Welt", sondern das "Sensationenchaos" [280], zu dessen Realität aber die Scheinbarkeit gehört als eine Form seines Seins [306]. - Interessant wäre es, hier die Parallele zu ziehen zwischen NIETZSCHE und einem anderen großen Naturalisten, LUDWIG FEUERBACH. Auch er hatte den Menschen als den Schöpfer der "anderen" Welt, und den "Wunsch als das theogonische Prinzip" bezeichnet, aber er nimmt sich fast wie ein milder Kirchenvater aus gegenüber der extremen Negation NIETZSCHEs, der auch in diesem Wünschen und Bilden nur Symptome physiologischer Degenerationsfolgen sieht und sich als die radikalste Antithese dazu empfindet. - Wie die Ausführungen NIETZSCHEs gegen die Wahrheit positiv zusammengehalten sind durch den Grundsatz, daß Wahrheit nichts anderes ist als Zweckmäßigkeit, so finden sie sich negativ zusammen im Gegensatz gegen alles Seiende, Feste, Objektive, Normative. Aber freilich, an zwei sehr wichtigen Punkten belehrt uns NIETZSCHE selbst über die Unhaltbarkeit seiner Stellung. Schon der Gedanke, daß "Wahrheit" nur notwendig wäre für die Definition alles Höchstwertigen, wenn eine Korrelation bestünde zwischen den Graden der Werte und den Graden der Realität [303], - schon dieser Gedake will mit den sonstigen Ausführungen über die Wahrheit nicht recht stimmen. Aber NIETZSCHE sieht sich sogar veranlaßt, auch ein "Feststellen von Tatbeständen" zuzugeben [290], und weiß dagegen wieder nichts besseres zu sagen, als daß "das philosophische Objektiv-Blicken ein Zeichen von Willens- und Kraft-Armut", eine "Ohnmacht des Willens zum Schaffen" ist, mit Furcht und Faulheit verwandt [294f] und "grundverschieden" "vom schöpferischen Setzen, vom Bilden, Gestalten, Überwältigen, Wollen, wie es im Wesen der Philosophie liegt" [290]; denn der Philosoph zeigt den Grad seiner Willensstärke ja darin, daß er des Sinnes in den Dingen entbehren kann" [295; siehe 483] und vielmehr einen "Sinn hineinlegt", ein "Ziel setzt" und "daraufhin das Tatsächliche einformt" [290]. Andererseits beobachte man NIETZSCHE, wenn er nun selbst einen "Sinn" in die Dinge "hineinlegt". "Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen - das ist der höchste Wille zur Macht. Daß alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdesn an die des Seins: Gipfel der Betrachtung" [296f]. Da hätten wir dann wieder eine "Welt des Seins" und noch dazu als "Gipfel der Betrachtung". ![]()
1) "Also sprach Zarathustra" (1883-85): Bd. VI der Gesamtausgabe (1901); "Jenseits von Gut und Böse" (1885-86) und "Zur Genealogie der Moral" (1887): Bd. VII der Gesamtausgabe (1899); "Der Fall Wagner" (1888), "Götzendämmerung" (1888); "Nietzsche contra Wagner" (1888), "Der Antichrist" (1888): in Bd. VIII der Gesamtausgabe vereinigt (1899). Als das richtigste Verfahren erschien, auch um die poetische Eigenart des Zarathustra-Werkes nicht zu verwischen, den erkenntnistheoretischen Gehalt des VI. Bandes voranzustellen und ihn dann durch Bd. VII und VIII zu ergänzen. - Die Ergänzung des Nachlasses umfaßt die Bände XIIb bis XV. Bd. XIII und XIV sind zur Zeit noch nicht erschienen, doch läßt sich ebensowohl aus dem bereits veröffentlichten Material, wie ich aus dem Nachbericht des XV. Bandes (Seite 521) entnehmen, daß sie am Gesamtbild der Erkenntnistheoretikers NIETZSCHE nichts Wesentliches mehr ändern wird. Band XIIb enthält keinen erkenntnistheoretischen Abschnitt; einzelne Gedanken aus ihm werden zur Vervollständigung da und dort Verwendung finden. Der Band XV (erschienen 1901) enthält zu dem großartig angelegten Hauptwerk: "Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte" (dessen erstes allein druckfertig gewordenes Buch der "Antichrist" ist) die ausführlichen Vorarbeiten, darunter auch eingehend die letzten Anschauungen NIETZSCHEs über erkenntnistheoretische Fragen. - Zitiert wird hier überall nach der Seitenzahl. |