cr-4ra-1W. E. WalzA. RiehlJ. E. ErdmannF. Bacon    
 
EDMUND PFLEIDERER
Empirismus und Skepsis
in David Humes Philosophie

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"Zweck der allgemeinen Begriffe ist bloß die Abkürzung und Vereinfachung, weil es der Fassungskraft des Menschen unmöglich wäre, alle Einzelheiten zu behalten oder vollends mit Sondernamen zu belegen; nicht um ein etwa findendes und zu ergründendes Wesen der Sache dreht es sich, sondern nur um eine Art Stenographie des Gedankens zum Zweck der größeren Handlichkeit und leichteren Übersicht."

"Bacon hatte, in freilich nicht zu pressender, bildlicher Sprache einem gewissen, keineswegs beabsichtigten Skeptizismus Raum gelassen, indem der dem aufnehmenden Spiegel selbst Fehler und Unebenheiten vorwirft. Locke verfährt viel treuer im Geist der reinen Rezeptivität, indem er dies fallen läßt und die Aufnahme des Stoffs als solche für durchaus fehlerfrei erklärt, während ihm erst die eigene formale Tatigkeit Anlaß zu kritischem Mißtrauen gibt."

"Das Allgemeine ist keine reale Existenz, sondern nur ein Werk des Verstandes, der es für seinen Gebrauch macht und mit dem Wort als einem Zeichen versieht. Die einer realen Essenz als Grundmodell, nach welchem die in der Art enthaltenen Einzeldinge gebildet wären, ist unhaltbar und unmöglich."

"Die logisch-formale Identität ist das Grundgepräge jener Gebilde, welche in der seitherigen Schulphilosophie ein so hohes Ansehen genossen und um ihrer stringenten Allgemeinheit willen als das non plus ultra aller Geistestätigkeit galten: allgemeine Sätze. Locke hält aber gar nicht viel auf sie. Sie tragen gar nichts zur Findung neuer Wahrheiten bei. Für verdorbene oder noch schwache Augen mögen sie eine heilsame Brille sein, ein gesundes Auge sieht ohne sie schneller und besser."


Kapitel 2
Lockes fundamentale Philosophie
oder die Untersuchung über den menschlichen Verstand

Wie glücklich LOCKE (1632 - 1704) mit seinem hochberühmten Buch "An Essay concerning human understanding" (1) das in der Luft liegende Verlangen der Zeit erfaßte und durch seine ausdrückliche, so eingehende Behandlung zunächst befriedigte, zeigt ein kurzer Blick auf die Reihe der verwandten Schriften, welche damals und kurz darauf allerorts erschienen. Schon erwähnt wurde, wie BACON und HERBERT (2), CARTESIUS und Spinoza anstreiften. Fernerhin behandelt BROWN "the procedures, extent and limits of human understanding [das Verfahren, Ausmaß und Grenzen des menschlichen Verstandes - wp]; BERKELEY schreibt neben seiner "new theory of vision" [neue Theorie der Wahrnehmung - wp] noch eine "Abhandlung die Prinzipien des menschlichen Verstandes betreffend." HUME setzt ein mit seinem "Essay of human understanding" und wird von der schottischen Philosophie in ganz entsprechenden Schriften bekämpft. In Frankreich liefert MALEBRANCHE eine "recherche de la verité", CONDILLAC "essais sur l'origine des connaissances humaines". In Deutschland findet LOCKEs Versuch den geistvollen Widerhall und Kommentar in LEIBNIZ' "nouveaux essais sur l'entendement humain", die ganze vereinte Forschung der Zeit aber ihren großartigen Abschluß in KANTs "Kritik der reinen Vernunft". Es sollen das nicht wohlfeile literarische Notizen sein, sondern eine kurze Statistik des theoretischen Geisteslebens jener Tage, welche dem Absehen aller Statistik gemäß von äußerlichen Kategorie der Allgemeinheit zu der inneren Notwendigkeit und Berechtigung hinleitet. In der Tat stellt sich darin ein entschiedener Fortschritt gegenüber dem Denken des Altertums heraus. Jenes lebte in der Projektion nach Außen, in der relativen Verlorenheit an das nichtgeistige Objekt. Jetzt kommt das Denken zu sich selber und wird sein eigener Gegenstand: Die noesis noeseos [Denken des Denkbaren - wp] beginnt, welche ARISTOTELES als das Herrlichste nur für die Gottheit reserviert hatte in dem ahnenden Gefühl, daß es für seinen geschichtlichen Standort noch ein jenseitig Fernes oder Zukünftiges ist. Allerdings ersteigt die beginnende Neuzeit nach dem Gesetz der historischen Stetigkeit erst die Mittelstufe. Das Denken wird zunächst Objekt, und nur ansich oder implizit in seinem Reflektieren auch Subjekt. Erst einer weiteren Entwicklung war es vorbehalten, dasselbe zu einem bewußten, an und für sich freien und schöpferischen Subjekt-Objekt allen Wissens zu machen.

Wenn ich mir erlaube, die grundlegenden Gedanken LOCKEs etwas eingehender zu behandeln, als es von dieser Schrift zunächst erwartet werden darf, so hat das seinen Grund in der fundamentalen Bedeutung, welche jener für das ganze englische Denken bis auf den heutigen Tag besitzt, so sehr, daß ohne ihn auch HUME sowenig wie MILL historisch verstanden werden kann. Trotzdem glaube ich, daß LOCKE zumindest in den deutschen Darstellungen, so zahlreich sie sind, selten ganz richtig aufgefaßt und fast nie gerecht gewürdigt wird, wie er es doch als an seinem Ort bedeutsamstes Glieder der Entwicklung verdient.

Sein Motto: "Besser das Nichtwissen bekennen, als mit Schwatzen über Nichtgewußtes sich und andere anekeln!" Entsprechend dem äußeren, aber den Geist der Zeit spiegelnden Anlaß seiner Untersuchung geht sein Absehen darauf, dem unnötigen Zank und endlosen Streit ein Ziel zu setzen und zugleich dem praktisch schädlichen, auf alles Wissen verzichtenden Skeptizismus vorzubeugen, der so gerne als Ermattung aus jener nutzlosen Erregung der Geister zurückbleibt. Es müssen daher dem Forschen seine rechtmäßigen Grenzen gesteckt werden, damit es auf seinen Expeditionen an dem warnenden "Bis hierher und nicht weiter!" umkehrt. Der Lotse muß für die geistige Seefahrt jedenfalls die Länge seines Senkbleis kennen; reicht es auch - echt englische Nüchternheit und Resignation! - nicht überall in die Tiefe, so dient es dann aber doch dazu, die gefährlichen Orte anzudeuten. Daher will sein Buch "considérations sur les instruments et matériaux de nos connaissances - je ne sais laquelle de ces dénominations leur convient le mieux" [Überlegungen zu den Instrumenten und Materialien unseres Wissens - ich weiß nicht, welche dieser Bezeichnungen am besten paßt. - wp] geben. (3) Letztere Bemerkung ist sehr bezeichnend und beachtenswert; denn in der Tat ist die Vermischung der formellen und materiellen Betrachtung, verbunden mit einer echt englischen Nonchalance [liebenswürdige Lässigkeit - wp] des Gangs in einer Breite von Sir WALTER SCOTTischen Ausmaßen eine sehr hervortretende Eigentümlichkeit des Buches und gewiß mit ein Grund, warum so vielfach seine eigentliche Absicht und seine leitenden Gesichtspunkte übersehen werden. Weil LEIBNIZ in den nouveaux essais von seinem Standpunkt aus mit gutem Grund vornehmlich LOCKEs Bestreitung der angeborenen Ideen betont, findet man seither meist das erste Buch des Engländers, etwa auch noch das zweite, mit großer, wohl kaum nötiger Ausführlichkeit dargestellt; das hochinteressante dritte Buch "über die Worte" wird als Digression und Einschiebsel bezeichnet, was es aber höchstens dem Namen und der Überschrift nach ist; und schließlich das vierte oder Hauptbuch pflegt mit ein paar Worten gleichsam anhangsweise abgemacht zu werden: kein Wunder, daß sich der so entstellte LOCKE (durch dessen Kreuz- und Quergänge sich Wenige im Original durcharbeiten) ziemlich platt und dürftig präsentiert und der Ehre des noch herrschenden englischen Nationalphilosophen kaum würdig erscheint, wenn man nicht unsere doch unleugbar geistvollen angelsächsischen Vettern überhaupt mit allzu vornehmer Geringschätzung ansieht, was nie eine philosophische Stimmung ist. Diese etwa psychologisch erklärbare, aber sachlich unberechtigte, von Buch zu Buch sich steigernde Abspannung des Interesses an LOCKE hat aber wirklich viel Ähnlichkeit mit dem Verfahren, das bei KANTs Kr. d. r. V. zumindest nur die Anfänger häufig belieben: Die Ästhetik findet eine eingehende Beachtung, die Analytik, weil und soweit es eben sein muß; aber die Dialektik und vollends die Methodenlehre, diese glaubt Mancher als unnötigen Anhang überschlagen zu dürfen. In der Tat ist LOCKEs Bestreitung der angeborenen Ideen der Antipode zu KANTs, für das Folgende nur den Grund legenden Ästhetik. Wie aber für diesen, der in der Moral seinen Schwerpunkt hat, die Dialektik mit ihrer Reinigung des Bodens das von Anfang an erstrebte Ziel bildet, so ist für jenen das vierte Buch, welches vom Wert, der Ausdehnung und den Bedingungen der Erkenntnis abschließend handelt, entschieden die Hauptsache.

Zwei Fragen verdienen also nach dem Bisherigen bei LOCKE beachtet zu werden:
    1. Was sind die Instrumente unserer Erkenntnis, die Quellen und Werkzeuge der geistigen Arbeit?

    2. Welchen Wert haben die, aus der reinen Empirie gewonnenen einzelnen geistigen Materialien.
Die erste Frage spaltet sich in eine polemische [unsachlich bissig - wp] und eine apologetische [rechtferigende - wp] Ausführung, um die von BACON noch schwankend verlangte tabula rasa [reinen Tisch machen - wp] als das allein Tatsächliche herzustellen und die reine Rezeptivität des Geistes als ebenso wirkliche, wie hinreichende darzulegen.

Die Polemik wider die angeborenen Ideen und Sätze theoretischer oder praktischer Art, welche den Anfang macht, ist nicht bloß gegen die cartesianische Philosophie, sondern ebenso sehr gegen HERBERT gerichtet, wie neben der Moral die besondere Bekämpfung der von HERBERT behaupteten "Sätze" zeigt. In der Hauptsache ist dies freilich ganz dasselbe, sofern auch schon die Idee als das durchaus fertige, gewissermaßen kristallisierte und abgeschlossene Moment des Bewußtseins gefaßt wird (daher die Unterscheidung des inné-connu, virtuel-actuel [angeboren-angeeignet, theoretisch-praktisch | wp] bei LEIBNIZ, welche den Nagel auf den Kopf trifft.) Auch im Grundgedanken der Widerlegung wendet sich LOCKE direkt gegen HERBERT. Dieser hatte, wie oben bemerkt, wenigstens für die Auffindung der notitiae communes [generelle Existenzaussagen - wp] den consensus gentium [allgemeine Zustimmung - wp] als Prüfstein genannt (und in seiner Schrift "de religione gentilium" sogleich die Anwendung davon gemacht, um seine berühmten "fünf Sätze" aus der Hülle der Zeiten als einen ewigen Kern herauszuschälen). Es ist dies ein echt englischer Gesichtspunkt und verrät sozusagen eine gewisse, bei allem anfänglichen Protes doch katholisch-konservative Neigung des Denkens - wohl war der innere Grund der so mangelhaften Reformation auf kirchlichem Gebiet! "Quod semper, quod ubique, quod ab omnibus creditum est, veritas est catholica" [Das, was immer schon gesagt und von allen geglaubt wird, das sind katholische Wahrheiten. - wp] heißt schon des VINZENZ von Lerinum berühmter Kanon der Tradition. Von den zwei Merkmalen der Wahrheit wird die mehr schematisch-äußerliche Allgemeinheit lieber ins Auge gefaßt, als die innere Notwendigkeit, die sich unter Umstnden nur bei wenigen "testes veritas" [Zeugnissen der Wahrheit - wp] findet (daher bemerkt LEIBNIZ z. B. höchste bezeichnend seinen Gegnern gegenüber, daß es seltsam ist zu meinen, daß 100 Pferde schneller laufen als 10 und es müsse eine Schmach der Vernunft genannt werden, wenn man in dieser Weise an das Urteil der kritiklosen Menge appelliert - oder nach heutiger Redeweise, die Stimmen nur zählt, statt zu wägen: donner tant d'honneur á l'ignorance et barbarie ce serait rabaisser les dons de Dieu! [Der Unwissenheit und Barbarei so viel Ehre zu erweisen, würde bedeuten, die Gaben Gottes herabzusetzen! - wp] (4) LOCKE nun steht formal wesentlich auf demselben Standpunkt wie sein Gegner HERBERT und wendet nur den "consensus" als Waffe gegen die Angeborenheit. Denn, sucht er zu zeigen, es müßte sich derselbe bei angeborenem Besitz notwendig an allen Orten und zu allen Zeiten erweisen. Von Kindern und Ungebildeten nicht zu reden, lehrte die gewaltige Horizonterweiterung jener Periode gegenüber der mittelalterlichen Beschränktheit und naiven Borniertheit des Blicks allerdings, daß die Menschheit in jeder Beziehung eine bunte Verschiedenheit der Ansichten und Meinungen darbietet; an der Differenz aber blieb des Gegensatzes halber das nunmehr zunächst haften. - Wäre aber auch jemals ein Übereinstimmung vorhanden, so würde der Rückschluß aus der vorliegenden Wirkung gerade nur auf eine bestimnte Ursache nach den Gesetzen der Logik nicht gelten; denn die Erscheinung ließe sich ja auch anders erklären. Tatsächlich aber erweist sich also die Hypothese des identischen Angeborenseins durch die negativen Instanzen gegen ihre notwendige Konsequenz als irrig und unhaltbar, die mannigfaltige Erfahrung hingegen und das allmähliche Empfangen des ganzen Stoffs als die alleinige Quelle unseres ganzen Bewußtseinsgehaltes. LOCKE gibt demselben trotz des empirischen Ursprungs, die Rede- und Denkweise der bestrittenen Gegner entschieden abschwächend, den Alles befassenden Gattungsnamen "Idee" (die Abwertung des platonischen Begriffs glaubt der überaus feinfühlige LEIBNIZ sogleich rügen zu müssen, wenn er fordert, sie idées confuses [verwirrte Ideen - wp] und auch couleurs, goûts etc. plutôt images ou si vous voulez impressions [Farben und Geschmack sind eher Bilder oder wenn man will Eindrücke - wp] zu nennen. (5) Noch bei BACON hatte die "idea realis" der Dinge eine höhere, geradezu "idealere" Bedeutung gehabt, als ihr LOCKE, auch hierin einen Schritt weiter im Empirismus gehend und mit der unmittelbaren Wirklichkeit befriedigt gibt. Doch waren schon die Idealisten nicht vorsichtig genug gewesen, wenn z. B. bei CARTESIUS das "cogitare" für das ganze bewußte Geistesleben steht, ebenso bei SPINOZA, der nicht weniger mit dem Namen "idea" sehr freigiebig umgeht. - Näher fließen LOCKEs Ideen dem passiven Geistesschoß aus zwei Quellen zu, aus der Sensation und Reflexion, vielleicht ein abgedämpfter Nachklang dessen, daß BACON mit großem Nachdruck neben der bloßen Indukton auch die geisteskräftigere Deduktion gefordert hatte. Die Quelle der Reflexion, diese von einem steigenden Empirismus der Nachfolger sogleich angefochtene Mitberücksichtigung des Geistes, nicht zu vergessen, lag jedoch dem Standpunkt, den LOCKE noch einnahm, durchaus und von selber nahe; ist doch seine ganze Denkweise die vollkommene Reflexionsphilosophie, und seine historische Bedeutung liegt eben in der erstmals ausdrücklichen Reflexion des Geistes in sich; er hätte sein ganzes Tun verleugnet, hätte er nicht (ob konsequenz, ist eine andere Frage) den Beitrag voll gelten lassen, den das Denken aus der Beobachtung der eigenen Seelenoperation stofflich gewinnt. Wenn auf diese doppelte Weise aller wirkliche Inhalt dem Geist als einem ruhenden (einer Art paradoxeion, wie PLATO nur die Materie faßt) lediglich aus der Erfahrung zukommt, so ergeben sich eigentlich (wie bei KANT) die Grenzen der Erkenntnis schon aus dieser Beantwortung der Vorfrage: Das Wissen hört auf, wo die empirischen Ideen aufhören, nur daß damit nicht gesagt sein soll, daß die Grenzen unseres beschränkten menschlichen Wissens auch schon die des Seins bilden, dessen Weiterreichen ins Große und Kleine (z. B. der Teilung) vielmehr mit einem harmlosen Dogmatismus als ein Unendliches bezeichnet wird (6). Die ganze weitere Ausführung ist bloß die (sachlich freilich viel wichtigere) positive oder negative Bestätigung des schon hier gewonnenen Resultats. Hat nämlich der Geist in obiger Art allen Stoff leidend empfangen, so beginnt nun seine durchweg geschöpfliche, nicht schöpferische Tätigkeit als eine rein formale; von einem nous poietikos ist keine Rede, sondern es bleibt nur die Aufgabe, das vorliegende Material in unendlich mannigfaltiger Weise zu verbinden oder zu trennen, nach LOCKEs eigenem Bild: Die Tätigkeit des Setzers am Letterkasten. Oder es ist mit anderen Worten die Arbeit und der Standpunkt einer vollkommenen Relativität und ein In-Beziehung-Setzen (oder Forderung), weshalb auch diese Kategorien und die "noms relatifs" LOCKE so wichtig sind:
    "Die positiven (d. h. konkreten) Dinge bekommen diese Namen, um als ebensoviele Marken unseren Geist über das Subjekt dieses Namens zu einem anderen, davon verschiedenen hinauszuführen." (7)
Der im Bisherigen skizzierte geistige Mechanismus mit seiner primären Rezeptivität und sekundären Spontaneität würde sich nun zwar allerdings durch Einfachheit und Faßlichkeit empfehlen, ähnlich wie NEWTONs Mechanik des Himmels auf einmal dem verwickelten Hypothesen- und Hilfsannahmenspiel ein Ende bereitete. Unterdessen erwächst eben aus dieser großen und gegen bisher überaschenden Einfachheit für LOCKE die Aufgabe, eingehend nachzuweisen, ob und wie denn die oft so komplizierten und raffinierten Elemente des Bewußtseins mit so simplen Mitteln zustande gebracht werden können. Wie die Hypothese der angeborenen Ideen durch die Wirklichkeit widerlegt wurde, so muß sich der neue Standpunkt vor eben derselben gestrengen Richterin ausweisen; das ist nun einmal der Typus des von FRANCIS BACON inaugurierten [eingeführten - wp] neuen Denkens, dem namentlich LOCKEs schwindelfreie, grundehrliche Philosophie in rühmlicher Weise nachzukommen sucht. Der größte Teil der Untersuchungen seines zweiten Buches, auch vieles aus dem dritten ist durchweg von diesem Gesichtspunkt der Ausweis gebenden Verteidigung für die empirische Grundanschauung aufzufassen. Allerdings verläuft sich die Behandlung meist etwas légérement [locker - wp] in große stofflich-metaphysische Breite, vermeidet auch förmliche Digressionen [Abschweifungen - wp] und nichts zur Sache beibringende Abschweifungen nicht, so daß der Leser oft unwillkürlich den Faden verliert und meint, schon hier metaphysische oder andere Untersuchungen um ihrer selbst willen vor sich zu haben. Doch unterläßt LOCKE es selten, am Schluß eines solchen Abschnitts fast wie entschuldigend die Bemerkung beizufügen, er habe das Bisherige ausgeführt, nicht um eine Abhandlung über den betreffenden Gegenstand zu liefern, sondern nur um daran zu zeigen, daß auch hierfür die empirische Ableitung völlig ausreicht. So z. B. bei der weitschweifigen Besprechung des Raums, der Zeit und namentlich der hieran sich anknüpfenden Unendlichkeit (Essay 179-185), bei dem gewiß zunächst nicht erwarteten Abschnitt über die Passionen Lust und Schmerz (Essay 265f), was "kein förmlicher traité sein soll"; am bestimmtesten bei der ermüdenden Ausführlichkeit über die Relationen, "welche in dieser Weise durchgenommen werden bloß um darzulegen, daß auch sie alle aus der Erfahrung und Sinnlichkeit stammen, "quelque deliées et éloignées des sens qu'elles paraissent" [wie locker und fern von den Sinn sie auch scheinen - wp].

Die empirische Wirklichkeit und daran gebundene Erfahrung bietet nämlich in quantitativer Hinsicht zunächst nur Endliches und Beschränktes, in qualitativer nur Positives und Konkretes, ihrem ganzen Wesen nach nur den Stoff, die greifbaren Elemente. Woher nun im Bewußtsein das Unendliche (zunächst der Mathematik), woher die Negation mit ihren verwandten Erscheinungen und die Abstraktion mit dem Wort, woher endlich das überreiche Geäst der Relationen, die als unsichtbare, ja überhaupt unsinnliche Fäden geradezu Alles mit Allem verbinden und eine solche Hauptrolle in unserem Denken und Handeln spielen? Sind das nicht lauter unumstößliche Zeugen wider den reinen Empirismus? LOCKE verzweifelt nicht, auch mit ihnen fertig zu werden.

Nehmen wir zuerst dden Begriff der Unendlichkeit. Seine Erforschung ist eine Lieblingsfrage der Zeit, vielleicht im Zusammenhang mit den großen geographischen und astronomischen Entdeckungen (Fernrohr und Mikroskop), jedenfalls aber die philosophische Parallellinie zu den hochwichtigen mathematischen Errungenschaften eines NEWTON und LEIBNIZ. [...] Wenn bis auf LEIBNIZ in der rationalistischen Reihe das Unendliche, eigentlich oder mit der Hilfe Gottes (wie bei MALEBRANCHE), dem Geist als sein Objekt vindiziert worden war, so bildet LEIBNIZ den interessanten Wendepunkt zu einer weiteren Stufe der deutschen Philosophie, welche von KANT an dasselbe als spezifisches Wesen des Subjekts in seinen höchsten Funktionen faßt. Man denke an KANTs Ideen, an seine autonome Vernunft, welche bald zum absoluten Geist wird. -

Ganz anders der empirische, philosophisch-egoistische Reflexionsstandpunkt, der sich besonders an diesem Hauptbegriff als Antipode der spekulativen Projektion erweist. LOCKE geht aus von einem unmittelbar gegebenen Endlichen: Wir bekommen dieses Idee einach durch sinnliche Wahrnehmung, indem "une portion "bornée de l'étendue frappe nos sens" [ein begrenzter Teil des Umfangs betrifft unsere Sinne - wp]; (denn der Raum, die Zeit, die Figur, Bewegung und Ruhe sind Gegenstände der äußeren oder inneren Wahrnehmung; tout cela fait impression á nos yeux [in meinen Augen ist das alles sehr beeindruckend - wp] Seite 125. Dabei wird aber z. B. der Raum oder die Ausdehung doch noch unterschieden vom Körper, der ihn erfüllt, oder von der Solidität, welche sich darin geltend macht - ein naiver, noch ziemlich inkonsequenter Dogmatismus, den die Nachfolger rügen und verbessern!). Vermöge einer formalen Spontaneität des Geistes ist aber jenes Stück ins Unendliche addier- oder teilbar, weil jeder Raum wieder Raum, jede Zeit wieder Zeit ist. Etwas anderes ist freilich unsere Bewußtseinsgrenze, wo die klare und bestimmte Idee ein Ende hat (so etwa der "Moment", der sensible Punkt, eine bestimmbare Größe, nämlich 30 Sekunden eines Kreises, dessen Zentrum das Auge bildet). Ebenso ist zu unterscheiden zwischen der Idee der Unendlichkeit des Raums und der Idee des unentlichen Raums selber: Ersteres ist nur eine endlose Progression, welche der Geist in steter Wiederholung endlicher Stücke macht, das Zweite dagegen setzte ein wirkliches Durchlaufenhaben und aktuelles Sehen aller einzelnen, unendlichen zahlreichen Teile voraus und ist darum unmöglich. Überhaupt ist die Idee des Unendlichen eine "idée fugitive"[flüchtige Idee - wp] und wird immer undeutlicher ("grossit"), je weiter man die Verfolgung, sei es aufwärts oder abwärts treibt. Das Positive derselben ist die Sammlung durchlaufender Stücke; aber nicht mehr positiv und distinkt ist das "surplus"; jede erreichte endliche Größe ist dabei immer "incompléte".

Der Gegensatz des Negativen und Positiven spielt schon hier bei den Quantitätsbegriffen die Hauptrolle; LOCKE faßt aber die qualitative Seite der Negationsfrage auch noch besonders ins Auge.
    "In Wahrheit, bemerkt er dieser crux der Empirie gegenüber schon sehr früh, wir haben negative Namen, welche nicht direkt positive Ideen, sondern die Abwesenheit derselben bezeichnen, z. B. dumm, schwarz, Nichts usw."

    "Wir brauchen" (nimmt er Seite 497f die Frage wieder auf) dies motifs négatifs, um die Abwesenheit einer einfachen oder komplexen Idee oder überhaupt Aller auszudrücken. Man kann von seinem solchen Wort nicht sagen, daß es eigentlich zu gar keiner Idee gehört, denn sonst wäre es ja ein leerer Ton, sondern ces mots se rapportent á des idées positives [Diese Worte beziehen sich auf positive Ideen - wp], um deren Fehlen anzugeben." -
Klammert sich schon hier der etwas gedrängte Empirismus an das Wort als den allein noch übrigen sinnlichen Halt bei den Bewußtseinselementen, in welchen der Rationalismus die ersten unleugbaren Produkte eines selbständigen, freibildenen Denkens erkennen zu müssen glaubt, so zeigt sich die Verwendung des gleichen Notbehelfs noch viel stärker in der Behandlung des Gegensatzes von Abstraktem und Konkretem (daher die Überschrift des dritten Buchs "des mots" [über die Wörter - wp], das in Wahrheit eben von den allgemeinen Begriffen handelt). Das unmittelbar Wirkliche ist immer konkret einzeln; ein großer, wo nicht der größte Teil des Bewußtseins aber ist abstrakt-allgemein. Kann also das Letztere rein nur als die Kopie, als passiver Abdruck des Ersteren betrachtet werden? Diesem Einwand weiß LOCKE zu begegnen, indem er darauf hinweist, daß er ja gleichfalls, wenn auch erst in zweiter Linie, dem Geist eine beeutende formale Tätigkeit zuschreibt. Auf ihre Rechnung nun kommt die ganze, allerdings zunächst sehr groß scheinende Umänderung, welche innerhalb des Bewußtseins mit dem Erfahrungsstoff vorgenommen wird. Das Vermögen, um das es sich hier handelt, ist die hochwichtige Abstraktionskraft,
    "eine ausgezeichnete Qualität, welche den vollkommenen Unterschied, la propre différence [der eigentliche Unterschied - wp] von Mensch und Tier begründet. Letzteres hat wohl auch einige Fähigkeit, Ideen zu vergleichen oder zusammenzusetzen; abstrahieren aber kann es nicht. Daher und nur daher hat es auch keine Sprache; denn wie das Beispiel der Papageien zeigt, würden ihm die sinnlichen Organe nicht eigentlich fehlen, wie umgekehrt ein, ihrer gewöhnlichen Ausbildung beraubter Mensch sich rasch in gleichgeltenden anderen Zeichen einen Ersatz zu schaffen weiß." (8)
Jedoch handelt es sich auch bei der Abstraktion nicht um eine qualitative Veränderung des Gegebenen, welches dadurch freilich aufhören würde, den bestimmenden Archetypus und alter ego des Bewußtseins zu bilden, sondern der Prozeß ist nur ein äußerlich und quantitativ verändernder, eine gewisse Raffinerie der allzu bunten und farbigen Wirklichkeit, ohne ihr eigentliches und inneres Wesen anzutasten. Zweck der allgemeinen Begriffe und "terms" ist nämlich bloß die Abkürzung und Vereinfachung, weil es der Fassungskraft des Menschen unmöglich wäre, alle Einzelheiten zu behalten oder vollends mit Sondernamen zu belegen; nicht um ein etwa findendes und zu ergründendes Wesen der Sache dreht es sich, sondern nur um eine Art Stenographie des Gedankens zum Zweck der größeren Handlichkeit und leichteren Übersicht. (9) So ist und bleibt auch der abstrakte Teil des Bewußtseins dennoch in voller Abhängigkeit von der konkreten Wirklichkeit der Erfahrung, sei es nun, daß die allgemeinen Begriffe den hauptsächlich bedeutsamen Rest, das gewonnene Residuum einer auch in der Wirklichkeit, nur noch reicher, vorhandenen Kombination von Eigenschaften darstellen, oder daß sie formell ganz frei zusammengefügte Mosaikbilder sind, denen im Ganzen zwar nirgends etwas von einer Objektivität entspricht, während dagegen alle einzelnen Steine lediglich dorther stammen. Wir kommen bei der materiell-metaphysischen Betrachtung (besonders des Substanzbegriffs) noch einmal von einer anderen Seite auf diesen Hauptpunkt zurück, den eben das dritte Buch LOCKEs behandelt.

Da aber das Allgemeine allerdings im Einen, wie namentlich im anderen Fall dann doch keine ganz getreue Kopie eines Objektiven ist, braucht es zum Ersatz dafür eine künstliche Stütze, welche ihm das Wort bietet.
    "Jene Begriffe, insbesondere die mehr oder weniger frei durch Zusammensetzung gebildeten komplexen Ideen vielgliedriger Art haben im Geist des Menschen - und anderswo sind sie gar nicht - nur eine sehr ungewisse Existenz, daher gibt man ihnen Namen zum Halt." (10)
Namen bestimmen oder erzeugen sogar erst die species der Dinge, worin eine große Gefahr des wissenschaftlichen Fortschritts liegt. Besonders für die moralischen Begriffe (eine Hauptart der komplexen Ideen, genauer der modi mixti [gemischtes Verfahren - wp] siehe später!) ist dies von hoher Bedeutung, da sie durchaus nicht als müßige Phantasiespiele anzusehen sind (wie die Fiktion eines Zentauren und dgl.) und doch auch so gar wenig massive Greifbarkeit in der Anschauung besitzen. Der Begriff "Dankbarkeit", um nur einen zu nennen, enthält so viele allerorts zerstreute Ingredenzien (oder weniger sinnlich geredet: Momente), daß es schwer fällt, ihn gleichsam ad oculus [durch Augenschein - wp] zu demonstrieren, wie sich die sonst nah verwandte Mathematik durch ein sinnliches Hinzeichnen ihrer Notionen [Begriffe, Vorstellungen - wp] helfen kann. Eine babylonische Verwirrung über diese, der allgemeinen Übereinstimmung so sehr bedürftigen und doch (als modi mixti) mit so viel subjektiver Freiheit gebildeten Begriffe wäre zu besorgen, wenn nicht die sittlichen Ideen, ja sogar die Namen durch die von Gott oder einem anderen Gesetzgeber bestimmte moralische Terminologie fixiert wären (11).

Die fließende Natur der ethischen Begriffe, bei denen LOCKE selbst nie recht ins Reine kommt, ober er sie unter den modi oder Relationen behandeln soll, führt uns schließlich von selbst zu den Letzteren. Schon bemerkt wurde, welche Rolle sie auf dem Reflexionsstandpunkt spielen müssen. Nun bieten aber gerade sie für den ehrlichen Empiriker eine eigentümliche Schwierigkeit. Die Erfahrung liefert uns wohl den Stoff und die Elemente - immerhin zugegeben. Der Geist verbindet und trennt dieses Material in mannigfachster Weise. Allein was wollen diese Worte "verbinden, trennen" in ihrer zunächst ernsthaft gemeinten sinnlichen Plumpheit gegenüber der unendlich feinen Artikulation besagen, mit welcher das nie ruhende Denken in Blitzesschnelligkeit Alles mit Allem in Beziehung zu setzen weiß, wie LOCKE selbst einigemal zugibt, daß eigentlich alle Ideen im Grund relativ sind? Droht hier nicht das stoffliche Material auf einmal weit in den Hintergrund zu treten gegenüber der Virtuosität des bearbeitenden Künstlers, wie bei einem Kunstwerk des Goldschmieds oder Juweliers der Metallwert immer das Geringste ist? Die Hauptsache in unserem ganzen Denken und Sprechen scheinen ja nicht die schweren erdigen Teile, an denen sich dasselbe erweist, sondern die feinen, unsinnlichen Fäden, die es nach allen Richtungen zu spinnen weiß:
    "Zwar ist es mit der Gedankenfabrik
    Wie mit einem Weberstück,
    Wo ein Tritt tausend Fäden regt,
    Die Schifflein herüber und hinüber schießen,
    Die Fäden ungesehen fließen,
    Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt."
Die Hauptbetonung in der Sprache und Grammatik hat am Ende nicht das Register der Worte als bloßer "Klangfiguren", sondern alles, was darin zur Artikulation gehört, und das ist in letzter Instanz immer ein Relationszeichen, oder für die rationalistische Auffassung nur Symbol des freien Gedankens (12).

LOCKE als grundwahrer Denker verhehlt sich diesen schweren Stein des Anstoßes nicht und gibt sich in seinem Sinn die größte Mühe mit den für ihn nicht so einfachen "relativen Wörtern, die den Geist notwendigerweise zu anderen Ideen führen als solchen, die für eine tatsächliche Existenz der Sache sprechen, auf die die Wörter angewendet werden." (13) Er versucht durch eine möglichste Betonung des Leibs der Relation, um mich so auszudrücken, oder umgekehrt durch eine tunlichste Degradierung ihrer Seele, des Gedankens, auf die Stufe der mehr oder weniger willkürlichen, daher nicht weiter kontrollierbaren Fiktionen und Phantasiegebilde für den Empirismus zu retten, was noch geht, kann aber doch außer dieser überhaupt bezeichnenden Verlegenheit nicht umhin, einmal (Essays, Seite 438) geradezu das Geständnis abzulegen, daß unsere "notion" von der Relation an und für sich, also das rein Gedankenmäßige, meist so klar ist, wie die von ihrem "fondement", den bezüglichen positiven, d. h. konkreten Ideen (welche wir eben ihren Leib genannt haben.) Wo nicht, so muß auch hier nach der nötig erschienenen Amputation des Gedankens das Wort den Stelzfuß abgeben. Überdies dürfen wir natürlich nicht vergessen, daß unter dem weiten Mantel der, bei der Anwendung auf das Geistige jedenfalls bildlich werdenden formalen Grundbegriffe "Verbinden, Trennen" nicht bloß implizit, sondern sogar mit mehr oder weniger Bewußtsein ein gut Teil geistiger, wahrhafter Selbsttätigkeit sich gegen das Prinzip nachträglich einstellen kann. Die psychologisch-mechanische "Trennung" wird zum logischen Urteil, die "Verbindung" zum Schluß, ehe es sich der Autor selbst versieht; denn "naturam expellas furca, tamen usque recurret" [Auch wenn man die Natur mit einer Heugabel vertreibt, kehrt sie doch zurück. - wp] wird der Rationalist sagen.

Mag auch immerhin im heißen Gedränge der Einwendungen, welche LOCKE sich selber macht, die anfängliche empirische Siegesgewißheit ein wenig heruntergestimmt werden, in der Hauptsache glaubt er doch, wie vorher polemisch, so nunmehr auch apolokgetisch für den Standpunkt der Erfahrung das Feld behauptet zu haben.

Welchen Wert besitzen nun aber die aus reiner Empirie gewonnenen einzelnen geistigen Materialien? Diese Hauptfrage läßt sich jetzt beantworten, indem die obigen apologetischen Bemerkungen den Übergang dazu bilden. Wir schließen uns hierfür nicht an die, bei LOCKE äußerlich so stark hervortretende Einteilung in "modi, Substanzen und Relationen" an, unter welchen Titeln er die Produkte der geistigen Verarbeitung, die komplexen Ideen ausführlich abhandelt. Denn es ist dies ein, LOCKE viel ins Gedränge bringender, wohl nur durch die Beziehung zur seitherigen Schulphilosophie veranlaßter Griff, der sich auch innerlich durch große Halbheiten und Schwankungen und ein sehr störendes, beständigs Ineinanderfließen der einzelnen Gebietsgrenzen rächt. Die modi und Relationen z. B. greifen ihm immer (mit vielen Entschuldigungen des Autors) ineinander; zu einer eigentlichen Unterscheidung von modi und Substanzen aber, die er auch für seine positive Behandlung festhält, ist gerade bei seiner Anschauungsweise so gut wie kein Grund. Das einzig Richtige wäre, was wir dann auch bei Späteren finden, unter dem Grundbegriff der Relation mit den nötigen Einteilungen alles abzuhandeln. Eine sachliche Kritik ist jedoch das Absehen unserer, zunächst historischen Darlegung nicht; das Gesagte soll nur die Abweichung von LOCKEs und seiner meisten Darsteller Anordnung rechtfertigen, unter deren äußerer Scheinbarkeit der wahre Sinn und Gehalt seiner Ausführungen bloß Not leidet. Es kehren nunmehr, nur in konkreter Erfüllung und Anwendung, wesentlich dieselben Fragen wieder, die in den abstrakten Grundzügen bereits vorbehandelt sind; z. B. erscheint der Begriff des Allgemeinen und Abstrakten jetzt als das Problem der Substanz, die Relation überhaupt als lebensvollere Kausalität usw.

Drei Fragen sind es, die LOCKE (wenn auch nicht formell und ausdrücklich, so doch sachlich ganz entschieden dem hierin unvermeidlichen Leitfaden der logischen Kategorientafel folgend) gleichsam als strenger Untersuchungsrichter dem Wissen vorlegt:
    1) Hat dasselbe und unter welchen Bedingungen Realität (Qualität)?

    2) Wie steht es mit der Allgemeinheit (Quantität)?

    3) Wie ist es mit der Gewißheit oder den verschiedenen Arten und Stufen der Erkenntnis (Modalität)?
Die Kategorie der Relation fällt als metaphysische aus, oder zieht sich vielmehr in einer erkenntnistheoretischen Färbung durch das Ganze hindurch. Dies sind die unleugbaren, mehr oder weniger hervortretenden Gesichtspunkte des vierten und Hauptbuchs, unter welchen ohne Zwang auch die wertvollen Sätze des dritten unterzubringen sind.

Beginnen wir mit der Qualität des Wissens, d. h. mit der materiellen Seite der Realität, welche dem gediegenen englischen Denken und so natürlich auch LOCKE die wichtigste ist, weshalb sie schon in der Ausdehnung der Behandlung weitaus die erste Stelle einnimmt und in der Hauptsache auch den weniger wichtigen formalen Begriff der Wahrheit mit einschließt, der dann wieder bei der Kategorie der Allgemeinheit hereinspielt.

Realität heißt schon dem nächsten Wortlaut nach und vollends LOCKEs Standpunkt nach nichts anderes, als objektive Sachgemäßheit oder adäquate Kopierung und Verdoppelung des Wirklichen im Geist. Der Formaltätigkeit des Denkens wird jedoch hier noch eine Rolle zugestanden, daß es auch bei dieser Frage dieser Frage der Realität unerläßlich ist, Stoff und Form des Wissens besonders ins Auge zu fassen und demgemäß zu fragen:
    a) Erhält der passive Geist seinen Stoff auch wirklich in voller Angemessenheit, ohne Verzerrung und Trübung?

    b) Wird nicht etwa durch die spontane Bearbeitung desselben eine Abweichung von der Wirklichkeit herbeigeführt, welche dem Bewußtseinsgehalt allen Wert raubt?
Was das Erste betrifft, so hatte BACON, freilich in nicht zu pressender, bildlicher Sprache einem gewissen, keineswegs beabsichtigten Skeptizismus Raum gelassen, indem der dem aufnehmenden "Spiegel" selbst Fehler und Unebenheiten vorwirft. LOCKE verfährt viel treuer im Geist der reinen Rezeptivität, indem er dies fallen läßt und die Aufnahme des Stoffs als solche für durchaus fehlerfrei erklärt, während im erst die eigene formale Tatigkeit Anlaß zu kritischem Mißtrauen gibt.

Näher unterscheidet er bekanntlich zunächst die primären und sekundären Qualitäten als stoffliche Elemente, die dem Geist (von Außen) zukommen. Diese Trennung liegt in der Luft der neueren Philosophie. Schon CARTESIUS will bei seiner Rekonstruktion als sicher nur ein "quidquid corporis mehr mathematicum est" anerkennen, d. h. die späteren primären Qualitäten, währen er die sekundären (Farben, Töne etc.) als schwankend und unsicher beiseite läßt. Das setzt sich als ein betonter Gedanke durch die ganze erste Zeit fort, so sehr, daß z. B. HUME hierin eine charakteristische Eigentümlichkeit derselben sieht, freilich darüber auch als über eine Halbheit spottet und seinerseits nach etlichen Vorgängen viel resoluter verfährt. Der Spott ist nicht ganz berechtigt. Gehört ein gewisser (wenn auch oft noch so empirischer und inkonsequenter) Idealismus zur Signatur des neuen Reflexionsstandpunkts, so war es immerin bei der stufenmäßigen Ordnung der Geschichte ein Gewinn, wenn nur einmal peripherisch [am Rande - wp] die natürlich-sinnliche Unmittelbarkeit einen Stoß erleidet und derartige Bedenken ohne die Maßlosigkeit der alten Skepsis ruhig thetisch zum Gemeinbesitz des Bewußtseins werden. Das Verdienst des ersten entschiedenen Schritts gebührt LOCKE.

Jedoch gibt er dieser Unterscheidung bei der Frage der Realität, die uns hier beschäftigt, keine weitere Folge, sondern erklärt, daß aller und jeder aufgenommene Stoff real, d. h. der Wirklichkeit adäquat ist. Er folger das wesentlich aus dem Begriff der passiven Aufnahme. Zwar haben wir allerdings eine unmittelbare Erkenntnis nur von den Ideen, während die der Dinge mittelbar ist und es eine Kriteriums für die Übereinstimmung beider bedarf. Es solches liegt vor allem in der Unfähigkeit des Geistes, schöpferisch zu sein: il ne saurait cela former lui-même [er versteht sich selbst nicht - wp] (der Satz Essay 814-815, daß das Vorhandensein einer Idee noch nicht die Existenz des betreffenden Dings beweist, so wenig wie ein Porträt die des Dargestellten, ist entweder eine eingeschlüpfte Inkonsequenz, oder bezieht sich folgerichtig nur auf die zusammengesetzten Ideen). Wo ein Sinn, wie ein Auge oder Ohr, fehlt, mangelt die entsprechende Idee; dies beweist deren Herstammen aus dem Sinn. Dieser kann aber seinen Eindruck nicht selbst erzeugen, wie man z. B. mit den besten und offensten Augen nichts im Dunkeln sieht. Überdem ist zu beachten, wie die hiernach erforderliche äußere Ursache "s'introduise par force" [mit Gewalt einführen - wp], wie sie gebunden und unfrei ist, namentlich auch von Lust und Schmerz begleitet wird, was alles bei der bloßen Phantasie nicht der Fall ist. Auch bezeugen die Sinne sich gegenseitig ihre Aussagen - soviel genügt, zumindest für das praktische Leben, dem Lust und Unlust die beherrschenden Agentien sind, die auch gegen den Skeptiker wirken, der sich am besten gegen sich selbst kehren und eigentlich ganz schweigen sollte. (14) Das Gesagte gilt ohne Weiteres von den primären Qualitäten der Dinge, d. h. von der mathematischen und mechanischen Seite derselben. Mit den sekundären Eigenschaften steht es nicht so schlimm, da sie gewiß, wenn auch für uns unbegreiflich, von den primären und deren Wirkungsweise abhängig sind. Mögen sie immerhin nur eine Wirkung derselben in uns, also wesentlich nur subjektiver Art sein, so ist ihnen dafür die Realität durch die correspondance continuelle et invariable [kontinuierlich und unveränderliche Übereinstimmung - wp] gesichert, die sie mit den Konstitutionen der realen Dinge als ihrer puissance [Macht - wp] (wozu auch die eigene rezeptive Konstitution in ihrer Gesetzmäßigkeit gehört) haben (15). Es ist somit der ganze Stoff als solcher, d. h. alle einfachen Ideen real, weil auch die sekundären Qualitäten keine eigentliche Ausnahme bilden oder eine förmliche Trübung und irrende Verzerrung der objektiven Wirklichkeit darstellen. Da der Geist am Ende nicht imstande ist, etwa zu dem fehlerlos Empfangenen noch einen eigenen Bastardstoff zu erzeugen, so kann alle eventuelle Irrealität lediglich nur von der formalen und verarbeitenden Tätigkeit herkommen. Einen Irrtum gibt es nur auf dem Boden der Spontaneität und der Form.

Weshalb der Form? Wer sie lediglich dem autonomen Geist zuschreibt, dem wird es obliegen, dessen Gesetze genau zu untersuchen und die Irrealität oder den Irrtum als Abweichung von denselben zu bezeichnen. Wer in einem materialistischen Sensualismus die Natur autonom macht, wird die Form so gut wie den Stoff allein von ihr stammen lassen und jene als bloße Kopie der fertig vorliegenden objektiven Formungen bestimmen. Einen Irrtum gibt es für diesen Standpunkt eigentlich nicht mehr, kaum Krankheit, da hierzu ein idealer Zweckbegriff gehört.

LOCKE kann das Eine, wie das Andere nicht zu seiner Ansicht machen; denn das Erste liegt gar nicht in der Richtung seines Denkens, das Andere aber zu akzeptieren verbietet ihm eben doch die noch so stark zugestandene Differenz der sinnlich-konkreten Objektivität und des geistig-abstrakten Bewußtseinsgehaltes. Was er annimmt, ist ein nicht ganz klares und konsequentes Mittelding, wie er dann auch diese prinzipielle Vorfrage über die Form ansich in ihrem Verhältnis zum Stoff gar nicht ausdrücklich behandelt, sondern nur zum Hintergrund seiner kritisch-sichtenden Untersuchungen hat.

Sehr einfach erledigt sich ihm die Realitätsfrage, indem sie nämlich selbstverständlich für jeden Vernünftigen ganz wegfällt, bei den durchaus willkürlkichen Gebilden und Gestalten der dichtenden Phantasie, den "vaines fictions forgées á plaisir" [eitlen Phantastereien, die zum Spaß gebildet werden - wp] (Essay, Seite 455), die von Anfang an jenen Anspruch gar nicht erheben, sich also auch keiner Abfertigung oder Zurechtweisung des vergleichenden Richters aussetzen: sie haben sich nach Nichts zu richten, da sie ihr eigenes Archetyp sind; der negative Grund ihres Nichtverstoßens gegen eine Realität erlaubt in ungenauerer Redeweise sie geradezu auch real zu nennen (vgl. Essay, Seite 456). Nich so bei den Bildungen, die zwar einerseits frei sind und sich eine ziemliche Abweichung vom unmittelbar und zunächst Gegebenen erlauben, andererseits aber doch in der Wirklichkeit die mehr oder weniger stark ausgeführten Spuren und Grundlinien ihrer Formung besitzen, nach welchen sie sich bequemen müssen, wollen sie bei ihrem Anspruch auf wesentliche Realität keine unberechtigte Anmaßung begehen. Es sind dies die modi, Substanzen und (später natürlich genannten) Relationen, insbesondere die Kausalität, womit wir nach einer Hervorhebung der hauptsächlich bedeutsamen, leitenden Gesichtspunkt wieder mehr in LOCKEs eigene Einteilung (nicht Gang) einmünden. Wir haben an ihnen nichts anderes, als komplexe Ideen, aber sie werden aus den unendlichen Zahl derselben eben als diejenigen besonders herausgehoben und kritisch gesichtet, welche mehr oder weniger auch eine formelle Gebundenheit ans Objektive besitzen und daher in ihrem Anspruch auf reale Gültigkeit jedenfalls zu prüfen sind.

Es wurde bereits hervorgehoben, daß diese Einteilung namentlich auf LOCKEs Standpunkt eine wenig logisch und darum verunglückte ist, daß vornehmlich die gesonderte, reinliche Behandlung der "modi" im Unterschied von Relationen und Substanzen ihm gar nicht gelingen will. So etwas weist bei einem Denken von LOCKEs Bedeutung natürlich auf einen tieferen Grund, auf eine zwar geahnte, aber noch nicht zum Durchbruch des klaren Bewußtseins gekommene Schwierigkeit in der Sache. Sehen wir nämlich näher zu, was er unter den modi aufführt: Fürs Erste sind es die modi puri, als lauter gleichartigen Bestandteilen zusammengesetzt, also hauptsächlich (oder allein) die mathematischen Gebilde der Figur und Zahl. Die zweite Klasse bilden die modi mixti aus ungleichartien Elementen konstruiert, unter welchen die moralischen (und rechtlichen) Begrife die größte Rolle spielen. Dies wäre also so ziemlich das, was eine spätere und veränderte Philosophie als ihr eigentlichstes Gebiet der Apriorität, des schöpferisch freien Denkens anführt, während sie auf einem anderen Boden (dem der Naturwissenschaft im weiteren Sinn) mit einer leichteren Durchgeistigung und Verklärung des Gegebenen durch die Kategorie (oder das Schema zufrieden ist. Kein Wunder also, sofern jene Recht haben sollte, daß LOCKE gerade auf diesem ihm konträren apriorischen Boden die unsichersten Tritte tut und seine Verlegenheit schon durch den schwebenden Begriff "modus" verrät. Derselbe bedeutet nach dem gewöhnlichen (z. B. cartesianisch-spinozischen) Sprachgebrauch, von dem auch unser Philosoph noch beherrscht ist, im Wesentichen soviel als Akzidenz (Nebensächlichkeit, Zufälligkeit - wp]
, unselbständiges Moment an der Substanz, nur daß er etwa nicht das einzelne Merkmal ausdrücken will, sondern einen gewissen Komplex von solchen bezeichnet. Inwiefern haben nun aber zuerst die mathematischen Gebilde einen Akzidenzcharakter, wenn auch nur in diesem Sinn? Nach der ganzen genetischen Entwicklung, durch welche LOCKE sie (in freien Raumkompositionen usw.) werden läßt, auch nach dem später noch zu berührenden Urteil über das Verhältnis der mathematischen Genauigkeit zur empirischen Wirklichkeit der Figuren ist es nicht seine Meinung, sie durch den Prozeß der reinigenden Abstraktion aus einem Gegebenen zu erklären und demnach als lediglich abgezogenen Formqualitäten der Dinge (z. B. konkreter Kreise, Dreiecke etc.) zu bezeichnen, womit sie allerdings nur das Seitenstück der so gewonnenen sinnlichen Akzidenzkomplexe (Farbe, Ton etc.) würden. In diesem Fall wäre ihr Name "modus" erklärt und nur nicht abzusehen, warum sie eine gesonderte Behandlung neben der allgemeinen Darstellung der komplexen Ideen oder auch der Substanzen erfordern. Offenbar aber schwebt ihm, so wenig er dies auf seinem Standpunkt sagen oder zugeben kann, noch aus der alten Schule der später so nachdrücklich wieder aufgenommene Gedanke vor, daß die einzelnen Raum-Zeit-Gebilde in einem gewissen "Inhärenz-", d. h. Abhängigkeitsverhältnis zu den allgemeinen metaphysischen (oder Anschauungs-) Formen Raum und Zeit stehen, von deren strikter Gesetzmäßigkeit der Geist bei seinen scheinbar freien Konstruktionen innerlich gebunden und determiniert ist.

Ähnlich ist es mit den moralischen Begriffen. Soweit sie nicht aus den mißlichen, weil so unangreifbaren Relationen bestehen, haben sie im "fondement" [Fundament - wp] der Beziehungen, in den bezüglichen Gesinnungen ihre solide, sinnlich-psychologische Existenz. Allein sie deshalb für induktive Abstraktionen aus dieser Basis zu erklären, geht doch nicht an. Nicht nur ist jener solide Kern verschwindend klein gegenüber der Überwucherung der Verhältnissetzungen (die crux der Empirie, das Sollen z. B. hängt mit der unmittelbaren Wirklichkeit fast bloß mit einem Spinnfaden zusammen und läßt sich kaum in mehr als hinkender Weise versinnlichen). Außerdem sind die einzelnen konkreten Unterlagen (wie etwa bei den Begriffen Recht, Pflicht, Dürfen) an soviele einzelne sinnliche Träager verteilt, daß der moralische Gesamtbegriff kaum noch mit Grund als Kopie und Abstraktion einer in sich geschlossenen Wirklichkeit betrachtet werden kann, wie etwa die Substanzbegrife Pferd, Baum u. a. Endlich verhehlt sich LOCKE nicht, daß viele solcher Ideen Folge der etablierten Ordnung unter den Menschen, also notwendig im Geiste waren, ehe sie irgendwo real existierten (16); womit, ohne es Wort zu haben, nolens volens [wohl oder übel - wp] dem Apriorischen sein letztes, sonst geleugnetes Recht geben würde. Spricht nun all dies für die wesentliche Freiheit in der Bildung moralischer Begriffe, so dürfen sie doch deswegen noch nicht in den bunten Reihen der rein willkürlichen komplexen Ideen eingeordnet werden; das Recht ist, was LOCKE als selbstverständlich Aussage des unmittelbaren Bewußtseins gar nicht besonders ausführt, keine Phantasiebildung, wie die heidnische Göttin Nemesis, wenn es auch seine Elemente überall her zusammensuchen muß und sich nirgends in faßlicher, auch nur annähernder Realität handgreiflich präsentiert. Alle Ideen sind nach LOCKEs Ausführung (Essay, Seite 340-41) im Unterschied vom Substanzbegriff "des idées détachées et indépendantes" [für sich stehende und unabhängige Ideen - wp], nicht nach einem Modell in der bindenden Wirklichkeit gearbeitet. Sie haben ihren Ursprung und ihre dauernde Existenz mehr im Geist und in den Gedanken der Menschen, als in der Natur der Dinge. Freilich ist auch nicht zu leugnen, daß "mehrere" derselben von der Beobachtung und der Existenz verschiedener einfacher Ideen abgeleitet sind, die in derselben Weise "kombiniert" erscheinen, wie sie im Verstand vereinigt werden. Daher sind sie wiederum, diese Seite der (inneren) Abhängigkeit und Gebundenheit mit auszudrücken, durch den Namen "modus" zu bezeichnen. Nur will sich hier noch weniger als bei den mathematischen Schwesterideen, die mütterlich tragende "Inhärenz" aufzeigen lassen. Da die praktische Vernunft als schöpferische Quelle noch nicht aufgestellt ist und überhaupt in diesem System keinen Raum hat, so sahen wir bereits wiederholt, wie LOCKE sich zu dem Ausweg hinneigt und auf die "etablierte Ordnung unter den Menschen", die gesetzgebende (auch terminologisch bestimmende) "Autorität Gottes oder sonst eines Legislators" rekurriert - in den Augen des Rationalismus nur Schemata des freien, menschlich eigenen Gedankens! (17) Denn daß auch LOCKE eben dieser vorschwebt, deutet er selbst an, wenn er sagt, man nenne diese Ideen um ihrer eigentümlichen Freibildung im Geiste willen lieber "notion", als idée (18).

Ich habe diesen Punkt des "modus" bei LOCKE so ausführlich behandelt, obwohl es eine scheinbar langweilige und entschiede schwierige Partie ist, deren Entwirrung am Ende auch dem Verdacht ausgesetzt sein möchte, daß zuviel zwischen den Zeilen gelesen und eingetragen wird. Ein philosophisches System läßt sich jedoch nie so eben einfach interpretieren, sondern es will nachgedacht sein. Die vorliegende Frage aber, die ich in anderen Darstellungen völlig übergangen finde, scheint mir gerade eine der feinsten und für das Verständnis von LOCKEs geschichtlicher Entwicklungsstufe bedeutsamsten zu sein.

Es bleibt jetzt nur noch aus dem Gesagten den Schluß zu ziehen und die hier gesuchte Antwort zu geben, ob und in wie weit nämlich die so geschilderten modi Anspruch auf Realität haben. Für die moralischen ist dies im Bisherigen bereits und zwar in der Hauptsache bejahend geschehen, wenn auch manche Wendung und Drehung unvermeidlich war, weil der wahre Schlüssel noch fehlt. Da die Tatsache ihrer Realität für LOCKE keinem Zweifel unterliegt, so handelte es sich eigentlich nur um die Erklärung des Wie? In mancher Hinsicht noch günstiger stellen sich die mathematischen Begriffe. Alle derartigen Untersuchungen bewegen sich ganz im Gebiet der Idee und es ist daher völlig gleichgültig, ob ihnen ein Reales entspricht oder nicht. Ja, die Wirklichkeit gibt nicht einmal mathematisch ganz präzise Gebilde, wie Dreiecke, Kreise usw. Es ist jedoch auch für die Anwendbarkeit auf das Objekt (eine Art von Realität zweiten Grades) hinreichend, wenn nur eine gewisse Annäherung stattfindet. Soweit dann die konkreten Objekte mit der Idee zusammenstimmen, soweit gelten jedenfalls und ohne Ausnahme die in letzterer gefundenen Gesetze (19). Es ist hierin ein gewisser Unterschied zwischen der Arithmetik und der Geometrie zugunsten der Ersteren zu bemerken.
    "In jener sind die Beweise, wo nicht evidenter und genauer, so doch allgemeiner und bestimmter in der Anwendung, als bei der Geometrie. Die Zahlunterschiede sind absolut wahrnehmbar, die Zahleinheit ist ein schlechthin Letztes, (20) was beim Raum nicht der Fall ist. Hier können wir nicht jeden Grad der Abweichung so leicht bemerken, es gibt nur für uns ein Kleinstes, wo die klare Idee ein Ende hat. Indessen hat der Geist Mittel gefunden, um z. B. die genaue Gleichheit zweier Winkel zu prüfen und demonstrativ darzulegen." (21)
So ist also auch den modi, wie vorher den einfachen Ideen die Realität gesichert, sobald sie als wesentlich freie und sich selbst den Archetypus gebende nur keinen logischen Widerspruch begehen oder keine "inkompatible" Zusammensetzung vornehmen. (22) Weniger günstig besonders gegenüber der herrschenden Schulmeinung, aber auch der gewöhlichen Vorstellung ist das Ergebnis der Prüfung bei denjenigen komplexen Ideen, welche unter dem Namen der Substanz und im Zusammenhang damit, aber mehr anhangsweise auch als Kausalität so viel Lärm machen und einen so großen Raum als Grundbegriffe der Naturwissenschaft einnehmen.

Daß die Verhandlungen über die Substanz eine so bedeutende Rolle im ersten Zeitraum der neuen Philosophie spielen, kann uns nicht wundern, wenn wir bedenken, daß dies der Hauptbegriff der aristotelischen (und platonischen) Lehre gewesen ist. Von hier ging er unmittelbar in die von ARISTOTELES so gründlich beherrschte Scholastik über, um im Widerstreit des Realismus und Nominalismus den vornehmsten philosophischen Zankapfel zu bilden. Notwendig mußte also der Neuansatz des Denkes das gleiche Problem wieder aufnehmen, welches die vergangene Periode so wenig befriedigend gelöst hatte. Die idealistische Reihe der neuen Philosophie zeigt einen Versuch nach dem anderen, um hauptsächlich die metaphysische Seite der Frage als das proteron te physei [von Natur aus Erstes - wp] zu beantworten, während die Kette des Empirismus sich an das proteron kat hemas, an die erkenntnistheoretische Angriffsfront hält.

Sehr günstig für den Begriff war nicht einmal die idealistische Behandlung. CARTESIUS weiß eigentlich nur von zwei oder drei Substanzen und läßt uns im Zweifel, was denn nun die Einzeldinge sind, die unter jenen befaßt werden. SPINOZA leugnet geradewegs deren selbständige Substanzialität, und auch LEIBNIZ erschüttert sie durch seinen Mittelbegriff der semisubstantiae. Aber besonders gefährlich mußte der Substanz das empirische Denken werden. Denn lange vor diesen Erschütterngen der Neuzeit hatte zum Angriff und zur schließlichen Zersetzung schon ein Hauptstreit des Mittelalters selbst den Anstoß gegeben, in welchem diese, nach ihrem ganzen Charakter so zu nennende Zeit der Substanzialität ihren eigenen Todeskeim verriet, ich meine die Verhandlungen über die Transsubstanziation, deren hölzerne, ja kindische Manipulation der Gediegenheit des ganzen Begriffs einen tödlichen Stoß versetzen mußten (23). War einer Sache einmal in allem Ernst der Kern weggenommen und durch eine Häufung von Wundern künstlich wieder ersetzt, so war dies eine Vorübung besonders für das nüchterne empirische Denken, den, dem natürlichen Bewußtsein zuvor selbstgewissen Kern entbehren zu können und sich nur an die erscheinenden Akzidenzien als das Sichere zu halten, dem selbst die hochgespannteste Wundermacht der Kirche - zu ihrem Leidwesen - nicht hatte beikommen können (denn das Seitenstück der Hauptlehre, die Transakzidention, hatte man dann doch nur vor alten Weibern und dgl. hie und da im Stillen der Hostienwunder vorzunehmen gewagt!). Es ist bezeichnend, daß wir unter den Kämpfern gegen diese unsoliden Praktiken und Taschenspielereien der Kirchenlehre auch wieder einen gediegenen englischen (wenn auch sonst scholastisch-realistisch denkenden) Wahrheitsfreund treffen, der namentlich die metaphysische Barbarei daran geißelt; ich meine WYCLIFFE. Ihm ist hier, wie in der fein parallelisierten Lehre vom thesaurus sanctorum und Ablaß das Herumvagieren der Akzidenzien (Qualitäten oder Verdienste) ohne Subjekt und naturwüchsigen Träger ein metaphysisches Unding, ihre beliebige Dislokation vom Einen zum anderen ein theoretische und praktischer Greuel.

Ein Hauptvertreter der philosophischen, d. h. empirisch-erkenntnistheoretischen Zersetzung des alten Substanzbegriffs ist nun eben LOCKE. Er behandelt die Frage, welche bei ihm quantitativ und qualitativ die größte Rolle spielt, an sehr verschiedenen Orten und nicht gerade mit der größten formellen Sorgfalt des Gangs. Das Wichtigste bietet sein, meist als Digression überganges drittes Buch, daher dann auch die gewöhnlichen (zumindest deutschen) Darstellungen ihn hierin wirklich schief wiedergeben; anders MILL in seiner enganschließenden Benützung. LOCKEs allgemeinen Standpunkt in der Sache haben wir bereits gezeichnet als die der ganzen Zeit eigene, ihrer Kraft und Aufgabe bewußte, daher etwas absprechend-höhnische Opposition gegen das Hergebrachte und die Schulmeinung. Bei der ersten Gelegenheit, die ihn auf den Substanzbegriff führt, nämlich bei der Untersuchung (Essay, Seite 189), ob Raum und Zeit Substanzen oder Akzidenzien sind, gießt er seinen Spott über diese nichtigen, leeren und identischen Wortstreitereien aus. Denn daß es sich hauptsächlich um Worte und einen Mißverstand ihres Gehaltes und Zwecks in der ganzen Sache handelt, ist ihm von Anfang an gewiß. Was er selbst betrachtet, ist darum nicht der Singular "Substanz" oder gar Substanzialität, sondern mit augenblicklicher Wendung zum Konkreten der Plural "Substanzen".

Was sind nun die Substanzen nicht? Dieses Negative stellen wir billig als das Bahnbrechende voran. Nach LOCKE kommt das ganze Mysterium der genera und species, welches so viel Lärm in den Schulen der freilich nirgends macht, auf die Bildung der abstrakten Ideen und ihre Bezeichnung mit Namen hinaus. Das Allgemeine aber ist keine reale Existenz, sondern nur ein Werk des Verstandes, der es für seinen Gebrauch macht und mit dem Wort als einem Zeichen versieht (24). Die durch den ganzen empirischen Standpunkt im Voraus eigentlich abgewiesene Annahme einer realen Essenz als Grundmodell (moule), nach welchem die in der Art enthaltenen Einzeldinge gebildet wären, ist unhaltbar und unmöglich. Man denke nur an den beständigen Stoffwechsel in der materiellen Welt (eine Art von profaner, alltäglicher "Transsubstanziation"), wo dieselbe Essenz heute Gras, morgen Milch, übermorgen Fleisch von Menschen oder Tieren ist. Man erinnere sich an die Kreuzung der Arten, welche selbst eine Vermischung Affe und Mensch zulassen, an die Monstra (deren Eines einmal einen berühmten Taufstreit bei einer menschlich-tierischen Mißgeburt verursachte)! Wie kann man da noch von einer durch die Natur fixierten realen Essenz reden? - der echt englische, zuer logisch metaphysische, dann naturwissenschaftliche Darwinismus!

Die viel gepriesene Essenz ist also nichts Anderes als eine diverse, ungewisse Sammlung einfacher Ideen durch den Geist. Gewiß "il doit y avoir une constitution réelle" [es muß eine echte Setzung geben - wp], von welcher jener Haufen einfacher, zusammen existierender Ideen abhängt; immerhin mag man also einen "soutien inconnu" [unbekannte Hilfe - wp] (substratum) der empirischen Kollektion annehmen; allein das hilft als "inconnu" nichts und ist eine müßige Hypothese, die sich auch nicht durch weitere Forschung bestätigen läßt. Dem inneren Uhrwerk der Natur gegenüber bleiben wir stets Laien, wie der Bauer vor der Straßburger Uhr; nur geradlinig läßt sich unsere Untersuchung zu immer feinerer Erfassung der erscheinenden Qualitäten weiter treiben; der Absprung zu einem etwaigen Wesen ist uns aber versagt.

Soweit die negative Seite der Frage, welche sich durch die positive ergänzt. Nicht als ob LOCKE, wie es gewöhnlich ziemlich oberflächlich dargestellt wird, in einer unbegreiflichen Inkonsequenz den eben abgewiesenen alten Substanzbegriff durch eine Hintertür wieder einschmuggelte und ohne Grund oder Recht, lediglich durch einen Gewaltakt, für diese Klasse der komplexen Ideen allein einen objektiven Archetypus nachträglich reklamierte. Was er nicht vergißt, ist nur die tatsächliche, vom strengsten Empirismus nicht zu leugnende Gebundenheit in der geistigen Bildung selbst der Nominalessenzen, oder die objektive Verbundenheit gewisser einfacher Ideen, nach welcher auch der, bei aller Abstraktion doch bloß kopierende Geist sich richten muß, will er für seine Produkte nicht allen Anspruch auf Realität verlustig gehen. Die fraglichen Begriffe oder Gebilde sind nämlich trotzdem nicht so willkürlich, wie die modi mixti; d. h. nach dem Obigen, es findet bei ihnen eine noch stärkere objektive Determination statt, als schon bei diesen. Vielmehr sind sie alle gebildet "par rapport aux choses, qui sont hors de nous" [in Bezug auf Dinge, die außerhalb von uns sind - wp] und müssen es auch sein. Die abstrakten Ideen und demnach auch die Worte müssen in gewisser Weise "aux communes apparences et conformités des substances considerées comme réellement existances" [den gemeinsamen Erscheinungen und Gleichförmigkeiten von Substanzen, die als wirklich existent angesehen werden - wp] entsprechen, sonst gäbe es eine babylonische Sprachverwirrung. Die Gelegenheit im Objekt für die geistige Kombination wird durch die sich zeigende Ähnlichkeit unter den Dingen geboten, deren Auffassung und Herausnahme eben den allgemeinen Begriff abgibt. Natürlich ist die Zahl der aufgenommenen Merkmale oder einfachen Ideen je nach der Art und Absicht des Denkenden verschieden. Da die komplexen Ideen, welche einen Substanzbegriff bilden, keine sichtbare oder notwendige "liaison", wie keine Unverträglichkeit (ansich) mit irgendeiner anderen Idee haben, so bietet die einmalige Kollektion Raum für eine unendliche Bereicherung; das zunächst Fertige ist immer unvollendet oder gibt zumindest nie die Sicherheit der Vollständigkeit.

Geht das Gesagte zunächst auf die Substanzen der äußeren Welt, so gilt es doch auch auf dem interessanten Gebiet der geistigen Substanzen. LOCKE redet in seinem ganzen Buch sehr viel von den einzelnen Seelenvermögen (den Ergebnissen der reflektierenden Beobachtung). Indessen verwahrt er sich schon sehr früh gegen das Mißverständnis, als ob er damit in der Weise der alten Schule metaphysische Behauptungen wagen und lauter verschiedene Agentien feststellen wollte, die neben und außerhalb voneinander existieren; es ist dies nur der unvermeidliche Sprachgebrauch. Als besonders wichtig gehört hierher seine weitläufige Untersuchung über die persönliche Identität [jl2-27], namentlich über die Frage, ob die tatsächlich vorhandene Einheit des Bewußtseins zur Annahme auch einer einheitlichen Substanz berechtigt: "si c'est précisément et absolument la même substance" [wenn es genau und absolut die gleiche Substanz ist - wp]. Er behält das nicht für durchaus erforderlich; spricht man doch auch von der Einheit des organischen Lebens, obgleich die Materie unaufhörlich wechselt. So hat man eine Person durch die Einheit des Bewußtseins, ob dieses nun in einer oder in mehreren Substanzen gegründet ist. Ganz wohl ließe sich ein Bewußtsein bei mehreren sukzedierenden [aufeinanderfolgenden - wp] Substanzen oder eine Substanz für ein wechselndes Bewußtsein denken. Wäre das Bewußtsein ununterbrochen, so würde man eo ipso [schlechthin - wp] die gleiche Substanz annehmen; so aber ist die gegenteilige Ansicht auch möglich. Höchstens kann man auf die Güte Gottes rekurrieren, welcher es nicht entspräche, dem Nichttäter etwas moralisch anzurechnen und bei verschiedenen Substanzen doch die Kontinuität des sittlichen Gewissens zu erhalten (25).

Fällen wir vom Gesichtspunkt der Realität aus das Gesamturteil über die Substanzen. Chimärisch und imaginär sind sie zunächst, wo "parties incompatibles ou contradictoires" [Teile unvereinbar und widersprüchlich - wp] miteinander verbunden oder fürs Andere Vereinigungen vorgenommen werden, die nie in der Wirklichkeit vorkommen (Zentaur). Abgesehen davon ist es aber auch falsch, das in seiner abstrakten Allgemeinheit nur subjektiv Existierende ohne Weiteres für eine objektive, in gesonderter Realität vorhandene Existenz zu halten. Solange das nur ein etwas starker Ausdruck der zwar müssigen, aber schon zu gestattenden Hypothese des "soutien inconnu" ist, mag es noch hingehen; wirklich falsch und für den wahren wissenschaftlichen Fortschritt geradezu verderblich wird es dagegen, wenn dieser Wahn verbunden mit der kristallisierenden Macht des fixierenden Wore dem rastlosen Forschen überall Marken und Grenzen der willkürlichsten Art steck (oder mit KANT zu reden, die ignava ratio [das Feigsein als Methode - wp] auf den Thron setzt).

Hierin zeigt sich entschieden das gute historische Recht der LOCKE'schen Opposition, der Bruch der selbstbewußten Neuzeit mit einer vorzeitigen, greisenhaften Abschließung der bisherigen Denkerrungenschaft. Die große Registratur, welche die Scholastik, selbst unproduktiv, mit ihrem systematisierenden Geist herzustellen versucht hatte, erwies sich in allen Fächern notwendig als zu eng für den riesig erweiterten neuen Horizont.

Halten sich aber die Substanzideen von den obigen Fehlern frei, so kommt nach ihrer ganzen Ableitung auch ihnen wesentlich Realität zu. Über ihren sonstigen wissenschaftlichen Wert werden wir bei den folgenden Prüfungspunkten (besonders der Allgemeinheit) noch Weiteres hören.

Mit der Substanzialität nahe zusammen hängt die Kausalität. Zwar gehört sie nach LOCKEs Einteilung ordnungsgemäß unter die Relationen, wird aber hier in einer so bunten Gesellschaft von wichtigen und unwichtigen, willkürlichen und natürlichen aufgeführt, daß man schon hieran sieht, wie ihre prinzipielle Bedeutung für ihn noch nicht recht aufgegangen ist. Insbesondere wendet er den, gerade auf sie so sehr passenden Gesichtspunkt (die Hauptbetrachtung HUMEs) noch gar nicht gehörig an, daß sie das Hauptvehikel ist, den Geist über das unmittelbar Gegebene weiter hinaus zu leiten; und doch weiß er dies als den größten Wert der Relationen im Allgemeinen wohl zu schätzen. Näher zugesehen ist sie ihm noch sehr mit der wichtigsten und das Andere überwuchernden Substanzialität verwachsen, ohne daß er sich entscheiden kann, von welchem der beiden Begriffe er den Ausgang nehmen soll. So erwähnt er sie zuerst schon bei den einfachen Ideen, indem er sie mit den Qualitäten zusammenstellt. Die zweite Qualität ist bereits im Wesentlichen eine puissance, ein Wirken des unbekannten Etwas (oder wohl einer primären Qualität) auf uns. Die Kausalität wäre demnach etwa eine dritte Qualität der Körper, vermöge welcher sie nun nicht auf uns, sondern auf andere Körper wirken.

Es ist nämlmich, wird am Ort der ausdrücklichen Behandlung ausgeführt, eine tägliche Erfahrung und geschieht "d'une maniére évidente" [auf offensichtliche Weise - wp], daß die Körper einander ihre Bewegung mitteilen oder daß Bewegung durch Gedanken erzeugt wird; nur das Wie?, das "comment cela se fait" [wie kann es sein ? - wp] ist beiderseits total unbekannt, daher alle diese Ideen über Kausalwirkung von vornherein als dunkle und unvollkommene zu bezeichnen sind. Sehr unbestimmt fließt die Kenntnis der Idee "puissance" aus den Sinnen, besonders was die perception active betrifft; besser schon aus der Reflexion, dem eigenen Bewußtsein eines Bewegungsanfangs oder der "possibilité de changer les idées en nous" [Möglichkeit die Ideen in uns zu ändern - wp]. Indessen liegt in der Wirkungsweise der primären Qualitäten, in der Veränderung von Figur, Größe und Bewegung eines Körpers durch einen andern doch etwas "que nous pouvons fort bien comprendre; ces choses et autres semblables nous paraissent avoir quelque liaison l'une avec l'autre" [wir verstehen sehr gut, daß die Dinge miteinander verbunden zu sein scheinen - wp]; leider haben auch unter diesen nur "quelque peu" [etwas - wp] eine notwendige Abhängigkeit von und eine sichtbare liaison miteinander, wie Figur und Ausdehnung, Bewegungsempfang oder Mitteilung und Solidität. Die sekundären Qualitäten hängen sicherlich von den primären ab; aber wie? Das wissen wir nicht und können daher auch nichts in gewissen oder zweifellosen Regeln über die Konsequenz oder Koexistenz der Ersteren aussagen. Und so unbegreiflich wie diese oder andere Wirkungen der Körper auf den Geist sind, ist es im Grunde auch die in der Bewegung der Glieder zutage tretende Wirkung des Geistes auf den Körper. Ob auch dieses und anderes eine regelmäßige und konstante Verbindung im gewöhnlichen Verlauf hat und uns durch die Erfahrung gelehrt wird, so gibt es doch nicht die Einsicht in die Sache selber; es ist eine Verbindung, die in den Ideen nicht "wiedererkannt" werden kann, als welche keine notwendige Abhängigkeit zu enthalten scheinen. Daher können wir ihre (der Sachen) Verbindung nichts anderem zuschreiben, als der willkürlichen Determination eines allweisen Wesens, welches gemacht hat, daß sie so sind und wirken auf einem, für unseren beschränkten Verstand lediglich unfassbaren Weg.

Diese ganze Auffassung LOCKEs erinnert stark an den gleichzeitigen Okkasionalismus [Lehre von den Gelegenheitsursachen - wp] und ist in ihrer ausschließlichen Betonung des Daß, unter strikter Abweisung des Wie der Verursachung eine kräftige Vorarbeit für den konsequenteren HUME. Wie sehr jedoch für LOCKE der Kausalbegriff trotz allem noch gute Wurzeln hat, beweist (außer seiner harmlosen Ableitung des Bewußtseins aus Sinneseindrücken) die unerschütterte Geltung, welche bei ihm der hierin so nahe beteiligte kosmologische Beweis noch besitzt. Daß er den cartesianischen Gottesbeweis aus der Idee verwirf, versteht sich. Dagegen soll die unmittelbar und absolut gewisse eigene Existenz nach dem Satz, daß aus Nichts Nichts wird, mit demonstrativer Gewißheit auf das Dasein eines ewigen und absoluten Wesens als letzter Ursache führen. Von einer Anzweiflung der realen Geltung des Kausalitätsbegriffs ist also unter den obigen Einschränkungen vorläufig keine Rede, wie er dann überhaupt in ziemlich nebensächlicher, noch wenig auf die wahren Schwierigkeiten mit strenger Konsequenz eingehender Weise bearbeitet erscheint.

Im Bisherigen handelte es sich mehr umd die einzelnen Elemente des Denkens, allerdings bereits um Elemente zweiten Grades, sofern auch sie oder die verschiedenen komplexen Ideen schon als Produkte geistiger Mittätigkeit angesehen werden. Sie waren, nach LOCKEs eigenem Bild, die Worte, gewonnen aus den einfachen Ideen als den Buchstaben, und weiterhin zu verwerten in Sätzen. Die Grundtat des Geistes, das eigentliche Urteil kam jedoch nur indirekt und implizit in Betracht, wenn es sich fragte, ob die stillschweigende Annahme einer Übereinstimmung mit dem Objekt berechtigt ist oder nicht. Jetzt wird jenes, oder wie er es allgemeiner nennt, die connaissance [Bewußtsein - wp] Gegenstand ausdrücklicher Betrachtung (ein nicht ganz unähnlicher Fortschritt, wie bei KANT von den Verstandesbegriffen zur transzendentalen Urteilskraft und den Grundsätzen des reinen Verstandes). Beim Urteil handelt es sich, nachdem wir die reale Qualität seiner Elemente im Vorigen geprüft haben, hier wesentlich um die Quantität, um die wichtige Frage der Allgemeinheit oder Besonderheit. Bei aller empirischen Neigung zur Vereinzelung muß dies doch dem korporativen englischen Geist ein wichtiger Punkt sein, der jedenfalls die Prüfung verdient.

LOCKE verhehlt sich nicht und stimmt hierin ganz mit seinem Gegner LEIBNIZ überein, daß wir ein allgemeines Wissen in unserem Geist zu suchen haben und hier allein finden können. Es wird uns dasselbe nur durch die Kontemplation unserer eigenen Ideen geliefert, während dagegen die Existenz der Dinge bloß durch Erfahrung erkennbar ist. Unser Urteil über eine abstrakte Idee, d. h. die Apperzeption der convenance [Nützlichkeit - wp] oder disconvenance [Nutzlosigkeit - wp] ist immer ein allgemeines Wissen. Was von dieser generalen Idee, gilt, gilt durchaus auch von jeder einzelnen Sache, wo jene Essenz oder abstrakte Idee renfermée [verborgen - wp] sich findet. Und was von letzterer einmal erkannt ist, bleibt beständig und ewig wahr. (26) Ist somit der Geist für die Gewinnung von allgemeinem Wissen in seinem Urteil durchaus auf die Operation an und mit seinen eigenen Ideen beschränkt, so versteht sich doch von selbst, daß dies, um Urteil und connaissance zu sein, nicht in einem willkürlichen Phantasiespiel bestehen darf. Wie ihm der Stoff gegeben ist, so auch in den richtig gebildeten komplexen Ideen die bindende Form. Was bleibt ihm also, dem allseitig Gebundenen und Mittellosen, wenn er auf sich allein angewiesen ist, anderes übrig, als eine Kopie der Kopie zu machen oder im Urteil nur wieder das Gewebe Faden für Faden aufzulösen, das er dem Muster der Wirklichkeit folgend im Begriff (der komplexen Idee) zusammengearbeitet hatte? Mit anderen Worten, das allgemeine Wissen in seiner Beschränkung auf die Ideen scheint im Voraus mit dem Flucht der leeren, gehaltlosen Identität behaftet zu sein.

An und für sich könnte der Gegenstand allen Wissens, die convenance und disconvenance, doppelt angesehen werden, entweder logisch formal als Identität, oder real als Koexistenz. Beide Gesichtspunkte hebt LOCKE selbst als besonders wichtige Relationen hervor, welche aus der Zahl der Übrigen eine besondere Behandlung verdienen (27). Es fragt sich nun, wie sich das Eine und Andere zur Allgemeinheit stellt. Die logisch-formale Identität ist das Grundgepräge jener Gebilde, welche in der seitherigen Schulphilosophie ein so hohes Ansehen genossen und um ihrer stringenten Allgemeinheit willen als das non plus ultra aller Geistestätigkeit galten: Syllogismen und allgemeine Sätze. Nach der Art BACONs hält aber LOCKE gar nicht viel auf sie. Sie haben ihm nur formal-methodologische Bedeutung für die Zwecke des Unterrichts oder der Disputation, während sie gar nichts zur Findung neuer Wahrheiten beitragen. Für verdorbene oder noch schwache Augen mögen sie eine heilsame Brille sein, ein gesundes Auge sieht ohne sie schneller und besser. Zu was der unnötige, störende, nur aufhaltende Umweg des Schlusses, statt die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einfach zu schauen? (28) Weiterhin spricht er geradezu von "frivolen" Sätzen und versteht darunter alle rein identischen Urteile, ob sie nun identisch sind durch eine plumpe Tautoloie, oder in versteckterer Weise durch eine Prädizierung der Teilvorstellungen des Subjekts (nach Inhalt und Umfang) - all das ist papageienmäßiges, wertloses Geschwätz! (29)

Ein Mittelding von Koexistenz und Identität, wobei letztere so um einen zu teuren Preis die Allgemeinheit gibt, ist der Gesichtspunkt der mathematischen Urteile und Sätze. Freilich ist es ein Mittelding, d. h. eine, die kantische Fortbildung wohl ahnende, aber zunächst noch ziemlich inkonsequente Zusammenstellung zweier Anschauungen. Nach der einen ist es der Vorzug der mathematischen Begriffe z. B. vor den Substanzen, daß sie alle ihre Gesetze unabtrennbar und durch keine Gewalt lösbar in sich selber tragen, wie dann auch alle Sätze des Dreiecks beschlossen sind in dem Grundbegriff "Dreieck", während bei den Substanzen eine tausendfache, ungeahnte und unahnbare Erweiterung von Außen zu einem ersten Begriff kommen kann (30) Andererseits fühlt LOCKE doch richtig, daß die Mathematik trotzdem von seinem Verdikt über dinbare Erweiterung von Außen zu einem ersten Begriff kommen kann (30) Andererseits fühlt LOCKE doch richtig, daß die Mathematik trotzdem von seinem Verdikt über die frivolen Propositionen auszunehmen ist, und bemerkt, daß ein Satz, wie der von der Größe des Augenwinkels gegenüber dem betreffenden Innenwinkel in der Tat weder in der Idee des Dreiecks, noch in der des Außenwinkels identisch liegt, weshalb eine solche connaissance (bei aller Gewißheit und Allgemeinheit, die er aus der ersten Anschauung heraus bekanntlich der Mathematik nicht abspricht) doch zugleich "réell et instructive" ist (31). Sie wäre somit, indem sie Allgemeinheit und Instruktivität verbindet, das Ideal der Erkenntnis.

Lediglich um die Koexistenz handelt es sich bei den Substanz- und Kausalitätssätzen (soweit die betreffenden Begriffe nämlich nicht zu einem müssigen Objekt tautologischer Aussagen mißbraucht werden, was hier nicht mehr weiter in Betracht kommt). Nun ist aber nach dem Obigen die Existenz der Objekte nur aus der Erfahrung im Unterschied von der rein geistigen Ideenoperation wißbar; so wird dasselbe auch im Wesentlichen von der Koexistenz gelten und schließlich hier wie dort auf die Allgemeinheit nahezu verzichtet werden müssen. In der Tat ist dies die unzweideutige und auf seinem Standpunkt ganz konsequente, nur vielleicht noch nicht weit genug gehende Lehre LOCKEs. Bei den Substanzen ist der Hauptübelstand der, daß ihre meisten Ingredenzien [Inhaltsstoffe - wp] eben sekundäre Qualitäten sind, über deren inneren Zusammenhang miteinander und mit den primären Qualitäten man gar nichts weiß; daher lassen sich auch keine gewissen und zweifellosen Regeln über ihre Konsequenz und Koexistenz aufstellen. Ist die doch sogar bei einem großen Teil der primären Eigenschaften der Fall. Ebenso kennen wir bei der Kausalität [trebitsch] nur das "point de fait" [bloße Tatsache - wp] und nicht mehr. Die "puissance", welche wir aufgrund wiederholt beobachteter Erscheinungen annehmen, ist nicht eigentlich eine neue Erkenntnis, sondern nur das Depositum unserer bisherigen rückwärtsliegenden Erfahrung. Was uns nach vorwärts möglich ist, ist lediglich der mehr oder weniger unsichere Analogieschluß, der zwar hohe Bedeutung hat, aber doch nur als das beste Mittel anzusehen ist, um Wahrscheinlichkeit zu gewinnen. Haben wir nämlich irgendwann einmal etliche einfache Ideen in einer Substanz zusammen existierend gefunden, so können wir sie "hardiment rejoindre" [mutig eingliedern - wp] und damit abstrakte Ideen von Substanzen bilden. Denn was einmal in der Natur vereinigt war, "peut l'être encore" [kann immer noch sein - wp]. Ebenso können wir bei der Kausalverbindung nur nach Analogie konjektieren, von welchen Erfolgen "il est apparent" [es ist offensichtlich - wp], daß ähnliche Körper bei anderen Experimenten sie bewirken werden. Aus den Veränderungen, die der Geist konstant (außer oder in sich) hat kommen sehen, schließt er, daß es in Zukunft mittels derselben Agentien und auf demselben (unbekannten) Weg gerade so gehen dürfte. Will er über die unsichere Konjektur und die bloß wahrscheiniche Analogie hinaus etwas Gewisses und Zuverlässiges, so muß er sich (immer wieder) an die Erfahrung halten. Die Intuition der puren Begriffe und die Demonstration läßt uns bald im Stich und führt nicht weit; dann bleibt nur der "secours des sens" [Erleichterung der Sinne - wp], die expérience oder observation "sensible" und eben damit particuliere. Neue Tatsachen bietet also dieses weite, bereichernde Gebiet, aber nicht zugleich eine connaissance générale, sondern eigentlich nur exemples particuliers, sobald wir auf die Beobachtung außerhalb von uns angewiesen sind (32).

Die letzte noch erübrigende Erwägung ist die der Modalität oder um mit LOCKE zu reden: der Arten und Stufen der Erkenntnis, sowie namentlich der Gewißheitsgrade, welche mittels derselben erzielt werden. Der Natur der Sache nach muß diese Ausführung bei einem Buch, dessen kritisches Absehen eigentlich von Anfang an auf nichts Anderes ging, im Wesentlichen ein zusammenfassendes Resumé des Bisherigen sein (wiez. B. auch KANTs Methodenlehre in der Kr. d. r. V., so vortrefflich und lehrreich sie ist, doch im Ganzen nichts Neues mehr zu bieten weiß, nachdem das ganze Buch von der "Methode" des Denkens im weiteren Sinn gehandelt hatte). Der Zweck von LOCKEs Untersuchung über den menschlichen Verstand war, dem denkenden Geist zunähst seine echten und richtigen Werkzeuge zu weisen, sodann die Probe machend zu zeigen, ob, wieviel und wo er damit etwas auszurichten vermag (considération sur les instruments et matériaux [Betrachtung der Instrumente und Materialien - wp]). Der Seefahrende muß die Meerestiefe in der Hauptsache kennen; sonst will er Anker werfen, wo keine Kette in die unermeßliche Tiefe reicht, oder er fährt leichten Mutes und im Wahn der Sicherheit auf Klippen und Riffe los, die hart unter der Oberfläche lauern. Der unorientierte Verstand plagt sich auf Gebieten, wo es für ihn nichts zu holen gibt, und versäumt darüber andere, die ihm reiche Ausbeute gewähren würden. Er sucht mit Tantalusqualen nach Gewißheit, wo die ganze Einrichtung seiner Natur nur Wahrscheinlichkeit für ihn bestimmt hat. Fehlgreifend in der Wahl seiner Mittel arbeitet er mit feinen Werkzeugen am Groben oder umgekehrt, und bringt darüber nichts Rechtes zustande. Soll der Streit ein Ende nehmen, so muß hierüber vor allem Klarheit herrschen.

Drei Gebiete sind es, die LOCKE in sehr naheliegender Einteilung und dem Vorgang BACONs oder auch des CARTESIUS folgend besonders heraushebt und mimt je einer Erkenntnisart als ihrem zuständigen Werkzeug versieht: Ich, Gott und Außenwelt sind das Arbeitsfeld der intuitiven, demonstrativen und sensitiven Erkenntnis, deren Grundeigenschaften und Bedingungen im Bisherigen geschildert wurden. Die intuitive Erkenntnis des eigenen Geistes ist über allen Zweifel erhaben und schlechterdings zuverlässig, daher ein Beweis weder möglich noch nötig. "Ich denke, ich zweifle, ich fühle Schmerz", das ist doch gewiß sicher, denn eben damit ist sowohl die Perzeption des Dings, das zweifelt, als des Zweifelns selbst gegeben. Kurz: man hat "une infallible perception intérieure, que nous sommes quelque chose, intérieument convaincus de notre propre être" [eine unfehlbare innere Wahrnehmung, dass wir etwas sind, das innerlich von unserem eigenen Sein überzeugt ist. - wp]. Nicht so günstig steht es freilich (Gott ausgenommen) mit der Erkenntnis anderer geistiger Wesen neben dem eigenen Einzel-Ich. Wohl haben wir von ihnen eine Idee, aber die Realität derselben wird uns nicht von den Sinnen gelehrt; so sind wir auf Offenbarung und andere Gründe angewiesen, welche nur Glauben, aber nicht völlige Gewißheit liefern.

Gott, der allein Verbindung mit einer ansich gewissen Eigenexistenz hat, läßt sich mit der Sicherheit mathematischer Sätze demonstrativ erweisen; ja auf diesem Weg kann man sogar eine göttliche Offenbarung und Wunder erklären (vgl. LOCKEs deistische Stellung). Ein solcher Erweis hat mehr Kraft als die bloße Wahrscheinlichkeit, dieses "Dämmerlich für das praktische Leben"; jedoch ist er bei aller Sicherheit doch nicht so einleuchtend und bestimmt, als das intuitive Wissen. Wie ein Billd, das von verschiedenen Spiegeln ineinander reflektiert wird, immerhin richtig bleibt, aber stets mehr an Stärke abnimmt, so auch die demonstrative Gewißheit auf ihrem langen Weg der Vermittlung.

Die sensitive Erkenntnis der objektiven Außenwelt endlich steht den beiden Ersten nach. Sie ist jedoch immer noch Erkenntnis und hat durch den scharf markierten Unterschied von Wahrnehmung und Einbildung in Stärke und Konsequenz jedenfalls noch soviel Kraft, wie für das praktische Leben, für Glück und Unglück erforderlih ist. Die unmittelbare Gegenwart des Sinnengegenstandes ist trotz Allem nicht bloß Wahrscheinlichkeit: für die Vergangenheit bürgt das Gedächtnis; für die Zufkunft freilich oder die Abwesenheit in der Gegenwart haben wir, was die Fortdauer der Außenwelt betrifft, bloß noch die höchste Wahrscheinlichkeit; denn ansich wäre es möglich, daß, während wir nicht zusehen, die größte Veränderung vor sich geht.

Diese Wertbestimmung der drei Erkenntnisarten und ihrer jedesmaligen Gewißheit muß uns notwendig auffallen, da sie schon auf den ersten Blick in wenig Übereinstimmung mit dem Geist des ganzen LOCKE'schen Systems steht. Vor allem hätten wir nur zwei Hauptarten erwartet, nämlich entsprechend den von Anfang an aufgestellten beiden Erkenntnisquellen oder Instrumenten der Sensation und Reflexion nur die sensitive und intuitive Erkenntnis oder die perception extérieure des sens [Wahrnehmung der äußeren Sinne - wp] und die perception intérieure de l'esprit [innere Wahrnehmung des Geistes - wp] (wobei schon der Ausdruck "intuitiv" eine leichte Abweichung bekundet). Von diesen beiden hätten wir geglaubt, daß sie einander an Wert und Bedeutung gleichgestellt oder daß sogar nach dem entschieden dominierenden Geist des Empirismus die sensitive Seite bevorzugt, die reflexiv-intuitive mehr zurückgestellt würde. Gerade das Gegenteil ist der Fall, wie wir sehen. Und die Hauptsache, nun vollends das Hereintreten einer dritten Erkenntnisweise, der Demonstration! Ist sie bloß die, von Anfang an zugestandene rein formale Tätigkeit des Geistes am Stoff der Erfahrung? Dann würde sie ja den beiden Ersten zumindest als Erkenntnisweisen den Boden wegnehmen und wir müßten die schließliche Dreiteilung LOCKEs, nach der früheren Zweiteilung Stoff-Form, für eine logisch sehr unglückliche halten. Überdem hat jene auch nicht nur rein formalen Charakter. Nach dem Verwerfungsurteil über die Syllogismen (und frivolen Sätze) muß die LOCKE'sche Demonstration etwas mehr Gehalt bieten, soll sie bei ihm in obiger Weise Gnade finden. In der Tat eröffnet sich mit ihr unversehens eine neue dritte Quelle von zugleich materiellem Wert; führt sie doch über alle Erfahrung auf rein metaphysische Gebiete hinaus und liefert uns zumindest den Gottesbegriff samt den sich daran knüpfenden Einsichten. Was ist das trotz aller Wendung und Drehung anderes, als ein neuer unsinnlicher Stoff? Und die Anerkennung, daß sensitive und intuitive Erkenntnis, d. h. doch wohl die bloße Verarbeitung des durch Sensation und Reflexion gewonnen Stoffs hierzu nicht genügt, sondern ein neuer dritter Weg nötig ist, was ist das anderes, als ein stilles Zugeständnis, daß die zuerst so getrost unternommenen Versuche, alles Unsinnliche, ja selbst das Absolute aus dem Sinnlichen und Endlichen herauszufeilen, ihrem Urheber schließlich doch nicht recht befriedigend vorkommen? Freilich ist sich LOCKE über all das noch sehr wenig klar und es fließen bei ihm die einzelnen Momente in schwer entwirrbarer Weise ineinander.

An dieser Stelle genügt es, namentlich aus der wenig motivierten Einführung der Demonstration als aus einem der vielen möglichen Beispiele zu ersehen, wie bei ihm das anfänglich überwiegend stoffliche und empirische Interesse allmählich doch wieder einer größeren Wertschätzung der Form und des rationalen Moments Platz geben möchte. Höchst bezeichnend ist hierfür, wie er ganz gegen den Schluß seines Werkes eine Potenz einführt, von der bisher noch sehr wenig oder gar nicht die Rede gewesen war. Ich meine die Vernunft als den "spezifischen Unterschied von Mensch und Tier". Er legt sich selbst (wieder in rühmlicher Ehrlichkeit) die Frage vor, wo denn für dieselbe noch ein Platz ist neben der perception extérieure des sens et l'intérieure de l'esprit. Sie ist nötig eben bei der Demonstration (34) und zwar als sagacité [Scharfsinn, Klugheit - wp], um die nötigen Mittelglieder zu finden und so zu arrangieren, daß sie einen Schluß ergeben. Denn etwas Anderes ist es, Gegebenes und Arrangiertes zu verstehen, dazu genügt die perception; etwas Anderes aber, als der Erste es zu finden und richtig zu ordnen oder zu kombinieren.

Streng genommen ginge auch das noch nicht über die Formtätigkeit hinaus; indessen ist es doch eine, vom bloßen Kopieren völlig losgelöste, so gesteigerte und intensive Formalleistung, daß sie im Begriff steht, in materiales und schöpferisches Denken umzuschlagen, wie denn wirklich die hier hereinspielende logische Operation der "Hypothese" auf der Grenzscheide beider Gebiete janusartig erscheint.

Der Versuch jedoch, die Vernunft und Rationalität schließlich mehr ankommen zu lassen (35), nicht bloß im Geiste LOCKEs, sondern noch mehr im Zug und Sinn der Zeit nur eine Velleität [kraftloses, zögerndes Wollen - wp], die es nicht zum Sieg bringen kann. Dies sehen wir sogleich an zwei Nebenschößlingen des philosophischen Denkens jener Periode in England; ich meine den strikten Nominalismus von BERKELEY und HOBBES. Sie ziehen wenigstens in einem Hauptpunkt nur die Linie vollends aus, welche schon in LOCKEs ganzer Denkweise, ja selbst in einzelnen ausdrücklichen Anddeutungen desselben angesetzt hatte. So finden sie als Ergänzung des Hauptsystems am Besten hier ein kleines Plätzchen, ehe wir die ganze theoretische Entwicklung vor HUME und in derselben natürlich das Fundamentallehrgebäude von LOCKE eingehend überblicken, um zu sehen, was bis dahin vorliegt und nun weiter zu tun ist, sei es in einem abschließenden Ausbau des Gegebenen oder zugleich damit in einer zersetzenden Auflösung desselben.
LITERATUR: Edmund Pfleiderer, Empirismus und Skepsis in David Humes Philosophie, Berlin 1874
    Anmerkungen
    1) Zuerst erschienen London 1690. Ich zitiere nach der französischen Übersetzung COSTEs, Amsterdam 1700, welche von LOCKE selbst revidiert, approbiert und vermehrt wurde, daher sie dem Original gleichwert zu achten ist.
    2) LEIBNIZ, Essais, Seite 495
    3) Edward Lord Herbert of Cherbury
    4) LEIBNIZ, op. phil, Seite 213, 413, 648 und öfter.
    5) LEIBNIZ, a. a. O., Seite 399; vgl. auch die Philippika KANTs gegen diesen "unerträglichen" Mißbrauch des Wortes Idee (Kr. d. r. V., Ausgabe ROSENKRANZ, Leipzig 1838, Seite 258).
    6) vgl. den hochwichtigen Abschnitt der Essais, Seite 684-716.
    7) Essay a. a. O., Seite 384, 84, 85, 89.
    8) Essay 163, 67, 68, 70, 71.
    9) Essay 505f
    10) Essay 345.
    11) Essay, Seite 723. Man beachte diese äußerste Grenze eines bereits so gut wie HOBBES'schen "Nominalismus"
    12) vgl. LEIBNIZ, a. a. O., Seite 298 über die Präpositionen.
    13) LOCKE, Essay, Seite 389.
    14) Essay, Seite 718, 814, 15
    15) Essay, Seite 454, 455.
    16) Essay, Seite 342/1
    17) Man denke an den interessanten Lösungsprozeß der Theo- und Autonomie in KANTs Moral.
    18) LOCKE, Essay, Seite 341.
    19) Essay, Seite 715
    20) Essay, Seite 719
    21) Nämlich im Sinn der schlagenden Unterscheidung bei LEIBNIZ, Seite 733 zwischen résolution en notions und division en parties; für erstere ist 1 das prius von ½ und das absolut letzte Element, aus dem sich alle Zahlgebilde erst konstituieren. - Für eine Philosophie der Mathematik liegen überhaupt bei LEIBNIZ, dem philosophischen Erfinder der Integralrechnung, die trefflichsten Bausteine bereit.
    22) Essay, 233, 883, 679
    23) Essay, Seite 456.
    24) Wie die philosophische und theologische Frage zusammenhängen, zeigt unter anderem noch LEIBNIZ, bei welchem die ganze Verhandlung über das seltsame "vinculum substantiale" nichts sehr viel Anderes ist, als die harmlos spielende Befriedigung seines sonstigen Freundes, des Jesuiten Des BOSSES, welcher von einem Philosophen gern einige Anhaltspunkte für die katholische Abendmahlslehre haben möchte. (Die Behandlung dieses schwierigen Punktes in den Darstellungen der leibnizischen Philosophie ist darum ohne Mitbeachtung dieser zufälligen Veranlassung notwendig meist etwas schief.)
    25) Essay, Seite 512
    26) Man wird bemerken, daß LOCKE auf dem Gebiet des geistigen Lebens noch nicht mit der vollen Strenge seiner Konsequenz vorgeht, sondern trotz aller Anläufe noch ziemlich tief in den alten Anschauungen befangen ist, mit welchen erst eine spätere Stufe rücksichtslos bricht. Für die ganze Ausführung vgl. übrigens KANT, Kr. d. r. V., Seite 292, insbesondere das Beispiel von den Billiardkugeln, die sich ihre Bewegung gegenseitig überliefern, - eine Äußerlichkeit der Betrachtung, welche sich jedoch höchst bemerkenswert nur in der ersten Auflage der Kritik findet und von LEIBNIZ im Gegensatz zu Locke bereits den treffenden Vorwurf hatte hören müssen, dieses hieße "se partager en deux personnes et se faire héritier de soi-même!" [in zwei Personen teilen und sich selbst zum Erben machen - wp] (LEIBNIZ, ph. W. Seite 280)
    27) Essay, Seite 715
    28) Essay, Seite 668; vgl. die zwei leitenden Denkgesetze bei LEIBNIZ.
    29) Essay, Seite 772f
    30) Essay, Seite 781f
    31) Essay, Seite 712
    32) Essay, Seite 789
    33) Es ist fast überflüssig, auch hier besonders zu bemerken, in wie naher, trotz aller Gärung hochinteressanter Beziehung all dies zu KANTs Ausgangspunkten steht. Nur ist das lösende Wort und damit auh die volle Klarheit und Bestimmtheit des Gedankens noch nicht gefunden, wie sie in KANTs sich kreuzenden Gegensätzen: apriori-aposteriori, analytisch-synthetisch vorliegt.
    34) Es ist dies keine willkürliche skeptische Anwandlung LOCKEs, sondern steht in einem engen Zusammenhang mit seinem Nominalismus und seiner Erschütterung des Substanzbegriffs. Die Bedeutung des letzteren sowie der realer gedachten Allgemeinbegriffe soll ja eben die Garantie der Kontinuität im Fluß des irrationalen Einzeldaseins sein, durch welche Voraussetzung jeder, auch der stofflich nur aus der Erfahrung stammende, als Schlußbasis dienende Allgemeinbegriff ein apriorisches Element aufnimmt. Daher LOCKEs Antithese!
    35) KANTs Anlehnung der "Vernunft" an den logischen Schluß.