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FRANZ LUDWIG HÖRTH
Zur Problematik der Wirklichkeit
[Eine Metakritik des transzendentalen Idealismus]
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"Damit der Bewußtseinsinhalt ist, muß ein Sollen bejaht werden, sein Sein und formales Sosein hängt von der Urteilsform ab, die sich erst nach ihrem eigenen Bild die Wirklichkeit formt und begründet; alles was Form ist an der Wirklichkeit, ist ein Urteilsprodukt."

"Die transzendentale Form ist die Grundform, die dem Inhalt ansich im Urteil zuerkannt wird und ihm den Wirklichkeitswert verleiht. An jedem wahren Urteil muß diese Anerkennung einer Kategorie nachgewiesen werden; so weit überhaupt geurteilt werden kann, wird geformt. Das ist von der außerordentlichsten Tragweite, denn sollte sich herausstellen, daß die Wirklichkeit, in irgendeiner Weise oder zu irgendeinem Zweck weiterverarbeitet werden muß oder überhaupt in derationalisierte Wertverbindungen gebracht werden kann, dann hängt die Stringenz einer solchen Bearbeitung davon ab, seit wann schon Formen an ihr Material geschlossen sind, seit wann es objektiv ist. Es taucht die entscheidende Frage auf: was kann noch wahrgenommen werden? oder - um alle psychologischen Untertöne von Bewußtseinsschwellen und dgl. abzuspannen: welches ist das logisch primitivste Urteil?"

"Rickert ist sich bewußt, daß ... der Charakter alles Gesetzmäßigen die Allgemeinheit ist, die sich als solche nimmermehr in einem Wirklichen vorfinden kann, sondern hinüber gewiesen werden muß in die Methode."

Es gehört zum Wesen des modernen Geistes, alle großen Probleme der Gegenwart wie der Vergangenheit auf das Leben zu beziehen. Nur wo er Wirklichkeit empfindet, macht er sich ein Unbegreifliches vertraut. Und doch gelangt in dieser Eigentümlichkeit nicht die Hoffnung zum Ausdruck, aus dem unmittelbaren Erleben eine ursprüngliche Gewißheit und den sicheren Schlüssel zu allen verschlossenen Türen zu gewinnen, sondern nur die bewußte Überzeugung, gerade hier dem eigentlich Problematischen, dem Kern sämtlicher anderen Probleme im Tiefsten an die Wurzel zu rühren.

Die Wirklichkeit als Problem ist nicht neu. Nur das speziell Problematische ist im Lauf der Zeiten ein anderes und mit jeder frischen Lösung gleichsam ein intensiveres geworden, der Sinn des "Wirklichen" selber hat sich verwandelt. Von der Naturphilosophie der Griechen, von ZENON an, der ganz im Allgemeinen schon ein in sich Widerspruchsloses für wirklich gehalten hat, haben sich ebenso die gesamten Wissenschaften wie die Künste und die Religion der Reihe nach ihr Stück Wirklichkeit hinweggenommen, aber ihre Erklärung war eine Auffassung, sie haben es durchdacht, in Methoden gefüllt und damit entwirklicht. Als letzte von allen Disziplinen hat die philosophische Erkenntnistheorie sich eine Behandlung der Wirklichkeit zur Aufgabe und zum Ziel genommen, und zwar in einem ganz besonderen und ursprünglichen Sinn. Nicht ein Deutung gewissesr, nach einem bestimmten Programm auserlesener Wirklichkeitspunkte will sie geben, sondern sie begründet das Ganze der Wirklichkeit objektiv und einheitlich aus den notwendigen Formen der Wirklichkeitserkenntnis. Sie macht also in gewisser Weise eine Hilfskonstruktion. Mit der Disponierung in Form und Inhalt wird einerseits dem Erkennenden ein eindeutiges und unabänderliches Werkzeug und damit eine Macht des Begreifens in die Hand geliefert, andererseits das Material aller Selbständigkeit entkleidet und in eine so unfaßbare, subalterne Stellung gerückt, daß sich von ihm nur noch sagen läßt, es sei das bei weitem am allgemeinsten Bestimmte, das Unwirklichste. Die Wirklichkeit in der Meinung der Erkenntnistheorie ist die Objektivität. An dieser Stelle muß jetzt aber diese letzte Disziplin der Wirklichkeitsbehandlung Rechenschaft darüber ablegen, ob ihr Wirklichkeitsbegriff auch die Wirklichkeit des pragmatischen und spekulativen Lebens zu begreifen vermag, sie muß, wenn sie das Problematische der Wirklichkeit auch in einem letzten Sinn zur Klarheit bringen will, die große, alles bedeutende Frage beantworten: was ist das Leben? - oder eindeutiger formuliert: was ist der Erlebende?

Die theoretische Erkenntnis ist Selbstbeschränkung, denn ihr Wesen ist die Allgemeingültigkeit; nur indem das erkennende Ich sich selbst objektiviert, kann es die Welt objektivieren. Es löst sich, nach SIMMELs Wort (1), in seiner Leistung auf und wird durch die Schöpfung der dinglichen Erkennbarkeit reine Funktion. Das ordnende Prinzip, das es in diesem Fungieren braucht, findet es in der "Wahrheit", durch ihre Bejahung macht es sich selber überindividuell. So kommt dem Erkennenden prinzipiell eine ganz andere Art von Subjektivität zu wie dem Erlebenden, sein Produkt, die objektive Wirklichkeit, ist nicht selber die Wirklichkeit des Lebendigen.

Aber ein anderer Zugang der erkenntnistheoretischen Logik zu den Erlebnisprodukten scheint unversperrbar. Auch das Leben ist Form, nur nicht intensive, sondern extensive, nicht konstituierend, sondern modulierend: denn es hat zum Stoff den erkenntnistheoretisch bereits vorgeformten Inhalt ansich. Lediglich weiter zu behandeln vermag es ihn, so daß der ganze Reichtum, die ganze Fülle von Leben selber nur eine Fülle von Formen und das ungeheure Wertprädikat des lebendig Gegenwärtigen ebenfalls nur ein logischer Wert ist.

So kann es dann nicht befremden, wenn sich die allgemeinere Wirklichkeitsbetrachtung, auf die es uns im Nachstehenden ankommt, in erster Linie mit diesen Problemen beschäftigt, d. h. durchweg an der Erkenntnistheorie orientiert ist als an der Disziplin, die sich mit den größten Hoffnungen trägt, ein abschließendes Theorem über die Wirklichkeit beizubringen. Und wir wollen uns weiterhin dabei eines ganz bestimmten erkenntnistheoretischen Systems bedienen, des Systems HEINRICH RICKERTs, nicht nur weil es bis zum heutigen Tag von allen das ausgebildetste und universalste ist, sondern auch weil der vom Freiburger Philosophen vertretene transzendentale Idealismus am konsequentesten die wichtige Einsicht verwertet, daß die Untersuchung eines formenden Handelns, einer Methode nur Sinn hat, wenn man sie strikt auf den Subjektsbegriff bezieht, auf den sie angewiesen ist. Und weil uns so die Erkenntnistheorie RICKERTs für den Typus des transzendentalen Idealismus überhaupt gilt, glauben wir mit der Lokalisierung seiner Wirklichkeitstheorie einer jeden transzendentallogischen Wirklichkeitsbehandlung ihren Platz angewiesen und sie für die ihr allein gebührenden Probleme isoliert zu haben.

I. Die Erkenntnistheorie ist einem engeren, heute allein noch üblichen Sinn, die sich Gegensatz zu psychologischen Klassifikationen ihren spezifischen Erkenntnisbegriff selber erst teleologisch konstituiert, ist als einzige von allen Wissenschaften nicht eigentlich gewachsen, sondern geschaffen. Indem KANT in seinem Lebenswerk das Erkennen als Wertungsprozeß erfaßte, fand er den Weg zu ganz eigentümlichen, unangerührten Problemen und machte schon mit ihrer Andeutung jede Erkenntnislehre nach rein photographischen Prinzipien in alle Ewigkeit unmöglich. Seit ihm holt die junge Wissenschaft aus der Kardinalfrage: Wie ist Erkenntnis möglich? zwei andere heraus: was ist Erkenntnis? und: was vermag Erkenntnis? und setzt sich selber in der letzteren einen Maßstab für ihre Lösung der ersten. Die Formen, an denen sich diese Tragweite eines jeden Erkenntnisbegriffs, jeder "Theorie" ermessen läßt, sind die Kategorien. Sie können - wie so viele wissenschaftliche Grundbegriffe - nicht definiert werden, weil für sie ursprünglich die Sprache qualitative Wurzeln nicht hat bilden können (2), aber ihre Funktion kann gefaßt werden: sie sind die Prinzipien, durch deren Formkraft die strenge Erfahrung in universellster Objektivität geschaffen wird - und müssen demnach einerseits als objektiv gültig, andererseits als verwendbar für die Erfahrung dargetan werden. Wieder fordern also zwei Fragen eine Antwort: welches ist die spezielle Struktur der Kategorie im vorliegenden System? und: bis zu welchem Punkt, in der Richtung auf den Inhalt schlechthin gesehen, ist noch eine kategoriale Bearbeitung nachweisbar? Damit ist die Erkenntnistheorie als Grenztheorie zur Wissenschaftslehre geworden und ihre wissenschaftslehrliche Verwendbarkeit, also die Kategorienlehre, zu ihrem unbeschränkten Wertkriterium.

RICKERT hat in seiner Einführung in die Transzendentalphilosophie (3) seinen Erkenntnisbegriff aus den primitivsten Anfängen her geschlossen entwickelt. Von der Stellung des Transzendenten im Gegensatz des Erkennenden zum Erkannten schritt er zu seiner Funktion im Erkenntnisprozeß, im Urteil vor und erkannte seine Natur als auch ein urteilendes Bewußtsein überhaupt verbindendes Sollen. Als Urteilsnotwendigkeit bedingte seine Bejahung die Existenz des Bewußtseinsinhaltes überhaupt und war damit hinsichtlich dessen Seins zum begrifflichen Prius gestempelt. Es handelt sich nun darum, zwischen jenem irrationalen Konglomerat einer Irgendwie-Wirklichkeit, als das sich der immenente Inhalt, diese unerfaßliche Voraussetzung jeder Erkenntnistheorie entpuppt hat, und der transzendenten Norm eine Brücke, ein Schema zu schaffen, das einerseits die Anwendbarkeit der letzteren, gedacht als mögliche Realisation durch ein erkennendes Ich garantiert, andererseits der Ersteren das Renommée einer nach allen Erkenntnisbedürfnissen differenzierten, aber durchaus wohlobjektivierten Ordnung verleiht. Und der transzendentale Idealismus geht an die Konstruktion seines Kategoriebegriffs.

Es darf dabei nicht auf Prinzipien einer Umformung abgezielt werden, die ihr Objekt auf einen Wert einstellen und erst so seine Bejahung möglich machen, denn damit wäre ein Gegensystem gesetzt, das in seiner Besonderheit weder von der Norm aus deduziert, noch von der erstgeformten Wirklichkeit, eben wegen seiner Umformungskraft, erkenntnistheoretisch erschlossen werden könnte. Eine vorgeformte Wirklichkeit ist immer bereits geformt, und alle Wirklichkeitsformen können erst nachgewiesen werden, wenn geurteilt wird; als bedingt aber auch durch die Urteilsnotwendigkeit helfen sie auch im höchsten Sinn die Gegenständlichkeit des Erkenntnisproduktes verbürgen und erweisen sich selber als von kategorialer Herkunft. Schon hier erschließt sich eine theoretische Primalität [Ursprünglichkeit - wp] von der größten Bedeutung: gerade die künstliche Schwebe und Isolation, die der transzendentale Idealismus notwendig braucht, um die Wirklichkeit als Erkenntnisprodukt begreiflich zu machen, schließt jede Vorformung aus, seine Kategorien sind nicht modulativ, sondern rein produktiv.

Damit der Bewußtseinsinhalt ist, muß ein Sollen bejaht werden, sein Sein und formales Sosein hängt von der Urteilsform ab, die sich erst nach ihrem eigenen Bild die Wirklichkeit formt und begründet; alles was Form ist an der Wirklichkeit, ist ein Urteilsprodukt. Die Analyse des vollzogenen Urteils kann das nicht erweisen, denn Urteilsform und Wirklichkeitsform stehen hinsichtlich ihrer vollendeten Bearbeitung auf gleicher Stufe nebeneinander. Um also jene Konsequenzen, die hier an eine Reproduktion der "primären" Wirklichkeit durch die "sekundären" Urteilsformen glauben und noch einmal die Wahrheit des Urteils von seiner reproduktionen Kraft abhängig machen wollen, endgültig aus der Welt zu schaffen, reflektiert RICKERT auf das werdende Urteil. Prinzipien überindividueller Formgebung können eben natürlich nur aus ihrer Aktion begriffen werden. Indem er sich nun sagt, daß von der Norm aus gesehen jener Inhalt an sich seine vorliegende Form einmal bekommen haben muß, scheidet er von dieser Form im engeren Sinne, der konstituierenden Form der Wirklichkeit, als logische Voraussetzung den ebenfalls formalen Akt der Anerkennung des Sollens und schiebt so zwischen die anerkannte, als erkenntnistheoretisch geformte Wirklichkeit und die Norm einen dritten, vermittelnden Faktor: die Kategorie. Die Form des Erkenntnisprodukts haftet am Seienden, an diesem "Hier" und "Jetzt", das durch sie geschaffen wurde, sie ist mit Händen zu greifen, und die Aussicht nach drüben ist ihr verrannt. Auf daß nun ihre Objektivität nicht in Frage gestellt wird, ja auch daß sie selber und ihre Begründung erst begriffen werden kann, baut die Kategorie den Übergang vom Sollen zum Sein, noch nicht Form in der Sphäre des Seins, aber auch nicht mehr Norm drüben in der Transzendenz, und vermittelt so durch ihre Formgebung allererst Gegenständlichkeit und Objektivität des Erkenntnisproduktes.

Die Objektivität des fertigen Urteils hängt an seiner eigentlichen Form, die unser Idealismus deswegen die transzendentale nennt, ihre Wahrheit aber, ihr Sinn kommt ihr auf dem Weg der Kategorie von der transzendenten Norm her. Sieht also ein Zuschauer von ihrem Standplatz herunter, so nimmt er drei Stufen des Sollens wahr: die Norm, die Anerkennung des Sollens und das anerkannte Sollen; und blickt er vom Inhalt ansich hinauf, dann erscheinen ihm drei formale Faktoren, die jedes wahre Urteil voraussetzt:
    - Gegenständlichkeit des Erkenntnisproduktes: die transzendentale Form;

    - Erkenntnisproduktion: die Kategorie;

    - Erkenntnisgegenstand: die Norm.
Nur durch den Mund der Kategorie äußert sich die Norm, aber die Kategorie selber steht weit jenseits alles Wirklichen und deutet sich nur in ihrem Geschöpf, der vollendeten transzendentalen Form symbolisch wie aus der Ferne an. Und die transzendentale Form ist die Erscheinungsweise der Norm, zu charakteristischer Eigenart gebracht durch die Kategorie. Alle Kategorien erweisen sich als Grundformen für die Urteilsmöglichkeit und Bejahung, als Formen der Anerkennung von Werten, die eine bestimmte Bearbeitung des Inhaltes ansich unbedingt gebieten und damit zugleich als wahr verbürgen.

Durch dieses dreigliedrige Schema ist die einheitliche Deduktion der Kategorien im Umriß geleistet; als Grundformen besitzen sie eine objektive Gültigkeit kat exochen [schlechtin - wp], weil überhaupt erst im Hinblick auf die durch sie vollzogene Bejahung von Objekten geredet werden kann. Sie speziell abzuleiten weigert sich RICKERTs transzendentaler Idealismus. Denn ihre einzelnen Normen sind ja transzendent und die transzendentalen Formen schon ein logisches Posterior; er könnte sie drum auch schließlich nur empirisch aus vollkommenen, vollzogenen Urteilen erschließen mit der Formel: Hier hat einmal eine solche Kategorie die Bejahung vermittelt, denn hier ist Form.

Die transzendentale Form ist die Grundform, die dem Inhalt ansich im Urteil zuerkannt wird und ihm den Wirklichkeitswert verleiht. An jedem wahren Urteil muß diese Anerkennung einer Kategorie nachgewiesen werden; so weit überhaupt geurteilt werden kann, wird geformt. Das ist von der außerordentlichsten Tragweite, denn sollte sich herausstellen, daß die Wirklichkeit, deren vollkommener Begründung unser transzendentaler Idealismus nun immer näher auf den Leib rückt, in irgendeiner Weise oder zu irgendeinem Zweck weiterverarbeitet werden muß oder überhaupt in derationalisierte Wertverbindungen gebracht werden kann, dann hängt die Stringenz einer solchen Bearbeitung davon ab, seit wann schon Formen an ihr Material geschlossen sind, seit wann es objektiv ist. Es taucht die entscheidende Frage auf: was kann noch "wahrgenommen" werden? oder - um alle psychologischen Untertöne von Bewußtseinsschwellen und dgl. abzuspannen -: welches ist das logisch primitivste Urteil?

Die Klarstellung des Existenzialurteils ist eine der bedeutendsten Leistungen von RICKERTs Erkenntnistheorie. Hatte noch WINDELBAND (4) hier den seltsamen Fall einer vorgestellten Beurteilung konstatiert, weil die Bejahung die Vorstellung direkt involviert, und von da aus ein principium divisionis [Prinzip der Teilung - wp] für die Qualitätsurteile aus den verschiedenen Gewißheitsgraden konstruiert, so wahrt sich RICKERT mit der Transzendenz der Normen auch ihre konstante Kraft und ist gewiß, wie in jedem Urteil so auch hier die Bejahung auf dem Weg einer Kategorie vorfinden zu können. Die Bejahung der Normen wird im Existenzialurteil am ersichtlichsten, und es liegt seinem normativen Charakter nach allen anderen Urteilen zugrunde; darum nahm es in seinem System auch immer eine Paradigmastellung ein. Nun wird es gefaßt als Urteil, das etwas Gegebenes bejaht. Und da die Gegebenheit erst im Urteil festgestellt wird, da sie nur als eine Anerkennungsart der absoluten Bejahung gedacht werden kann, ist sie als eine ganz ursprüngliche Kategorie zu fassen, die auch das gegebene Sein erst möglich macht, als Kategorie der Gegebenheit.

Sie ist der Begriff der Anerkennung aller rein tatsächlichen Urteile und unterscheidet sich damit prinzipiell von allen anderen Bejahungen. An ihr wird klar, wie wenig der Hauptwert aller Kategorien darin steckt, nicht, daß sie den Inhalt formen, sondern daß sie ihn bejahen, nicht, daß sie ihn so bestimmt, sondern daß sie ihn transzendental geben; insofern steckt in jeder Kategorie ein Stück von der Gegebenheit. Die Gegebenheit ist die nächste und einfachste Konstitution des Inhalts ansich, aber keineswegs selber ein Inhalt; seine Qualitäten als solche werden von keinem Urteil berührt. Und sie ist auch nicht die allgemeine Kategorie des Seins. Die Wirklichkeit, sei sie auch das Erzeugnis von Urteilsformen, ist immer individuell, und etwas Allgemeines nie "gegeben". Darum ist das Urteil: "Farbe ist" kein Existenzialurteil, es stellt schon die Vorstufe einer wissenschaftlichen Bearbeitung dar; Gegebenheitsurteile lauten: "Diese Farbe ist", und in dem "dies" liegt jenes Symbol vor für den durch die Kategorie der Gegebenheit vollzogenen Akt der Bejahung. Dabei wird das Denken hier keineswegs vor die unlösliche Aufgabe eines "individuellen Begriffs" gestellt. Die Kategorie der Gegebenheit hat dieselbe fungible Allgemeinheit wie alle Kategorien: In unendlich vielen Fällen anwendbar zu sein, aber nicht auch viele Allgemeinheiten, sondern auf viele Besonderheiten; die Kategorie der Gegebenheit ist eine Form des Individuellen. Von ihrem Inhalt losgelöst und als Begriff betrachtet ist sie immer allgemein, in der Anwendung aber durchaus individualisierend. Ebenso ist ihre Norm als Norm des Individuellen bestimmt. Im Verhältnis zu einer fertigen Wirklichkeit überhaupt gedacht nimmt der durch sie garantierte Akt eine vorbereitende Stellung ein, und weil so auch die vereinzelte Tatsächlichkeit erurteilt werden muß, kann die konstituierende Bearbeitungsnotwendigkeit das Gemeinsame und Verbindende aller Wirklichkeitskonstruktion ausmachen.

Mit dieser Wirklichkeit und ihrem Verhältnis rückwärts zur Gegebenheit, vorwärts zur wissenschaftlichen Vereinheitlichung stehen wir im Hauptproblem von RICKERTs transzendentalem Idealismus. Es handelt sich um das erkenntnistheoretische Äquivalent des einzelwissenschaftlichen Materials, das ja schon immer einen Zusammenhang voraussetzt, der durch die Gegebenheit in alle Wege nicht erfaßt werden kann. Jedes Einzelfaktum ist eine Abstraktion, insofern es zwar als logisches, nie aber als zeitliches Prius gesetzt werden darf; denn das Ganze ist immer früher als seine Teile; und die Wirklichkeit wird ja vielmehr nur als in Vereinzelungen zerlegt gedacht, um dann später auf vollkommen erkenntnistheoretischer Stufe als wieder Zusammengeschlossenes und Geformtes begriffen werden zu können.

Daß es sich auch andererseits bei dem, was die objektive (empirische) Wirklichkeit mehr hat als ein bloßes Aggregat von Tatsachen, nicht um die letzte, nun doch unumgängliche Bestimmung von seiten eines transzendenten Dings-ansich, sonderm um eine bloße neue Anordnung der Tatsachen handelt, ist schon aus Stellung und Ableitung der Gegebenheit klar. Das neue Problem gliedert sich einfach in die beiden Fragen: welche Formen jene vom erkennenden Subjekt unabhängige Anordnung der gegebenen Seinspunkte schaffen - und wie die Objektivität dieser Ordnung zu begründen ist. Damit wäre der den verschiedenen Individuen gemeinsame Zusammenhang des Materials als eine für sich bestehende Welt mit einer Reihe von Bestimmungen, die sich nicht in einfache Tatsachen auflösen lassen, sicher gestellt und der Wissenschaft eine unumstürzliche Basis gegründet.

Bei der Behandlung der ersten Frage will unser transzendentale Idealismus mit Recht wieder keine systematische Entwicklung der Wirklichkeitsformen geben, er will sie nur aufzeigen. Das gelingt ihm leicht durch eine Analyse der Wirklichkeitsurteile, d. h. aller weder wissenschaftlichen noch gegebenheitlichen Urteile auf die Faktoren hin, die nicht vorstellungsmäßig und auch nicht durch die Kategorie der Gegebenheit garantiert sind. Es ergibt sich, daß gerade diese sich nicht fortdenken lassen, ohne den Sinn des Urteils zu vernichten: jedes Urteil, das sich auf die objektive Wirklichkeit bezieht, bejaht etwas nicht Gegebenes als wirklich. Gerade aber, weil dieses Wirkliche sich auch hier niemals in den vorstellungsmäßigen Bestandteilen des Urteils auffinden läßt, ist ebenso die zweite Frage leicht entschiden; dieses "Wirkliche" steckt einfach in der Form des Urtels, und nur mit der Entscheidung über das Recht der hier notwendigen Bejahung kann auch jetzt eine Objektivität begründet werden. Noch andere Normen, Kategorien und transzendentale Formen müssen, mit einem Wort, gesucht und als urteilsnotwendig begründet werden, die dann jene erforderlichen Zusammenhänge der einzelnen Gegebenheitsfakta zustandebringen und verbürgen.

Hiermit fällt schließlich noch auf die Kategorie der Gegebenheit ein letztes, scharfes Licht. Es wird ihr auf solchem Weg eine absolute logische Priorität über alle ihre Geschwister zugesichert, und wenn sie selber, wie eine falsche Urteilsanalyse wohl glauben lassen könnte, auch nie eine andere Kategorie für wahr erklären, also eine Beziehung "geben" kann, so kann sie doch auf sie hinweisen. Sie ist das Palladium [Zuflucht - wp] der "individuellen Allgemeingültigkeit" und hat deshalb, je nachdem der erste oder der zweite Teil dieses Begriffs betont wird, eine Fähigkeit und eine Funktion. Ist erst einmal durch sie die Erkenntnisproduktion auf einen guten Weg geleitet, so stellt sich die ganze objektive Wirklichkeit als individuelle Erkenntnisaufgabe dar, die durch ihren Inbegriff von Imperativen fordert, daß das Gegebene nach bestimmten Formen geordnet wird. Lediglich von der Geltung neuer, durch Kategorien anerkannter Normen häng also diese Anordnung ab, und sie erkennen heißt in den Kategorien denken, welche die Formen der objektiven Wirklichkeit mit transzendentaler Berechtigung hervorbringen. Die objektive Wirklichkeit ist nicht eine beurteilte Welt, sondern eine Welt in Urteilen, ihre Formen werden nicht bejaht, sie sind Bejahungen. Darum kann auch nur gefragt werden, nicht was an diesen Erkenntnisfaktoren, diesen konstitutiven Kategorien ihre Transzendentalität beweist, sondern welche Erkenntnisfaktoren die Transzendentalität fordert. Von einer Immanenz der objektiven Wirklichkeit in Bezug auf das erkennende Ich darf nicht mehr gesprochen werden, nur Vorstellungen sind immanent, und Vorstellungen lassen sie nie begründen.

So transzendental einerseits, so begrifflich allgemein andererseits also die konstitutiven Kategorien in ihrer Anwendung sind, immer sind sie doch Kategorien des Individuellen, denn wie die Gegebenheit ein individuelles Faktum bejaht hat, bejahen sie individuelle Anordnungen, Anordnungen in einzelnen Fällen. Gesetze geben sie nicht. Darum bestehen die Wirklichkeitsurteile, die durch sie möglich wurden, nicht aus Begriffen, sondern mitteilsamen Allgemeinvorstellungen, es handelt sich eben um Allgemein-, d. h. Transzendentalarbeit. Und endlich setzen sie jede für sich eine individuelle Norm voraus, d. h. eine solche, die nur in einem Individualfall und für ein Individuelles ihre bejahenden Funktion antreten kann, so daß sich die gesamte objektive Wirklichkeit, zu letzter Stufe erkenntnistheoretisch äquivaliert, darstellt als ein System verschieden eingestellter Normen des Individuellen. Es ist folglich eine große Torheit, irgendwie und irgendwo von einem principium individuationis zu reden; das Individuelle ist auf allen Gebieten und unter allen Umständen das Primäre. Und zum Schluß: insofern die objektive Wirklichkeit, die natürlich auch das empirische urteilende Individuum enthält, ihrer Form nach als durch überindividuelle Urteile produziert und logisch entstanden gedacht werden muß, als sie in allen Teilen eine anerkannte Bejahung voraussetzt, ist sie auch in allen ihren Teilen ein transzendentaler Wert. Unabhängig vom empirischen Individuum wurde ihr der als transzendent zuteil, unabhängig von ihm besteht er, ja in ihm selber besteht er, sofern es zu dieser Wirklichkeit gehört und als Produkt möglicher Urteile angesehen werden kann, und es ist ihm nur zur Aufgabe gemacht, diesen absoluten Wert seines Millieus auch seinerseits anzuerkennen und damit zu einem allgemeingültigen machen zu helfen. Und dieser Wert ist schließlich auch der Wert, weil er für alle denkbaren erkennenden Wesen gilt und weil er schafft; ethische und ästhetische Werte müssen nur als verbindlich für alle empirisch gegebenen Wesen dargelegt werden, weil sie lediglich wandeln. Reines Erkennen - ohne Rücksicht diesmal auf eine wissenschaftliche Ökonomie und Vereinfachung - ist Handlung in wahren Urteilen, Schöpfung eines Wertes, genannt objektive Wirklichkeit, durch ein überindividuelles erkennendes Bewußtsein überhaupt.

Mit der Formierung eines konstitutiven Kategoriensystems ist zwar ein Erkenntnisbegriff überhaupt sichergestellt, aber noch nicht der für "beschränkte empirische Wesen". Der Sinn aller Erkenntnis ist absolute Wahrheit, d. h. Totalität des Inhaltes, der als wertvoll bejaht werden kann, und die ist nicht Erkenntnisziel noch überhaupt Erkenntnispflicht für Subjekte, die doch immer selber zum Inbegriff aller möglichen Erkenntnisprodukte zählen und selber nach allen Richtungen hin bedingt sind. Jenes Ideal aller Erkennenden, das urteilende Bewußtsein überhaupt, ist nur hinsichtlich seiner Formen ein Ideal, hinsichtlich seines Inhaltes aber eine Idee; zum Zweck der Erkenntnis aller denkbaren empirischen Wesen bedarf es der materialen Vereinfachung, d. h. die Gesamtheit der objektiven Wirklichkeit muß als Material gefaßt und anthropomorphistisch [nur auf den Menschen bezogen - wp] verarbeitet werden. Nicht also, wie CHRISTIANSEN will (5), weil Anschauungen nicht reproduzierbar sind mit dem Bewußtsein absoluter Identität - die wird ja garantiert durch die getreue Anerkennung der transzendenten Normen in konstitutiven Kategorien - sondern weil sie es nicht sind mit dem Bewußtsein absoluter Totalität, brauchen wir Wissenschaft. In ihr wird das Erkennen den Inhalt der objektiven Wirklichkeit durch Vereinfachungswerkzeuge, sogenannte "Begriffe", umformen und den Individuen mundgerecht machen, es wird ihm eine Auffassung geben.

So ist es die letzte Aufgabe der Wissenschaftslehre, die Formen zu entwickeln und zu begründen, durch die eine allseitige wissenschaftliche Begriffsbildung möglich wird. Auch sie werden ihrer Funktion nach unter den früher aufgestellten Kategorialbegriff fallen, müssen aber auf das Strengste von den konstitutiven Kategorien geschieden werden, denn als Erkenntnisformen nur des empirischen Erkenntnissubjekts können sie in keiner Weise auf das universale Bewußtsein überhaupt bezogen werden. Deshalb werden auch ihre Urteile eine eigentümliche Struktur zeigen und sich in einzelne Gruppen nach Methoden zusammenschließen lassen. Die Kategorien, die sie verbürgen, sind methodologische Kategorien. Unbestreitbar ist a priori für sie nur die Objektivität ihres Materials garantiert, und es erheben sich da ernste Schwierigkeiten für ihre Ableitung und ihre Begründung; denn sie sollen ja nur für empirische Subjekte objektiv gelten, ihre Stringenz muß also zu einer anderen Art von Ideal geformt werden, dessen Notwendigkeit ein Entschluß aufgrund von Demonstrationen und dessen Gegenstand nur die Richtung eines ewigen Wanderns ist.

Zunächst ist klar, daß die methodologischen Kategorien, weil an ihrer Struktur außer dem Wahrheitswert noch ein anderer, vermittelnder und darum näherliegender Zweck, die Einheitlichkeit, mitwirkt, sich deshalb noch lange nicht lediglich durch das Schema der Allgemeinheit müssen ableiten lassen. Einen Nominalismus, der allgemeine Gesetze nur für gemeinsame Namen hält, lehnt RICKERT mit Recht energisch ab. Mit der individuellen Bejahung ist für ihn eine Aufgabe für sich abgeschlossen, und absolut kein Kriterium kann ohne Weiteres in ihr aufgezeigt werden, das auf Ähnlichkeiten in anderen Individualfällen hinweist. Und wie sollten sich die gesuchten Formen sonst eindeutig und logisch aus der objektiven Wirklichkeit her entwickeln lassen? Der Wissenschaften und Begriffsbildungen sind viele, die objektive Wirklichkeit aber nur eine, und alles, was für sie konstitutiv ist, muß als verwertet in einer jeden wissenschaftlichen Methode nachgewiesen werden können. Selbst der begriffsrealistische Fall einer konstitutiven Umformung methodologischer Kategorien ergäbe nur eine einzige Methode als unbedingt gesollt! Und doch macht ihre Gültigkeit keine Schwierigkeiten. Gerade weil ihre Notwendigkeit eine teleologische ist, gerade weil sie transzendental bedingt sind, gelten die von ihnen bejahten Urteile unbedingt allgemein - für wissenschafttreibende Individuen. Das methodologische Sollen ist kein transzendent gegebenes, sondern ein transzendent geschaffenes, ein transzendentales, und doch verpflichtet es nicht weniger, denn sein Imperativ ist ja erst für Menschen konstruiert und auf menschliche Bedürfnisse hin zugeschnitten. Deshalb kann auch eine Ableitung der methodologischen Kategorien nie vollendet werden. Je reicher und feiner die Seele des wissenschafttreibenden Individuums differenziert ist, nach desto mehr Richtungen wird ihm eine einheitliche Anordnung der objektiven Wirklichkeit zwecks Wahrheit möglich sein: der wissenschaftlich Erkennende, von einer anschaulichen Erkenntnis ausgeschlossen, geht diskursiv (6) zu Werk; und indem er sich hineinstellt in den Kulturzusammenhang, für den er geboren ist, und an all seinen verschieden gerichteten Problemen nach Kräften getreulich mitarbeitet, wird die Summe seines Wissens wenigstens auf den Weg zu jenem denkbar objektivsten und umfassendsten Erkennen gelegt, das kein Geborener je erreicht.

Diese scharfe Heraushebung der Methode vermag nun noch einmal den für uns zentralen Begriff der objektiven Wirklichkeit in ein helles Licht zu stellen, und RICKERT nützt die Gelegenheit durch eine Gegenüberstellung von KANTs Naturbegriff glücklich aus. Für KANT ist die Natur "das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist" (7), er faßt also die "Gegenstände der Erfahrung" auf als Kreuzungszentren möglicher Gesetze, die in einem apriorischen Erkenntnisakt in diese ihre konstruktiven Bestandteile aufgelöst werden und sich deshalb schon in der Art ihrer Zusammensetzung, d. h. im Allgemeinheitsgrad ihrer gesetzmäßigen Faktoren nach der einmal eingeschlagenen (natur)-wissenschaftlichen Methode richten müssen. Für die Einzigartigkeit einer Individualität hat KANT keinen Raum, und das ist vielleicht die wichtigste Konsequenz seines Ding-ansich-Dualismus. Ohne Methode keine Erkenntnis, Natur also der Inbegriff der Anwendung aller möglichen Methoden auf das zugrunde liegende Tatsachenaggregat, das psychologisch im Sinne von isolierten Vorstellungen angedeutet wird und so einer erkenntnistheoretischen Erörterung seinen Einzelbedeutungen nach leicht entgeht. Zwar rede KANT auch von einer "Spezifikation der Natur" (8) und von ihrer Regelung der "empirischen Gesetze" "zum Zweck einer für unseren Verstand erkennbaren Ordnung", falls dieser den allgemeinen Gesetzen eine Mannigfaltigkeit der besonderen unterordnen will; aber er tut es wie etwas Unwissenschaftliches, gleichsam bedauernd, denn nicht der Natur selbst, sondern nur der Reflexion über sie in der Urteilskraft wird damit ein Gesetz gegeben. Mit einem Wort: der Kritizismus hat keine Aufmerksamkeit für das Systematisch-Individuelle, er faßt es nur nebenbei in einer Heteronomie und sieht über die Einzelheiten hinweg, wenn er fragt: was garantieren die Einzelheiten? RICKERT aber frägt: was garantiert sie, denn er ist sich bewußt, daß das Gesetz hier gar nicht in Betracht kommt, weil der Charakter alles Gesetzmäßigen die Allgemeinheit ist, die sich als solche nimmermehr in einem Wirklichen vorfinden kann, sondern hinüber gewiesen werden muß in die Methode. So schiebt sich für ihn die objektive Wirklichkeit zwischen die kantischen Faktoren der Natur und des sinnlichen Vorstellungskomplexes und bedeutet das Dasein der Dinge, sofern es von Fall zu Fall nach allgemeingültigen Regeln produziert wird.

Auf den ersten Blick erhellt jetzt die Tragweite der gegenseitigen, streng konstruktiven Unabhängigkeit von objektiver Wirklichkeit und Wissenschaft. Weil nämlich z. B. die naturgesetzliche Kausalität nur methodologischer Natur ist, muß sie, von der Wirklichkeit ganz zu schweigen, noch nicht einmal in jeder Wissenschaft durchgängig zur Anwendung kommen, sondern die Geschichte kann sich ohne Weiteres als ihre "historisch-teleologische Dependenz" [Abhängigkeit - wp] jene individuelle Kausalverknüpfung aus der objektiven Wirklichkeit herüberretten. Ja, die beiden Kausalverhältnisse haben vielleicht nach Hinfall des systematischen Zwangs nicht mehr miteinander gemein als den Namen. Denn während die individuelle, historische Kausalität die Abfolge fertiger, einzigartiger Bildungen behauptet, die exakt voneinander abhängen und in ihrer Reihe nie umkehrbar sind, also gleichsam nach der Analogie von Zwecksetzung und Zweckverwirklichung, nur unter Weglassung der handelnden, d. h. der animistischen Tendenz beurteilt werden, nimmt die naturwissenschaftliche Kausalität ihre Erklärungsmethode derart aus der Mathematik, daß sie in einer Formel den gesamten Akt der Veränderungen als gesetzlich zusammenzufassen vermag (9). In dieser Formel hat sie die zeitlos causa generalis [allgemeine Ursache - wp] in Händen, aus der sie alle Umschaltungen als kontinuierliche Etappan herleiten kann, sofern sie nur immer auf das Gesetz und nicht auf die Vergangenheit ihr Augenmerk richtet.

An dieser Stelle stände es nun zu erwarten, daß ganz im Allgemeinen eine Ausführung über Raum und Zeit überhaupt im Sinn unseres transzendental-idealistischen Systems gegeben werden könnte, aber unser erkenntnistheoretischer Gewährsmann schweigt sich hierüber aus. Es gilt ihm ja nicht, Zeit und Raum ansich, sondern nur die Welt in Zeit und Raum zu begreifen. Wenn es nun aber auch durch die uns bekannte Entwicklung, welche der Begriff des Transzendentalen und damit der der erkenntnistheoretischen Apperzeption im Ganzen seit KANT genommen hat, für ausgeschlossen gilt, daß RICKERT ebenfalls noch in Raum und Zeit "Anschauungsformen", d. h. unkategoriale Prinzipien a priori findet und damit seiner Materie allererst "Erscheinung" verleiht, so dürfen doch Zeit und Raum bei der Konstitution der objektiven Wirklichkeit schon aus dem Grund nicht völlig materialiter vorausgesetzt, d. h. übergangen werden, weil Naturwissenschaft und Geschichte, welches dieses Produkt zur Weiterverarbeitung aufnehmen, beide mit Raum und Zeit arbeiten und doch keineswegs mit denselben Vorstellungsarten von Raum und Zeit. Ja sogar ein einheitliches, übergeordnetes Gebilde muß sich in der objektiven Wirklichkeit aufzeigen lassen, denn bei keiner der beiden Wissenschaftsgruppen ist die ihr eigentümliche Verwendung von Raum und Zeit in ihrer Methode, der generalisierenden oder individualisierenden als solcher begründet. Es liegt nicht direkt in unserem Interesse, uns hierüber zu verbreiten, deshalb mag ein Fingerzeig genügen.

Hinsichtlich des objektiv wirklichen Raums läßt sich der bezeichnete Standpunkt der materialen Voraussetzung in gewisser Weise und analogisch noch am ehesten bewahren. Nach Hinfall der kantischen Sinnlichkeit als einer besonderen Erkenntnisbestimmung und damit der Mathematik als eines Apriori der Wirklichkeitserkenntnis hat es nämlich auch keinen Sinn mehr, bei der Konstitution von einer möglichen Grenzenlosigkeit im Fortgang der Anschauung zu reden; das Räumliche wird eindeutig durch das jeweilige Erkenntnisprodukt bestimmt, wird sozusagen Qualität und als seinem es stofflich Erfüllenden Gleichgeachtetes in derselben Weise aus der Kategorie der Substanzialität begriffen. Anders mit dem Zeitlichen. Schon KANT hat seine beiden Formen der reinen Anschauung in Bezug auf das im inneren Sinn vorsichgehende Verzeichnen der reinen Begriffe ihrer Leistung nach getrennt, und daß er sie nicht in alle Wege methodisch, d. h. formal geschieden hat, kann man ihm kaum zum Vorwurf machen, wenn man den ungeheuren Fortschritt bedenkt, den schon ihre Gleichstellung (10) gegenüber LAMBERT und seinem materialen Idealismus bedeutet hat. Noch gesonderter müßte hier RICKERT die Zeit fassen. Insofern die Einheit des Bewußtseins und damit die Identität im Fortgang der Erkenntnis für ihn kein Problem ist, kann es ihm glücken, die (naturwissenschaftliche) Zeit formalistisch auf die rein mathematische Nacheinanderordnung des "Mannigfaltigen der Anschauung" zu beschränken und ihr in der lediglich dynamischen Beziehung von Ursache und Wirkung, welche die individuelle Kausalkategorie im Erkenntnisprozeß als ihr Wesen verstehen läßt, das logische Prius zu schaffen, aus welchem ebenso wie sie auch die "Einsinnigkeit" (11) der historischen Zeit abgeleitet werden kann. Die Wichtigkeit aber einer solchen Zurückschiebung des eigentlich Zeitlichen im älteren Sinn wird man leicht zugeben, wenn man bedenkt, daß das Bewußtsein überhaupt nicht nur ein erkenntnistheoretisches Ideal zur Begründung der Transzendentalität ist, sondern auch zugleich die ethisch bedingte Richtungsnorm für den muß abgeben können, der sich dazu entschließt, objektiv zu erkennen. Denn nimmermehr läßt sich eine solche Entschließung zur Wahrheit als ein hinsichtlich der transzendentalen Wirklichkeit objektiv zeitlicher Vorgang denken, wenn überhaupt nur im Verlauf der durch sie inaugurierten [angeleierten - wp] Konstitution das Objektive der Zeit selber erst angebahnt werden kann.

Mit jenen abschließenden methodologischen Klarstellungen hat RICKERT auch die metaphysische Frage nach dem Wesen, nach dem einheitlichen Sinn der objektiven Wirklichkeit endgültig abgeschnitten. Gegenüber einer Erkenntnisproduktion kann natürlich ein Stoff nicht mehr diskutiert werden, und jene Frage rührt entweder an die Gegebenheit und muß dann mit deren Deduktion beantwortet werden, oder an die inhaltlichen Gesichtspunkte, unter denen sich die objektive Wirklichkeit für irgendeine empirische Perspektive darstellen kann, und dann müssen die Erlebnisse in der Richtung einsetzen, in der sich der Einzelne hingezogen fühlt, und dem Erkenntnistheoretiker bleibt nur die Gewißheit, daß jener immer mehr gerade über die Mannigfaltigkeit des Inhaltes erstaunen wird, wenn er ehrlich bleibt.

Mehr fürchtet unser transzendentaler Idealismus eine andere Gefahr, nämlich eine Gefahr der Unklarheit und der Verkennung. Der Zustand der Erkenntnis ist für empirische Individuen immer ein Kunstprodukt, gleichsam etwas Ähnliches, denn im Leben selber haben sie immer Interessen, wollen und handeln und haben ihre Auffassungen, wie sie ihnen gerade behagen, sodaß die Objektivität schlechthin niemals bemerkt, sondern immer gleich selbständig gewertet wird, natürlich nicht "anders", sondern - weiter. Dieser Schwierigkeit gegenüber muß auf das Schärfste angemerkt werden, daß die objektive Wirklichkeit von jeder Auffassung empirischer Wesen frei zu denken ist, daß sie die Wirklichkeit ist, die bestände, auch wenn es derartige Subjekte in ihr nie gegeben hätte. Denn diese sind ja selber erst in ihr entstanden, also gleichfalls mögliche Gegenstände der Beurteilung, für die sich alle erkenntnistheoretischen Formen in jener feinsten Schwebe befinden, die ihnen lediglich gestattet, dieselben als von ihnen erteilte transzendental zu begreifen.

Die absolute Irrationalität des Wirklichkeitsinhaltes endlich glaubt auch RICKERT vom erkenntnistheoretischen Standpunkt einfach hinnehmen zu müssen, nur daß ihm diese gänzliche Unbestimmbarkeit noch den konsequenten Zweifel erregt, ob hier überhaupt geformt werden kann. Für die kategoriale Sicherheit seiner Urteile ist ihm ja in der Norm ein Gegenstand gegeben, ob der Inhalt sich aber die Wahrheit gefallen läßt, weiß er nicht. Deshalb muß er glauben. Er muß glauben, daß durch die treue, rückhaltlose Befolgung der logischen Pflicht jenes absolute Sollen auch die Macht erhält, sich an einem irrationalen Inhalt durchzusetzen, daß das vom Sollen inaugurierte Geschehen ein zweckvolles ist. Und an dieser Stelle des Wirklichkeitsproblems zieht unser transzendentaler Idealismus die Mauer zwischen seiner Erkenntnistheorie und der Religionsphilosophie, in aller Klarheit zugleich verkündend, daß er in der Irrationalität dieses Inhaltes ansich und der Irrationalität jener hinterobjektiven, aus praktisch-empirischen Weiterverwertungen bestehenden Wirklichkeit zwei generell verschiedene Arten und Bedeutungen des Irrationalen erblickt.
LITERATUR - Franz Ludwig Hörth, Zur Problematik der Wirklichkeit [Dissertation] Frankfurt a. M. 1906