ra-2O. KülpeJonas CohnM. DessoirA. DöringF. H. Jacobi    
 
GUSTAV von ALLESCH
(1892-1967)
Über künstlerischen Wert

"Es gibt einen aktuellen und einen potentiellen Wert von Kunstwerken."

Bei jeder Beschäftigung mit Kunst spielt mehr oder weniger der Begriff des künstlerischen Werts eine Rolle, nicht nur beim Käufer und Verkäufer von Kunstwerken, bei denen er unter dem Namen Qualität einen ständigen Diskussionsgegenstand bildet, sondern auch beim Betrachter und nicht zum geringsten beim Historiker, denn auch die historische Forschung kommt mit einer rein entwicklungsgeschichtlichen Einstellung nicht aus. Die historisch wichtigen Kunstwerke sind ja durchaus nicht immer oder nur solche, durch die die Entwicklung des Zeitgeschmacks entscheidend beeinflußt wird oder die ihr stärkster Ausdruck sind. Es gibt in gewissem Sinn meteorhafte Erscheinungen wie etwa MARÉES oder solche, die dem Strom ihrer Zeit entgegen ins Unbegrenzte gehen und keinerlei Wechselwirkung mit ihrer künstlerischen Umgebung mehr haben, wie der alte REMBRANDT. Also auch der Historiker muß für seine Betrachtung aus dem vorhandenen Material eine Auswahl nach einem anderen Gesichtspunkt treffen, als ihn der zeitliche Verlauf unmittelbar bietet; er tut das schon längst nach dem Prinzip des künstlerischen Wertes. Wir vergessen das gewöhnlich, weil wir einen schon gesichteten Bestand von Kunstwerken übernommen haben. Unzähliges, was in Kirchen und Privatbesitz verstreut neben den uns geläufig gewordenen bedeutenden Kunstwerken einherging, ist in den Zusammenhang historischer Vorstellung gar nicht aufgenommen worden, da es den Wertanforderungen einfach nicht entsprach.

Wie sehr nun auch der Begriff der künstlerischen Qualität eine unbewußte Wirkung ausübt, ebensosehr hat er sich bisher einer wissenschaftlichen Betrachtung vollkommen zu entziehen gewußt. Auch die Ästhetik, die offenbar die erste Verpflichtung gehabt hätte, sich mit diesem Problem auseinander zu setzen, hat es immer wieder umgangen. - Wir wollen nun versuchen, gewissermaßen erste Querschnitte durch das fragliche Gebiet zu legen und so die Hauptstrukturen festzustellen, die sich an dem Phänomen ergeben, das wir unter dem Namen künstlerischer Wert als Erlebnis kennen.

Wenn wir voraussetzen, daß sich das Kunstwerk nicht auf den physikalischen Gegenstand beschränkt, der als gemalte Leinwand an der Wand hängt oder als behauener Steinklotz irgendwo aufgestellt ist und wenn wir uns gegenwärtig halten, daß erst die Betrachtung, die Auffassung, mit einem Wort die psychische Verarbeitung des äußeren Gegenstandes das zustande bringt, was man im eigentlichen Sinne des Wortes das Kunstwerk nennt, so ist klar, daß auch zur Feststellung der künstlerischen Qualität das "objektiv" Konstatierbare nicht genügt, sondern daß dabei das ganze Werk in Frage kommt, d. h. also der aus den äußeren Gegebenheiten, ihren Auffassungen und deren Sinn sich ergebende Gesamtgegenstand, der ja auch mit dem anerkennenden oder verwerfenden Urteil gemeint ist.

Daß dabei zwischen den äußeren Gegebenheiten und der voll entwickelten Form eines Kunstwerks kein eindeutiger Zusammenhang besteht, populär gesprochen, daß man diese Gegebenheiten sehr verschieden auffassen kann, dafür liefert eine Arbeit von FRITZ WICHERT schöne Beispiele, wo untersucht wird, wie in barocken Zeichnungen und Kupferstichen Werke der antiken und Renaissance-Plastik abgebildet wurden. (1) Wenn auch ursprünglich die Haltung einer Figur auf frontale Betrachtung eingestellt war, versucht der barocke Stecher durch möglichst viele Windungen und Überschneidungen, die er mit Hilfe eines entsprechend gewählten Standpunktes erreicht, ihr dennoch etwas von barocker Drehung und Bewegtheit abzugewinnen und dort wo im abgebildeten Werk selbst schon solche Drehungen vorkommen, werden sie in entsprechender Weise zum Hauptthema des Ganzen gemacht und man sieht aufs allerdeutlichste, wie der barocke Betrachter vor allem diese Seite am Kunstwerk hervorhebt und auf diese Weise ein Gebilde schafft, in dem zwar auch dieselben äußeren Gegebenheiten als Faktoren mitwirken, die dem antiken oder Renaissance-Beschauer vor Augen standen, wo sie aber ganz anders in das Gesamtgebilde eingeordnet und von einer anderen Struktur erfaßt werden. Die Gestalten, die in einem oder im anderen Falle aus demselben Material entwickelt werden, weichen weit voneinander ab, "die gemeinsame Grundlage" ist kaum mehr darin zu erkennen. Es ist alos auch nicht zulässig, eine Wertdifferenzierung lediglich auf diese zu stützen.

Freilich gibt es unter den verschiedenen Formungen des Kunstwerkes eine besonders ausgezeichnete, die aus einer bestimmten Art der Betrachtung hervorgeht, die wir die adäquate nennen, (2) das ist die Anschauung, die dem Kunstwerk einem Wesen und Meinen nach am meisten gerecht wird, es in seinem Sinn richtig erfaßt und seinen Gehalt an künstlerischen Werten möglichst vollkommen zutage fördert. Aber auch sie läßt sich nicht unmittelbar und direkt vom physikalisch Gegebenen her bestimmen, sondern um sie aus den vielen möglichen Anschauungen zu sondern, bedarf es über einen probeweisen Ausbau des Werkes hinaus noch umfänglicher Operationen verschiedener Art, darunter besonders historischer Betrachtungen, so daß auch von dieser Seite her die Bewertung des Kunstwerks auf eine andere Basis gestellt werden muß, als sie im rein Äußerlichen gegeben ist.

Das Wesentlichste für den Aufbau des Kunstwerkes ist der intentionale Gehalt, den die physischen Daten durch die Betrachtung und die wechselweise Determination gewinnen.

Alle im Kunstwerk irgendwie unterscheidbaren Faktoren lassen, zumal wenn sie im Zusammenhang des Ganzen wirksam sind, eine Art von Meinen, eine Art von Gerichtetsein erkennen. Ein flacher Bogen kann z. B. das eine Mal als eine Kurve erscheinen, die von einem sehr gekrümmten Bogen herkommt und etwa durch innere Elastizität einen Drang erfahren hat, sich zu spannen und zu strecken, das andere Mal kann geometrisch dasselbe Ergebnis dadurch entstanden scheinen, daß eine ursprünglich gerade Linie in Ermattung, in Schwäche ihrer Festigkeit verliert und weich zusammenknickt. Je nach der einen oder der anderen Auffassung wird die Kurve dieses oder jenes bedeuten, in der Ökonomie des Bildes eine ganz verschiedene Rolle spielen, eine andere Intention haben. Auf diese Weise entsteht eine Gesamtgestalt des Werkes, in der jede einzelne Intention ihre Bedeutung für das Ganze hat und wiederum durch ihre Teilnahme am Ganzen eine Erweiterung, manchmal, ja zumeist auch eine Umformung ihres Sinnes erfährt.

Von diesem Gebilde müssen wir ausgehen, wenn wir zu einer Wertdifferenzierung kommen wollen und wir hätten schon dann unser Ziel erreicht, wenn wir imstande wären, Strukturverschiedenheiten dieser Gebilde festzustellen, die mit positivem und negativem Wert in fester Korrelation stehen. Noch vollkommener wäre natürlich unsere Aufgabe gelöst, wenn wir darüber hinaus noch eine Einsicht in die kausalen Beziehungen dieser Korrelationen gewinnen können. Doch ist dafür bei dem gegenwärtigen Stand der Ästhetik keinerlei Hoffnung vorhanden.

Nun lassen sich tatsächlich charakteristische Strukturen der positiv bewerteten Kunstwerke zeigen, deren Fehlen auch zugleich den negativen Wert begründet, wobei es wiederum für unseren Standpunt sehr wesentlich ist, daß es sich dabei zwar um eine feste Verknüpfung der Strukturen und der Werte, nicht aber der Strukturen und der physikalischen Gegebenheiten handelt, so daß bei verschiedener Struktur dasselbe äußere Material verschieden bewertet werden kann, was mit dem historischen Verlauf der Kunstbetrachtung ja auch deutlich übereinstimmt.

Das erste derartige Strukturmerkmal ist die  intentionale Einheit.  Sie besteht darin, daß sich die Intentionen eines Werkes, sowohl des ganzen wie aller einzelnen Faktoren, aus denen es sich aufbaut, gewissermaßen in einem Brennpunkt sammeln. Es sind dabei drei Typen zu unterscheiden, die sich mit den schon früher festgesetzten Typen der Merkmale eines Kunstwerkes decken. (3)

Der extreme Fall ist dort erreich, wo von vornherein alle Faktoren diese Richtung schon unabhängig von ihrem Zusammenhang, soweit sich diese Unabhängigkeit überhaupt denken läßt, in sich tragen. Der APOLL vom Ostgiebel in Olympia ist in jedem Betracht heroisch, edel, straff, in Klarheit strahlend. Die Stellung der Figur vor der Rückwand, die Wendung des Kopfes mit ihrer Energie und Entschlossenheit im Nacken, die Bestimmtheit und stählerne Kraft, die unglaubliche Eindeutigkeit des erhobenen Armes, die gerade Gespanntheit der anderen Glieder, aber auch die Form des Augenlides, der Lippen, der Locken, der Schwung jeder Flächer, die diesen Körper umschließt wie ein Panzer, der Scheitelpunkt des Giebels, der ihn überdacht, die Wirkung auf die Umgebung, die von der Erscheinung des Gottes ausstrahlt, alles und jedes will dasselbe, ist auf die gleiche Idee des Göttlichen, Erhabenen, Übermächtigen gerichtet.

Oder denken wir an irgendeines von den zehnfach geläuterten Bildern CEZANNEs, wo die Welt der Farbe, die Welt der Fläche, die Welt des Raumes von verschiedenen Seiten her mit magischer Gewalt auf dieselbe Notwendigkeit und innere Bedingtheit zuströmen, wo in jedem dieser Lebensgebiete des Werkes für sich allein schon der Eindruck des zwanghaften Ineinandergreifens sich entfaltet, das dann im ganzen zu unerhörter Macht gesteigert wird.

Die beiden anderen Typen intentionaler Einheit sind anders aufgebaut. Die Richtung auf das wahre Wesen, auf den eigentlichen Sinn wird erst im Zusammenschluß aller Faktoren des Werkes gewonnen, deren einzelne entweder insgesamt oder doch zum Teil noch nichts von diesem Sinn enthalten, wenn man sie für sich allein wirken läßt. Erst im Zusammenschluß und in der gegenseitigen Umformung, deren Bedeutung und Ausdehnung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, ergibt sich die Gestalt des Kunstwerks. Hierher gehören natürlich auch alles olchen Werke, deren Sinn ein Widerspruch, ein innerer Kampf, ein Spiel zwischen Gegensätzen, mit einem Wort ein so komplizierter Gehalt ist, daß er erst aus dem Zusammenwirken entgegengesetzt gerichteter Faktoren erwachsen kann.

Beispiele für diesen Typus liefern uns vor allem die manieristischen Epochen, in denen ein großes von vorausgegangenen Generationen erarbeitetes Können sein ursprüngliches Ziel verloren hat und nach neuem Anreiz gesucht wird, ohne das doch elementar Neues aus unmittelbarem, jungen Weiterleben hervorbräche, das dann ja auch freilich für die alten Formen keine Verwendung mehr hätte.

So konnte das berühmte Programm entstehen, "die Zeichnung Michelangelos und Tizians Kolorit zu vereinigen". Ganz abgesehen davon daß TIZIANs Kolorit im Rahmen von MICHELANGELOs Zeichnung, so treu man der Art des Meisters auch folgen mag, niemals Tizianisch bleiben kann, sondern unter der Hand zu etwas anderem wird und daß auch MICHELANGELOs Formen, in TIZIANs Farben gehüllt, nicht mehr das sind, was sie ursprünglich waren, haben auch die Künstler, die sich dieses Programm zu eigen machten, von vornherein mit jenen Ausgangswerten nur jongliert. Sie haben im Widerspiel von Glanz und Wucht, von Kraft und Leichtigkeit, von Ergriffenheit und sinnlicher Lust den höchsten Sinn der Welt erblickt. Schon bei TINTORETTO wird der auferstehende CHRISTUS zu einem gewaltigen Tanzmeister in schimmernden Farben, bei BAROCCIO ist der ganze Himmel ein Karneval und erst TIEPOLO hat wieder eine Polarisation dieses wilden Gewoges zu strengerer Geschlossenheit in einer neuen Sphäre gefunden. Aber so heterogen die stilistischen Faktoren während dieser ganzen Entwicklung auch sein mochten, haben die Meister jener Zeit doch immer die Kraft gehabt, sie zu einem einheitlichen Ziel zusammenzufassen, aus ihnen etwas zu bilden, in dem der ganze Gehalt des Werkes zu einem in sich einigen Wesen verschmilzt. Eine ganz andere Frage ist, wieweit spätere Betrachter, besonders an der klassischen Kunst Geschulte, imstande sind, diesen Verschmelzungsprozeß neu zu vollziehen und selbst wenn ihnen das gelingt, das Ergebnis mit den gleichen Grad seelischer Beteiligung zu ergreifen, der sein Entstehen begleitete. Etwas von Hautgout [hoher Geschmack - wp] wird vielleicht immer daran haften, aber freilich hat ja auch er seine begeisterten Anhänger.

Anders sehen solche Werke aus, bei denen eine Vereinheitlichung nicht möglich ist, ein Zusammenschmelzen der Intentionen nicht zustande kommt. Auf der einen Seite wird eine Meinung, ein Hindeuten, ein Wollen angebahnt, das auf der anderen Seite nicht aufgenommen wird. Besonders deutlich ist diese Diskontinuität in literarischen Werken nachzuweisen, wo oft einzelne Figuren aus einer ganz anderen Lebenszone herausgestiegen oder herausgeglitten zu sein scheinen, so daß der Betrachter immer wieder den Boden unter den Füßen verliert und von neuem Stellung gegenüber dem Werk zu gewinnen sucht, um im kurzen einzusehen, daß er sich auch da nicht halten kann. Realistisches und Symbolistisches, makroskopisch und mikroskopisch Gesehenes flattert durcheinander und ein Zusammenschluß ist unmöglich.

Auch in der bildenden Kunst gibt es solche Werke, aber es ist, was die vergangenen Epochen betrifft, schwer, sich ihrer als Beispiel zu bedienen, da sie begreiflicherweise aus der Überlieferung ausgeschieden wurden. Allein wenn wir uns fragen, was denn einen Künstler wie GHIRLANDAIO zu einem Mann zweiten Ranges macht, so finden wir neben und vor allem anderen, daß er die beiden Hauptkräfte seines Stils, das Streben nach naturalistischer Wirklichkeit, wie es sich besonders im Detail durchsetzt und den Ausbau der klassischen Gestaltungsprinzipien der Renaissance, den auch er um einen deutlichen Schritt vorwärts bringt, nicht zusammenschweißen konnte. Der eine Gestaltungsprozeß wird immer wieder vom anderen unterbrochen, die Richtungen sind windschief zueinander, es stehen sich zwei Gesinnungen gegenüber.

Die Entscheidung, ob es sich um die Intention eines Widerspruches als letztem Inhalt des Werkes oder um einen Widerspruch der Intentionen, als um das Fehlen der Einheit handelt, wird manchmal nicht leicht zu treffen sein, doch bietet sich auch da ein Mittel. Wo in einem Werk Einzelintentionen festzustellen sind, die mit der Gesamtintentioin nicht übereinstimmen, aber auch im Zusammenhang des Werkes, so wie es eben vom Betrachter erlebt wird, keine Umbildung erleiden, sondern so bleiben, wie sie bei isoliertem Erleben ihres begrenzten Bezirkes sein würden, dort fehlt die Einheitlichkeit. Der Naturalismus GHIRLANDAIOs im Kleinleben erfährt durch den Zusammenhang mit den Renaissance-Absichten des Ganzen keine Umformung, er wird nicht zu einem besonderen Zug antikisierender Betrachtung, sondern bleibt, was er auch rein auf sich selbst gestellt und ohne klassischen Rahmen sein würde.

Das zweite Strukturmerkmal, das den Charakter der künstlerischen Qualität bestimmt, ist das der  intentionalen Dichte.  Die objektiv gegebenen Daten, also die Farbe, die Linie, die Raumform, in der Literatur das Wort mit seiner Bedeutung haben, wie wir sahen, im Zusammenhang des Kunstwerkes gegenüber der isolierten Darbietung einen erweiterten und veränderten Gehalt. Es wird etwas durch sie und mit ihnen gemeint, der Erlebende bekommt eine bestimmte Richtung, deren Endziel das alles zusammenfassende Wesen, der konzentrierte Sinn des Werkes ist. Dieser Sinn kann nun in verschieden engem Zusammenhang mit dem Primären und Objektiven stehen, er kann unmittelbar darin gegeben, er kann durch irgendwelche Zwischenglieder vermittelt sein, er kann endlich gar keine Verbindungen mehr mit einzelnen der physikalischen Gegebenheiten haben. Und umgekehrt kann eine Geste, wie sie im natürlichen Verkehr der Menschen untereinander vorkommt oder indem sie ihm gewissermaßen parallel gerichtet ist; sie kann ihn auch nuancieren, sie kann ihn sogar in eine ganz andere Zone der Lebendigkeit, des Lebenszusammenhangs, der menschlichen Perspektive bringen; sie kann den ganzen Inhalt gewissermaßen zusammenraffen und in gedrängtester Form in sich zu unmittelbaren Anschauung bringen. Diese Unmittelbarkeit ist es, die wir beim Begriff Dichte vor allem im Auge haben. Es ist gewissermaßen kein Zwischenraum zwischen dem real Gegebenen und dem Gemeinten. Es bestehen keine metaphorischen Rückstände, Substrat und Sinn gehen ohne Rest ineinander auf.

Das es auch anders sein kann, sehen wir zum Beispiel an BÖCKLIN: Die Naturlaute, das Schluchzen, das dumpfe Gurgeln der Brandung sollen wir mit möglichster Eindringlichkeit erleben. Es ist einem, als ob da etwas Lebendiges stöhnte. Der Künstler glaubt den Eindruck zu verdichten, indem er eine blasse Frau in violettem Gewand mit einer goldenen Harfe zwischen die Felsen stellt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Freilich ist in der Frau etwas Schmerzliches und auch etwas von Leben. Aber die Figur ist außerdem noch so außerordentlich reich an Bestimmtheiten, die alle mit dem Wesen der Brandung gänzlich unvergleichlich sind, daß, grob gesprochen, in der Richtung des Bildsinnes nur ein ganz geringer Teil von ihr zur Wirkung kommen kann. Alles übrige wird als toter Ballast mitgeschleppt. Ganz anders ist es, wenn in CLAUDELs  Mittagswende  heißt: "Ist das Meer (das rote Meer) nicht wie ein geschlachtetes Rind?" Dieses Bild ist auf ein einziges Merkmal konzentriert, das Rind ist nicht ausgeschmückt, wir erfahren nichts von seiner Farbe und seinem Verhalten; nur ein dumpfes warmes Geschlachtetsein wird uns gegeben und das geht zur Gänze in die Vorstellung des heißen unbeweglichen Meeres ein.

Diese Dichte der intentionalen Gestaltung ist nichts anderes als das Erfüllungsverhältnis der adäquaten Anschauung, über das an anderer Stelle ausführlich gesprochen ist, (4) aber von der anderen Seite her betrachtet. Das Erfüllungsverhältnis verlangt, daß alle in dem gegebenen künstlichen Substrat vom Betrachter anerkannten Intentionen nur soweit zum Wirkungsbestand des Kunstwerkes gehören, als sie in den gegebenen Daten ihre Erfüllung finden, d. h. also eine Intention, die wir in irgendeiner Farbe oder irgendeiner Form, einer Geste oder einer Wortfolge als gemeint erfassen, gilt nur soweit und insofern, als ihr ein bestimmtes Quale des Substrats entspricht. Was darüber hinaus, wenn auch im Sinne dieser Intention mitgedacht wird, gehört nicht mehr zum adäquaten Bestand der Kunstwerks und ist für die ästhetische Wirkung auszuschalten. Ist aber in einem Werk die Dichte der intentionalen Gestaltung im extremen Maß erreicht, wie etwa bei GIOTTO, so sist weder von der Seite des Sinnes her ein unerfüllter Rest, noch von Seite der gegebenen Daten her ein Leerlaufen zu finden.

Das dritte Strukturmerkmal ist das der  intentionale Weite.  Wir wissen mit vollster Sicherheit, daß gewisse Bilder des XIX. Jahrhunderts, wie sie etwa GRÄTZNER u. a. gemacht haben, durchaus schlecht sind, aber man kann bei ihnen trotzdem nicht sagen, daß die intentionale Einheit nicht vorhanden wäre oder daß sie der Dichte ermangelten, im Gegenteil, sie gehören zum Konsequentesten, was diese Zeit hervorgebracht hat. Aber das Fürchterliche ist eine bestimmte Stellung der Welt gegenüber, diese alberne, beengte, nur an sich und den nächsten Augenblick denkende Gemütlichkeit und wenn wir im Gegensatz dazu an die Werke denken, die uns am meisten erschüttern, so finden wir, daß da überall eine ganz andere Gesinnung hervortritt. Was uns bei van GOGH oder bei REMBRANDT oder bei MICHELANGELO so sehr ergreift, das ist die Tatsache, daß wir in der Menschlichkeit, in die wir durch das Verstehen des Bildes hineingezogen werden, die ganze Welt erleben. Wir erweitern uns zum Allgemeinsten, wir kommen in Zusammenhang mit dem Schwersten und Höchsten, was überhaupt denkbar ist. Wo es an dieser Gesinnung fehlt, dort bleiben wir unzufrieden. In eine präzisere Sprache ausgedrückt heißt das: Der vom Kunstwerk mit allen seinen Kräften intendierte Gehalt hat seinerseits wieder eine weitere Bedeutung; es ist in ihm ein geistiger Zustand gegeben, bzw. der intendierte Gehalt ist als Gehalt innerhalb eines geistigen Zustandes gegeben, von dem aus der Weg zu den großen Problemen der Welt offen steht, der oft schon die Richtung auf diese Probleme gibt, ja die Art der Lösung in verschiedenem Grad der Deutlichkeit in sich birgt. Die Gestaltung des Kunstwerkes hat also eine solche Weite, daß diese Möglichkeiten gewissermaßen als Hintergrund des konkreten intentionalen Gebildes, als die ihm zugeordnete "schwache Gestalt" in KÖHLERs Sinn, in den Kreis des Werkes miteinbezogen sind.

Der tatsächliche Inhalt der einzelnen Komplexe kommt dabei nicht in Frage. Es ist durchaus nicht nötig, zwischen den verschiedenen Weltanschauungen zu wählen und dann eine gelten zu lassen und andere zu verwerfen. Die Geschichte der Kunst zeigt uns, daß sowohl im Rahmen der Weltlichkeit wie im Rahmen des mystischen Enthusiasmus, sowohl im Gebiet des bloßen Schauens, wie im Gebiet der menschlichen Tragik, große Werke zustande kommen können. Nicht um die Wahl einer dieser vielen Gattungen handelt es sich, sondern darum, daß in der Intention des Bildes die Kraft enthalten ist, die Welt im ganzen von ihrer Seite her zu durchdringen und sie zu einem einheitlichen Bild einzuschmelzen.

Außer diesen drei Merkmalen, die sich auf die Struktur der intentionalen Gestalt beziehen, kommt aber noch ein weiterer Gesichtspunkt für unser Problem in Frage. Das sogenannte gute Kunstwerk hat etwas, das wir  Intensität  nennen können, es hat eine Eindringlichkeit, eine Kraft, durch die es den Beschauer mitreißt. Sie kann laut und leise sein, sie ist ebenso vehement im Donnern MICHELANGELOs wie im stummen Bohren HOLBEINs. Aber sie liegt nicht nur in der äußeren Konsequenz eines Werkes, im Sinn der oben besprochenen Struktureigenschaften. Freilich dadurch, daß ein Werk bis zu seinem letzten Rest von einem bestimmten Durchgärungsprozeß erfaßt ist, daß etwa in einem MANELschen Bild alles, was an Sichtbarem darin ist, in reine Farbe verwandelt wird, daß es da nur Schauen und Schauen gibt, keine Reste irgendwelcher Art, keine Widersprüche bleiben, werden wir von der Dynamik dieses Sehaktes überwältigt und spüren unmittelbar die Intensität der Anschauung, aus deren Glut das Werk hervorgegangen ist.

Allein außer dieser innerlich bedingten Eindringlichkeit gibt es auch noch äußere Anlässe, die unser Erlebnis in seiner Stärke wesentlich beeinflußen.

Wir erleben sehr häufig, daß die Werke eines Nachahmers, eines, der die großen Errungenschaften seines Meisters ererbt und mit ihnen nun in dessen Sinn neue Bilder sozusagen zusammenstellt, den Werken des Meisters sehr nahe kommen, so daß sie oft durch lange Zeit für solche des Meisters gelten und daß trotzdem, wenn der Tatbestand einmal aufgeklärt ist, ihre Wirkung plötzlich eine ungeheure Einbuße erleidet. Woher kommt dieses sonderbare Phänomen? Wenn nichts als das Realgegebene des Bildes oder die im Bild faßbare intentionale Gestalt ausschlaggebend wären, so würde sich nicht begreifen lassen, daß nun die Wirkung so außerordentlich viel geringer ist. Der extreme Fall liegt ja bekanntlich in der Kopie vor, wo wir auch dann, wenn sie sehr gut ist, nicht im entferntesten so stark berührt werden, wie es vom Original aus geschieht. Wir sehen, es kommt nicht nur auf das Kunstwerk als solches an, sondern auch darauf, daß wir in der richtigen inneren Verfassung sind, es zu erleben, darauf, daß es in uns gewissermaßen aufblüht und das geschieht nur dann, wenn wir den nötigen Impuls für die Betrachtung aufbringen, wenn wir ihm die Ausgestaltung, die es seinem Bestand nach ermöglicht, auch als eine ihm zugehörige zumuten können. Das setzt eine gewisse Frische des Entstehens voraus und daher kommt in sehr vielen Fällen das Streben nach Originalität. Sie ist nur selten und nur in schon verschobenen Fällen, Selbstzweck, ihr tiefer Sinn ist vielmehr der, daß durch das Neue, Unvermutete des Aspekts, dieser Aspekt eine Leibhaftigkeit, eine Eindringlichkeit, dadurch auch einen Reichtum gewinnt, den er als gewohntes, durch den Gebrauch eingeebnetes Phänomen gar nicht mehr haben kann. Auch bei der Beurteilung traditioneller Kunst, etwa bei der indischen, spielt dieses Moment eine große Rolle. Traditionelle Kunst steigt nur dann über das Niveau des Handwerklichen empor, wenn wir durch irgendeine besondere Wendung und sei sie noch so klein, den Eindruck gewinnen, daß der Künstler auch das an seinem Werk, was er gewissermaßen nur wiederholt, doch als lebendig und in seiner Bedeutung deutlich empfunden hat, so daß sogar zu einer besonderen Nuance die Kraft vorhanden war.

Mit diesen drei Strukturmerkmalen und der allgemeinen Bedingung der Intensität scheinen uns zumindest die Hauptkriterien für den künstlerischen Wert gegeben zu sein. Es soll aber noch einmal daran erinnert werden, daß bei ihrer Prüfung jeweils eine bestimmte intentionale Ausgestaltung zugrunde gelegt werden muß, denn nur in bezug auf ein in dieser Weise individualisiertes Kunstwerk und die ihm zugeordnete individuelle Reaktion können die hier gefundenen Regeln ausgesprochen werden. Solange MARÉES vom impressionistischen Sehen her mißdeutet wurde, war die Gestaltung seiner Werke zerrissen und sinnlos, das, was solche Betrachter vor sich zu sehen glaubten, war in der Tat schlecht. Erst mit der adäquaten Formung der Werke trat auch ihre große Bedeutung ans Licht.

Freilich darf das nicht in dem Sinne mißverstanden werden, daß im Grunde überhaupt kein Wandel des Gefallens stattfindet, sondern nur die Aspekte der Kunstwerke dem Wechsel unterworfen seien, für sich genommen aber immer die gleiche Wirkung ausüben müßten. Das wäre falsch. Es gibt einen aktuellen und einen potentiellen Wert von Kunstwerken. Nur über den letzteren haben wir hier gesprochen. Eine Untersuchung des ersteren würden wir auf ganz anderem Gelände führen müssen.
LITERATUR Gustav von Allesch, Über künstlerischen Wert, Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften, Bd. 4, Berlin 1923
    Anmerkungen
    1) FRITZ WICHERT, "Darstellung und Wirklichkeit", Freiburg 1907
    2) Siehe "Über das Verhältnis der Ästhetik zur Psychologie", Zeitschrift für Psychologie, Bd. 24, Seite 523f
    3) "Psychologische Bemerkungen zu zwei Werken der neueren Kunstgeschichte", Zeitschrift für Philosophie und ihre Grenzgebiete 2, Seite 368f
    4) "Über das Verhältnis der Ästhetik zur Psychologie", Zeitschrift für Psychologie 54, Seite 516f