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GUSTAV TEICHMÜLLER
Die wirkliche
und die scheinbare Welt

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"Cartesius fing glänzend damit an, alles für zweifelhaft zu erklären und von vorn zu untersuchen, als wenn noch nichts feststände. Allein kaum hatte er das Problem gestellt, so folgerte er schon wieder, daß ich, der Zweifelnde,  bin, als wenn er schon wüßte, was das  Sein wäre und es so ohne weiteres prädizieren könnte."

"Kant, der jetzt angestaunte Meister der Positivisten, ist auch unbefangen an der Frage vorbeigegangen. Er weiß vom Sein der Dinge  ansich und  für uns zu sprechen, verbietet über jenes zu philosophieren, zeigt wie dieses durch die Anwendung der Kategorien auf die Anschauungen erkannt wird und vergißt sich darüber zu verwundern, daß er über diese Arten des Seins verfügen zu können glaubt, ohne das Sein selbst zu verstehen und ohne die Notwendigkeit einer solchen Erkenntnis zu bemerken."

"Die Vorstellung des  Geltens, die  Lotze in herbartischer Weise neben dem Sein noch stehen ließ, konnte von ihm metaphysisch nicht erklärt werden, sondern blieb ihm eine bloße Tatsache."

"Wenn wir den Begriff des Seins bestimmen wollen, so liegt uns am Nächsten immer die  Sprache, und Viele glauben, dann schon mit ihrer Aufgabe fertig zu sein, wenn sie die Bedeutungen, welche mit den zugehörigen Wörtern verknüpft werden, sich vor Augen gestellt haben."

"Die einfältigste Annahme besteht darin, daß die Vernunft von Haus aus leer und inhaltslos sein soll und daß keine Idee uns unbewußt beim Denken leitet, sondern daß erst die Ablesung des Gemeinsamen in den Reihen von anschaulichen einzelnen Bildern uns den  Begriff  und die  Idee  und die  Vernunft  erschafft, so daß wir selber durch unsere Sinneswahrnehmungen und Denkoperationen die Schöpfer der Vernunft wären. Dies ist die Annahme der  Sensualisten und  Positivisten, welche nach  Ciceros Ausdruck die Plebejer unter den Philosophen sind. Sie meinen, man brauche doch nur hinzublicken auf die Vielheit der gegebenen Beispiele, um das Allgemeine als den Begriff davon 'abzuheben.


Erstes Kapitel
E i n l e i t u n g

§ 1. Der Begriff des Seins
bisher vernachlässigt.

Jede einzelne Wissenschaft setzt ein  Seiendes  voraus, das sie als ihr Objekt zu erforschen sucht: keine aber erörtert die Frage, weshalb doch ihrem vorausgesetzten Gegenstand das  Sein  zukommt und was unter diesem Sein verstanden werden soll. Mithin bleibt für die Metaphysik, als Wissenschaft von den Prinzipien, die Aufgabe, über den Begriff des Seins und die Methode, wie wir denselben gewinnen, Rechenschaft zu geben.

Diese Aufgabe ist zugleich die  erste  der Metaphysik; denn alles, was sie noch zu lehren hat, gilt nur als etwas am Sein, z. B. Quantität, Qualität, Zweck usw., und es würde jeder Gegenstand der Lehre verschwinden, wenn das Sein demselben nicht Halt und Anknüpfung gewähren würde. Auch die Erkenntnislehre kann sich ohne den Begriff des Seins nicht vollziehen, da die Erkenntnis selbst schon etwas  ist  und Seiendes zum Gegenstand hat. Wer nichts, d. h. nichts Seiendes, erkennt, der besitzt keine Erkenntnis, und wenn Erkennen nicht etwas  wäre,  d. h. wenn es dergleichen nicht gäbe, so fiele jede Erkenntnislehre fort. Also ist das Sein der Anfang aller metaphysischen Besinnung.

Nun sollte man meinen, der Begriff des Seins wäre der am Besten untersuchte in der ganzen Metaphysik, weil er doch an Wichtigkeit alle anderen Fragen übertrifft; allein weit gefehlt! denn das, was von allen vorausgesetzt werden muß, gilt auch stillschweigend schon als ausgemacht und man bekümmert sich nicht weiter darum. Mir will daher scheinen, als wäre das Sein die am Meisten vernachlässigte Frage in der Metaphysik, und dies ist der Grund, weshalb eine Untersuchung desselben zu einer neuen Philosophie führen kann. Um diese allgemeine Nachlässigkeit bei der Grundlegung der Metaphysik zu veranschaulichen, will ich die bemerkenswerten Beispiele aus der Geschichte der Philosophie anführen.

Der erste Metaphysiker war, wie ich in meinen Studien zur Geschichte der Begriffe zeigte, XENOPHANES. Dieser verwunderte sich über die Vergänglichkeit der Dinge und erklärte sie deshalb für Schein, während Sein nur dem Ewigen, das nicht entsteht und nicht vergeht, zukommt. Er untersuchte aber gar nicht, weshalb er doch vom Ewigen das Sein prädizierte. Um dies zu dürfen, mußte er doch vorher schon wissen, was das Sein ist und wie man wissen muß, was eine Ellipse ist, wenn man die Erdbahn elliptisch nennt. Es konnte sich ihm also nur um eine Namengebung handeln, wenn er den Begriff des Ewigen mit dem Namen Sein bezeichnete; allein dann hätte er ja nicht zwei Namen für dieselbe Sache nötig gehabt. Der Fehler des XENOPHANES bestand in der Nachlässigkeit, nicht zu fragen, wie wir überhaupt auf den Namen und Begriff des Seins kommen. Deshalb stellte er seltsam dem Sein den Schein gegenüber, ohne zu bemerken, daß der Schein doch auch etwas ist.  Wäre  der Schein nicht, so dürfte und könnte man davon gar nicht sprechen. Also treten nun das Sein und der Schein bloß als zwei Arten des Seins hervor; d. h. es gibt Seiendes und Scheinendes, und mithin ist das Sein selbst, welches beidem zukommt, nicht untersucht.

Die meisten andern der älteren griechischen Philosophen waren noch viel nachlässiger als der Vater der eleatischen Schule. Sie begnügten sich damit, das Feuer, die Luft oder die Atome und dgl. als das Seiende zu bezeichnen, ohne im Entferntesten zu spüren, wie seltsam es ist, etwas zu definieren, und doch das als Subjekt oder Prädikat der Definition eingeführte Sein selbst nicht vorher als Problem zu untersuchen.

Klüger als alle anderen Griechen erkannte PLATO, daß nicht bloß das Konstante und Ewige, welches sich uns in den Ideen darstellt,  sein  kann, sondern daß auch dem Schein und mithin dem Nichtseienden ein Sein zukommen muß. Er definierte daher das Seiende als das aus Idee und Unbegrenztem Gemischte, welches tun und leiden kann. Durch das Moment der Unbegrenztheit kommt dem Seienden Veränderlichkeit, Entstehen und Vergehen, unbestimmte Vielheit und Einzelheit zu, kurz alles, was aus dem Nichtsein stammt; durch das Moment des Idealen aber Zahl und Form und Qualität und Ewigkeit und Einheit und Allgemeinheit, kurz alles, was aus dem sogenannten wahrhaften Sein stammt. Aber PLATO untersuchte doch auch nicht, woher wir überhaupt auf den Begriff des Seins kommen, sondern nahm unbefangen, wie die übrigen Griechen, den Begriff als im Bewußtsein gegeben an und verwendete ihn stillschweigend, so geschickt sich dies ohne jene spekulative Analyse machen ließ.

Viel gröber und populärer war das Verfahren des ARISTOTELES, der sich darüber klar wurde, daß die Begriffe aus dem gegebenen Bewußtsein abgehoben werden müssen und der deshalb ausdrücklich die Sprache zugrunde legte. Seine Erklärungen fußen alle auf dem Sprachgebrauch. "Wir nennen" (legomen), "man nennt" (legetai): das sind die letzten Quellen seiner Begriffsbestimmung des Seienden. Darum wurden der einzelne Mensch in Haut und Knochen, der Ochse und das Pferd die Typen für das, was er unter  Substanz  und  Sein  verstand. Selbst der liebe Gott mußte sich nach diesem Vorbild formen lassen und wurde zu einem Einzelwesen neben den anderen Wesen.

CARTESIUS fing glänzend damit an, alles für zweifelhaft zu erklären und von vorn zu untersuchen, als wenn noch nichts feststände. Allein kaum hatte er das Problem gestellt, so folgerte er schon wieder, daß ich, der Zweifelnde,  bin,  als wenn er schon wüßte, was das  Sein  wäre und es so ohne Weiteres prädizieren könnte.

Auf diesen Fehler haben ihn schon seine gelehrten Zeitgenossen aufmerksam gemacht; denn wir sehen, daß er auf solche Vorwürfe repliziert (Recherche de la vérité par la lumiére naturelle, Seite 458, Oeuvres ed. Prevost). Was antwortet DESCARTES? "Ich glaube", sagt er, "daß niemals jemand so dumm gewesen ist, um erst lernen zu müssen, was Existenz ist, bevor er schließen und behaupten konnte, daß er existiert." Und  Eudoxe  fordert in diesem Dialog den ungebildeten Bauer  Poliandre  auf zu erklären, ob er etwa jemals nicht gewußt habe, was Zweifel, Existenz und Gedanke sei (ebd. Seite 459). Man sieht hieraus auf das Klarste, daß sich DESCARTES niemals Rechenschaft über diese Begriffe gegeben hat, daß er sie vielmehr ganz so gebraucht, wie sie jeder in seinem Bewußtsein vorfindet. Daß nun ein solcher kritikloser Gebrauch der wichtigsten Grundbegriffe schlimmere Folgen nach sich ziehen mußte, als wenn man etwa bloß unsere ordinären Vorstellungen vom Licht und von den Farben, die auch jeder kennt, für die Naturwissenschaft blind voraussetzen wollte: das zeigt sich in der Art, wie DESCARTES die Welt nach seinem Zweifel wieder aufbaut: denn er nimmt z. B. den mathematischen Raum als außer uns existierend an, glaubt an die materiellen Körper als an wirkliche Substanzen und dgl. Kurz: DESCARTES hatte keinen Begriff vom Sein. Ebenso tappte sein Schüler SPINOZA in dieser Frage ganz wie im Dunklen. Nur mit Erstaunen kann man bemerken, wie er die von den Alten ererbte Definition von der Substanz als vorauszusetzendes Datum unbesehen annimmt, ohne sich der ignoratio elenchi [Mißachtung der Widerlegung - wp] bewußt zu werden, welcher er dabei unterliegt: denn "das was in sich  ist"  fordert doch schon eine vorhergehende Definition und Einteilung des Seins, da das "In-sich-sein" schon als Art dem "Sein in einem Anderen" ggenübertritt. SPINOZA ist deshalb kaum ein großer Philosoph zu nennen, da er wie die Scholastiker mit fertigen Dogmen anfängt, nur daß er diese ausschließlich von einem antiken Markt und nicht nebenbei auch noch aus der Offenbarung bezieht.

Mit Bewunderung wird man dagegen die feinen und immer originellen Gedanken eines LEIBNIZ verfolgen; doch leider ging dieser von DEMOKRIT aus und bildete sich daher seine Monaden durch die Teilund der objektiv gegebenen Körper, wodurch er die Quelle des Begriffs des Seins verfehlen mußte. Er ist zwar am tiefsten von allen früheren Philosophen vorgedrungen, doch war sein Nachdenken zu sehr von den Interessen seiner Zeit geleitet, die uns heute kühl lassen. So finden wir dann auch bei ihm leider keine Untersuchung darüber, wie wir eigentlich auf den Begriff des Seins kommen; er weiß alles Mögliche über die verschiedenen Arten des Seienden und die Art ihres Zusammenseins zu sagen, ohne doch die Methode anzugeben, nach der wir uns auf das Sein selbst besinnen können.

KANT aber, der jetzt angestaunte Meister der Positivisten, wird uns doch wohl den erwünschten Bescheid erteilen. Ach! leider ist auch dieser unbefangen an der Frage vorbeigegangen. Er weiß vom Sein der Dinge "ansich" und "für uns" zu sprechen, verbietet über jenes zu philosophieren, zeigt wie dieses durch die Anwendung der Kategorien auf die Anschauungen erkannt wird und vergißt sich darüber zu verwundern, daß er über diese Arten des Seins verfügen zu können glaubt, ohne das Sein selbst zu verstehen und ohne die Notwendigkeit einer solchen Erkenntnis zu bemerken, wie wenn einer Metallgeld und Papiergeld verwenden könnte, ohne zu wissen, was Geld und was der Zweck und Sinn dieses Tauschmittels ist.

Gern würde ich nun ein Enkomium [Lobrede - wp] auf FICHTE schreiben, der das Ich zum Mittelpunkt der Philosophie machte: allein dieser tapfere Mann war leider zu ungelehrt und nahm seine Gedankenwege daher zu unfrei aus den wenigen Anregungen, die er besonders von KANT und SPINOZA empfangen hatte. Als energischer Charakter hatte er einen besonderen Geschmack an der Kommandodoktrin der kantischen praktischen Vernunft gefunden. Statt dieses ohne jede psychologische Analyse aus dem populären Bewußtsein aufgegriffene Befehlen zu kritisieren, glaubte er darin den Weg zum "Sein ansich" richtig erraten zu haben und ließ nun das arme Ich sich durch allerlei Handlungen zum Sein aufraffen. Das Setzen und Sich-setzen, das Handeln und Tathandeln wurde nun der Ursprung des Seins. Daß es komisch ist, das Sein entstehen zu lassen durch eine Ursache, welcher das Sein noch nicht zukommt und die also überhaupt nicht ist, das kam dem streng gebietenden Mann nicht in den Sinn; denn es schien ihm alles "tot" zu sein, wenn nicht gehandelt und kommandiert wird. Allein er unterlag dem Fluch, der aller Willür vom Schicksal bestimmt ist, er mußte schließlich das kurzsichtig Übergangene, das dem Befehl Nichtgehorchende und vor der Handlung Vorhandene noch nachträglich aufnehmen und, sei es wie es sei, irgendwie als seiend anerkennen. So erwarb er sich dann noch ein "totes" und ein "halbtotes" Sein und adoptierte diese Wechselbälge zur Vermehrung seiner metaphysischen Familie.

Von SCHELLING und SCHOPENHAUER braucht wohl nicht die Rede zu sein, wenn man die selbständigen und strengeren Philosophen durchnimmt. HERBART aber verdient große Beachtung, weil er viele neue und fruchtbare Gedanken in die wissenschaftliche Forschung eingeführt hat. Leider hat er die Ontologie vom unrechten Ende aufgefaßt und, statt mit der Psychologie zu beginnen, besser zu tun geglaubt, wenn er erst wie ARISTOTELES den Sprachgebrauch zum Richter über das nähme, was wir für seiend halten. Da kam er nun nach FICHTEs Vorbild auf allerhand Setzungen und glaubte nach dem Sprachgebraucht eine richtige Beschreibung davon geben zu können, wann wir etwas absolut setzen, d. h. es für seiend erklären. Nach rascher Feststellung des Sprachgebrauchs, dem er sich blind unterwirf, verfügt er dann glücklich über das Prädikat des Seins und teile es hier aus und versagt es dort, je nach dem sich ihm die Objekte als tauglich darstellen, um als real gelten zu können. Der ganz falsch analysierte Sprachgebrauch trug ihm aber schlimme Früchte, saure ungenießbare Holzäpfel, weil ihnen der schlechte Boden der Ableitung und der Mangel an Licht und Wärme keine Veredelung zuteil werden lassen konnte. Seine Realen wurden nichts Besseres als metaphysische Billardkugeln, steinhart und unempfindlich und ohne alle innere Anlage zu einer höheren Entwicklung und Reife. Begreiflicherweise hielt sich HERBART dann auch lieber an das viel vernünftigere "Geschehen" und ließ das absurde Sein unbekümmert stehen, ohne jedoch zu erklären, wie etwas innerlich oder äußerlich "geschehen" könnte, wenn das Geschehen nicht "wäre", d. h. wenn demselben nicht auch ein Sein zukäme. Er merkte daher gar nicht, daß ihm stillschweigend das Sein über das von eigentlich so genannte Sein der absoluten Position hinauswuchs und daß er ganz vergessen hatte, dieses allgemeinere Sein auch zu erklären. Da HERBART nun überhaupt der Mathematik seine Geistesrichtung verdankt und diese ihre Sätze nicht organisch nach einem inneren Zweck entwickelt, sondern stoßweise und zufällig diesen oder jenen neuen Lehrsatz findet, so nahm er diese zufälligen Ansichten und diese fragmentarischen Anläufe in seine Philosophie auf und redete deshalb viel vom "Gelten" und "Geschehen" und "Realen", ohne sich darum zu bekümmern, wie sich diese verschiedenen Gebiete im "Sein" akkomodieren [festmachen - wp] könnten.

So bleibt uns nur HEGEL und LOTZE noch übrig. Allein von HEGEL soll hier vorläufig nur gemeldet werden, daß er wie PLATO alles und jedes für seiend erklärte und deshalb nur Stufen und Arten des Seienden annahm, das Sein selbst aber völlig unerörtert ließ. Ja, die Übereinstimmung mit PLATO ist so durchgreifend, daß er auch das Nichts zum Sein rechnet. Sollte man sich nun wundern, wie denn das Nichts mit dem Sein identisch werden könnte, so antwortet er eigentlich nur im Volkston:
    "Disse Geschicht ist lögenhaft to vertellen, Jungens, aver wahr mutt se doch sien, anners kunn man se jo nich vertellen;"
denn er erzählt uns bloß, daß wir allerlei Werden und Veränderung in der Welt  vorzustellen  pflegen und daß wir, weil es ohne Nichtsein keine Veränderung gibt, also auch das Nichts als seiend anerkennen. Was wir aber unter Sein und Nichts und ihrer Identität zu  denken  hätten, das glaubt er nicht nötig zu haben herauszugeben: statt der Begriffe gelten ihm die Vorstellungen, wie sie naturalistisch in uns erwachsen und blind im Sprachgebrauch aufgegriffen werden, deren "lügenhaften" Widerspruch HEGEL vollkommen einsieht und dennoch gerade als den spezifischen Charakter des Seins und der Wahrheit festhält.

LOTZEs hervorragende Bedeutung für die neuere Philosophie lag gerade in der Unbefangenheit, mit der er die Probleme, ohne den Staub der Jahrhunderte aufzuwirbeln, behandelte, und nun ging auch er, nachdem er früher individuelle metaphysische Prinzipien, wie LEIBNIZ und HERBART, gesucht hatte, in seiner neuen Metaphysik zu PLATO über und erklärte sich für die Realität der Zeit und des Nichts. (1) Das Sein als "in Beziehung stehen" wurde ihm nun zum platonischen "Tun und Leiden" und die Existenz und Nichtexistenz der Dinge zum Spiel der platonischen Weltseele mit ihren Drahtpuppen, die keinen Punkt selbständigen Seins mehr übrig behalten. Gegen LOTZE ist daher einzuwenden, was auch gegen HEGEL und PLATO zu sagen war; denn die Vorstellung des "Geltens", die er in herbartischer Weise neben dem Sein noch stehen ließ, konnte von ihm metaphysisch nicht erklärt werden, sondern blieb ihm eine bloße Tatsache. (2)


§ 2. Die lexikographische Methode ist
für die Philosophie unbrauchbar.

Wenn wir den Begriff des Seins bestimmen wollen, so liegt uns am Nächsten immer die  Sprache , und Viele glauben, dann schon mit ihrer Aufgabe fertig zu sein, wenn sie die Bedeutungen, welche mit den zugehörigen Wörtern verknüpft werden, sich vor Augen gestellt haben. Demgemäß suchen sie nach dem Vorbild des ARISTOTELES zuerst die  Gegensätze  auf, die hier z. B. als Schein oder Werden oder Tod oder Verwesen dem Sein gegenüber treten. Dadurch wird ihnen die Vorstellung, die sich von anderen Vorstellungen abscheidet, schon bestimmter. Dann verfolgen sie das Wort in seinen  Flexionen,  wie es adjektivisch, adverbial, verbal oder substantivisch vorkommt und in den  synonymen  Formen, die zum Teil auch aus verschiedenen Sprachen entlehnt sind, wie man z. B. um den Begriff des Seins zu bestimmen, die zugehörigen Wörter sammelt, wie:  es gibt, war, sein werden, Wesen, Substanz, Wirklichkeit, Existenz, reell  usw. Schließlich verfolgen sie den  Gebrauch  der Redenden, wann man das Wort anwendet und worauf man es anwendet, z. B. wenn man sagt:  es gibt  einen Gott, er hat es  wirklich  getan, oder das  Wesen  einer Sache suchen im Gegensatz zur Erscheinung und zum Schein und dgl. Allein auf diesem immerhin lehrreichen und unverwerflichen Weg erfahren wir doch nur, was das Volk dachte oder denkt, wenn es die zugehörigen Wörter gebraucht. Es handelt sich also dabei nur um  Lexikographie  und  nicht um die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Begriffs selbst.  Denn auf diesem Weg kann man auch feststellen, was ein Zentaur oder eine Hexe ist und wer  Apollo  war und wie die berüchtigte Seeschlange aussieht. Diesen von ARISTOTELES genauer entworfenen, warm empfohlenen und fast ausschließlich befolgten Weg lassen wir deshalb beiseite. Da aber dieser Gebrauch, bei der Begriffsbestimmung auf die Sprache zurückgeht, fast allgemein üblich ist: so möchte es vielleicht nützlich sein, ein für alle Mal darüber ins Reine zu kommen, wie man sich wissenschaftlich dazu verhalten soll. Denn gerade in der berühmtesten modernen Philosophie, in der HEGELschen, hat man den ausschweifendsten Gebrauch von einem solchen lexikographischen Denken gemacht, so daß es sich lohnt, die Frage genau zu erörtern.

Zu diesem Zweck müssen wir die  Wurzelbedeutung  der Wörter vom späteren  Sprachgebrauch  unterscheiden. In der Wurzel des Wortes und ihrem Sinn liegt die eigentliche Sprachschöpfung. Wenn wir nun glauben könnten, die Sprache wäre den Menschen von Gott im Paradies gelehrt, so müßten wir freilich annehmen, daß in der Wurzelbedeutung der Begriff und das Wesen der Dinge am Sichersten und Besten erkannt werden könnte. Allein daran fehlt viel; denn man nimmt jetzt mit Recht allgemein an, daß die Sprachschöpfung auf eine sehr frühe Zeit zurückführt, wo also die noch wenig entwickelten Menschen unmöglich eine tiefe Erkenntnis von der Natur der Dinge haben konnten. Ich schließe deshalb a priori, daß in den Sprachwurzeln immer nur irgendeine für das Bewußtsein der Sprachenstifter auffallend und damals wesentliche  Beziehung  der Sache angedeutet wird, die für uns je nach dem jetzt auch ganz unwesentlich geworden sein kann.

Die induktive Betrachtung bezeugt die Richtigkeit dieser Vermutung. Nehmen wir z. B. die Etymologie der für Jedermann wichtigen Wörter "pistis" (Glauben) und "Wissen", wie sie LEO MEYER, der hervorragende Sprachforscher gegeben hat ("Über Glauben und Wissen, Dorpat, 1876). Das Wort "pistis" (Glauben) und das lateinische  fides  führte er überzeugend auf die Bedeutung "fest", "Festigkeit" zurück. Diese Eigenschaft besitzt aber auch das Tau und die eiserne Kette, die doch mit dem Glauben nichts zu tun haben. Daß der Glaube in erster Linie eine Gesinnung ist, kann man unmöglich aus der Etymologie erfahren. Man kann darum von der Wurzelbedeutung wohl einen Gebrauch machen, muß aber erst klüger sein als die Sprache, um ihre Andeutungen passend zu verwenden. Das Wort "Wissen" führt LEO MEYER auf "gesehen haben", also "sehen" (videre) zurück. Allein es bedarf keiner weiteren Umstände, um zu zeigen, daß das Wissen auch Unsichtbares umfaßt und daß Sehen oder gesehen haben kein Wissen ist. Gemeint ist also ursprünglich nur die Gewißheit und Klarheit, die dem Wissen zukommt und bei rohen Menschen nur durch das Sehen erreicht wird. "Tochter" soll nach der freilich bestrittenen Etymologie des berühmten MAX MÜLLER "Melkerin" bedeuten, weil im alt-arischen Haushalt die Ziegen und Kühe zu melken das Amt der Töchter war; nach anderen Etymologen bedeutet das Wort "Säugerin". Können wir aus jener unwesentlichen oder aus dieser zwar wesentlichen, aber uns mit den Tieren auf gleiche Weise stellenden Beziehung die Idee der Tochter gewinnen und den Unterrichtsplan unserer Töchterschulen ableiten? Wenn wir mit WEIGAND "Seele" mit gotisch  scivan  in Verbindung bringen und auf "Bewegung" kommen, ist dadurch auch nur entfernt das Wesen der Seele erklärt? Das richtige Verständnis der Etymologie ist demnach nützlich, weil sie zeigt, welche Eigenschaft oder Wirkung und Beziehung einer Sache die erste Aufmerksamkeit der Namengebenden erregte, aber sie ist, wie gesagt, nur nützlich für solche, die klüger als die Sprache ihre Andeutungen begreifen und am rechten Platz verwerten.

Wollte man nun zweitens zur Sprache auch den durch die Jahrhunderte entstandenen  Sprachgebrauch  rechnen, so müßte man natürlich die ganze Literatur und also auch die ganze gelehrte Arbeit der Wissenschaften hinzunehmen, die auf den Sinn und Gebrauch der Wörter den entscheidensten Einfluß gehabt hat. Allein dann hieße die Forderung, bei der Begriffsbestimmung auf die Sprache zurückzugehen, ebensoviel wie überhaupt die herrschenden Meinungen und die Ansichten der Gelehrten zu berücksichtigen bei der Forschung, und dies ist ja noch nie bestritten worden. Dadurch wäre aber die Sprache um die abergläubische Autorität gebracht, die sie für Viele noch besitzt.

Wir sahen also, wie die Etymologie nicht mit der Erforschung der Begriffe zusammenfällt. Man kann einen Begriff vollständig verstehen, ohne von der Eymologie des zugehörigen Wortes eine Ahnung zu haben, und man kann die Etymologie überzeugend enträtseln, ohne des Begriffs mächtig zu werden. Die Erforschung der Begriffe ist von der Sprachwissenschaft unabhängig.

Allein wenn wir uns gar nicht darum bekümmern wollten, was die Sprache mit einem Wort bezeichnet, so könnte es vorkommen, daß man unter Dreieck auch einmal eine Figur versteht, deren Mittelpunkt von allen Punkten des Umfangs gleich weit absteht. Wir halten uns deshalb immer an einen gewissen, irgendwie als Norm zugrunde gelegten Sinn in den Worten und wissen daher z. B. wohl, daß wir bei dem Wort  pistis  (Glauben) nicht bloß an den Begriff der Festigkeit zu denken haben, sondern es steht uns im Stillen immer die wohlbekannte Gesinnung vor Augen, obwohl wir in dem Wort nicht diese selbst, sondern nur  eine  von ihren Eigenschaften ausgedrückt haben. Wir sehen uns deshalb genötigt, in Übereinstimmung mit der Sprache zu bleiben und die Ellipsen ihrer Bezeichnungen zu ergänzen, damit überhaupt eine Bezeichnung der Gedanken und ein Verkehr unter den Denkenden möglich sei. Andererseits wird trotz dieser maßgebenden Stellung der Sprache unserem Denken volle Freiheit gelassen, die Begriffe unabhängig von der Etymologie zu bestimmen und möglicherweise solche Definitionen zu finden, die kaum noch einen Berührungspunkt mit dem Wort haben. Diese entgegengesetzten Forderungen, nämlich die Autorität der Sprache und die Souveränität des Denkens, lassen sich nur dann ausgleichen, wenn man voraussetzt, es sei das Wort der Sprache  nur eine unvollkommene Andeutung  von einem Gedanken, den man im Sinn hat und der durch die Natur der Dinge und der Vernunft fest und notwendig gegründet, doch nicht so leicht sich selber klar wird und zum Begriff kommt. Also nehmen wir an, wir wüßten und erkännten gewissermaßen schon die Sache, ehe wir doch imstande sind zu sagen, was wir meinten. Daß sich dies nun wirklich so verhält, zeigen die Redeweisen der Leute, wenn sie belehrt worden sind: "ja, das meinte ich eigentlich", "das wollte ich sagen", während sie doch tatsächlich etwas anderes gesagt hatten. Wem ein Name entfallen ist, der kann häufig dennoch mit Sicherheit angeben, daß viele von Einhelfenden vorgebrachte Namen nicht die richtigen sind, daß aber nun der ihm zuletzt eingefallene oder der zuletzt ausgesprochene der richtige und von ihm gemeinte Name ist. Hier wußte man also nicht das Richtige und wußte es doch zugleich. Wie ein solcher Vorgang aber möglich ist, nachdem man die eigentliche Erkenntnis schon einmal gehabt hat, so ist es auch tatsächlich, daß wir selbst beim  ersten  wissenschaftlichen Erkennen und Forschen das Ziel gewissermaßen schon kennen, ehe es dem Bewußtsein in der Form des Begriffs deutlich wird. Dies läßt sich nicht anders erklären, als daß wirklich in der Natur unserer Vernunft der Begriff der Sache irgendwie schon  unbewußt  vorhanden sein muß; denn wie bei der Wiedererinnerung der unbewußt gewordene Name dennoch  wirkt  und die falschen Namen abweist, so wirkt auch beim Forschen die noch unbewußte Vernunftform und leitet unbemerkt das Denken. Es ist darum sehr bewunderungswürdig, daß schon PLATO das Erkennen als Wiedererinnern auffaßte. Die Formen, die nach seiner Lehre immer sich selbst gleich im Wesen der Vernunft stehen und vor aller eigentlichen Erkenntnis unbewußt von uns besessen werden, nannte er Ideen.

Außerdem aber muß das Denken auch durch seine eigene Natur zu  bestimmten Wegen  genötigt werden, die auf diese Ideen als auf ihre Ziele hinführen. Denn wenn das Denken nicht gewissermaßen organisiert und von vornherein nach einem inneren Plan gestaltet wäre, so würden wir unmöglich die Ziele oder die Wahrheit finden können. Wären die Gedanken wie die Tropfen im Meer, so könnten wir beliebig von jedem Gedanken nach allen Seiten fortgehen, ohne daß wir zu bestimmten Wegen genötigt wären, da sich kein Tropfen vom andern unterscheidet und keiner in sich ein Zeichen enthält, jetzt hierhin und nicht dorthin weiterzuschreiten. Wir könnten uns also z. B. eine Figur, die wir als dreieckig gedacht haben, dann auch als rund oder quadratisch vorstellen und der Dichter könnte auch  Faust  als  Gretchen  handeln und sprechen lassen usw. Es wäre auch kein Ziel der Wissenschaft da und selbst wenn wir ein solches erreicht hätten, könnten wir auf keine Weise erkennen, daß wir es erreicht haben. Wenn die Gedanken aber verschieden und  bezüglich  sind, wie die Gewebeteile eines Organismus, so liegt in ihnen selbst ein Grund der Richtung, da jeder Teil mit anderen Teilen in Beziehung steht und auf sie hinweist. So führt den Denkenden z. B. von der Blutzelle ein Weg zur Lymphe, zum Magen, zur Mundhöhle, ein anderer zu allen Geweben, die das Blut aufnehmen und sich assimilieren. Es muß daher im Denken selbst liegen, daß wir zu ganz bestimmten Wegen der Erkenntnis genötigt werden, die schließlich auf feste Ziele führen, wie das Netz der Landstraßen und Eisenbahnen, die alle zu bestimmten Städten als Endpunkten und Knotenpunkten führen, in denen die Wege ihr Ziel finden.

Wenn wir deswegen die Leitung der Sprache verschmähen, weil wir glauben, daß im Wort nur eine Andeutung und oft eine unwesentliche liegt über die Idee der Sache selbst, so können wir uns doch beim Philosophieren und Forschen nur darum selbst vertrauen, weil wir überzeugt sind, daß die Vernunft im Stillen und sich selber unbewußt die Wahrheit schon besitzt und wir uns nur mit PLATO an sie erinnern müssen und sie entdecken können, da sie sich durch die ganze festbestimmte Ordnung des Denkens schon selbstbezeugt und unbewußt die Gedankenbewegung zum richtigen Ziel leitet.

Um uns aber den Sinn und Wert dieser platonischen Lehre von der Vernunft noch deutlicher zu machen, tun wir gut, einen Blick auf die entgegengesetzte Lehrmeinung zu werfen. Die Annahmen, welche sich bei den Menschen als Antworten auf wissenschaftliche Fragen in Kurs finden, sind zwar alle mehr oder weniger verständig; die einfältigste Annahme in Bezug auf unsere Frage hier besteht aber darin, daß die Vernunft von Haus aus leer und inhaltslos sein soll und daß keine Idee uns unbewußt beim Denken leitet, sondern daß erst die Ablesung des Gemeinsamen in den Reihen von anschaulichen einzelnen Bildern uns den Begriff und die Idee und die Vernunft erschafft, so daß wir selber durch unsere Sinneswahrnehmungen und Denkoperationen die Schöpfer der Vernunft wären. Dies ist die Annahme der  Sensualisten  und  Positivisten , welche nach CICEROs Ausdruck die Plebejer unter den Philosophen sind. Sie meinen, man brauche doch nur hinzublicken auf die Vielheit der gegebenen Beispiele, um das Allgemeine als den Begriff davon  abzuheben . Um z. B. den Begriff der Gleichheit und Ungleichheit zu finden, brauche man nur hinzublicken etwa auf ein Pferd und ein anderes Pferd und dann auf ein Pferd und einen Hund. Sofort wisse mann, was gleich und ungleich ist. Sie merken eben gar nicht, weil sie überhaupt vom Denken nicht viel halten, daß in den Beispielen das angeblich Allgemeine, die Gleichheit, gar nicht vorkommt und deshalb davon auch gar nicht abgehoben oder  abstrahiert  werden kann; denn Gleichheit z. B. ist kein Teil der Pferde, weder das Auge noch der Schwanz. Wenn wir deshalb von Gleichheit reden, so ist ein absolut neuer Begriff gesetzt, der weder in der Vorstellung der Pferde, noch in der des Hundes liegt. Dieses Neue gehört der Vernunft und wird von einem Denken gefunden und wiedererkannt.

Da wir nun schon lange, ehe uns die Ideen wissenschaftlich klar geworden sind, davon Gebrauch machen und sie von der Sprache angedeutet finden, so nehmen wir lieber mit PLATO vorläufig an, sie wohnten von Haus aus in der  Vernunft,  leiten uns unbewußt und kommen beim jedesmaligen  Denken  nur zur Erinnerung oder zum Bewußtsein, irgendwie durch eine Reizung von Seiten der gegebenen Beispiele hervorgelockt. Wie dies näher erklärt werden kann, das verschieben wir auf eine spätere Untersuchung: uns genügt hier diese ganz allgemeine Annahme.
LITERATUR - Gustav Teichmüller, Die wirkliche und die scheinbare Welt [Neue Grundlegung der Metaphysik] Breslau 1882
    Anmerkungen
    1) Ich verstehe unter PLATOs Lehre, die so verschiedene Auffassungen erfahren hat, natürlich immer diejenige Auffassung, die ich in den "Studien zur Geschichte der Begriffe" als die richtige nachzuweisen suchte. Wie hoch ich die Ehre schätzte, daß LOTZE in den  Göttingischen Gelehrten Anzeigen,  St. 15, 1876, sich zu meiner Methode und ihren Resultaten bekannte, ebensosehr verwunderte ich mich (vgl. meine "Literarische Fehden im 4. Jahrhundert v. Chr.", Seite 247), daß er PLATONs Gründen nachgab und seine eigene Metaphysik platonisch umarbeitete.
    2) In meinem Buch über "Die praktische Vernunft bei Aristoteles" führte ich dieses Gelten auf die Meinung zurück. Ich kann deshalb dem interessant durchgeführten Versuch von ACHELIS, (Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 79, Heft 1, Seite 90-103), die Divergenz zwischen meiner und ZELLERs Auffassung PLATOs zu erklären, nicht eher zustimmen, als bis der Begriff des "Geltens" metaphysisch verstanden ist. Hätte PLATO diesen Begriff übersehen und LOTZE denselben ins Reine gebracht, so ließe sich allerdings darüber verhandeln, ob die platonische Ideenlehre nicht von diesem Gesichtspunkt aus zu deuten ist. Da PLATO aber das "Gelten" (doxei) sehr wohl kannte und es vom Sein und Geschehen unterschied, so muß der Grund der platonischen Lehre und ihrer Fehler anderswo gesucht werden.