ra-2J. FriedmannP. RéeA. DransfeldR. GeijerF. Brentano    
 
DIETRICH von HILDEBRAND
Sittlichkeit und
ethische Werterkenntnis

[Eine Untersuchung über ethische Strukturprobleme]

"Das Gewissen ist auf die sittlichen  Unwerte  eingeschränkt. Es zeigt uns, daß ein Verhalten unrecht wäre oder ein anderes nicht unrecht wäre, nicht aber, wie gut ein anderes Verhalten ist. Das Gewissen  verbietet  und  erlaubt  und  gebietet  nur indirekt, insofern es das Gegenteil des Verbotenen fordert. Wenn jemand etwa einem anderen verzeiht ohne inneren Kampf, und ohne daß es ihn zu einem anderen Verhalten hingezogen hätte, so spielt das Gewissen hierbei keine eigentliche Rolle, es hat keine Funktion außer dem, was wir dabei  gutes Gewissen  nennen; das liegt aber auch vor bei dem bloß erlaubten Verhalten.  Gutes Gewissen  heißt eben, daß man sich keiner  Sünde  in seinem momentanen Verhalten bewußt ist nicht aber, daß man sich eines positiven Wertes bewußt wird."

"Das Erfassen der sittlichen Werte ein indirektes, da das Gewissen primär nicht auf den Wert ansich, sondern auf das für mich sittlich Richtige gerichtet ist. Dies sehen wir am deutlichsten, wenn wir an den gewissenlosen Menschen denken. Das ist nicht der sittlich Stumpfe, Blinde, der ahnungslos sündigt, sondern es ist der, der, obgleich er die sittlichen Werte erfaßt, ihren für ihn verpflichtenden Charakter nicht fühlt, der sich nichts daraus macht, die erfaßten Werte zu ignorieren. Wer ein schlechtes Gewissen hat, der sieht nicht nur, daß er etwas objektiv Schlechtes realisiert, sondern er fühlt auch die Verletzung der aus dem jeweiligen Wert fließenden Verpflichtung für ihn persönlich, und darum leidet er auch darunter."



I. Teil
Einführung in das Problem

1. Formulierung des Problems

Eines der kardinalsten Probleme der Ethik ist die Frage nach dem Verhältnis von Werterkenntnis und Tugend, bzw. von Sittlichkeit und Erkenntnis des sittlich Richtigen. Daß zwischen Werterkennen und Tugend ein enger Zusammenhang besteht, so daß ein Tugendideal ohne Erkenntnis der sittlichen Wertewelt nicht denkbar ist, ist eine Einsicht, die seit SOKRATES in der Ethik nie mehr ganz verloren ging. Wer die sittliche Beschaffenheit einer Person prüfen will, wird stets auch die Frage nach dem Stand ihrer sittlichen Erkenntnis stellen müssen. Diese Zusammengehörigkeit ist uns heute fast so selbstverständlich, wie die Tatsache, daß beim sittlichen Wert einer Handlung auch die Gesinnung in Frage kommt, oder daß Träger sittlicher Werte nur eine geistige Person und kein bloßes Lebewesen sein kann. Das Problem beginnt erst bei der Frage,  wie  das Verhältnis von sittlichem Sein und Werterkennen beschaffen ist.

Nach der sokratischen Auffassung, die am drastischsten in der bekannten These: niemand handelt wissentlich schlecht - hervortritt, bildet das Werterkennen das Fundament der Tugend. Wenn wir von der Identifikation absehen, die ihn die Tugend selbst als eine Art von gedanklicher Bildung ansehen läßt, und die ARISTOTELES in der Nikomachischen Ethik als unhaltbar aufdeckte (1), enthält diese Auffassung der Beziehung von Tugend und Werterkennen sehr viel Einleuchtendes. Alles sittliche Handeln und Wollen setzt ein Wertbewußtsein voraus, da das Wollen ja gleichsam eine Antwort auf den objektiven Wert bildet. Analog liegt es bei allen sittlichen Stellungnahmen, die wir als Wertantworten bezeichnen können, wie Liebe, selbstlose Hingabe, Gehorsam, Begeisterung und auch mit allen sittlichen Haltungen im weitesten Sinn des Wortes scheint zumindest eine Beziehung auf einen Wert verbunden zu sein, und damit auch ein Wertbewußtsein vorausgesetzt zu sein. Das sittliche Sein scheint also in all seinen Formen ein Werterkennen vorauszusetzen. Ist damit aber das Verhältnis von Sein und Werterkennen schon gekennzeichnet? Ist es wirklich so eindeutig, daß man SOKRATES beipflichten kann, wenn nach ihm die Kenntnis des sittlich Richtigen die Tugend fundiert und daher auch den Weg zur Tugend darstellt? Wir müssen hier zwei Fragen trennen, die in der sokratischen Auffassung beide implizit ihre entschiedene Beantwortung erfahren
    1. Liegt zwischen sittlichem Sein und Werterkennen wirklich eine eindeutige Fundierungsbeziehung vor, derart, daß das Werterkennen das Fundament der Tugend ist?

    2. Ist die Fundierungsbeziehung eine solche, bei der das Fundament nicht nur Voraussetzung, sondern eine hinreichende Seinsbedingung für das Fundierte ist?
Die sokratische These: niemand handelt wissentlich schlecht - beantwortet implizit beide Fragen mit einem entschiedenen Ja. Das Werterkennen ist das Fundament der Tugend, und zwar in dem Sinne, daß sich die Tugend notwendig auf dem Werterkennen aufbaut. Der bekannte Satz OVIDs: "video meliora proboque deteriora sequor" [Ich sehe das Bessere und heiße es gut, dem Schlechteren folge ich. - wp] bezieht sich auf die zweite Frage und bestreitet hierin die sokratische Auffassung. Es wird dabei nicht geleugnet, daß das sittliche Verhalten eine Kenntnis des sittlich Richtigen voraussetzt, dies wird vielmehr dabei überhaupt nicht berührt, sondern nur, daß die Kenntnis des sittlich Richtigen notwendig auch das sittlich richtige Verhalten mit sich zieht. Wenn das Wissen des Richtigen auch die Voraussetzung der Tugend ist, so ist es damit noch nicht die hinreichende Bedingung für den Eintritt des sittlichen Verhaltens.

Zur ersten Frage, ob wirklich das Werterkennen stets das Fundierende und die Tugend das Fundierte ist, bildet die Auffassung, die sich an einigen Stellen der Nikomachischen Ethik (2) findet, daß das Werterkennen selbst schon eine bestimmte Stufe von Sittlichkeit voraussetzt, einen wichtigen Beitrag. ARISTOTELES leugnet nicht, daß zur vollen Tugend auch die Erkenntnis des Sittlich Richtigen gehört, aber er betont mit vollem Recht, daß das Verständnis für das sittlich Richtige bzw. die Fähigkeit des sittlichen Werterkennens schon bestimmte Anforderungen an den Charakter stellt. Daß also das Werterkennen, wenn auch nicht die Tugen, so doch tugendvolles Verhalten überhaupt voraussetzt. Damit tritt die ganze Schwierigkeit des Problems klar zutage. Wenn wir einerseits der sokratischen Auffassung beipflichten müssen, daß ein sittliches Wollen oder eine sittliche Gesamthaltung ein Wertbewußtsein und ein Wertverständnis schon voraussetzen, so zeigt uns ein Blick auf die Sphäre der sittlichen Tatsachen ebenfalls überzeugend, daß das Verständnis für die sittliche Wertewelt schon eine bestimmte sittliche Höhe des Seins einer Person voraussetzt. Die sokratische Auffassung der hier vorliegenen Beziehung ist also zumindest einseitig und nicht erschöpfend. Können dann aber diese beiden Fundierungsbeziehungen nebeneinander bestehen? Schließt das nicht einen Widerspruch ein, wenn das Werterkennen gleichzeitig das Fundament der Tugend und in ihr fundiert ist?

Zunächst müssen wir also fragen: Welche Fundierungsbeziehung besteht zwischen Tugend und Werterkennen? Kann man eines von beiden in Bausch und Bogen als Fundament und das andere als Fundiertes bezeichnen und welches?

Daran anschließend werden wir die Frage stellen müssen, ob, wenn eine Fundierungsbeziehung vorliegt, sie derart ist, daß das Fundament die hinreichende Seinsbedingung für das Fundierte darstellt. Ist, wenn das Werterkennen wirklich die Voraussetzung der Tugend wäre, mit diesem auch stets notwendig die Tugend ohne weiteres verbunden?

Diese zweite Frage ist von der Beantwortung der ersten so weit unabhängig, - daß bei verschiedener Meinung über die erste Übereinstimmung in der letzteren herrschen kann. So pflichtet ARISTOTELES der sokratischen These: niemand handelt wissentlich schlecht - mit einigen Einschränkungen und Korrekturen bei (3) - aber gerade deshalb, weil ein solches Wissen des Guten wie es hier in Frage kommt nur bei dem möglich ist, der von Begierde frei ist - der sich also in einer sittlich gerichteten Einstellung bereits befindet. Es handelt also deshalb niemand wissentlich schlecht, weil, um das richtige Wissen zu besitzen, man schon gut sein muß und um im einzelnen Fall das Richtige vor Augen zu haben, man schon von der sittlichen Willensrichtung entgegengesetzten Regungen frei sein muß.

Die Frage nach der Art der Fundierung muß schließlich noch getrennt gestellt werden, - je nachdem es sich um die Handlungssphäre oder um das sittliche Sein der Person selbst, besonders um die Sphäre der Tugenden handelt.


2. Genauere Bestimmung der hier
in Frage kommenden Werterkenntnis


a) Der Gegenstand des sittlichen Werterkennens

Bei der Frage nach der Art des Zusammenhangs von Tugend und Erkenntnis ist es vor allem nötig, sich über die  Art  von Erkenntnis klar zu werden, die hierbei allein in Frage kommt. Wir sehen schon, daß es sich nur um die Erkenntnis von Werten handeln kann. Diese Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes reicht aber nicht aus. Es kommen hierbei nicht alle Werte in Betracht, sondern nur eine bestimmte Wertgruppe. Wie an anderer Stelle gezeigt wurde (4), ist nicht die Realisation jeglichen Wertes schon von sittlicher Bedeutung. Es gibt viele Handlungen, die als Realisationen von Sachverhaltswerten vernünftig und richtig sind, ohne deshalb sittlich wertvoll zu sein im eigentlichen Sinn des Wortes. Nur eine bestimmte Gruppe von Sachverhaltswerten, die wir als  sittlich bedeutsam  im Gegensatz zu den sittlichen Personwerten selbst zusammenfaßten, steht in dieser eigenen Beziehung zur Sittlichkeit. Analog wie in der Sphäre der Handlung liegt es auch bei allen anderen Stellungnahmen und Haltungen. Die sittliche Bedeutung einer Liebe und Begeisterung für alles Reine bzw. die Abscheu gegen alles Unreine liegt auf der Hand. Man wird jedoch zögern, einer Liebe für die Schönheit in Natur und Kunst oder einer Begeisterung für das Liebliche ohne weiteres denselben sittlichen Wert im prägnanten Sinne des Wortes zuzusprechen. So wertvoll solche Haltungen ansich auch sind, von den sittlichen im prägnanten Sinne sind sie noch typisch verschieden.

Auch in allen Tugenden ist eine Stellungnahme zu objektiven Werten enthalten; diese Werte müssen aber ebenfalls als eine besondere Gruppe innerhalb der objektiven Werte betrachtet werden wie die sittich bedeutsamen Sachverhaltswerte. Das Reine, das Gerechte, das Wahre (im besonderen Sinne als Gegensatz zum Vieldeutigen, Verschlagenen), das Echte, das Sanfte usw. stellen solche objektiven Werte dar, die wir ebenfalls als eine eigene sittlich bedeutsame Gruppe den ästhetischen oder den anderen objektiven Werten gegenüberstellen müssen (5).

Neben diesen Werten, zu denen die sittlichen Haltungen eine Stellungnahme einschließen, und die wir als sittlich bedeutsame bezeichnen wollen, stehen die von den Haltungen selbst getragenen  sittlichen Werte  Reinheit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Demut, Einfalt usw., Opfermut, Heroismus, Großmut, Sanftmut, Liebe usw. Auch die Stellungnahmen zu diesen sind von größter sittlicher Bedeutung. Jeder Tugendhafte wird Verehrung, Liebe, Begeisterung und Bewunderung für die Träger dieser sittlichen Werte besitzen und demgemäß ein Verständnis für eben diese Werte. - Es handelt sich also bei der Werterkenntnis, die mit der Tugend in einer engen Beziehung steht, nicht um ein Kennen und Verstehen von Werten, überhaupt, sondern nur um eines von sittlich bedeutsamen und von sittlichen Werten.


b) Intuitives Werterfassen
und Werterkennen

Viel wichtiger aber als die Bestimmung einer Werterkenntnis hinsichtlich ihres  Gegenstandes  ist die Frage nach der Art des  Erkennens selbst,  die hier vorliegt. Wir zeigten an anderer Stelle (6), daß es neben dem stets auf Sachverhalte gerichteten  Erkennen  im prägnanten Sinn noch ein je nach der Art des Gegenstandsgebietes verschiedenes  Kenntnisnehmen  gibt, das dem Erkennen jeweils zugrunde liegt. Tiefgewurzelte Vorurteile ließen so ein anschauliches Kenntnisnehmen oft auf die Sphäre der sinnlichen Anschauung beschränkt sein (7). Erst in der neuesten Zeit hat EDMUND HUSSERL an die eigentliche große alte Tradition der Philosophie anknüpfend mit diesem Vorurteil prinzipiell zu brechen angefangen (8) und die Tatsachen wieder in ihr Recht eingesetzt, die uns für jedes Gegenstandsgebiet einen entsprechenden Akt der anschaulichen Kenntnisnahme finden lassen. So zeigt sich auch bei einer unbefangenen Untersuchung, daß es für das Reich der Werte ein eigens Werterkenntnisnehmen (9) gibt, in dem uns die in den Dingen, Sachverhalten und Personen fundierten gegenständliche Werte zur Gegebenheit kommen analog wie uns im Sehen Farben, im Hören Töne, in der äußeren Wahrnehmung Ding usw. gegeben sind. Was die Eigenart dieses intuitiven Werterfassens, das man auch als Wertfühlen (10) oder Wertnehmen (11) bezeichnet hat, vor dem Werterkennen im prägnanten Sinn ausmacht - die Beschränkung des letzteren auf Sachverhalte u. a. - wurde an anderer Stelle ausführlicher gezeigt (12). Wir müssen uns hier auf die dort gegebenen Untersuchungen berufen und können nur auf einige Punkte zurückgreifen.

Alles Erkennen baut sich letzten Endes auf einem Kenntnisnehmen auf, wenn wir auch zur Erkenntnis gewisser Sachverhalte durch Schlüsse ohne prägnante Kenntnisnahme derselben gelangen können. Ich kann aufgrund des Rauches zur Erkenntnis kommen, daß sich an einer bestimmten Stelle ein Feuer befindet, ohne das Feuer selbst wahrgenommen zu haben. So kann ich vielleicht auch aufgrund früherer Werterkenntnisnahmen durch bestimmte Schlüsse zur Erkenntnis kommen, daß Lügen Unrecht ist, daß ein bestimmtes Verhalten Recht bzw. Unrecht sei, ohne jedoch den Wert bzw. Unwert wirklich anschaulich zu erfassen oder gar ihn zu "fühlen". Ein solcher Fall, in dem nur eine aus Schlüssen gewonnene Werterkenntnis vorliegt, ist offenbar von dem sehr verschieden, in dem sich die Werterkenntnis auf einem Fühlen des Wertes aufbaut, wenn auch nicht in Bezug auf die Gewiheit und Natur der Erkenntnis als solcher. Bei unserem Problem - dem Verhältnis von Werterkennen und der Tugend bzw. den sittlich bedeutsamen Werten im Sinne des intuitiven Wertsehens oder  Wertfühlens  und nur in zweiter Linie um das Werterkennen, sofern es sich eben auf ein solches intuitives Werterfassen aufbauen muß und eine Erkenntnis ohne eine zugrundeliegende Wertkenntnisnahme nur in sehr beschränktem Maße möglich ist. Daß für die Motivation der Stellungnahmen des Wollens, der Begeisterung, des Gehorsams, der Liebe der  intuitiv erfaßte  Wert und nicht die  Werterkenntnis  in einem prägnanten Sinn in Frage kommt, ist nicht schwer zu sehen. Dies tritt allerdings nur klar hervor, wenn wir an den Fall denken, in dem eine aus Schlüssen gewonnene Werterkenntnis ein anschauliches Haben des Wertes ersetzen soll. Denn in den meisten Fällen, in denen ein Wertfühlen vorliegt, baut sich naturgemäß ein Werterkennen darauf auf, und es ist dann schwerer zu sehen, daß es gerade die Kenntnisnahme und nicht das Erkennen ist, das die motivierende Kraft besitzt. Stellen wir hingegen neben diesen Fall den einer bloßen Werterkenntnis, so wird man die Leere und die Blässe dieser Art des Werthabens klar sehen und deutlich erkennen, welchem Faktor die motivierende Kraft zukommt.

Unsere Fragestellung lautet nun: Inwiefern ist die Fähigkeit des intuitiven Erfassens sittlicher Werte, die sittliche Wertsichtigkeit, von der Tugend abhängig? Setzt sie einen bestimmten Tugendgrad schon voraus, die doch von der eigentlichen Tugend selbst vorausgesetzt wird? Wie ist das gegenseitige Verhältnis von Tugend, sittlichem Sein einerseits und dem "Fühlen" und Verstehen sittlicher und sittlich bedeutsamer Werte andererseits?


c) Wertsehen und Wertfühlen.
Tiefe des Wertfühlens.

Die eben vollzogene Abgrenzung der hier in Frage kommenden Art von Wertbewußtsein als intuitives Werterfassen gegenüber dem Werterkennen reicht jedoch für eine präzise Formulierung unserer Frage noch nicht aus.

Wir müssen erstens innerhalb des intuitiven Werterfassens noch zwischen  Wertfühlen  und  Wertsehen  trennen. Verglichen wir oben das intuitive Werterfassen mit dem Farbensinn, so dacten wir dabei an eine Art der Wertgegebenheit, der eine bestimmte Ferne eigen ist. Es gibt aber auch ein Haben von Werten, das vielmehr mit der Art der Gegebenheiten eines körperlichen Schmerzes verglichen werden könnte, mit der Art wie mir etwa ein Brennen oder ein Stechen gegenwärtig ist, das in mich eindringt. Nur im letzteren Fall dürfte man, genau genommen, von Wertfühlen sprechen. Ein Beispiel: Wir hören manchmal eine Melodie und erfassen deutlich ihre Schönheit, aber sie greift uns nicht ans Herz, sie "ergreift" uns nicht. Wir haben ihre Schönheit gegenwärtig, ohne gleichsam persönlich mit ihr in Kontakt zu treten. Daß es sich hierbei um ein intuitives Erfassen handelt - nicht um ein bloßes Wissen, daß sie schön ist -, steht außer Frage. Die Schönheit derselben steht deutlich vor einem, so daß sich die Erkenntnis, sie ist schön, klar darauf aufbauen kann. Aber sie berührt mich nicht im eigentlichen Sinn, ich fühle sie nicht. Man denke dagegen an den Fall, in dem mich die Schönheit "bis zu Tränen" rührt. Sie spricht jetzt deutlich zu mir, sie tritt mir nahe, oder ich dringe wirklich in sie ein (13). Dieser Unterschied wird noch deutlicher, wenn wir an sittliche Werte denken. Wir können uns jederzeit gewisse Werte intuitiv vergegenwärtigen, etwa die Demut oder die Reinheit, so daß sie vor uns stehen in ihrer Wertigkeit. Wir denken dann nicht nur an sie,, sondern wir haben sie intuitiv vor uns. Wir vergegenwärtigen uns etwa einen  Heiligen Aloysius  in seiner Reinheit. Damit fühlen wir aber die Reinheit noch nicht ohne weiteres. Während manchmal diese Vergegenwärtigung auch ein "Fühlen" nach sich zieht, uns ans Herz greift und lebendig zu uns spricht, kann sie uns manchmal "kalt" lassen und gleichsam schweigen. Wir sind vielleicht unglücklich darüber, daß sie uns nicht rührt. Dies snd natürlich nur sekundäre Merkmale, die uns dazu dienen sollen, auf den charakteristischen Unterschied der beiden Arten von Werterfassen hinzuweisen, der sich nur in unmittelbarer Vergegenwärtigung selbst erfassen läßt.

Sowohl im Wertsehen wie im Wertfühlen sind uns die Werte intuitiv gegeben. Von einem bloßen Erkennen oder Wissen, daß etwas wertvoll ist, ist das Sehen des Wertes ebenso verschieden wie das Fühlen desselben. Wir können den Wert sehend kennenlernen, er kann uns im Wertsehen selbst gegeben sein. Aber wirklich "erleben" tue ich ihn erst im Fühlen. Hier tritt er in eine vollkommen neue, direkte Beziehung zu mir. Der Schritt liegt hier in einer ganz anderen Richtung als beim Gegensatz von nicht intuitiv und intuitiv. Analog wie das Sehen einer Farbe eine andere Art von Gegebenheit des Inhalts darstellt als das Empfinden eines Drucks oder gar das Empfinden eines Schmerzes, obgleich in beiden Fällen von einer intuitiven Gegebenheit gesprochen werden kann, so liegt auch hier eine andere Art der Gegebenheit vor, die nichts mit der Frage, ob intuitiv oder nicht, noch mit Klarheitsunterschieden des Werterfassens zu tun hat. Am nächsten kommen wir der Eigenart des Fühlens vor dem Sehen des Wertes, wenn wir sagen, daß hier der eigentliche persönliche Kontakt anfängt, wobei der Wert gewissermaßen erst für mich lebendig wird. Es ist daher auch viel schöpferischer als das bloße Sehen. Wenn wir einmal einen Werttypus gefühlt haben, kennen wir ihn in einem noch ganz anderen Maß.

Es ist ferner wichtig, sich die weiteren Hinsichten klar zu machen, in denen sich ein Wertfühlen von einem anderen unterscheiden kann - seine Tiefe, seine Lebendigkeit, seine Nähe zum Wert u. a. Von der Klarheit, die ein Wertfühlen besitzen kann, müssen wir die Tiefe des Verständnisses noch unterscheiden. (14) Ein Wertfühlen, das eine evidente Erkenntnis, daß dies gut ist, ermöglicht, stellt noch nicht das Ideal eines Wertfühlens dar. Es ist dadurch nur in seiner Klarheit charakterisiert, über seine Tiefe ist damit noch nichts gesagt. Vergleichen wir das Verständnis, das ein Heiliger für die einzelnen sittlichen Werte besitzt, mit dem, das einer sittlich geöffneten wertsichtigen, aber nicht heiligen Person eigen ist. In beiden Fällen liegt ein klares Werterfassen vor, so klar, daß eine evidente Erkenntnis sich darauf aufbauen kann. Beide verstehen klar und deutlich die einzelnen Wertarten in ihrer Wertnatur. Aber das Wertfühlen des Heiligen geht in verschiedener Richtung und darüber hinaus. Die ganze innere Schönheit des Wertes, sein intimes Wesen, seine ganze Tragweite, die ganze unermeßliche Größe des Ernstes, der im Wertsein liegt, - vor allem eine unendliche Tiefe, die ihn zu einem lebendigen Fenster für das ganze Reicht der Werte bis zum Zentrum und Inbegriff aller Werte, zu Gott, macht - wird von ihm ganz anders erfaßt und gefühlt. Er besitzt ein viel adäquateres Bild des Wertes, ein tieferes, erschöpfenderes Verständnis. Der  unendlichen Tiefe  der sittlichen Werte entspricht eine  unendliche Abstufung im Wertverständnis.  Die Tiefe, die erforderlich ist, um den Wert als Wert zu rekognozieren [erkennen - wp], ist im Verhältnis dazu gering.

Zu diesem Unterschied hinsichtlich der Tiefe im Werterfassen des Heiligen treten noch die der Fülle oder Lebendigkeit, der Nähe zum Wert, der Differenziertheit und der Reinheit in der Subsumtion. In jeder dieser Hinsichten wird sich sein Wertfühlen bei konstanter Klarheit vor dem eines andern Wertsichtigen auszeichnen. Das Wertfühlen kann bei gleichbleibender Klarheit in Bezug auf Lebendigkeit, Wertnähe und Differenziertheit variieren. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, diese Hinsichten im Einzelnen zu verfolgen. Es genügt zu sehen, daß das Werterfassen eines Heiligen in mehr als einer Hinsicht, von denen die Tiefe die wichtigste ist, sich vom Wertfühlen oder gar dem bloßen Werterfassen sich noch unterscheidet, das eine wertsichtige Person besitzen muß, um den Wert eindeutig als Wert zu rekognoszieren.

Bei der Frage, was die Wertsichtigkeit an Tugend in der Person voraussetzt, ist es nun sehr wichtig, was wir dabei alles in die Wertsichtigkeit mit hineinnehmen. Verstehen wir darunter die Fähigkeit, die Werte so klar zu sehen, um sie als solche rekognoszieren zu können, so wird die Antwort anders ausfallen, als wenn wir dabei an eine besondere "Tiefe" des Wertfühlens denken. Wenn wir etwa die Frage stellen, kann nur der Reine die Reinheit in ihrer Wertnatur verstehen, oder schon der, der eine bestimmte, sittliche Grundeinstellung hat, so ist die Antwort eben davon abhängig, wieviel wir in die Wertsichtigkeit mit hineinnehmen. Es bedarf allerdings vorerst auch noch einer genaueren Bestimmung, was wir unter dem "Reinen" verstehen, die wir hier kurz vorwegnehmen.

Ein Mensch, der bei allem an Unreines denkt, der auf alles mit unreinen Bewegungen reagiert, wird uns, auch wenn er ein ernstes Streben nach Reinheit besitzt, nicht als der Typus des Reinen erscheinen. Die eigentliche Tugend der Reinheit, wie wir sie in typischer höchster Ausgestaltung bei den Heiligen vorfinden, liegt dann noch nicht vor. Sie schließt eine organische Scheu vor allem Unreinen und eine Liebe zum "Reinen" ein, die eine reine Umwelt für den Betreffenden schafft und für den Blick der Person in die Welt schon eine seligierende Funktion besitzt. Nicht den Wegfall der Versuchung erfordert sie - wohl aber eine Herrschaft der Liebe zur Reinheit, die organisch geworden und in der ganzen Person wirksam ist und weit über eine Herrschaft des Willens zur Reinheit bloß über die Tat weit hinausgeht. Daß die Reinheit in diesem Sinne als volle Tugend nicht Voraussetzung für das schlichte Verständnis des Wertes  Reinheit  ist, sehen wir ohne weiteres. Sonst wäre der oben erwähnte Typus des, obwohl noch nicht reinen, doch nach Reinheit Strebenden, den wir doch sehr wohl ohne Widerspruch fingieren können, ja, den wir oft antreffen, ein Unding. denn der nach Reinheit Strebende und um sie Kämpfende sieht ihre Wertnatur deutlich, ohne noch im Besitz der Tugend zu sein. Die Aufgabe besteht also hier darin, zu finden, welche sittliche Haltung unerläßliche Voraussetzung für das Verständnis der Reinheit ist; daß es nicht der Vollbesitz der Tugen ist, sehen wir ja auf den ersten Blick. Dies gilt aber nur, soweit es sich um  die  Stufe des Wertsehens oder Wertfühlens handelt, die erforderlich ist, um die Wertnatur klar zu erkennen. Ganz anders aber liegt der Fall, wenn wir an die Tiefendimension des Wertfühlens denken. Ebenso klar wie es ist, daß nicht nur der Reine den Wert der Reinheit verstehen kann, ebenso klar ist, daß das Verständnis des Reinen in verschiedener Hinsicht weit über das des noch nicht Reinen hinausgeht. Der jeweils höheren Stufe im Besitz der Tugend entspricht ein jeweils tieferes und adäquateres Wertfühlen. Dies ist ein wesensmäßiger Zusammenhang von Tugend und Wertfühlen, der sich uns schon zu Anfang unserer Betrachtung aufdrängt. Mit jedem Fortschritt in der Tugend ist ein Fortschritt im Wertfühlen im Sinne der Vertiefung und der Intimität des Wertverständnisses wesensmäßig verbunden. Denke ich also an eine bestimmte, besonders ausgezeichnete Stufe des Wertfühlens, so kann ich den vollen Besitz einer jeweiligen Tugend als unerläßliche Voraussetzung bezeichnen. Denke ich hingegen an das schlichte aber klare Kenntnisnahme des Wertes ermöglicht, kommt es aber für unsere Frage in erster Linie an und nicht auf eine besondere Tiefe des Wertfühlens. Diese Unterscheidung ermöglicht uns somit, unsere Frage präziser zu stellen.


d) Das Kennen von Werten

Neben die bereits gemachten Unterschiede innerhalb des Werterfassens muß noch ein weiterer von Bedeutung gestellt werden. Es gibt nicht nur das intuitive Erfassen des Wertes in der einzelnen Situation, sondern auch ein  intuitives "Kennen"  des Wertes, das eine ständige überaktuelle Beziehung zum Wert ermöglicht, und zwar nicht zu dem von einem bestimmten Träger  hic et nunc  [hier und jetzt - wp] fundierten konkreten Wert, sondern zum ganzen Werttypus. wir können uns Menschen denken, die in der einzelnen Situation sehr wohl einen Wert intuitiv erfassen, etwa angesichts eines lasziven Menschen oder einer zweideutigen Bemerkung sich voll Ekel abwenden, und die dabei doch kein ständiges klares Verhältnis zur "Reinheit" besitzen. Der Reine hingegen besitzt nicht nur die objektive Fähigkeit des "Reinen" in jeder konkreten, an herantretenden Situation, die Träger des "Reinen" oder "Unreinen" ist, zu erfassen, sondern er besitzt ein ständiges Verhältnis zum Wert des "Reinen" überhaupt, dem ein  Kennen  desselben zugrunde liegt.

Drei Merkmale sind bei diesem "Kennen" zu beachten.
    1. Während im ersten Fall keine Kontinuität zwischen den einzelnen Phänomenen des Wertes "Reinheit" besteht, und der Betreffende sich gewissermaßen jedesmal neu belehren lassen muß, liegt hier ein  kontinuierliches  "Kennen" des Wertes vor, bei dem der neue Fall eine individuelle Realisation des bekannten Wertes bedeutet.

    2. Vor allem aber besitzt der Reine auch die Fähigkeit, sich jederzeit die Reinheit von sich aus vorstellend zu vergegenwärtigen, nicht nur, wenn die reale Situation es ihm aufdrängt, da er sie eben kennt. Wenn ich etwa einen Menschen "kenne", so liegt eine gänzlich andere Beziehung zu demselben vor, als wenn ich ihn oft sehe und auch jedesmal genau sehe, ohne deshalb über die verschiedenen unzusammenhängenden Kenntnisnahmen hinauszukommen. So auch hier.

    3. Dieses kontinuierliche Haben schließt aber noch Folgendes ein. Es enthält die Fähigkeit einer  intuitiven Vergegenwärtigung  der "Reinheit" bzw. des "Reinen"  als solchen ohne daß dieselbe an  einem  konkreten Träger haften müßte, man muß nicht an einen bestimmten reinen Menschen oder an eine reine Sache denken, um die Reinheit oder das Reine zu verstehen. (15) Dabei handelt es sich um ein völlig intuitives Haben, nicht etwa um den Begriff "Reinheit", noch um ein bloßes "Meinen" der Reinheit (16).
Die Beziehung des Reinen zur Reinheit als solcher ist aber nicht nur auf die Zeit dieser Vergegenwärtigung beschränkt, sie besteht auch hinter der aktuellen Sphäre fort, während man aktuell mit etwas anderem beschäftigt ist. Es ist das "Kennen" also erstens ein ständiges in  Beziehung stehen  zum Wert, das noch nicht ein Haben genannt werden kann, das aber Unterlage für eine überaktuelle Stellungnahme werden kann. Zweitens schließt es die Möglichkeit einer intuitiven Vergegenwärtigung in unserem Beispiel der "Reinheit" als solcher ohne konkrete Fundierung in einem Träger ein. Drittens ermöglich es einem natürlich auch, diese Vergegenwärtigung für die Reinheit an einem bestimmten Träger durchzuführen, d. h. einen Typus vorzustellen, der Träger der Reinheit ist. All dies ist bei dem, der zwar wertsichtig ist, so daß er in den einzelnen, real an ihn herantretenden Situationen den Wert selbst erfaßt, ihn aber nicht "kennt", nicht möglich. Er kann sich weder  von sich aus  den Wert in einer konkreten Fundierung vorstellen, erst recht nicht  ohne konkrete Fundierung,  noch ist er ihm "bekannt", so daß er eine überaktuelle Beziehung zu ihm besitzt. Aber auch im konkreten Wertverständnis eines realen Falles unterscheiden sich beide Fälle, wie wir schon erwähnten. Ist es für den, der den Wert "kennt", gleichsam eine Erfüllung eines kontinuierlich besessenen, so ist es für den, dern den Wert nicht "kennt", jedesmal eine neue Belehrung, die nicht tiefere Wurzeln faßt.

Liegt nun der Unterschied zwischen dem Kennen eines Werttypus und dem bloßen einzelnen Erfassen desselben in einer konkreten Situation auf der Hand, so liegt andererseits die Gefahr nahe, den intuitiven Charaker des "Kennens" zu übersehen. Man könnte dieses "Kennen" einfach dem theoretischen Wissen um den Wert 'gleichsetzen, das in einem Erkennen im prägnanten Sinn fundiert ist. Man könnte meinen, auf einem intuitiven einzelnen Werterfassen baue sich eine Erkenntnis auf, die zu einem Wissen führt, das einen zu dem Urteil befähigt: Reinheit ist ein Wert. Dieses Wissen ist natürlich überaktuell, es ermöglicht das, was wir oben als Eigentümlichkeit des Kennens erwähnten. Das würde aber dem Tatbestand nicht gerecht. Wir brauchen nur an den Fall zu denken, in dem ein solches Wissen durch eine Autorität übermittelt ist. Wir wissen dann etwa, daß Reinheit ein Wert ist, aber wir erfassen dieselbe keineswegs intuitiv. Die intuitive Vergegenwärtigung des Wertes als solchem ohne eine konkrete Fundierung in einem Träger, die wir beim "Kennen" anführten, fällt hier ganz weg. Es könnte im Falle eines durch Autorität vermittelten Wissens sogar die Fähigkeit hinzutreten, in einzelnen konkreten Situationen den Wert zu erfassen, damit hätten wir noch nicht das "Kennen" des Wertes in unserem Sinn. Dies wird am deutlichsten am Fehlen der Möglichkeit einer intuitiven Vergegenwärtigung des trägerlosen Wertes in diesem Fall. Es hat trotz des Wissens um den Wert und einer konkreten Wertsichtigkeit keine Stelle. Es liegt also weder im Wissen als solchem noch im bloßen konkreten Erfassen des Wertes das, was wir als "Kennen" bezeichneten.

Wie ist es aber, wenn aus dem konkreten Erfassen des Wertes selbst eine Erkenntnis oder ein darauf gegründetes Wissen herauswächst? Ist dann nicht stets ein Kennen auch in unserem Sinn gegeben? Gewiß, es geht dann notwendig Hand in Hand, aber es besteht weder im Wissen bzw. der Erkenntnis, noch im intuitiven konkreten Werterfassen. Wohl geht mit jedem Kennen ein Erkennen Hand in Hand, mit jedem Erkennen, das sich auf ein konkretes Werterfassen aufbaut, ein Kennen. Aber beide sind doch völlig verschieden. Erstens ist das Objekt des Kennens stets der Werttypus selbst, das des Erkennens aber stets ein Sachverhalt, in unserem Beispiel etwa die Tatsache, daß die Reinheit eine Tugend ist, "rein" ein Wert ist. Dasselbe gilt auch von dem im Erkennen fundierten Wissen. Weiterhin sehen wir, wie das "Kennen" sehr weit ausgebildet sein kann, ohne daß das Erkennen entsprechend ausgebildet wäre. Gewisse untheoretisch veranlagte Menschen, bei denen die lebendigste sittliche Einstellung vorliegt, können die einzelnen Werttypen genau "kenne", ja, eine besonders tiefe und intime Kenntnis besitzen, ohne daß das Erkennen sehr ausgebildet wäre. Spezifisch theoretisch veranlagte Menschen hingegen sind im Erkennen viel weiter als im "Kennen". Das Kennen ist eben intuitiver Natur, wenn auch in einer bestimmten Modifikation. Zwar könnte ich wohl auch das Wissen als Kennen bezeichnen. Dann müssen wir uns aber klarmachen, daß es neben diesem Kennen ein intuitives "Kennen" gibt, das hier in unserem Fall in Frage kommt. Am deutlichsten sehen wir dies eben in der Tatsache, daß man sich die Werte intuitiv vergegenwärtigen kann, ohne sich dabei eine bestimmte konkrete Situation bzw. einen konkreten Träger vorstellen zu müssen. Daß es eine solche intuitive Vergegenwärtigung gibt, daß ferner auch außerhalb der Vergegenwärtigung der Werttypus intuitiv irgendwie da ist, das gilt es hier zu verstehen. Es ist das intuitive Erfassen eben nicht auf den konkreten, an einem Träger haftenden Wert beschränkt, und alles, was darüber hinausgeht, ohne weiteres ein Erkennen oder Wissen. Beides kann jedoch nie ganz ohne das andere auftreten (17). Die Antwort auf die Frage nach dem Fundierungsverhältnis von sittlichem Sein und Wertverständnis ist natürlich auch davon abhängig, ob wir unter der Wertsichtigkeit ein "Kennen" sittlicher Werttypen oder nur die Fähigkeit zum konkreten Wertsehen und Wertfühlen meinen. Das "Kennen" setzt, wie wir später sehen werden, eine bedeutend höhere Stufe des sittlichen Seins voraus, als die bloße Fähigkeit des konkreten Werterfassens. Es ist daher auch dieser Unterschied für die differenzierte Gliederung unseres Problems notwendig.


e) Die besondere Funktion des "Gewissens"
gegenüber dem Werterfassen

Man könnte im Gewissen das eigentliche "Organ" vermuten, mit dem wir sittliche Werte erfassen. So bedeutsam und eigenartig die Rolle der Stimme im sittlichen Leben ist, die wir als Gewissen bezeichnen, so scheint uns doch das sittliche Werterfassen viel weiter zu reichen und mehr zu umfassen als das Gewissen.

Das Gewissen ist erstens in besonderer Weise auf die  eigene Person  beschränkt. Niemand wird darauf kommen, zu behaupten, wir erfaßten die sittliche Größe eines Heiligen oder die sittliche Verworfenheit eines Wüstlings mit dem Gewissen. Das gesamte Erfassen der sittlichen Werte an  anderen Personen  liegt also außerhalb der Funktion des Gewissens. Wie wichtig aber gerade dieser Teil des sittlichen Werterfassens ist, tritt deutlich hervor, wenn wir bedenken, daß das Verständnis für das sittliche "Vorbild" auch dazu gehört. Alle sittliche Nachfolge baut sich auf diesem Werterfassen auf, auch der höchste und tiefste aller menschlichen sittlichen Akte, die Gottesliebe, ist darin fundiert. Dieses Werterfassen und nicht nur das Gewissen ist es, das die christliche Offenbarung in ihrem sittlichen Teil voraussetzt; durch dieses erfassen wir die absolute Heiligkeit und göttliche Sittlichkeit der Person CHRISTI.

Das Gewissen zeigt uns ferner, was mit dem ersten zusammenhängt, nicht die sittliche Welt ansich in ihrer immanenten Eigenbedeutung, sondern nur soweit sie quasi als Norm für mein  persönliches konkretes Verhalten  in Frage kommt. Wenn einem etwa jemand zumutet, um irgendeines Vorteils willen zu lügen, so sträubt sich das Gewissen dagegen, d. h. man sträubt sich dagegen, weil einem das Gewissen zeigt, daß dies unrecht ist. Das Gewissen sagt einem, bzw. wir sehen durch das Gewissen, daß ein Verhalten unrecht ist, sobald es als ein  möglicher Inhalt  unseres  persönlichen Lebens  auftritt. Die Funktion des Gewissens setzt stets eine Beziehung auf das eigene Verhalten voraus. Wir erfassen natürlich mit dem Gewissen nicht nur nicht die Fremdwerte, sondern ebensowenig die Eigenwerte. Wir erfassen aber im Gewissen auch die sittlich bedeutsamen Werte oder Unwerte nicht  in sich,  sondern nur die sittliche Bedeutung eines Verhaltens für  uns,  seine verpflichtende Kraft. Es sagt uns die sittliche Bedeutung jeglicher Handlungsweise, sofern sie für uns in Frage kommt. Wir erfassen etwa nicht den Wert des fremden Menschenlebens durch das Gewissen, wohl aber, daß es unsere Pflicht ist, es zu retten, wenn jemand sich in Gefahr befindet. Es wird gewöhnlich ein Werterfassen Hand in Hand damit gehen, es kann aber auch fehlen und das Gewissen uns nur die formale sittliche Unrichtigkeit des Unterlassens einer Hilfe in voller Klarheit zeigen.

Drittens ist es aber auch auf die sittlichen  Unwerte  eingeschränkt. Es zeigt uns, daß ein Verhalten unrecht wäre oder ein anderes nicht unrecht wäre, nicht aber, wie gut ein anderes Verhalten ist. Das Gewissen  verbietet  und  erlaubt  und  gebietet  nur indirekt, insofern es das Gegenteil des Verbotenen fordert. Wenn jemand etwa einem anderen verzeiht ohne Kampf, und ohne daß es ihn zu einem anderen Verhalten hingezogen hätte, so spielt das Gewissen hierbei keine eigentliche Rolle, es hat keine Funktion außer dem, was wir dabei "gutes Gewissen" nennen; das liegt aber auch vor bei dem bloß erlaubten Verhalten, also auch, wenn man in harmloser Heiterkeit scherzt. "Gutes Gewissen" heißt eben, daß man sich keiner Sünde in seinem momentanen Verhalten bewußt ist und sich in keiner Disharmonie mit Gott befindet, nicht aber, daß man sich eines positiven Wertes bewußt wird. So sprechen wir ja auch von Gewissenserforschung da, wo man sich daraufhin prüft, ob und worin man gefehlt hat. Das befragte Gewissen zeigt uns nur, worin wir gefehlt haben, nicht aber worin wir uns gut in einem positiven Sinn verhalten haben. Letzteres hängt auch damit zusammen, daß es sich eben stets um die Beziehung zur eigenen Person handelt, an der die positiven Werte bei der richtigen sittlichen Einstellung nicht in Erscheinung treten.

Wir können also sagen: auch im Gewissen erfassen wir sittliche Werte, aber erstens nur soweit die Werte Grundlage für mein konkretes Verhalten sind. Wir erfassen sie also gleichsam nur von einer bestimmten Seite aus, nämlich in ihrer verpflichtenden Rolle für die eigene Person. Zweitens ist das Erfassen der sittlichen Werte ein indirektes, da das Gewissen primär nicht auf den Wert ansich, sondern auf das für mich sittlich Richtige gerichtet ist. Dies sehen wir am deutlichsten, wenn wir an den gewissenlosen Menschen denken. Das ist nicht der sittlich Stumpfe, Blinde, der ahnungslos sündigt, sondern es ist der, der, obgleich er die sittlichen Werte erfaßt, ihren für ihn verpflichtenden Charakter nicht fühlt, der sich nichts daraus macht, die erfaßten Werte zu ignorieren. Wer ein schlechtes Gewissen hat, der sieht nicht nur, daß er etwas objektiv Schlechtes realisiert, sondern er fühlt auch die Verletzung der aus dem jeweiligen Wert fließenden Verpflichtung für ihn persönlich, und darum leidet er auch darunter. Es gehört wesenthaft zum schlechten Gewissen, daß es einen "drückt" und die Ruhe nimmt. Der Gewissenlose ist der, der angesichts des begangenen Unrechts es nicht als etwas schmerzlich Bedrückendes fühlt, der nicht die ihn persönlich betreffende Seite des Sittlichen versteht. Über die Schuldhaftigkeit dieser Gewissenlosigkeit werden wir später sprechen. Drittens ist es auf die negativen Werte, oder wie wir besser sagen können, auf das "Erlaubte" und "Verbotene" beschränkt. Wir sehen also, wie die Funktion des Gewissens das Wertfühlen und Wertsehen durchaus nicht ersetzen kann. Ein Wertfühlen ist zwar immer damit verbunden, aber das Erlebnis, das wir im Auge haben, wenn wir sagen: Das Gewissen sagt uns, daß etwas unrecht ist usw. ist viel spezieller und beschränkter als das Wertfühlen, sowohl dem Gegenstand nach, als der Art des Fühlens nach, andererseits enthält es Elemente, die über ein bloßes Wertfühlen hinausgehen, z. B. die eigenartige Beziehung auf mein Verhalten, die, wie man leicht sieht, mit dem persönlichen in Kontakttreten, das dem Wertfühlen gegenüber dem Wertsehen eigen ist, nichts zu tun hat. Der persönliche Kontakt, der das Wertfühlen auszeichnet, bezieht sich auf die Gegebenheitsweise des Wertes, während hier die persönliche Beziehung im Gefühlten selbst liegt und nicht in der Art des Wertfühlens.

Neben dem Gewissen im allgemeinen stehen noch die besonderen Phänomene, wie "schlechtes" und "gutes" Gewissen und "Gewissensbisse" (18) Hier ist von Gewissen in einem noch unbedeutend spezielleren Sinn die Rede, als wenn wir von Gewissen im allgemeinen sprechen. Hier liegt überhaupt nicht mehr eine direkte Beziehung auf gegenständliche Werte oder solche des eigenen Verhaltens vor, sondern nur eine allgemeine Beziehung, die uns deren negative oder positive Richtung vermittelt. Es wird stets nur erfaßt, auf welchem Weg man gleichsam ist, richtig, unrichtig usw. Dies wird erfaßt, ohne daß man die einzelnen Qualitäten, ja sogar das gegenständliche "gut" oder "böse" primär erfaßt.


f) Anwendung des Vorhergehenden auf
unsere Fragestellung

und einer bestimmten Tiefe des Wertfühlens, die Frage nach der Beziehung der vollen Tugend zum Werterfassen klärt und auch den dort auf den ersten Blick obwaltenden Widerspruch auflöst. Wir wollen jetzt fragen:
    1. Welche Stufe des sittlichen Seins setzt ein schlichtes intuitives Werterfassen voraus, ein Wertsehen oder Wertfühlen, das, ohne eine besondere Tiefe aufzuweisen, uns ein klares Bild des Wertes vermittelt?

    2. Welche Art und Stufe des Werterfassens setzt das primitivste sittliche Sein voraus?

    3. Welche Art und Stufe des Werterfassens setzt den Besitz von Tugenden voraus?

    4. Welche Art und Stufe des Werterfassens setzt die gute Handlung voraus?
So wenig vollständig diese Einteilung der Fragen auch noch ist, sie bringt uns der Lösung unserer ursprünglichen Frage doch um vieles näher. Die weitere Differenzierung wird sich von selbst bei der eingehenden Behandlung der verschiedenen Fragengruppen ergeben.


3. Allgemeine Charakteristik
der Wertblindheit

Wie oft treffen wir Menschen, die für gewisse sittliche Werte, etwa Reinheit oder Demut, ganz verständnislos und blind sind. Es gelingt vielleicht, ihnen durch langes Argumentieren Gesichtspunkte aufzuzeigen, die diesen Werten eine indirekte Bedeutung verleihen, aber alles Hinweisen auf den Wert selbst ist nicht imstande, ihnen ein Verständnis für seine Bedeutung zu erschließen. Die unerschütterliche Reinheit eines Menschen scheint ihnen keinerlei Vorzug, sie erscheint ihnen entweder so bedeutungslos und wertindifferent wie etwa Gesprächigkeit oder Schweigsamkeit, oder sie scheint ihnen verächtlich als Schwäche und Temperamentlosigkeit. Es ist nicht so, als wollten sie den Wert der Reinheit nur nicht zugeben, obgleich sie ihn im Grunde doch fühlen, nein, ahnungslos stehen sie davor wie völlig unmusikalische Leute vor der Schönheit einer Melodie. Es ist wichtig, zu sehen, daß diese Ahnungslosigkeit wirklich auf einer Blindheit beruth und nicht auf einem Irrtum in darauf sich beziehenden Urteilen. Es gibt Menschen, die infolge theoretischer Urteile und aus Mangel an theoretischer Begabung ethische Theorien besitzen, aufgrund derer sie die sittliche Bedeutung gewisser Tugenden leugnen. So treffen wir z. B. oft Leute, die den Egoismus predigen, das Mitleid als Schwäche verwerfen. Sie brauchen deshalb für die betreffenden sittlichen Werte nicht wirklich völlig blind zu sein. Wenn die konkrete Situation ihnen vor Augen steht, erfassen und verstehen sie den Wert bzw. Unwert wohl, sie machen nur von dieser Kenntnisnahme keinen Gebrauch für ihre theoretische Erkenntnis. Sie empören sich vielleicht angesichts eines herzlosen Egoisten und greifen helfend ein, wo sie mitleidslose Härte antreffen. Das hindert sie aber nicht, sobald sie darüber prinzipiell sprechen, in ihre theoretischen Vorurteile zurückzufallen und mit gleicher Emphase die vorher deutlich erfaßten Werte zu verleugnen. Allerdings liegt hier auch stets ein Mangel im Intuitiven vor. Es ist nicht dasselbe Verständnis für die Eigenart der Werte wie bei den völlig wertsichtigen Menschen, und es fehlt vor allem das dauernde  Kennen,  das ein Verhältnis zu einem Werttypus auch außerhalb der konkreten Situation ermöglicht. Aber immerhin fehlt ihnen anicht jedes intuitive Verständnis, weil ihnen das Erkennen völlig fehlt. (19) Es ist ein theoretisches Unvermögen, das aus sehr verschiedenen Quellen stammen kann (20). Hier handelt es sich uns aber um einen wirklichen Ausfall des Fühlens, nicht um den Ausfall von dem, was sich auf dem Fühlen aufbaut, auch nicht primär um das Fehlen eines "Kennens". Noch viel weniger liegt natürlich ein bloßes Nichthinsehenwollen vor, etwa ein krampfhaftes Wegschauen.

Kehren wir zu unserem Beispiel desjenigen, der für Reinheit völlig blind ist, zurück. DON JUAN fühlt nicht etwa die Schönheit der Reinheit und kümmert sich nur nicht um sie, weil seine Begierden dies nicht zulassen, sondern er ist völlig stumpf und blind für dieselbe wie ein Farbenblinder für Farbenqualitäten. Es ist eine unleugbare Tatsache, daß es eine  Wertblindheit  gibt, die sich auf die verschiedensten  einzelnen Werttypen  beziehen kann oder auf die ganze  sittliche Sphäre  überhaupt. Je höher ein Wert bzw. eine Tugend ist, umso häufiger wird man Blindheit für dieselbe antreffen. So gibt es viel mehr Menschen, die für reine Liebe, Demut, Jungfräulichkeit, asketischen Opfergeist blind sind, als solche, die für Gerechtigkeit, Treue, Solidarität und Wahrhaftigkeit verständnislos sind.

Bei einer solchen Wertblindheit handelt es sich aber nicht etwa um eine  Anlage.  Wenn wir bisher die sittliche Wertblindheit mit der Farbenblindheit oder mit der einer unmusikalischen Anlage verglichen, um zu zeigen, daß es sich nur um einen Ausfall in der Sphäre der Kenntnisnahme handelt und nicht um einen Mangel an theoretischer Einsicht, oder um ein bloßes bewußtes Nichtsehenwollen, so waren diese Vergleiche mit  echten Anlagen  nur  cum grano salis  [mit einem Augenzwinkern - wp] gültig. Man könnte diese vielleicht dahin mißverstehen, als ob das sittliche Wertverständnis ein Talent sei, das dem einen gegeben, dem andern nicht gegeben sei, wie die musikalische Anlage oder künstlerische Talente. Die Wertblindheit sei eben ein Talentmangel oder ein organischer Fehler der geistigen Person, wie Blindheit ein physiologischer Fehler ist. Es gäbe eine partielle und totale "moral insanity, die dem  Idiotismus  auf intellektuellem Gebiet zu vergleichen ist. Dies trifft aber keineswegs zu. Die sittliche Blindheit ist vielmehr im sittlichen Sein, in der Einstellung und Grundhaltung der Person fundiert und darum auch in gewissem Sinne stets  verschuldet  gegenüber den oben angeführten Talenten, für deren Besitz oder Nichtbesitz niemand verantwortlich ist. Wenn wir auch die sittliche Blindheit bei einem konkreten einzelnen Fall als Entschuldigung anführen und damit die Verantwortung vom Betreffenden abzuwälzen meinen, so bezieht sich dies eben nur direkt auf die Verantwortung für diese einzelne Tat, nicht auf die Verantwortung für den sittlichen Gesamtstatus, auf dem auch die Blindheit beruth. Setzen wir den Fall, jemand benimmt sich sehr rücksichtslos gegen einen anderen, ohne sich dessen irgendwie bewußt zu sein, in völliger Ahnungslosigkeit. Wir entschuldigen ihn damit, daß wir sagen: er hat es ja nicht absichtlich getan, er merkt ja selbst nicht, daß er rücksichtslos ist, bzw. er hat keine Ahnung davon und kein Gefühl dafür, daß ein Eingriff in die Rechte des anderen vorliegt, oder daß ein solcher überaupt unrecht ist. Gegenüber dem, der dies weiß und es trotzdem unbekümmert tut, ist er für diesen einzelnen Fall sicher weniger verantwortlich. Aber ist er damit ganz entschuldigt? Ist diese seine Ahnungslosigkeit und Wertblindheit eine Anlage, für die er so wenig verantwortlich ist wie ein anderer für seine Dummheit? Machen wir ihn nicht vielmehr, wenn auch nicht so für diesen einzelnen Fall, so doch für die Blindheit selbst verantwortlich? Ist es nicht in einem weiteren Sinn des Wortes seine Schuld, daß er ahnungslos ist? Und tadelns wir ihn nicht, wenn er auch so, wie er ist, vielleicht für sein Verhalten in diesem einzelnen Fall nichts kann und ohne weiteres dasselbe auch nicht umgehen konnte? Er kann eben doch dafür, daß er überhaupt so wertblind wurde, daß er sich in seiner Freiheit selbst so beschränkte. ARISTOTELES (21) vergleicht diese Fälle, in denen die Verantwortlichkeit beschränkt ist, weil sich in Bezug auf den einzelnen Fall der Freiheit beraubt hat, mit den Handlungen in der Trunkenheit, für die man zwar nicht direkt verantwortlich ist, wohl aber dafür, daß man betrunken wurde.

Weist uns die Tatsache, daß wir die Wertblindheit für verschuldet halten, schon darauf hin, daß es sich hier nicht um ein "Talent", wie die musikalische Begabung, handelt, so wird dies vollkommen klar, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß sich dieselbe verlieren kann, allmählich und auch mit einem Schlag bei der  Bekehrung.  Hier weicht mit dem radikalen inneren Stellungswechsel, mit der absoluten Umkehr und Veränderung der Grundeinstellung auch die Blindheit mit einem Schlag. Vor dem Bekehrten stehen all die Werte lebendig in ihrer ewigen Bedeutung da, gegen die er sich vorher in ahnungsloser oder verstockter Blindheit versündigt hat; in der Reue über sein bisheriges Leben erschließen sich ihm all die Unwerte, die er biher nicht gescheut hat. Wer die Geschichte der plötzlichen Bekehrungen kennt, der wird auch die Tatsache kennen, wie der Schleier, der viele oder alle sittlichen Werte und Unwerte dem Sünder verdeckte, mit einem Schlag fällt und die Welt ein neues Angesicht für ihn bekommt (22). Er hatte vielleicht schon viel über Werte gehört und ohne Verständnis und Überzeugung "gewußt", jetzt gehen ihm die Werte aber wirklich auf, er versteht und fühlt sie. Ein Unmusikalischer aber, der durch eine völlige innere Umkehr auf einmal musikalisch wird, ist ein Unding. Diese Tatsache, daß bei der Bekehrung die Blindheit mit einem Mal verschwindet, zeigt uns eindeutig, daß die Wertsichtigkeit kein  Talent,  die Wertblindheit kein Mangel an Begabung oder kein organischer Fehler in der Anlage ist wie Dummheit oder Mangel an Humor. Sonst würde sie nicht mit dem freien Gesamtwechsel der sittlichen Einstellung verschwinden können (23).

Dieses Aufhören der Wertblindheit zeigt uns aber vor allem, warum wir die Wertblindheit als besonders geeigneten Ausgangspunkt für unsere Untersuchung oben bezeichneten. Die Verschuldetheit der Wertblindheit, sowie die Art ihres Aufhörens bei der Bekehrung lassen uns nämlich den engen Zusammenhang von Wertsichtigkeit und sittlichem Sein besonders deutlich hervortreten, und zwar zunächst die Abhängigkeit der Wertsichtigkeit vom sittlichen Sein. Wir wollen daher von der Wertblindheit im folgenden ausgehen, um das Verhältnis von Werterfassen und sittlichem Sein im einzelnen kennen zu lernen.

Innerhalb der Wertblindheit lassen sich jedoch drei typisch verschiedene Fälle unterscheiden.
    1. Die  totale, konstitutive, sittliche Wertblindheit,  d. h. der völlige Ausfall eines Verständnisses für "gut" und "böse". Man denke an Menschen, die für die ganze sittliche Seite der Welt völlig blind sind, für die die Begriffe gut und böse fast so leer sind, wie für den Blinden die Begriffe "rot" und "grün".

    2. Die  partielle, sittliche Wertblindheit,  bei der wohl ein Verständnis für den Grundwert "gut" vorliegt, wenn auch nur ein primitives, sowie für einzelne Werttypen, wie Gerechtigkeit, Treue, Zuverlässigkeit, bei der aber das Verständnis für andere Werttypen, z. B. Demut, Reinheit, Milde, Liebe, völlig fehlt.

    3. Die bloße,  sittliche  Subsumtionsblindheit, bei der das Verständnis für die einzelnen Werttypen zwar völlig vorhanden ist, nicht aber dafür, was alles Träger dieser Werttypen ist. Ein Subsumtionsblinder z. B. versteht wohl den Wert "Wahrhaftigkeit", aber er sieht vielleicht nicht, daß die Notlüge auch einen Verstoß gegen denselben bedeutet, oder er sieht nicht, daß sein individuelles Verhalten in einem bestimmten Fall eine Notlüge darstellt.
Der oben gemachten Differenzierung unseres Problems entsprechend, werden wir nun diese verschiedenen Typen von Wertblindheit einzeln erforschen. Die Untersuchung der jeweiligen Bedingungen und Voraussetzungen der Wertblindheit bei jeder dieser drei verschiedenen typischen Formen, die, wie wir sehen werden, jeweils verschiedenen Tiefenschichten der Person angehören, wird das Abhängigkeitsverhältnis der einzelnen Arten des Werterfassens von den einzelnen Stufen des sittlichen Seins am deutlichsten zum Ausdruck bringen.
LITERATUR - Dietrich von Hildebrand Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. V, Halle a. d. Saale, 1922
    Anmerkungen
    1) siehe ARISTOTELES, Nikomachische Ethik VI, 13, 1144b, 25 - 30; 1144b, 17 - 19.
    2) Siehe Nikomachische Ethik Vi, 13, 1144b, 30-32; 1144b, 10 - 24; 1147a, 18 - 24.
    3) ARISTOTELES, Nikomachische Ethik VII, 3, 1147b
    4) Vgl. HILDEBRAND, Die Idee der sittlichen Handlung, Teil II, Kap. 1, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. III, 1916, Seite 198
    5) Sie unterscheiden sich zwar von den sittliche bedeutsamen Sachverhaltswerten, deren Eigenart in Teil II, Kap. 1 der  Idee der sittichen Handlung  wir aufzudecken versuchten, etwa dem "Rechten" hinsichtlich ihrer Seinsart und in vielem anderen; die eigene Beziehung zur Welt des Sittlichen, ohne selbst sittliche Personwerte zu sein, teilen sie jedoch mit diesen. Wir fassen sie daher hier mit den anderen als sittlich bedeutsamen Werte in eine Gruppe zusammen.
    6) Siehe "Idee der sittlichen Handlung", Teil I, Kap. 2
    7) So im Positivismus, im HUMEschen Sensualismus und auch bei KANT.
    8) Siehe HUSSERL, Logische Untersuchungen
    9) Die Bedeutung eines spezifischen anschaulichen Werterfassens deckte vor allem MAX SCHELER auf, zuerst in seinen Vorlesungen über Ethik an der Universität München 1907 - 1909, ferner in seinem grundlegenden ethischen Werk: "Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik". Er machte auch auf die Bedeutung dieser Einsicht für das Verständnis der sokratischen These aufmerksam. Hier wie an so vielen anderen Stellen wird für den Kenner SCHELERscher Schriften der Zusammenhang dieser Arbeit mit der SCHELERschen Gedankenwelt deutlich zutage treten.
    10) Spezifischer Terminus von MAX SCHELER.
    11) Spezifischer Terminus von EDMUND HUSSERL.
    12) Siehe "Idee der sittlichen Handlung", Teil 1, Kap. 2
    13) Auf die verschiedenen Formen des Wertfühlens können wir hier nicht eingehen, wir wollen nur das Wertfühlen als solches im Gegensatz zum ebenfalls intuitiven Wertsehen herausheben. Daher behandeln wir die zwei verschiedenen Formen des Wertfühlens, das "Eindringen in den Wert", das man  mutatis mutandis  [unter gleichen Bedingungen - wp] mit dem Schmecken einer Speise vergleichen kann, vom Eindringen des Wertes in mich, dem Affiziert- oder Ergriffenwerden von ihm, das man eher mit stechendem Schmerz vergleichen könnte, nicht getrennt. Es sei hier aber ausdrücklich noch auf diese Unterschiede hingewiesen.
    14) Vgl. dazu "Die Idee der sittlichen Handlung", a. a. O., Teil II, Kap. 2, Seite 208
    15) Vgl. dazu SCHELER, Der Formalismus, a. a. O.
    16) Wie wir später sehen werden (Teil III, Kap. 1) schließt das Kennen von sittlichen und sittlich bedeutsamen Werten auch ein generell richtigeres Verständnis der sittlichen Wertewelt ein, - es wird ihrer Eigenart gerecht, da die einzigartige Bedeutung der sittlichen Wertewelt die Kontinuität des ständigen Kontaktes fordert.
    17) Die erkenntnistheoretisch wichtige Frage, worauf das "Kennen" sich aufbaut, würde genaueren Aufschluß über diesen Zusammenhang geben. Setzt das Kennen stets ein "Kennen lernen" voraus, das sich an ein konkretes Werterfassen anschließt, oder kann es ohne ein solches da sein? Hierin liegen eigentlich noch zwei Fragen: Muß jedes Kennen in einem konkreten Erfassen eines Wertes an einem realen Träger fundiert sein, wie die Kenntnis von Rot im Erfassen eines konkreten realen Rot? Oder kann es die Person gleichsam mitbringen? Dieselbe Frage kann hier auch für die vorstellende Vergegenwärtigung eines Wertes gestellt werden. Sie betrifft noch nicht das Spezifische des Kennens. Dies kommt erst in der zweiten Frage: Muß dieses überaktuelle Kennen stets mit einer konkreten Vergegenwärtigung "anfangen", oder kann es einfach gleichsam wie eine "idea innata" [angeborene Idee - wp] da sein? Diese beiden Fragen beziehen sich auf erkenntnistheoretische Probleme allgemeinster Art, die uns hier natürlich nicht beschäftigen können.
    18) Es müßte eine ganze Reihe verschiedener scheinbar verwandter Phänomene unterschieden werden, - was natürlich hier nicht unsere Aufgabe sein kann und späteren ethischen Untersuchungen vorbehalten bleiben muß. Es gibt ein schlechtes Gewissen im Sinne einer bloßen inneren Disharmonie, während der schlechten Handlung selbst ohne jegliches Werterfassen. Das kann auch dem Bösen, Wertblinden eigen sein. Davon ist zu unterscheiden  das  schlechte Gewissen, bei dem außer der inneren Disharmonie noch ein Werterfassen in dem eben charakterisierten, beschränkten und modifizierten Sinn vorliegt. Man hat während der Handlung das Bewußtsein "schlecht" zu handeln, und dies drückt, ängstigt und stört. Die Gewissensbisse, die sich auf Vergangenes richten, stellen noch einen weiteren Fortschritt dar, indem sie nicht nur  drücken  und  stören,  sondern auch  schmerzen Man könnte bei ihnen von einer passiven "Reue" sprechen. Es fehlt aber noch das wirkliche Eingehen auf den sittlichen Gesichtspunkt, der Schritt in eine prinzipiell neue Haltung, die wirkliche aktive Unterordnung unter Gottes Willen, die eine Zurücknahme des vergangenen Unrechts einschließt. Dies zeichnet die eigentliche echte Reue aus, die - im Gegensatz zum unfruchtbaren und ethische nutzlosen "Gewissensbiß" - fruchtbar ist. Passiv sind die Gewissensbisse auch deshalb, weil sie gleichsam von außen an uns herankommen - man denke an die Erinnyen -, während ich bei der Reue selbst aus meinem Innersten heraus mit tätig bin.
    19) Die Diskrepanz zwischen Wertfühlen und Werterkenntnis bzw. Urteil über Werte, die sich analog wie auf sittlichem Gebiet auch auf ästethischem Kunstgebiet findet, muß von einem Ausfallen des Wertfühlens selbst jedenfalls streng getrennt werden. Wie die Ahnungslosigkeit eines ganz Unmusikalischen angesichts der Schönheit der neunten Symphonnie BEETHOVENs von den Fehlern völlig zu trennen ist, die ein musikalischer Mensch, der dieselbe wohl fühlt, in seinen Urteilen über dieselbe infolge allgemeiner festgefahrener Kunsttheorien macht, so auch hier.
    20) Es wurde an anderer Stelle versucht, dieses Unvermögen näher zu erklären und seine Motive aufzuweisen (vgl. Teil II, Kap. 2 in "Idee der sittlichen Handlung", a. a. O.) Es sei hier nur darauf hingewiesen, daß auch hinter dieser theoretischen Leugnung bestimmte Haltungen der Person wie Hochmut usw. stehen, daß also auch bis hierhin die Abhängigkeit vom sittlichen Sein reicht.
    21) siehe ARISTOTELES, Nikomachische Ethik III, Seite 1113b, Seite 30f.
    22) Ich verweise hier auf die klassischen Darstellungen von Bekehrungen in DOSTOJEWSKIs "Die Brüder Karamasoff", beim  Staretz Sossima,  in MANZONIs "Die Verlobten" beim  Ungenannten. 
    23) Man könnte hier vielleicht einwenden: Ja, die Bekehrung ist eben eine Verwandlung der ganzen Person, bei der auch die Anlagen sich verändern. Die sittliche Einstellung ist ja selbst eine bloße Anlage wie die Fähigkeit, zu malen. Dieser Einwand würde unsere These jedoch in keiner Weise treffen. Daß die Tugend selbst kein Talent ist, scheint uns eindeutig aus den Tatsachen hervorzugehen. Es genügt daher, hier zu sehen, daß das Werterfassen sich mit einer bestimmten, sittlichen Einstellung bzw. mit dem Wegfall einer unsittlichen ohne weiteres einstellt, um zu erkennen, daß es selbst auch kein Talent ist, das einem fehlt und einem anderen nicht.