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Die Zukunft der sozialen Frage
I. Die bürgerliche Wirtschaftsordnung und die sozialen Wohlstandstendenzen Die technisch-ökonomischen Potenzen, die bei diesem Umschwung des Gesellschaftslebens wirksam gewesen, hatten die Physiognomie der gewerbetätigen Bevölkerung von Grund auf verändert. Die Zünfte waren beseitigt, das Handwerk hatte seine dominierende Stellung nicht behaupten können, der Großbetrieb war mächtig geworden, sei's als Organisation des Absatzes im Großen in der Form der Hausindustrie, sei's als Organisation der Produktion im Großen durch Manufakturen und Fabriken. Eine Klasse von Leuten war in die Höhe gekommen, - eben jene, die mit wagender Energie die neuen Betriebsorganisationen eingeführt und sich zu Leitern der großen Produktion und des Absatzes aufgeschwungen hatten, und die nun, wo's glückte, in kürzester Zeit gewaltige Reichtümer sammelten, durch Ausbeutung von Produzenten und Konsumenten: die Kapitalisten. Und mit ihrem Dasein untrennbar verknüpft war die Existenz des Proletariats, des zahllosen Heeres der Arbeiter des Großbetriebes, denen jegliche Hoffnung auf spätere Selbständigkeit genommen war, wie sie früher doch den Handwerksgesellen gewinkt hatte. Und Jahr um Jahr wurden für dieses Heer immer neue Tausende aus dem Volk mobil gemacht: Frauen, Kinder und Landarbeiter. In dichten Massen wurde das Proletariat zusammengeschaft, da die moderne Technik und die neuen Verkehrsmittel die Großbetriebe vom Standort (z. B. von der unmittelbaren Nähe der Wasserkräfte) unabhängig machten und so das Nebeneinanderbestehen der verschiedensten Industriezweige am gleichen Ort ermöglichten. Das bisherige patriarchalische Arbeitsverhältnis zwischen Brother und Arbeiter mußte schwinden. Die neuen Fabrikherren, meist Parvenus [Emporkömmlinge - wp] aus den untersten Ständen, kannten nur zu oft keine andere Moral als die des Geldsacks. Verlängerung der Arbeitszeit, Einführung der Nachtarbeit, Vernachlässigung von Maßregeln zum Schutz von Leben und Gesundheit der Arbeiter; dazu noch auf der anderen Seite - unabhängig von der Schuld der Kapitalisten - Arbeits- und Erwerbslosigkeit vieler Tausender: das waren offensichtlich die Folgen des neuen Gewerbesystems für die arbeitenden Klassen. Aber diese waren keineswegs gewillt, die neue Lage willig zu ertragen. Die Bevölkerungsklassen, die des alten Schutzes der zünftigen Ordnung beraubt und schutzlos in der modernen Gesellschaft der Übermacht des Kapitalisten, den Unbilden des laisser-faire [Laufen lassen - wp] preisgegeben waren, mußten das Verlangen haben, sich anerkannt, ihre neuen Bedürfnisse von der Gesetzgebung gepflegt zu sehen. Die Stellung der industriellen Arbeiter in jener Epoche, wo der moderne Kapitalismus seinen Siegeszug vollführte, mußte von aufmerksamen Beobachtern so aufgefaßt werden, wie sie von NAPOLEON dem Dritten in seiner Schrift "Extinction du paupérisme" (1844) beredt gekennzeichnet worden ist:
Aber, wie schon HERDER bemerkt hat, die großen Staatskörper sind hart, - eiserne Tiere, denen die Gefahr nahe ankommen muß, ehe sie ihren alten Gang ändern. Es war selbstverständlich, daß die Regierungen den Beschwerden der Arbeiter über Ausbeutung und Mißstände zunächst nicht entsprachen, und so war die Folge, daß die Arbeiter die bestehende Ordnung, von der sie noch keinen organischen Bestandteil bildeten, in ihrem Sinne umzugestalten suchten. Und umsomehr mußte das geschehen, als jetzt, auf dem Boden dieser angefeindeten neuen Gesellschaft, für die große Masse der produktiven, aber abhängigen Bevölkerung zum erstenmal die Gelegenheit gegeben war, sich selbständig an der Weltgeschichte mit aktiven Handlungen großen Stils zu beteiligen. Denn früher hatten jene Elemente - von vereinzelten Aufständen abgesehen - entweder nur das passive Piedestal [Postament - wp] für alle Kämpfe um politische und soziale Macht abgegeben (wie z. B. im Altertum) oder nur um bescheidene Verbesserungen ihrer materiellen Existenz ringen können (wie z. B. im Mittelalter). Es ist klar: die unmittelbare Bedingung für ein tatkräftiges Eingreifen der breiten Masse in das politische und soziale Leben ist erst dann gegeben, wenn es ihr gestattet ist, sich für ihre Zwecke planmäßig und dauernd zu organisieren. Daher waren die arbeitenden Klassen im Großen und Ganzen noch bis vor hundert Jahren in allen Ländern einflußlos, weil jene Bedingung nicht erfüllt war. Denn soweit ihnen in den vergangenen Epochen überhaupt Organisationen erlaubt waren - wie vornehmlich den Zunftgesellen in den Städten -, war ihr Wirkungskreis auf gesellige und religiöse Bedürfnisse, Unterstützungswesen, Arbeitsnachweis und höchstens noch auf Verbesserung einiger Bedingungen des Arbeitsvertrages beschränkt; und daß diese engen Grenzen von den Gesellenverbänden niemals überschritten wurden, dafür sorgten Zünfte und Obrigkeiten durch peinliche Überwachung und unnachsichtige Strenge. So konnte der Arbeiterstand damals froh sein, wenn häusliche Streitigkeiten und gegenseitige Eifersüchteleien der herrschenden Stände, oder wenn patriarchalische Regierungen oder religiöse Einflüsse etwas zur Hebung seiner Lage beitrugen. Darum konnte es früher nur zu vereinzelten heftigen Explosionen kommen, die aber an der politischen Unreife der Empörer und an der Festigkeit der herrschenden Mächte scheitern mußten: so die Sklavenaufstände im Altertum, die Erhebungen der Bauern in England, Frankreich und Deutschland im Mittelalter. Und daß diese wild-leidenschaftlichen Versuche der Unterdrückten, ihre Ketten zu zerbrechen, sich nicht wiederholten, dafür wußten die herrschenden Klassen schon zu sorgen, indem sie nach jedem Sieg die Parolde des "Vae victis!" [Wehe den Besiegten! - wp] zur Anwendung brachten und mit der ganzen Brutalität jener Zeiten fürchterlich Strafgericht hielten, zum warnenden Exempel. So erkannte das Volk seine Ohnmacht, und eingeschüchtert und teilnahmslos gegen alle Politik kehrte der Bauer hinter den Pflug zurück und der Arbeiter in die Werkstatt. Wen so die privilegierten Stände früher gegen alle Forderungen und Wünsche des Volkes mit Wall und Graben sicher verschanzt schienen, so bot der moderne Staat und seine Freiheit dem Volk die Möglichkeit, die bis dahin uneinnehmbare Verschanzung jetzt fallen zu sehen. Diese Hoffnung und Aussicht mußten die breiten Massen aus ihrer Lethargie aufrütteln, so daß über kurz oder lang bei allen Kulturvölkern die Bewegung der unteren Klassen so allgemein war wie früher die Teilnahmslosigkeit. Die Geschichte dieser Bewegung - deren Schilderung außerhalb des Rahmens dieser Abhandlung fällt - ist wesentlich maßgeben für die Entwicklung der sozialen Frage geworden. Parallel mit dem wirtschaftlichen Fortschritt, vor allem mit dem Grad der Herausbildung der Großindustrie, entstanden in allen Kulturländern Organisationen der Arbeiterklasse, die, wie verschieden auch immer voneinander nach der Art ihres Gefüges und nach der Richtung ihrer Ziele, doch sämtlich das Eine miteinander gemein hatten, daß sie den arbeitenden Massen einen festen Platz in der Gesellschaft, ein Recht der Mitbestimmung an der Gestaltung ihrer sozialen Existenzbedingunen und Schutz vor den mannigfachen Unbilden der modernen kapitalistischen Wirtschaftsordnung sichern wollten. Und auch darin zeigt sich der einheitliche Charakter der modernen proletarischen Bewegung, daß diese in allen Ländern zuerst sozialistische und revolutionäre Tendenzen verfolgte, ehe sie in die Bahn ruhigen, reformatorischen Wirkens in Staat, Gemeinde und Gesellschaft eingelenkt ist. Sonst hat freilich jedes Land seine eigenartige Entwicklung gehabt: so sehr, daß heute von einer wirklichen Gesetztheit der organisierten Bestrebungen der abhängigen produktiven Bevölkerung einzig und allein in England gesprochen werden kann, - während sie, unseres Erachtens, in allen anderen Ländern Europas von diesem Stadium immer noch mehr oder weniger weit entfernt sind. Die ungeheure Vehemenz, mit der der sozialistische Vorstoß gegen die bestehende Wirtschaftsordnung einst in der ganzen Kulturwelt erfolgte, sowie die lange Dauer der sozialrevolutionären Kindheitsphase der Arbeiterbewegung in den kontinentalen Ländern - ist sie doch zum Teil hier noch heute nicht überwunden! - haben zur Folge gehabt, daß die Sozialpolitik, soweit ihr Studium von ernsten, die Notwendigkeit der sozialen Reform erkennenden Gelehrten betrieben wurde, ein pessimistisches Äußeres gewann. Man glaubte, durch die Anklagen der Kommunisten und die fortgesetzte Aufdeckung einzelner - manchmal himmelschreiender - Mißstände überzeugt, daß die Lage der Arbeiter sich immer mehr verschlechtern, daß die sie heimsuchenden Übelstände sich immer mehr steigern, daß (nach den Worten ADOLF WAGNERs) "die Verteilung des Produktionsertrages für die Arbeitgeberklassen immer günstiger, für die unteren Klassen wenigstens relativ ungünstiger werde." Jedenfalls aber schien eines uns allen, die wir das Wesen der sozialen Frage und die Mittel der sozialen Reform studierten und für den Gedanken der Erhebung der unteren Klassen tätig waren, sicher: daß diese Idee die Idee der Zukunft sein würde, daß sich immer mehr die Erkenntnis verbreiten würde, daß nur die soziale Reform die europäische Kultur vor dem Untergang retten könne, und daß alle anderen wirtschaftlichen Fragen und ganz besonders die Fragen der "hohen" Politik, daneben zu Nebenfragen herabsinken würden. Die künftigen Jahrhunderte, so glaubten wir, würden dem höchsten Kulturproblem, der sozialen Frage gewidmet sein, dem Kampf mit den zahllosen Schwierigkeiten, die die moderne Volkswirtschaft den großen Reformen sowohl wie der reformatorischen Kleinarbeit entgegensetzt! Die tatsächliche Entwicklung zeigt freilich einen Verlauf, der von dem damals angenommenen in wesentlichen Punkten abweicht: so daß wir uns nun, durch die Erfahrung eines Besseren belehrt und in das Wesen der Arbeiterbewegung besser eingeweiht, über die Zukunft der sozialen Frage zu anderen Ansichten durchringen müssen. Zunächst hat sich die allgemein geglaubte These von der sukzessiven Verschlimmerung der Lage der arbeitenden Klassen als ein Märchen herausgestellt. Zwar haben zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die ersten Sturzwellen des siegreich vordringenden Kapitalismus viel Ungemacht und Elend über das Volk gebracht: das ist durch tausendfältige Zeugnisse aus allen Ländern - durch parlamentarische Enqueten, Mitteilungen von Fabrikinspektoren, Berichte von Behörden, Untersuchungen von Ärzten in England, Frankreich und Deutschland - erwiesen. Damals, als die bunt zusammengewürfelten Massen der Arbeiter noch nicht organisiert, die Gewinnsucht der Kapitalisten noch nicht durch Gesetz und Sitte eingeschränkt, die Kinder und Frauen ein willkommenes Ausbeutungsobjekt ad libitum [wie es euch gefällt - wp] für industrielle Exploitation waren, - da haben in weiten Distrikten tatsächlich derartige Zustände geherrscht, daß ROBERT PEEL, der "königliche" Kaufmann (des Staatsmanns Vater), mit Fug klagen konnte: es sei dahin gekommen, daß jene großartigen Errungenschaften des britischen Scharfsinns, durch die das Maschinenwesen zu einer solchen Vollendung gelangt sei, statt zu einem Segen für die Nation zu deren grausamsten Fluch würden! Stellenweise waren heillose Zustände der Verwahrlosung und Mißhandlung der Arbeiter eingerissen, so daß ihre Erzählung, nach des größten englischen Dichters Wort,
Dein junges Blut erstarrte ... , Und sträubte jedes einzle Haar empor, Wie Nadeln an dem zorn'gen Stacheltier!" Dem entsprechend beweist die Statistik, daß sich in allen Ländern mit fortschreitender Industrie die Lage der arbeitenden Klassen - dieselben als ein großes Ganzes betrachtet - kontinuierlich verbessert. Wir führen aus der Unsumme von Daten, die für diese Behauptung gesammelt worden sind, seit JULIUS WOLF sie zum erstenmal in seinem groß angelegten Werk über "Sozialismus und kapitalistische Wirtschaftsordnung" aufgestellt und mit Nachdruck verteidigt hat, die folgenden an. In Sachsen, Deutschlands fabrikreichsten Land, ist seit 1874 eine allgemeine Einkommenssteuer eingeführt, die bis zum Jahr 1894 alle Personen bis zu 300 Mark Jahreseinkommen herab umspannte. Diese Statistik ist demnach für die Ermittlung der Tendenzen der Einkommensentwicklung die brauchbarste. Danach hatten nun von der erwerbstägigen Bevölkerung ein Einkommen von weniger als 300 Mark
Weiter. Ein Einkommen von 300 bis 800 Mark einschließlich hatten von den eingeschätzten Personen
Ganz anders gestaltet sich dagegen das Bild, das die Entwicklung der nächsten, schon etwas besser gestellten Schichten aufweist. Denn ein Einkommen von über 800 bis 1400 Mark hatten von den eingeschätzten Personen.
Dieselbe Erscheinung zeigt sich, wenn auch nicht in gleich hohem Maß, bei der folgenden Klassen von Leuten mit einem Einkommen von über 1400 bis 2200 Mark. Denn ein solches Einkommen hatten von den eingeschätzten Personen
Und ein ähnliches Resultat ergibt sich bei der nächsthöheren Klasse, den Personen mit einem Einkommen von über 2200 bis 4800 Mark. Denn dieses Einkommen besaßen von den eingeschätzten Personen
Ich bemerke noch zur Verdeutlichung dieser Entwicklung, daß im betracheten Zeitraum die Bevölkerung um 28 Prozent, die Zahl der eingeschätzten Personen um 37 ½ Prozent zugenommen hat, und daß es auf diese Weise möglich geworden ist, daß in jeder der betrachteten Einkommensklassen die Zahl der daran teilhabenden Personen, absolut betrachtet, gewachsen ist. Freilich haben jene Klassen, deren prozentualer Anteil an der Gesamtbevölkerung gefallen ist, nur eine geringe Vermehrung der absoluten Zahl der Teilnehmer aufzuweisen: so wuchs die (absolute) Zahl der Eingeschätzten mit einem Einkommen von unter 300 Mark nur um 8 ½ Prozent, - während z. B. die beiden Klassen der mit 800 bis 1400 und der mit 1400 - 2200 Mark Eingeschätzten um je 122 Prozent zunahmen! Das sind Ziffern, die geradezu schlagend beweisen, daß eine außerordentlich große Zahl von Angehörigen der beiden untersten Einkommensklassen innerhalb des kurzen Zeitraums von fünfzehn Jahren in die höheren aufgestiegen ist, - und das ist geschehen, obwohl die wirtschaftliche Konjunktur und die Produktion von Reichtum in dieser Periode nicht entfernt so günstig war wie in der Zeit, die seitdem verstrichen ist, da gerade mit dem Jahr 1894 ein wirtschaftlicher Aufschwung eingesetzt hat, der in der Geschichte der deutschen Industrie seinesgleichen nicht hat.
Diesen Tatsachen entsprechend hat sich das gesparte Vermögen der "kleinen Leute" in der letzten Zeit erheblich vergrößert. In Sachsen betrug die Zahl der Sparguthaben im Jahre 1879: 860 000 (im Betrag von 318 Millionen Mark), - Im Jahr 1895: 1 940 000 (im Betrag von 742 Millionen Mark). In Preußen betrug die Zahl der Sparkassenbücher im Jahr 1882: 3 ¼ Millionen (im Betrag von 1700 Millionen Mark), im Jahr 1897: 7 ½ Millionen (im Betrag von fast 5 Milliarden Mark). In Bayern gab es im Jahr 1882: 78 500 Leute mit einem Kapitalrenteneinkommen von 100 - 400 Mark., - im Jahr 1896: 93 700, trotz der in diese Episode fallenden Zinsreduktion. Die Bevölkerung hatte um 10 Prozent zugenommen, die Zahl jener Leute, die etwas Vermögen zusammenbrachten, aber um fast 20 Prozent! Die Entwicklung der Preise auf dem Kontinent geschah, wie SAUERBECK feststellt, in der gleichen Richtung, wenn auch nicht in der gleichen Stärke nach unten zu. Die Ursache ist die - bereits von ADAM SMITH als Ergebnis der fortschreitenden Arbeitsteilung und Technik festgestellte - Tendenz der modernen Volkswirtschaft zur Verbilligung vieler Warenpreise. Wenn nun auch die Klein handelspreise sicherlich nicht ganz entsprechen den Groß handelspreisen gesunken sind, - indem sich, wie zuerst LEXIS am Beispiel des Pariser Bäcker- und Fleischergewerbes in mustergültiger Darstellung nachgewiesen hat, in solchen Fällen stets eine Anzahl Zwischenglieder mehr als nötig zwischen den Großhandel und den effektiven Konsumenten eindrängt - : so ist doch, wie namentlich die Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik (Bd. 36 - 38) ergeben haben, ein annäherndes Hand-in-Hand-Gehen der Klein- und Großhandelspreise festgestellt. Mit Recht sagt darum JULIUS WOLF:
Die gleichen Wohlfahrtstendenzen wie in Deutschland lassen sich in allen anderen Ländern, die im 19. Jahrhundert fortgeschritten sind, in gleichem oder womöglich noch stärkerem Grad, nachweisen. Hier kann ich mich damit begnügen, auf die zusammenfassenden Ergebnisse hinzuweisen, zu denen Englands berühmtester sozialistischer Schriftsteller der Gegenwart, SIDNEY WEBB, trotz seines unverkennbaren Pessimismus, in seiner Studie über die englische Arbeiterklasse während der Periode von 1837 bis 1897 gekommen ist. Danach hat sich der Geldlohn der männlichen Arbeiter seit 1837 in fast allen Gewerben verdoppelt, während freilich der Lohn der Arbeiterinnen "in einem sehr großen Prozentsatz der Fälle" keinen bemerkenswerten Fortschritt gemacht hat; schließlich ist es höchst wahrscheinlich, daß es im Jahr 1897, absolut gerechnet, mehr Menschen gibt, die für Hungerlöhne oder annähernde Hungerlöhne arbeiten als im Jahr 1837, obgleich ihre Zahl, relativ gerechnet, also im Verhältnis zur ganzen Bevölkerung betrachtet, kleiner geworden ist. Das ist das Resultat, soweit es sich um die Geldlöhne handelt. Nun sind aber die Preise nicht mehr die gleichen wie im Jahr 1837. Der Arbeiter bezahlt jetzt viel mehr Miete als damals, nicht nur, weil die Mieten positiv gestiegen sind, sondern auch, weil ein viel größerer Prozentsatz der ganze Bevölkerung in der Stadt lebt und arbeitet. Einige andere Waren - WEBB rechnet das Fleisch dazu, was aber mit der Statistik SAUERBECKs nicht im Einklang steht - sind ebenfalls teurer geworden. "Aber es ist kein Grund, die statistischen Feststellungen zu bezweifeln, die uns zeigen, daß die Preise im Ganzen niedriger sind als im Jahr 1837." Die Lebenslage des Arbeiters wird nur zum Teil durch die Höhe seines Einkommens bestimmt; von nicht geringerem Einfluß ist die Länge seiner Arbeitszeit, - denn sie entscheidet, ob er Zeit hat zur Teilnahme an der menschlichen Kultur, zu geistiger Entwicklung, zur Erfüllung sozialer Funktionen, zu geselligem Verkehr, zum freien Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte, oder ob er zur bloßen "Hand" degradiert wird. Auf diesem wichtigen Gebiet hat sich offenbar ein noch größerer Fortschritt angebahnt als auf dem zuvor betrachteten. Denn zu Anfang des 19. Jahrhunderts war in fast allen Gewerben Englands die zwölfstündige Arbeitszeit maßlos verlänger, auf vierzehn, sechszehn, ja siebzehn Stunden! Und der Tortur solcher Arbeitsleistungen wurden nicht bloß die Männer, sondern häufig ganz ebenso die Frauen und Kinder, selbst zartesten Alters, unterworfen, - sodaß unabhängige Beobachter diese maßlosen Ausschreitungen des eben sein Imperium antretenden Kapitalismus in Parallele mit den Grausamkeiten der Spanier gegen die Rothäute Amerikas stellen konnten. Auf diesem Gebiet hat nun die staatliche Gesetzgebung und die positive Tätigkeit der Selbsthilfe-Organisationen der Arbeiter binnen einem halben Jahrhundert geradezu ungeheure Erfolge gehabt. Die industrielle Arbeit der Kinder ist in England teils ganz beseitigt, teils äußerst reduziert, die Arbeitszeit der jungen Personen und der Frauen im Wesentlichen in allen Industrien, außer der Hausindustrie, auf zehn Stunden täglich herabgemindert und die Arbeitszeit der Männer fast in der gesamten Großindustrie auf zehn (stellenweise auf acht bis neun) Stunden verkürzt, - wenn auch freilich noch ein paar Millionen in der Hausindustrie und den Verkehrsgewerben beschäftigte Arbeit zwölf Stunden täglich arbeiten mögen. Und in den deutschen Ländern des Kontinents, im Reich, in Cisleithanien [Westen und Osten von Österreich-Ungarn - wp] und in der Schweiz, sind ähnlich menschenwürdige Zustände, wenigstens annähernd, hergestellt, bloß daß hier die Majorität der männlichen und weiblichen Arbeiter elf Stunden - statt wie in England zehn - arbeitet, bei der Arbeit freilich auch weniger intensiv tätig ist. Von nicht geringerer Bedeutung für die Erhöhung der Lebenslage der arbeitenden Klassen ist die in großartigem Maßstab erfolgte Ausbildung von Organisationen, die den Massen die Befriedigung ihrer materiellen oder kulturellen Bedürfnisse erleichtern oder sie gegen die wirtschaftlichen Folgen von Unglücksfällen sichern sollen. Da ist zuvörderst die in einigen Ländern durchgeführt obligatorische Arbeiterversicherung anzuführen - die im deutschen Reich 9 Millionen Arbeit gegen Krankheit, 13 Millionen gegen Invalidität und Altersnot und 17 Millionen gegen Unfälle versichert und jeden Tag eine Million Mark an Entschädigungen verteilt. Weiter die Hilfskassen, die Gewerkvereine (sofern sie ihre Mitglieder speziell noch im Fall der Erwerbslosigkeit versorgen), die Konsumverein (- in England 1 600 000 Mitglieder mit fast anderthalb Milliarden Mark Jahresumsatz! -), der Gemeindesozialismus (welcher die Verwaltung von Gasanstalten, Wasserleitungen, Straßenbahnen und elektrischen Anlagen im Interesse der Bürgerschaft bezweckt), endlich die von Privaten und öffentlichen Körperschaften ins Leben gerufenen Einrichtungen, welche dem Volk Bildungsmaterial und passende Erholung verschaffen sollen, und andere Institutionen verwandter Art. Schließlich aber ist bei der Aufzählung dessen, was im 19. Jahrhundert erreicht worden ist, nicht zu vergessen, daß der Arbeiter eine weit größere persönliche Unabhängigkeit erlangt hat. Das ist Etwas, was sich nicht durch Zahlen und Daten wie die früheren Tendenzen feststellen läßt, was aber ein Jedermann bekanntes Faktum darstellt. Eine solche vollkommene Freiheit der Angestellten außerhalb der Arbeitsstunden, wie sie jetzt fast durchgängig anerkannt ist, wäre zu Anfang des 19. Jahrhunderts undenkbar gewesen. Aber selbst die Arbeitsverfassung der jetzigen industriellen Betriebe ist in den meisten Fällen länst nicht mehr auf dem Despotismus des kapitalistischen Betriebsleiters basiert, vielmehr zeigt die Arbeitsordnung, wie sie tatsächlich gehandhabt wird, und die Behandlung der einzelnen Angestellten prinzipiell Rücksicht auf das Personal, ja stellenweise findet in den industriellen Betrieben bereits eine weitgehende Teilnahme der Arbeiter statt an der Feststllung der Arbeitsbedingungen, an der Ergänzung des Arbeitermaterials und zuweilen sogar an den Verhandlungen über Aufträge, die zu Überstunden führen. So ist es im Lauf von fünfzig Jahren in allen Kulturstaaten glücklich gelungen, einen Teil der sozialen Dissonanzen in Harmonien aufzulösen. Aber selbstverständlich bleibt ein Mißton in der modernen Kultur, wie übrigens in jeder anderen. WEBB hat auf ihn hingewiesen, indem er gelegentlich seiner Vergleichung der Lebenslage der englischen Arbeiter vor sechzig Jahren mit der heutigen schrieb:
Man muß sich eben zu der unseren Ohren grausam klingenden Erkenntnis durchringen, daß die gegenwärtige Kultur ebenso wie jede vergangene naturnotwendig ein gewisses Maß von Elend erzeuge: weshalb auch NIETZSCHE die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger vergleicht, der bei seinem Triumphzug die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt, - "die üppige KLEOPATRA-Kultur wirft immer wieder die unschätzbarsten Perlen in ihren goldenen Becher: diese Perlen sind die Tränen des Mitleidens mit dem Sklaven und dem Sklavenelend." Modern volkswirtschaftlich ist eine ähnliche Erkenntnis schon vor einem Vierteljahrhundert von LEXIS (in seinem Werk über die französischen Gewerkvereine) also formuliert worden: "Es wird immer nur ein theoretisches Postulat der Solidaritätspolitik der Arbeiter bleiben, daß die ganze Masse ihrer Klasse gleichmäßig gehoben werden müsse. Die Arbeiterbewegung selbst erzeugt unwillkürlich eine neue Schichtenbildung. Und wenn die Hebung einer ganzen Schicht gelingt, so ist das schon der eigentlich soziale Fortschritt; daneben mag als erreichbares Ziel die fortdauernde Verminderung der untersten Schicht erscheinen. Die soziale Frage aber verliert durch diese Auflösung der Arbeiterklasse in Schichten jene abstrakte Einfachheit, die eine absolute Lösung zu fordern scheint." ![]() |