ra-2 Th. ZieglerF. BitzerF. A. LangeF. StaudingerH. Schüssler    
 
GEORG ADLER
Die Zukunft der sozialen Frage

"Uns allen, die wir das Wesen der sozialen Frage und die Mittel der sozialen Reform studierten und für den Gedanken der Erhebung der unteren Klassen tätig waren, schien sicher: daß diese Idee die Idee der Zukunft sein würde, daß sich immer mehr die Erkenntnis verbreiten würde, daß nur die soziale Reform die europäische Kultur vor dem Untergang retten könne, und daß alle anderen wirtschaftlichen Fragen und ganz besonders die Fragen der hohen Politik, daneben zu Nebenfragen herabsinken würden. Die künftigen Jahrhunderte, so glaubten wir, würden dem höchsten Kulturproblem, der sozialen Frage gewidmet sein, dem Kampf mit den zahllosen Schwierigkeiten, die die moderne Volkswirtschaft den großen Reformen sowohl wie der reformatorischen Kleinarbeit entgegensetzt!"

"Der Geldlohn der  männlichen  Arbeiter hat sich seit 1837 in fast allen Gewerben verdoppelt, während freilich der Lohn der Arbeiterinnen in einem sehr großen Prozentsatz der Fälle keinen bemerkenswerten Fortschritt gemacht hat; schließlich ist es höchst wahrscheinlich, daß es im Jahr 1897, absolut gerechnet, mehr Menschen gibt, die für Hungerlöhne oder annähernde Hungerlöhne arbeiten als im Jahr 1837, obgleich ihre Zahl, relativ gerechnet, also im Verhältnis zur ganzen Bevölkerung betrachtet, kleiner geworden ist."

I.
Die bürgerliche Wirtschaftsordnung und
die sozialen Wohlstandstendenzen

Der Sieg der kapitalistischen Produktionsweise, der in England im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, auf dem Kontinent im zweiten Drittel erfolgte, hatte in der organischen Zusammensetzung und den Lebenserscheinungen der Gesellschaft Veränderungen zur Folge, die weit hinausreichten über eine bloße Umgestaltung technischer Prozesse. Denn die neue Epoche des Großbetriebs und der ungeahnten Ausnutzung der Naturkräfte fiel in ein Zeitalter, das - gezwungen durch die unwiderstehliche Wucht der Ideen von Freiheit und Gleichheit und vom Recht, "das mit uns geboren", wie überhaupt vom Naturrecht - in der  Politik  Assoziations- und Pressefreiheit und in der  Volkswirtschaft  Gewerbefreiheit und Freizügigkeit dem Volk bot.

Die technisch-ökonomischen Potenzen, die bei diesem Umschwung des Gesellschaftslebens wirksam gewesen, hatten die Physiognomie der gewerbetätigen Bevölkerung von Grund auf verändert. Die Zünfte waren beseitigt, das Handwerk hatte seine dominierende Stellung nicht behaupten können, der Großbetrieb war mächtig geworden, sei's als Organisation des  Absatzes  im Großen in der Form der Hausindustrie, sei's als Organisation der  Produktion  im Großen durch Manufakturen und Fabriken.

Eine Klasse von Leuten war in die Höhe gekommen, - eben jene, die mit wagender Energie die neuen Betriebsorganisationen eingeführt und sich zu Leitern der großen Produktion und des Absatzes aufgeschwungen hatten, und die nun, wo's glückte, in kürzester Zeit gewaltige Reichtümer sammelten, durch Ausbeutung von Produzenten und Konsumenten: die  Kapitalisten.  Und mit ihrem Dasein untrennbar verknüpft war die Existenz des  Proletariats,  des zahllosen Heeres der Arbeiter des Großbetriebes, denen jegliche Hoffnung auf spätere Selbständigkeit genommen war, wie sie früher doch den Handwerksgesellen gewinkt hatte. Und Jahr um Jahr wurden für dieses Heer immer neue Tausende aus dem Volk mobil gemacht: Frauen, Kinder und Landarbeiter. In dichten Massen wurde das Proletariat zusammengeschaft, da die moderne Technik und die neuen Verkehrsmittel die Großbetriebe vom  Standort  (z. B. von der unmittelbaren Nähe der Wasserkräfte) unabhängig machten und so das Nebeneinanderbestehen der verschiedensten Industriezweige am gleichen Ort ermöglichten. Das bisherige patriarchalische Arbeitsverhältnis zwischen Brother und Arbeiter mußte schwinden. Die neuen Fabrikherren, meist Parvenus [Emporkömmlinge - wp] aus den untersten Ständen, kannten nur zu oft keine andere Moral als die des Geldsacks. Verlängerung der Arbeitszeit, Einführung der Nachtarbeit, Vernachlässigung von Maßregeln zum Schutz von Leben und Gesundheit der Arbeiter; dazu noch auf der anderen Seite - unabhängig von der Schuld der Kapitalisten - Arbeits- und Erwerbslosigkeit vieler Tausender: das waren offensichtlich die Folgen des neuen Gewerbesystems für die arbeitenden Klassen.

Aber diese waren keineswegs gewillt, die neue Lage willig zu ertragen. Die Bevölkerungsklassen, die des alten Schutzes der zünftigen Ordnung beraubt und schutzlos in der modernen Gesellschaft der Übermacht des Kapitalisten, den Unbilden des laisser-faire [Laufen lassen - wp] preisgegeben waren, mußten das Verlangen haben, sich anerkannt, ihre neuen Bedürfnisse von der Gesetzgebung gepflegt zu sehen. Die Stellung der industriellen Arbeiter in jener Epoche, wo der moderne Kapitalismus seinen Siegeszug vollführte, mußte von aufmerksamen Beobachtern so aufgefaßt werden, wie sie von NAPOLEON dem Dritten in seiner Schrift "Extinction du paupérisme" (1844) beredt gekennzeichnet worden ist:
    "Die Industrie ist eine Maschine, die ihre Funktionen  ohne Regulator  verrichtet: in ihrem Räderwerk Menschen, als wären sie Stoffe, zermalmend, entvölkert sie das Land, häuft das Volk in Räumen ohne Luft und Licht zusammen, schwächt Geist wie Körper und wirft die Menschen zuletzt, wenn sie nichts mehr mit ihnen anzufangen weiß, auf die Straße, - dieselben Menschen, die der Industrie ihre Kraft, ihre Jugend und ihre Existenz geopfert haben. Ein wahrer Saturn der Arbeit verschlingt die Industrie ihre Kinder und lebt nur von ihrem Tode!"
Und damit war von selbst die positive Aufgabe der Überwindung dieser Mißstände gegeben:
    "Die arbeitende Klasse besitzt nichts: man muß ihr zu Vermögen verhelfen; - sie hat keinen anderen Schatz wie ihre Arme: man muß ihnen eine nutzbringende Beschäftigung verschaffen; - sie steht wie ein Volk von Heloten [Sklaven Spartas - wp] inmitten eines Volkes von Sybariten [Synonym für Verweichlichung - wp]: man muß ihr einen Platz in der Gesellschaft anweisen und ihre Interessen mit dem Vaterland verknüpfen; - sie ist endlich ohne Organisation, ohne Band, ohne Rechte, ohne Zukunft: man muß ihr Rechte und eine Zukunft geben und sie in ihren eigenen Augen erheben durch Assoziation, Erziehung und Disziplin!"
Hier ist der immanente Kern des sozialen Problems klar bezeichnet: die humanen Ideen des achtzehnten Jahrhunderts haben im Verein mit der Notwendigkeit der wirtschaftlichen Evolution die niederen Klassen von der persönlichen Unterordnung emanzipiert, ihnen die persönliche Freiheit und eine gleich formale Gerechtigkeit wie den höheren Klassen gewährt, - aber schon RODBERTUS hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß  persönliche Freiheit  zwar ein Gut sei, aber zunächst nur ein  negatives,  nur das Glück,  nicht  von der Willkür eines Individuums abzuhängen. Sie ist, dieser Anschauung zufolge, der unumgängliche Anfang, die Basis von allem, was eines Menschen würdig ist, aber ansich nur eine leere Sphäre, die sich nach ihrem Inhalt sehnt, die diesen erst von wo andersher empfängt. Somit ist die persönliche Freiheit zwar ansich viel, - aber sie enthält zugleich notwending den psychischen Anreiz zur Teilnahme an den Gütern der heutigen Kultur, weil sie ganz natürlich einer solchen Ergänzung bedarf. Umso entschiedener wird dieser Anreiz da hervortreten, wo das ganze soziale Leben alle Leidenschaften stets neu entzünden muß wie noch nie zuvor, - "dieses Leben ohne Schranken zwischen den an Bedeutung verschiedenen Klassen, in dem alle gleichberechtigt und doch so wenig gleichbeteiligt sind, in dem die Hütte unmittelbar neben dem Palast steht, und das seidene Kleid, ohne es vermeiden zu können, von den Lumpen gestreift wird" (RODBERTUS). Danach ist es selbstverständlich, daß die besitzlosen Klassen vor die herrschenden und besitzenden treten und ihnen sagen müssen: ihr habt uns bisher mit der persönlichen Freiheit nur ihre  Sorgen  geschenkt, laßt uns jetzt auch an ihren Freuden teilnehmen!

Aber, wie schon HERDER bemerkt hat, die großen Staatskörper sind hart, - eiserne Tiere, denen die Gefahr nahe ankommen muß, ehe sie ihren alten Gang ändern. Es war selbstverständlich, daß die Regierungen den Beschwerden der Arbeiter über Ausbeutung und Mißstände zunächst nicht entsprachen, und so war die Folge, daß die Arbeiter die bestehende Ordnung, von der sie noch keinen organischen Bestandteil bildeten, in ihrem Sinne umzugestalten suchten. Und umsomehr mußte das geschehen, als jetzt, auf dem Boden dieser angefeindeten neuen Gesellschaft, für die große Masse der produktiven, aber abhängigen Bevölkerung zum erstenmal die Gelegenheit gegeben war, sich  selbständig  an der Weltgeschichte mit aktiven Handlungen großen Stils zu beteiligen. Denn früher hatten jene Elemente - von vereinzelten Aufständen abgesehen - entweder nur das passive Piedestal [Postament - wp] für alle Kämpfe um politische und soziale Macht abgegeben (wie z. B. im Altertum) oder nur um bescheidene Verbesserungen ihrer materiellen Existenz ringen können (wie z. B. im Mittelalter).

Es ist klar: die unmittelbare Bedingung für ein tatkräftiges Eingreifen der breiten Masse in das politische und soziale Leben ist erst dann gegeben, wenn es ihr gestattet ist, sich für ihre Zwecke  planmäßig  und  dauernd  zu organisieren. Daher waren die arbeitenden Klassen im Großen und Ganzen noch bis vor hundert Jahren in allen Ländern einflußlos, weil jene Bedingung  nicht  erfüllt war. Denn soweit ihnen in den vergangenen Epochen überhaupt Organisationen erlaubt waren - wie vornehmlich den Zunftgesellen in den Städten -, war ihr Wirkungskreis auf gesellige und religiöse Bedürfnisse, Unterstützungswesen, Arbeitsnachweis und höchstens noch auf Verbesserung einiger Bedingungen des Arbeitsvertrages beschränkt; und daß diese engen Grenzen von den Gesellenverbänden niemals überschritten wurden, dafür sorgten Zünfte und Obrigkeiten durch peinliche Überwachung und unnachsichtige Strenge. So konnte der Arbeiterstand damals froh sein, wenn häusliche Streitigkeiten und gegenseitige Eifersüchteleien der herrschenden Stände, oder wenn patriarchalische Regierungen oder religiöse Einflüsse etwas zur Hebung seiner Lage beitrugen. Darum konnte es früher nur zu vereinzelten heftigen Explosionen kommen, die aber an der politischen Unreife der Empörer und an der Festigkeit der herrschenden Mächte scheitern mußten: so die Sklavenaufstände im Altertum, die Erhebungen der Bauern in England, Frankreich und Deutschland im Mittelalter. Und daß diese wild-leidenschaftlichen Versuche der Unterdrückten, ihre Ketten zu zerbrechen, sich nicht wiederholten, dafür wußten die herrschenden Klassen schon zu sorgen, indem sie nach jedem Sieg die Parolde des "Vae victis!" [Wehe den Besiegten! - wp] zur Anwendung brachten und mit der ganzen Brutalität jener Zeiten fürchterlich Strafgericht hielten, zum warnenden Exempel. So erkannte das Volk seine Ohnmacht, und eingeschüchtert und teilnahmslos gegen alle Politik kehrte der Bauer hinter den Pflug zurück und der Arbeiter in die Werkstatt.

Wen so die privilegierten Stände  früher  gegen alle Forderungen und Wünsche des Volkes mit Wall und Graben sicher verschanzt schienen, so bot der  moderne  Staat und seine Freiheit dem Volk die Möglichkeit, die bis dahin uneinnehmbare Verschanzung jetzt fallen zu sehen. Diese Hoffnung und Aussicht mußten die breiten Massen aus ihrer Lethargie aufrütteln, so daß über kurz oder lang bei allen Kulturvölkern die  Bewegung  der unteren Klassen so allgemein war wie früher die Teilnahmslosigkeit.

Die Geschichte dieser Bewegung - deren Schilderung außerhalb des Rahmens dieser Abhandlung fällt - ist wesentlich maßgeben für die Entwicklung der sozialen Frage geworden. Parallel mit dem wirtschaftlichen Fortschritt, vor allem mit dem Grad der Herausbildung der Großindustrie, entstanden in allen Kulturländern Organisationen der Arbeiterklasse, die, wie verschieden auch immer voneinander nach der Art ihres Gefüges und nach der Richtung ihrer Ziele, doch sämtlich das Eine miteinander gemein hatten, daß sie den arbeitenden Massen einen festen Platz in der Gesellschaft, ein Recht der Mitbestimmung an der Gestaltung ihrer sozialen Existenzbedingunen und Schutz vor den mannigfachen Unbilden der modernen kapitalistischen Wirtschaftsordnung sichern wollten.

Und auch darin zeigt sich der einheitliche Charakter der modernen proletarischen Bewegung, daß diese in allen Ländern zuerst sozialistische und revolutionäre Tendenzen verfolgte, ehe sie in die Bahn ruhigen, reformatorischen Wirkens in Staat, Gemeinde und Gesellschaft eingelenkt ist.  Sonst  hat freilich jedes Land seine eigenartige Entwicklung gehabt: so sehr, daß heute von einer wirklichen Gesetztheit der organisierten Bestrebungen der abhängigen produktiven Bevölkerung einzig und allein in England gesprochen werden kann, - während sie, unseres Erachtens, in allen anderen Ländern Europas von diesem Stadium immer noch mehr oder weniger weit entfernt sind. Die ungeheure Vehemenz, mit der der sozialistische Vorstoß gegen die bestehende Wirtschaftsordnung einst in der ganzen Kulturwelt erfolgte, sowie die lange Dauer der sozialrevolutionären Kindheitsphase der Arbeiterbewegung in den kontinentalen Ländern - ist sie doch zum Teil hier noch heute nicht überwunden! - haben zur Folge gehabt, daß die Sozialpolitik, soweit ihr Studium von ernsten, die Notwendigkeit der sozialen Reform erkennenden Gelehrten betrieben wurde, ein pessimistisches Äußeres gewann. Man glaubte, durch die Anklagen der Kommunisten und die fortgesetzte Aufdeckung einzelner - manchmal himmelschreiender - Mißstände überzeugt, daß die Lage der Arbeiter sich immer mehr verschlechtern, daß die sie heimsuchenden Übelstände sich immer mehr steigern, daß (nach den Worten ADOLF WAGNERs) "die  Verteilung  des Produktionsertrages für die Arbeitgeberklassen immer günstiger, für die unteren Klassen wenigstens relativ ungünstiger werde."

Jedenfalls aber schien  eines  uns allen, die wir das Wesen der sozialen Frage und die Mittel der sozialen Reform studierten und für den Gedanken der Erhebung der unteren Klassen tätig waren, sicher: daß diese Idee  die  Idee der Zukunft sein würde, daß sich immer mehr die Erkenntnis verbreiten würde, daß nur die soziale Reform die europäische Kultur vor dem Untergang retten könne, und daß alle anderen wirtschaftlichen Fragen und ganz besonders die Fragen der "hohen" Politik, daneben zu Nebenfragen herabsinken würden. Die künftigen Jahrhunderte, so glaubten wir, würden dem höchsten Kulturproblem, der sozialen Frage gewidmet sein, dem Kampf mit den zahllosen Schwierigkeiten, die die moderne Volkswirtschaft den großen Reformen sowohl wie der reformatorischen Kleinarbeit entgegensetzt!

Die tatsächliche Entwicklung zeigt freilich einen Verlauf, der von dem damals angenommenen in wesentlichen Punkten abweicht: so daß wir uns nun, durch die Erfahrung eines Besseren belehrt und in das Wesen der Arbeiterbewegung besser eingeweiht, über die Zukunft der sozialen Frage zu  anderen  Ansichten durchringen müssen.

Zunächst hat sich die allgemein geglaubte These von der sukzessiven Verschlimmerung der Lage der arbeitenden Klassen als ein Märchen herausgestellt. Zwar haben zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts die ersten Sturzwellen des siegreich vordringenden Kapitalismus viel Ungemacht und Elend über das Volk gebracht: das ist durch tausendfältige Zeugnisse aus allen Ländern - durch parlamentarische Enqueten, Mitteilungen von Fabrikinspektoren, Berichte von Behörden, Untersuchungen von Ärzten in England, Frankreich und Deutschland - erwiesen. Damals, als die bunt zusammengewürfelten Massen der Arbeiter noch nicht organisiert, die Gewinnsucht der Kapitalisten noch nicht durch Gesetz und Sitte eingeschränkt, die Kinder und Frauen ein willkommenes Ausbeutungsobjekt  ad libitum  [wie es euch gefällt - wp] für industrielle Exploitation waren, - da haben in weiten Distrikten tatsächlich derartige Zustände geherrscht, daß ROBERT PEEL, der "königliche" Kaufmann (des Staatsmanns Vater), mit Fug klagen konnte: es sei dahin gekommen, daß jene großartigen Errungenschaften des britischen Scharfsinns, durch die das Maschinenwesen zu einer solchen Vollendung gelangt sei, statt zu einem Segen für die Nation zu deren grausamsten Fluch würden!

Stellenweise waren heillose Zustände der Verwahrlosung und Mißhandlung der Arbeiter eingerissen, so daß ihre Erzählung, nach des größten englischen Dichters Wort,
    "... die Seele Dir zermalmte,
    Dein junges Blut erstarrte ... ,
    Und sträubte jedes einzle Haar empor,
    Wie Nadeln an dem zorn'gen Stacheltier!"
Nachdem aber ein bis zwei Menschenalter seit der Ausbreitung der Großindustrie vergangen waren, hat die Welt begonnen,  sich auf den Kapitalismus einzurichten:  der soziale Mechanismus der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wirkt offenbar automatisch in der Richtung einer immer aufsteigenden Lebenshaltung der unteren Klassen - und in derselben Richtung wirkt ebenfalls die auf dem Boden jener Ordnung naturnotwendig zustandekommende Organisation der Arbeiter zu Zwecken der Selbsthilfe sowie den Bedürfnissen des Arbeiterstandes dienende bewußte Staatsfürsorge. Der auf Erhöhung des nationalen Lebensniveaus gerichtete Entwicklungsprozeß geht, wie bemerkt, in erster Linie  automatisch  vor sich: indem nämlich in jeder Nation, deren Lebenskurve aufsteigt, die jährlich zurückgelegten ("akkumulierten") Kapitalmassen, die zu produktiver Verwendung in der Industrie bestimmt sind, immer und immer wieder wachsen, wodurch eine progressiv steigende Nachfrage nach Arbeitern entsteht. Erfahrungsmäßig reicht der natürliche Bevölkerungszuwachs zur Deckung dieser Nachfrage nicht aus, so daß zu diesem Zweck Arbeiter aus den ländlichen Beschäftigungsweisen und sogar aus dem Ausland herbeigeschaft werden müssen. Dieser Vorgang vollzieht sich in einer Volkswirtschaft, wo die einzelnen Kapitalisten sich bei der Anwerbung von Arbeitern unaufhörlich gegenseitig Konkurrenz machen, erfahrungsmäßig nur in der Weise, daß immer höhere Lohnangebote gemacht werden: eine Tendenz, die in der Lohnbewegung auf dem  Lande,  wo jede Koalition der Arbeiter verboten ist, besonders klar hervortritt und natürlich da, wo die Arbeiter organisiert sind, und die Konkurrenz von Kindern, jugendlichen Personen und Frauen durch gesetzliches Verbot und Maximal-Arbeitstag wesentlich eingeschränkt ist, eine erhebliche Verstärkung erfährt.

Dem entsprechend beweist die Statistik, daß sich in allen Ländern mit fortschreitender Industrie die Lage der arbeitenden Klassen - dieselben als ein großes Ganzes betrachtet - kontinuierlich verbessert. Wir führen aus der Unsumme von Daten, die für diese Behauptung gesammelt worden sind, seit JULIUS WOLF sie zum erstenmal in seinem groß angelegten Werk über "Sozialismus und kapitalistische Wirtschaftsordnung" aufgestellt und mit Nachdruck verteidigt hat, die folgenden an.

In Sachsen, Deutschlands fabrikreichsten Land, ist seit 1874 eine allgemeine Einkommenssteuer eingeführt, die bis zum Jahr 1894 alle Personen bis zu 300 Mark Jahreseinkommen herab umspannte. Diese Statistik ist demnach für die Ermittlung der Tendenzen der Einkommensentwicklung die brauchbarste. Danach hatten nun von der erwerbstägigen Bevölkerung ein Einkommen von weniger als 300 Mark
    im Jahr 1879: 7,1 Prozent, - im Jahr 1894: 5,6 Prozent.
Das heißt also: jene Schicht der Ärmsten des Volkes hatte sich, nach ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung, um ein volles  Fünftel verringert! 

Weiter. Ein Einkommen von 300 bis 800 Mark einschließlich hatten von den eingeschätzten Personen
    im Jahr 1879: 69,3 Prozent, - im Jahr 1894: 59,7 Prozent
Das heißt: die der eben betrachteten nächste Schicht armer Leute hatte sich, wieder berechnet nach ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung, um ein volles  Siebentel verringert! 

Ganz anders gestaltet sich dagegen das Bild, das die Entwicklung der nächsten, schon etwas besser gestellten Schichten aufweist. Denn ein Einkommen von über 800 bis 1400 Mark hatten von den eingeschätzten Personen.
    im Jahr 1879: 13,2 Prozent, - im Jahre 1894: 21,3 Prozent.
Das heißt: die Schicht der nicht mehr ganz armen Bevölkerung hatte sich, in ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung, um mehr als  drei Fünftel vergrößert. 

Dieselbe Erscheinung zeigt sich, wenn auch nicht in gleich hohem Maß, bei der folgenden Klassen von Leuten mit einem Einkommen von über 1400 bis 2200 Mark. Denn ein solches Einkommen hatten von den eingeschätzten Personen
    im Jahr 1879: 5,2 Prozent, - im Jahr 1894: 6,7 Prozent.
Das heißt: die Schicht leidlich wohlhabender Personen hatte sich binnen fünfzehn Jahren um  zwei Siebtel vergrößert! 

Und ein ähnliches Resultat ergibt sich bei der nächsthöheren Klasse, den Personen mit einem Einkommen von über 2200 bis 4800 Mark. Denn dieses Einkommen besaßen von den eingeschätzten Personen
    im Jahre 1879: 3,74 Prozent, - im Jahr 1894: 4,63 Prozent.
Das heißt: diese Schicht einigermaßen wohlhabender Personen hatte sich fast um  ein Viertel vergrößert! 

Ich bemerke noch zur Verdeutlichung dieser Entwicklung, daß im betracheten Zeitraum die  Bevölkerung  um 28 Prozent, die Zahl der  eingeschätzten Personen  um 37 ½ Prozent zugenommen hat, und daß es auf diese Weise möglich geworden ist, daß in  jeder  der betrachteten Einkommensklassen die Zahl der daran teilhabenden Personen,  absolut  betrachtet,  gewachsen  ist. Freilich haben jene Klassen, deren  prozentualer  Anteil an der Gesamtbevölkerung gefallen ist, nur eine  geringe  Vermehrung der  absoluten  Zahl der Teilnehmer aufzuweisen: so wuchs die (absolute) Zahl der Eingeschätzten mit einem Einkommen von unter 300 Mark nur um 8 ½ Prozent, - während z. B. die beiden Klassen der mit 800 bis 1400 und der mit 1400 - 2200 Mark Eingeschätzten um je 122 Prozent zunahmen!

Das sind Ziffern, die geradezu schlagend beweisen, daß eine außerordentlich große Zahl von Angehörigen der beiden untersten Einkommensklassen innerhalb des kurzen Zeitraums von fünfzehn Jahren in die höheren aufgestiegen ist, - und das ist geschehen, obwohl die wirtschaftliche Konjunktur und die Produktion von Reichtum in dieser Periode nicht entfernt so günstig war wie in der Zeit, die seitdem verstrichen ist, da gerade mit dem Jahr 1894 ein wirtschaftlicher Aufschwung eingesetzt hat, der in der Geschichte der deutschen Industrie seinesgleichen nicht hat.
    In Preußen ist die Bevölkerung von 1892 bis 1898 um 8 Prozent gestiegen, - aber die Zahl der Personen mit einem Einkommen von 900 - 1500 Mark hat sich um 21 Prozent vermehrt!

    Diesen Tatsachen entsprechend hat sich das gesparte Vermögen der "kleinen Leute" in der letzten Zeit erheblich vergrößert.

    In Sachsen betrug die Zahl der Sparguthaben im Jahre 1879: 860 000 (im Betrag von 318 Millionen Mark), - Im Jahr 1895: 1 940 000 (im Betrag von 742 Millionen Mark).

    In Preußen betrug die Zahl der Sparkassenbücher im Jahr 1882: 3 ¼ Millionen (im Betrag von 1700 Millionen Mark), im Jahr 1897: 7 ½ Millionen (im Betrag von fast 5 Milliarden Mark).

    In Bayern gab es im Jahr 1882: 78 500 Leute mit einem Kapitalrenteneinkommen von 100 - 400 Mark., - im Jahr 1896: 93 700, trotz der in diese Episode fallenden Zinsreduktion. Die Bevölkerung hatte um 10 Prozent zugenommen, die Zahl jener Leute, die etwas Vermögen zusammenbrachten, aber um fast 20 Prozent!
Der Wohlstand der unteren Klassen ist aber in Wahrheit  noch mehr  gewachsen, als es nach diesen Ziffern den Anschein hat. Denn seit mehr als einem Menschenalter sind wichtige Lebensmittel und (mit Ausnahme der Wohnungen) auch viele Kulturmittel und Gegenstände des Volksluxus regelmäßig im Preis gesunken. Das beweist eine sehr instruktive statistische Studie, die von SAUERBECK über die Entwicklung der Preise von 45 Artikeln im  Londoner  Großhandel veröffentlich worden ist. Setzt man nämlich die Preise jedes dieser Artikel im Jahrzehnt 1868 -77 gleich 100, so sanken die Preise der Vegetabilien [Gemüse - wp] und besonders des Getreides im folgenden Jahrzehnt 1878 - 87 auf 79 und ihm Jahrzehnt 1888 - 97 gar auf 62. Die Preise der tierischen Nahrungsmittel sanken von 100 im ersten Jahrzehnt auf 95 im zweiten und 81 im dritten; die von Kolonialwaren auf 76 und schließlich auf 66. Die Preise von Mineralien sanken von 100 auf 73 und 70: die von Textilwaren auf 71 und 59; die von diversen anderen Gegenständen wie Fellen, Leder, Talg, Öl, Soda, Indigo, und dgl. auf 81 und 66.

Die Entwicklung der Preise auf dem Kontinent geschah, wie SAUERBECK feststellt, in der gleichen Richtung, wenn auch nicht in der  gleichen Stärke  nach unten zu. Die Ursache ist die - bereits von ADAM SMITH als Ergebnis der fortschreitenden Arbeitsteilung und Technik festgestellte - Tendenz der modernen Volkswirtschaft zur Verbilligung vieler Warenpreise. Wenn nun auch die  Klein handelspreise sicherlich nicht ganz entsprechen den  Groß handelspreisen gesunken sind, - indem sich, wie zuerst LEXIS am Beispiel des Pariser Bäcker- und Fleischergewerbes in mustergültiger Darstellung nachgewiesen hat, in solchen Fällen stets eine Anzahl Zwischenglieder mehr als nötig zwischen den Großhandel und den effektiven Konsumenten eindrängt - : so ist doch, wie namentlich die Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik (Bd. 36 - 38) ergeben haben, ein  annäherndes  Hand-in-Hand-Gehen der Klein- und Großhandelspreise festgestellt. Mit Recht sagt darum JULIUS WOLF:
    "Man meint sonst, daß bloß oder hauptsächlich die Gegenstände des Komforts, für den Lebenshaushalt Unwichtiges, eine Herabsetzung des Preises erfahren haben. Die englischen Tabellen über die Entwicklung der Preise zeigen, wie wenig das heute mehr richtig ist. Sie tun dar, daß es nicht minder falsch wäre, die Preissenkung als auf die Erzeugnisse der Industrie beschränkt zu denken oder in der Landwirtschaft bloß auf die Körnerfrüchte zu beziehen, im Unterschied zu den Produkten der Viehzucht oder Milchwirtschaft (WOLF, "Jllusionisten und Realisten in der Nationalökonomie" in der Zeitschrift für Sozialwissenschaft). Unter den Ausnahmen dieser Preisregel stehen die  Wohnungsmieten  obenan. Sie sind, Dank des tatsächlichen Monopols der städtischen Bodeneigentümer, stark in die Höhe gegangen, zum Teil so hoch, daß sie über ein Viertel bis zu einem Drittel des gesamten Einkommens des Arbeiters verschlingen. Trotzdem bleibt es wahr, daß sich im Prinzip die Preisherabsetzung vieler Konsumobjekte ebenso wie die Erhöhung des Lohnniveaus als notwendige Ergebnisse der Entwicklung der in der kapitalistischen Volkswirtschaft tätigen elementaren Kräfte darstellen. So kann uns nicht wundernehmen, daß die amtliche Statistik eine starke Steigerung der pro Kopf der Bevölkerung verfügbaren Mengen von Nahrungsmitteln ergibt. In Deutschland betrug von 1879/84 die Roggenquantität pro Kopf: 121 Kilogramm, - 1894/95 und 1897/98: 126. Der Weizenverbrauch stieg in der angegebenen Periode von 60 Kilogramm auf 79, der Gerstenverbrauch von 46 ½ auf 61 und der Verbrauch von Kartoffeln von 340 auf 453 ½! Der jährliche Verbrauch von Bier ist im Reich binnen zwanzig Jahren von 1880 an gerechnet, von 84 ½ Liter pro Kopf auf 124 Liter gestiegen, der Verbrauch von Zucker seit 1886 von 7 ½ Kilogramm auf 12 ½, der von Tabak von 1,4 Kilogramm auf 1,8. Der Verzehr von Fleisch im ganzen Reich ist nicht ermittelt, wohl aber in dessen industriellstem Teil, im Königreich Sachsen: und dort ist er in der Epoche von 1850 - 97 auf mehr als das Doppelte, pro Kopf gerechnet, gestiegen! (Vgl. "Annalen des deutschen Reichs", 1900).
So beweisen alle Tatsachen der Statistik unwiderleglich, daß in der modernen "bürgerlichen" Gesellschaftsordnung immanente Wohlstandstendenzen vorhanden sind, die stark genug sind - um in Verbindung mit den durch Selbst- der Staatshilfe geschaffenen Organisationen - die ebenso unzweifelhaft vorhandenden Elendstendenzen dauernd zu überwinden. Mit einem geistreichen Wort kann darum JULIUS WOLF von einem "Chemismus" der bürgerlichen Wirtschaftsordnung sprechen, der dahin dränge, ihren unaufhörlichen  technisch-ökonomischen  Fortschritt selbsttätig in  sozialen  Fortschritt umzusetzen, - eine Anschauung, die freilich bei WOLF weiterhin zu einer Unterschätzung dessen geführt hat, was die Selbsthilfe (die übrigens auch als automatisch eintretende Konsequenz der bürgerlichen Gesellschaft aufgefaßt werden könnte) und die Macht der staatlichen, ge- oder verbietenden Intervention leisten.

Die gleichen Wohlfahrtstendenzen wie in Deutschland lassen sich in allen anderen Ländern, die im 19. Jahrhundert fortgeschritten sind, in gleichem oder womöglich noch stärkerem Grad, nachweisen. Hier kann ich mich damit begnügen, auf die zusammenfassenden Ergebnisse hinzuweisen, zu denen Englands berühmtester sozialistischer Schriftsteller der Gegenwart, SIDNEY WEBB, trotz seines unverkennbaren Pessimismus, in seiner Studie über die englische Arbeiterklasse während der Periode von 1837 bis 1897 gekommen ist. Danach hat sich der Geldlohn der  männlichen  Arbeiter seit 1837 in fast allen Gewerben  verdoppelt,  während freilich der Lohn der  Arbeiterinnen  "in einem sehr großen Prozentsatz der Fälle" keinen bemerkenswerten Fortschritt gemacht hat; schließlich ist es höchst wahrscheinlich, daß es im Jahr 1897,  absolut  gerechnet, mehr Menschen gibt, die für Hungerlöhne oder annähernde Hungerlöhne arbeiten als im Jahr 1837, obgleich ihre Zahl,  relativ  gerechnet, also im Verhältnis zur  ganzen  Bevölkerung betrachtet, kleiner geworden ist. Das ist das Resultat, soweit es sich um die Geldlöhne handelt. Nun sind aber die Preise nicht mehr die gleichen wie im Jahr 1837. Der Arbeiter bezahlt jetzt viel mehr Miete als damals, nicht nur, weil die Mieten positiv gestiegen sind, sondern auch, weil ein viel größerer Prozentsatz der ganze Bevölkerung in der  Stadt  lebt und arbeitet. Einige andere Waren - WEBB rechnet das Fleisch dazu, was aber mit der Statistik SAUERBECKs nicht im Einklang steht - sind ebenfalls teurer geworden. "Aber es ist kein Grund, die statistischen Feststellungen zu bezweifeln, die uns zeigen, daß die  Preise im Ganzen niedriger sind als im Jahr 1837." 

Die Lebenslage des Arbeiters wird nur zum Teil durch die Höhe seines  Einkommens  bestimmt; von nicht geringerem Einfluß ist die Länge seiner Arbeitszeit, - denn sie entscheidet, ob er Zeit hat zur Teilnahme an der menschlichen Kultur, zu geistiger Entwicklung, zur Erfüllung sozialer Funktionen, zu geselligem Verkehr, zum freien Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte, oder ob er zur bloßen "Hand" degradiert wird. Auf diesem wichtigen Gebiet hat sich offenbar ein  noch größerer  Fortschritt angebahnt als auf dem zuvor betrachteten. Denn zu Anfang des 19. Jahrhunderts war in fast allen Gewerben Englands die zwölfstündige Arbeitszeit maßlos verlänger, auf vierzehn, sechszehn, ja siebzehn Stunden! Und der Tortur solcher Arbeitsleistungen wurden nicht bloß die Männer, sondern häufig ganz ebenso die Frauen und Kinder, selbst zartesten Alters, unterworfen, - sodaß unabhängige Beobachter diese maßlosen Ausschreitungen des eben sein Imperium antretenden Kapitalismus in Parallele mit den Grausamkeiten der Spanier gegen die Rothäute Amerikas stellen konnten. Auf diesem Gebiet hat nun die staatliche Gesetzgebung und die positive Tätigkeit der Selbsthilfe-Organisationen der Arbeiter binnen einem halben Jahrhundert geradezu ungeheure Erfolge gehabt. Die industrielle Arbeit der Kinder ist in England teils ganz beseitigt, teils äußerst reduziert, die Arbeitszeit der jungen Personen und der Frauen im Wesentlichen in allen Industrien, außer der Hausindustrie, auf zehn Stunden täglich herabgemindert und die Arbeitszeit der Männer fast in der gesamten Großindustrie auf zehn (stellenweise auf acht bis neun) Stunden verkürzt, - wenn auch freilich noch ein paar Millionen in der Hausindustrie und den Verkehrsgewerben beschäftigte Arbeit zwölf Stunden täglich arbeiten mögen. Und in den deutschen Ländern des Kontinents, im Reich, in Cisleithanien [Westen und Osten von Österreich-Ungarn - wp] und in der Schweiz, sind ähnlich menschenwürdige Zustände, wenigstens annähernd, hergestellt, bloß daß hier die Majorität der männlichen und weiblichen Arbeiter elf Stunden - statt wie in England zehn - arbeitet, bei der Arbeit freilich auch weniger intensiv tätig ist.

Von nicht geringerer Bedeutung für die Erhöhung der Lebenslage der arbeitenden Klassen ist die in großartigem Maßstab erfolgte Ausbildung von Organisationen, die den Massen die Befriedigung ihrer materiellen oder kulturellen Bedürfnisse erleichtern oder sie gegen die wirtschaftlichen Folgen von Unglücksfällen sichern sollen. Da ist zuvörderst die in einigen Ländern durchgeführt obligatorische Arbeiterversicherung anzuführen - die im deutschen Reich 9 Millionen Arbeit gegen Krankheit, 13 Millionen gegen Invalidität und Altersnot und 17 Millionen gegen Unfälle versichert und jeden Tag eine Million Mark an Entschädigungen verteilt. Weiter die Hilfskassen, die Gewerkvereine (sofern sie ihre Mitglieder speziell noch im Fall der Erwerbslosigkeit versorgen), die Konsumverein (- in England 1 600 000 Mitglieder mit fast anderthalb Milliarden Mark Jahresumsatz! -), der Gemeindesozialismus (welcher die Verwaltung von Gasanstalten, Wasserleitungen, Straßenbahnen und elektrischen Anlagen im Interesse der Bürgerschaft bezweckt), endlich die von Privaten und öffentlichen Körperschaften ins Leben gerufenen Einrichtungen, welche dem Volk Bildungsmaterial und passende Erholung verschaffen sollen, und andere Institutionen verwandter Art.

Schließlich aber ist bei der Aufzählung dessen, was im 19. Jahrhundert erreicht worden ist, nicht zu vergessen, daß der Arbeiter eine weit größere persönliche  Unabhängigkeit  erlangt hat. Das ist Etwas, was sich nicht durch Zahlen und Daten wie die früheren Tendenzen feststellen läßt, was aber ein Jedermann bekanntes Faktum darstellt. Eine solche vollkommene Freiheit der Angestellten  außerhalb  der Arbeitsstunden, wie sie jetzt fast durchgängig anerkannt ist, wäre zu  Anfang  des 19. Jahrhunderts undenkbar gewesen. Aber selbst die  Arbeitsverfassung  der jetzigen industriellen Betriebe ist in den meisten Fällen länst nicht mehr auf dem Despotismus des kapitalistischen Betriebsleiters basiert, vielmehr zeigt die Arbeitsordnung, wie sie tatsächlich gehandhabt wird, und die Behandlung der einzelnen Angestellten prinzipiell Rücksicht auf das Personal, ja stellenweise findet in den industriellen Betrieben bereits eine weitgehende Teilnahme der Arbeiter statt an der Feststllung der Arbeitsbedingungen, an der Ergänzung des Arbeitermaterials und zuweilen sogar an den Verhandlungen über Aufträge, die zu Überstunden führen.

So ist es im Lauf von fünfzig Jahren in allen Kulturstaaten glücklich gelungen, einen Teil der sozialen Dissonanzen in Harmonien aufzulösen. Aber selbstverständlich bleibt ein Mißton in der  modernen  Kultur, wie übrigens in jeder anderen. WEBB hat auf ihn hingewiesen, indem er gelegentlich seiner Vergleichung der Lebenslage der englischen Arbeiter vor sechzig Jahren mit der heutigen schrieb:
    "Würde sich eine Linie feststellen lassen für die einzelnen Lebensbedingungen wie Lohnhöhe, Arbeitszeit, Wohnung und allgemeinen Komfort, unter die der Arbeiter auf die Dauer nicht sinken darf, so würden wir finden, daß der  Prozent satz derer, die unter Linie gesunken sind, heute ein geringerer ist als 1837. Aber wir würden andererseits auch finden, daß das tiefste Niveau vor jener Zeit auch jetzt noch um keinen Grad erhöht ist, und daß  absolut  genommen die Zahl derer, die  unter  der angenommenen Linie sich befinden,  größer  geworden ist."
Das ist eben die Konsequenz der in der bürgerlichen Wirtschaftsordnung - neben jenen Wohlstandstendenzen - unleugbar vorhandenen Elendstendenzen, die in Form ungünstiger Konjunkturen, wirtschaftlicher Depressionen und ökonomischer Krisen bestimmten Individuen, Distrikten und Erwerbszweigen verhängnisvoll werden. Die modernen Konkurrenzverhältnisse, die Überlegenheit, die den Betrieben mit der fortgeschrittensten Technik und der größten Anpassungsfähigkeit an den Kreis der Konsumenten und an die Launen der Mode innewohnt, bringen immer hier oder dort einen Fabrikationszweig, namentlich aber ganze Branchen des Handwerks oder der Hausindustrie zeitweise oder dauernd in schwere Notlagen, die dann natürlich von den schlimmsten Folgen für die darin beschäftigten Arbeiter begleitet sind. Außerdem ringt der wirtschaftliche Konkurrenzkampf auf  allen  Erwerbsgebieten viele nieder, die physisch, intellektuell oder moralisch minderwertige Existenzen repräsentieren und  unter  dem Durchschnittsmaß der nötigen Leistungen oder der erwarteten Zuverlässigkeit bleiben. So findet die Aufwärtsbewegung der bürgerlichen Gesellschaft unter einem System der freien Konkurrenz nur statt, indem regelmäßig ein - wenn auch prozentual abnehmender - Bruchteil der Gemeinschaft geopfert wird und in den Sumpf des Elends herabsinkt.

Man muß sich eben zu der unseren Ohren grausam klingenden Erkenntnis durchringen, daß die gegenwärtige Kultur ebenso wie jede vergangene naturnotwendig ein gewisses Maß von Elend erzeuge: weshalb auch NIETZSCHE die herrliche Kultur mit einem bluttriefenden Sieger vergleicht, der bei seinem Triumphzug die an seinen Wagen gefesselten Besiegten als Sklaven mitschleppt, - "die üppige KLEOPATRA-Kultur wirft immer wieder die unschätzbarsten Perlen in ihren goldenen Becher: diese Perlen sind die Tränen des Mitleidens mit dem Sklaven und dem Sklavenelend."

Modern volkswirtschaftlich ist eine ähnliche Erkenntnis schon vor einem Vierteljahrhundert von LEXIS (in seinem Werk über die französischen Gewerkvereine) also formuliert worden: "Es wird immer nur ein  theoretisches  Postulat der Solidaritätspolitik der Arbeiter bleiben, daß die  ganze  Masse ihrer Klasse gleichmäßig gehoben werden müsse. Die Arbeiterbewegung selbst erzeugt unwillkürlich eine neue Schichtenbildung. Und wenn die Hebung einer ganzen Schicht gelingt, so ist das schon der eigentlich soziale Fortschritt; daneben mag als erreichbares Ziel die fortdauernde Verminderung der untersten Schicht erscheinen. Die soziale Frage aber verliert durch diese Auflösung der Arbeiterklasse in Schichten jene  abstrakte Einfachheit, die eine absolute Lösung zu fordern scheint." 
LITERATUR: Georg Adler, Die Zukunft der sozialen Frage, Jena 1900