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FELIX DAHN
(1834-1912)
Rechtsphilosophische Studien

"Manche theoretische, besonders aber die praktischen Juristen behaupten, alle Rechtsphilosophie sei nicht nur entbehrlich, sondern von Übel. Es sei neben einer positiven Gesetzgebung und Jurisprudenz gar kein Bedürfnis nach einem dritten. Vielmehr sei die sogenannte Rechtsphilosophie ein gefährliches und verderbliches Ding. Namentlich die jüngeren Juristen würden dadurch verführt, leere Abstraktionen, die den Schein der Tiefe und den Reiz der Allgemeinheit hätten, dem mühsamen und gründlichen Fachstudium im Detail vorzuziehen; flüchtige Oberflächlichkeit, eilfertiges Begnügen mit dem Erreichten würden dadurch begünstigt und in nur äußerlichen toten Formeln wolle man die reiche Fülle des lebendigen Materials erschöpfen, während der Fleiß der Detailforschung vernachlässigt wird."

"Der ganze Stoff des Rechtsgebietes muß beherrscht und bearbeitet vor uns liegen, wenn das Prinzip desselben gefunden werden soll, aus demselben Grund, aus dem man ein Haus von unten herauf baut und nicht von oben herunter. Im Detail muß die Eigentümlichkeit jedes Rechtsinstituts aus dessen eigenem Werdegang begriffen sein, ehe man auf seine Prinzipien schließen kann. Darum ist auch die Rechtsphilosophie eine vorzugsweise deutsche Wissenschaft: denn deutscher Geist vermag es vor anderen, sich mit objektiver Hingebung in einen fremden Stoff zu versenken und Fremdes mit fremden Augen anzusehen."


Über das Verhältnis der Rechtsphilosophie
zur Philosophie und zur Rechtswissenschaft
(1)

Einleitung

Die Rechtsphilosophie ist häufig Gegenstand von Angriffen gewesen, welche, von verschiedenen Gegner von verschiedenen Gesichtspunkten aus unternommen, doch den Zweck gemein haben, die Notwendigkeit oder gar die Möglichkeit dieser Wissenschaft zu bestreiten.

Vor allem mußten diejenigen, welche alle Philosophie überhaupt für einen Luxus oder für einen Traum oder für Unrecht halten, konsequent mit dem Gesamtkörper auch dieses Glied verwerfen: wenn es überhaupt überflüssig oder unmöglich oder unrecht ist, zu philosophieren, so muß dies auch von der Rechtsphilosophie gelten.

Die Widerlegung dieser Ansichten ist in einem juristischen Vortrag ungehörig und unnötig in diesem der Wissenschaft geweihten Raum und vor dieser Versammlung.

Abgesehen aber von den Angriffen, die mit unwissenschaftlichen Waffen geführt werden, lassen sich die Gegner der Rechtsphilosophie nach den Ausgangspunkten ihrer Polemik in zwei Gruppen scheiden: die Einen sind die Philosophen, die andern die Juristen. Manche Philosophen behaupten, daß im System der Philosophie, manche Juristen, daß im System der Rechtswissenschaft kein Bedürfnis und folglich kein Platz sei für eine Disziplin, welche zwitterhaft aus zwei Naturen besteht und keinem der beiden Wissenschaftsgebiete wirklich angehört. Die Philosophen nennen sie unphilosophisch, die Juristen unjuristisch.

Die philosophischen Gegner der Rechtsphilosophie sprechen also:
    "Eine Wissenschaft, welche sich mit der Auffassung, Entwicklung und Zusammenstellung der positiven Normen irgendeines bestimmten Rechtssystems beschäftigt, sei keine philosophische, sondern eine historische oder juristische. Denn die Philosophie sei die Wissenschaft von den allgemeinen Prinzipien der Welt und des menschlichen Geistes: mit der Abstreifung des Zufälligen und Historischen, des Einzelnen und Vorübergehenden such die Philosophie das Ewige, das Unwandelbare, das Allgemein-Menschliche, welches beharrt im Wechsel der Erscheinungen. Daher kann die Beschäftigung mit den Einzelheiten z. B. des Privat- und Kriminalrechts einer einzelnen Gesetzgebung nicht Philosophie sein. Höchstens die Grundsätze der Staatenbildung etwa und die Konstruktion der obersten Prinzipien der Ethik gehörten der Philosophie an; mit einem Wort: die Philosophie ist keine abstrakte Wissenschaft, jene Rechtsbetrachtung aber ist konkret und darum keine Philosophie."
Umgekehrt! Gerade weil die Rechtsphilosophie konkret ist, darum ist sie Philosophie. Obige Argumentation hängt zusammen mit einer scholastischen Auffassung der Philosophie, mit einem Irrtum, welcher Logik und Philosophie verwechselt. Die Logik freilich - und zwar nicht die Logik des ARISTOTELES, sondern die formale scholastische Logik - ist abstrakt und ihr Ideal, die Kategorientafel eines RAIMUNDUS LULLUS, ist auch das Extrem der Abstraktion.

Philosophie aber ist Weltweisheit: und so gewiß die Welt konkret ist, so gewiß ist die Philosophie. Freilich ist die Philosophie die Wissenschaft von den Prinzipien, vom Allgemeinen, aber das Allgemeine ansich und getrennt vom Einzelnen ist ein totes Schema: nur in seiner Verwirklichung in Natur und Geschichte ist es eine lebendige Idee.

Gehen wir die Reihe der Philosophen durch: wir werden finden, daß gerade die Größten ihre Größe nicht in einer Metaphysik bewährt haben, die über den Wolken schwebt, sondern in konkreter Weisheit, die in der Welt der Geschichte und der Natur lebt.

Hat nicht Sokrates in einem zweifachen Sinn die Philosophie vom Himmel auf die Erde heruntergeführt?

Hat nicht PLATON seine Ideologie auf die Erklärung des Schönen, des Guten, der Sprache, des Staates, der Natur angewandt?

Ist nicht die Philosophie des Aristoteles ein Wissen von Sprache und Staat und Kunst und Sitte und Natur?

SPINOZA hat sein System in "theologisch-politisch-ethischen" Traktaten dargestellt.

Die englischen Philosophen sind Psychologen.

KANT baut sein glorreiches Gebäude auf den Grund der Sprache und die Psychologie des Erkennens: über die apriorischen Formeln aber bei FICHTE, SCHELLIING und HEGEL hat die Geschichte bereits gerichtet. Nicht ihr metaphysisches System hat sich als ihre größte und unsterbliche Tat bewährt, sondern die genialen Durchführungen einzelner Prinzipien in den konkreten Gebieten.

Die Metaphysik FICHTE's, SCHELLINGs und HEGELs hat sich nicht halten können im Entwicklungsstrom der Wissenschaften: aber was FICHTE in ethischen, SCHELLING in ästhetischen, HEGEL in logisch-intelligiblen Gebieten geleistet hat, das wird fortwirken nicht nur in Theorie und Philosophie, sondern auch in Literatur und Kunst, in Sitte und Leben. HEGELs Phänomenologie und manches Einzelstück aus seiner Logik, Ästhetik, Rechts-, Religions- und Geschichtsphilosophie wird noch bewundert fortleben, wenn sein metaphysisches Prinzip längst überwunden sein wird.

Die Abstraktheit dieser Philosopheme ist ein Grund ihres Verfalls, ihrer Verrufenheit: konkret muß die Spekulation werden, soll sie wieder Wert und Ehre gewinnen. Aufgabe der Philosophie ist alles geistige Leben, den Inbegriff des Wißbaren die Resultate aller positiven Einzelwissenschaften zu umfassen, zu verbinden und so zu einem Ganzen abzurunden.

Wenn nun aber auch das Recht im Kreis des menschlichen Geistlebens ein ernstes, wichtiges Glied bildet, so liegt darin der Beweis, daß es auch eine Rechtsphilosophie geben muß. Das Recht einer Zeit, eines Volkes ist ein integrierender Teil der Welt, und die Philosophie, soll sie auch Weltweisheit sein, muß bis ins Detail dieses Rechtverfolgen und die darin immanente Vernunft begreifen und darstellen.

Damit scheint jener Angriff der Philosophie auf die Berechtigung der Rechtsphilosophie abgeschlagen und deren Notwendigkeit nachgewiesen.

Von der anderen Seite her behaupten manche theoretische, besonders aber die praktischen Juristen, "alle Rechtsphilosophie sei nicht nur entbehrlich, sondern von Übel. Es sei neben einer positiven Gesetzgebung und Jurisprudenz gar kein Bedürfnis nach einem dritten. Vielmehr sei die sogenannte Rechtsphilosophie ein gefährliches und verderbliches Ding. Die jüngeren Juristen namentlich würden dadurch verführt, leere Abstraktionen, die den Schein der Tiefe und den Reiz der Allgemeinheit hätten, dem mühsamen und gründlichen Fachstudium im Detail vorzuziehen; flüchtige Oberflächlichkeit, eilfertiges Begnügen mit dem Erreichten würden dadurch begünstigt und in nur äußerlichen toten Formeln wolle man die reiche Fülle des lebendigen Materials erschöpfen, während der Fleiß der Detailforschung vernachlässigt wird.

Diese Einwürfe und Bedenken sind ansich vollkommen begründet, fechten uns aber gar nichts an, denn sie treffen nicht eine Rechtsphilosophie, wie wir sie wollen, sondern eine Abstraktion, wie wir sie nicht wollen.

Das ältere Naturrecht, wie es etwa vom Jahr 1550 - 1800 betrieben und gelehrt wurde, war freilich eine Sammlung von abgezogenen Allgemeinheiten, ohne den Wert und das Leben der Besonderung und darum ohne innere Wahrheit.

Die Rechtsphilosophie HEGELs allerdings, welche aus einem vorher konstruierten Prinzip oder vielmehr an einer genialen Hypothese als absolutem Maßstab das konkrete Recht mißt, diese trifft der Vorwurf, durch den Zauberglanz geistreicher Formeln zu einer tief scheinenden Oberflächlichkeit zu verführen.

Aber die Rechtsphilosophie in unserem Sinn soll nicht die Fiktion eines Naturrechts, nicht die Hypothese eines dialektischen Prozesses zugrunde legen, sondern die Rechtsgeschichte.

Nicht, wie bisher meist geschehen, soll ein fertiges philosophisches Prinzip, auf Metaphysik gebaut, der Reihe nach auf das Schöne, das Sittliche, das Religiöse und so dann auch auf das Recht angewendet werden, so daß an einigen Sätzen eines einzelnen Rechtssystems, etwa dem römischen Eigentumsbegriff oder einigen Gedanken des römischen Erbrechts, die Übereinstimmung mit dem sonstigen "Prinzip" aufgezeigt und so die enzyklopädische Ehre des Systems gerettet würde: nicht KANT, FICHTE und HEGEL scheinen mir die größten Heroen der Rechtsphilosophie, sondern NIEBUHR, PUCHTA, SAVIGNY, JACOB, GRIMM und EICHHORN: diese Männer haben den Geist des Rechts da gesucht und gefunden, wo er allein zu finden ist: in der Geschichte; nicht in abstrakten Formeln, sondern im lebendigen Einzelnen haben sie das tiefste Wesen römischer und germanischer Rechtsbildung belauscht und die Idee des Rechts dargestellt nicht in einem fingierten Naturrecht, sondern in einem wirklichen, nationalen Recht.

So gewiß das Allgemeine nicht außer und über dem Besonderen ist, so gewiß ist die Idee des Rechts nicht außer und über den nationalen Rechten, sondern nur in ihnen. So ist die Rechtsphilosophie die Wissenschaft von der Rechtsidee in der Geschichte, ihr Prinzip ist nicht irgendein metaphysisches, sondern das historische. Sie soll das ganze Material eines nationalen Rechts in seine Einzelheiten verfolgen, seine Geschichte mikroskopisch betrachten und als Resultat aus diesem Stoff heraus den Charakter dieses nationalen Rechts, seinen eigentümlichen Geist darstellen und den gemeinsamen Typos desselben an jedem seiner Sätze, an jeder Einzelheit seiner Geschichte nachzuweisen imstande sein: sie soll die nationalen Rechte behandelnl, nicht ein fingiertes Naturrecht, sie soll diese nationalen Rechte nicht metaphysisch  apriori  konstruieren, sondern  aposteriori  begreifen. Damit fällt der Vorwurf der Juristen, die Rechtsphilosophie führe zu vager, wohlfeiler Oberflächlickeit: denn die volle Beherrschung der betreffenden Rechtssysteme und quellenmäßige Kenntnis seiner Geschichte, kurz: vergleichende Rechtsgeschichte ist uns eine Vorbedingung der Rechtsphilosophie: daher ist sie uns aber auch nicht der Vorhof, sondern die Kuppelwölbung aller Rechtswissenschaft.

Nachdem so die Begriffsbestimmung unserer Disziplin festgestellt ist, ergeben sich aus derselben von selbst drei Fragen, nämlich:
    I. Wenn die Rechtsphilosophie eine philosophische Wissenschaft ist, welche Stellung hat sie dann im philosophischen System neben der Metaphysik einzunehmen: was ist ihre Bedeutung und Aufgabe für die Philosophie?

    II. Wenn die Rechtsphilosophie eine juristische Wissenschaft ist, welche Stellung hat sie dann im juristischen System neben dem positiven Recht einzunehmen: was ist ihre Bedeutung und Aufgabe für die Jurisprudenz?

    III. Wenn sie zugleich eine philosophische und eine juristische Wissenschaft ist, welches muß ihre Methode sein: welche Grundlage muß sie haben, diese doppelte Aufgabe zu lösen?


I. Die Rechtsphilosophie in der Philosophie:
- formale Rechtsphilosophie

Den Begriff der Philosophie in einem klaren Verständnis zu definieren, würde eine Darstellung des ganzen Systems erfordern: diese Definition ist nicht die erste, sie ist die letzte.

Hier muß daher dieser Begriff vorausgesetzt werden.

Philosophie ist Weltweisheit, d. h. die Wissenschaft von den obersten Gesetzen der Welt - die Welt gedacht als Inbegriff alles Menschlich-Denkbaren. Die Hypothese, welche diesem Begriff zugrunde liegt, ist, daß überhaupt über all den Einzelheiten, welche wir wahrnehmunen,  eine  Einheit, über allen Erscheinungen  ein  Gesetz waltet.

Die Hypothese ist freilich eine Hypothese: aber sie ist das  ex hypotheseos anagkaion  [Notwendigkeit einer Annahme - wp] für das menschliche Denken.

Denn der Mensch denkt in der Form von Urteil, Begriff und Schluß: sein Denken ist eine Subsumtion des Einzelnen unter das Allgemeine mittels des Besonderen; will er also überhaupt denken, so muß er auch objektiv eine solche Unterordnung des Einzelnen unter das Allgemeine annehmen, wenn sein Denken die Wahrheit soll erreichen und ausdrücken können.

Unter dem Menschlich-Denkbaren ist nun auch die Wahrnehmung, daß die Menschen selbst in einem Verhältnis stehen zu anderen Menschen und zu den Dingen.

Dieses Verhältnis enthält zwei Momente: ein innerliches, die Motive, die Gesinnungen - das Ethische: und ein stabil-äußerliches, eine äußere Form dieser Verhältnisse -: das Recht.

Wir beobachten, daß sich vorerst in den Gesinnungen der Menschen sich innerlich eine Ansicht über die äußeren Normalverhältnisse zu Menschen und Dingen bildet.

Sodann, daß dieses Verhältnis durch ausgesprochene Regeln in seinem Normalbestand erhalten wird und zwar gerade so lange bis sich in den Gesinnungen der Menschen allmählich ein neuer Kern gebildet hat: dieser wir nunmehr als das Normale aufgestellt, ihm gegenüber sind die früheren Regeln nicht mehr die richtigen, sondern unangemessen und sie fallen, sobald der neue Inhalt stark genug geworden ist, sich eine neue Form zu bilden: d. h. die Ideale der Moral und des Rechts wechseln wie die der Kunst.

Es verhalten sich auch jenes innere und äußere Moment nicht nur wie Inhalt und Form, sondern sie haben auch geradezu verschiedenen Inhalt. Manche sittliche Beziehung im Verhältnis von Mensch zu Mensch ist so innerlich, daß sie äußerlicher Form und Norm weder bedarf noch fähig ist und manche Formel des positiven Rechts wiederum hängt mit dem Sittlichen an kaum mehr zu erkennenden Fäden zusammen.

Wir finden schließlich zwei andere Mächte in der Menschseele, die sehr geeignet sind, einen etwaigen Konflikt zwischen dem innerlichen und äußerlichen Moment zu verhindern.

Einmal ein mehr innerliches, vom Subjekt ausgehendes Element: nämlich den Drang, das vom eigenen Bewußtsein als Ideal Anerkannte auch andere als Ideal darzustellen, anderen die eigene Persönlichkeit mit dem Stempel des Idealen aufzuprägen: dies ist der pädagogische Trieb, welcher keinswegs auf das Gebiet der Kindererziehung beschränkt ist, - Kindererziehung ist nur sein einfachster Typus -: er ist überall wirksam, wo im Menschen eine Bewegung vom Prinzip des Individuellen ausgeht und das Allgemeinen zum Endpunkt hat.

Andererseits liegt im Menschen der Zug nach Rezeption, der aus dem Gefühl der eigenen Relativität und Unvollkommenheit entsprießende Drang, eine andere Art und fremde Eigentümlichkeit, die doch als menschliche verwandt ist, auf sich wirken zu lassen: dies ist das politische Element, welches nicht auf das Gebiet des Staates beschränkt ist - der Staat ist nur ein einfachster, reinster Typus - er ist überall wirksam, wo im Menschen eine Bewegung vom Prinzip der Allgemeinheit ausgeht und auf das Einzelne zurückwirkt.

Das pädagogische Element sucht nun die innere Rechtsüberzeugung auch anderen Individuen und der nächsten Generation einzuprägen.

Das politische Element sucht andererseits als Staat teils die bestehenden Rechtsformen gegen äußere Angriffe und innere ansich unberechtigte oder doch noch unreife Änderungen zu schützen, teils aber auch dem Innerlichen den gebührenden Einfluß auf die Gestaltung des äußeren Rechts zu sichern.

So reicht sich das egoistische und das hingebende Element die Hand, die friedliche Entwicklung des Sittlichen und der Gewohnheit zur Kristallisation als Recht zu befördern.

Aus dem Bisherigen folgen nun die Aufgaben der Rechtsphilosophie für die Philosophie. Nämlich:
    I. Bestimmung der Stelle des Rechts im Gesamtsystem

    II. Definition des Rechts

    III. Entwicklung des Verhältnisses des Rechts zu Moral und Religion.

    IV. Die Quellen des Rechts

    V. Durchführung der gewonnenen Rechtsprinzipien an den geschichtlichen Rechtsstoff aufgrund vergleichender Rechtsgeschichte.


II. Die Rechtsphilosophie in der Jurisprudenz:
- materielle Rechtsphilosophie

Auf dem Gebiet der Jurisprudenz hat die Rechtsphilosophie eine doppelte art der Erscheinung. Einmal auch formell ausgeschieden als selbständige Disziplin, nämlich als philosophische Rechtsenzyklopädie. Als solche ist sie wieder eine zweifache, je nach dem Umfang des juristischen Stoffkreises, welchen sie umfaßt. Sie kann nämlich:
    I. Enzyklopädie der gesamten juristischen Disziplinen sein, welche unseren Rechtszustand bilden, indem sie den innerlichen Unterschied wie den inneren Zusammenhang der beiden großen Rechtsgebiete, des Privatrechts und des öffentlichen Rechts und deren Übergangslinien in Prozeß- und Kriminalrecht, nachweist; indem sie weiter innerhalb des privatrechtlichen Kreises das Sachen- und Obligationenrecht, das Personen-, Familien- und Erbrecht in ihrer sich gegenseitig ergänzenden und postulierenden Reihenfolge nachweist und ebenso im Kreis des Prozeß- Kriminal- und öffentlichen Rechts darstellt, wie ihr Inhalt und ihre Einteilung keineswegs ein zufälliger ist, sondern eine notwendige Folge aus dem Begriff des Menschen und seinem Verhältnis zu anderen Menschen.

    Sie hat hier ferner die wichtige Aufgabe, diejenige Systematisierung des Studium zu bestimmen, welche pädagogisch das Verständnis zu einem organischen macht.

    II. Die Rechtsphilosophie als Enzyklopädie kann sich aber auch nicht auf die Gesamtheit der Disziplinen unseres Rechtszustandes beziehen, sondern auf ein einzelnes nationales Recht, wie es ansich in seiner Geschichte erscheint.

    Jene erste Rechtsenzyklopädie hatte systematisierenden, diese hat historischen Charakter. Hier gilt es, ein nationales Rechtssystem, z. B. das germanische Recht, im weitesten Sinn als ein Ganzes zu begreifen und aus dem völlig beherrschten Stoff heraus die Prinzipien nicht zu konstruieren, sondern historisch zu finden, die seine Eigentümlichkeit ausmachen. Denn die Idee des Rechts ist wie alle Ideen nur in der Völkergeschichte lebendig vorhanden und wie das  genus  des Menschen nur in den verschiedenen Völkern, nicht in einer abstrakten Menschheit, so erscheint das menschliche Recht in den verschiedenen Volksrechten, nicht in einem Naturrecht, welches das allen Einzelrechten Gemeinsame als gemeines Menschenrecht abstrahieren möchte.

    Wenn aber das Recht nur in den einzelnen historischen Volksrechten ist, wie wird in dieser bunten Vielheit des Einzelnen das Begrifflich-Allgemeine gewahrt, welches doch ein Bedürfnis des Geistes und Ursache wie Endzweck aller Wissenschaft ist? Dadurch, daß man im Einzelnen das Allgemeine begreift als das Besondere, daß man in jedem einzelnen Volksrecht das charakteristische Prinzip aufsucht: denn das Abstrakt-Allgemeine, das Naturrecht, ist eine übermenschliche Fiktion, das Zufällige, Einzelne ungenügend dem Drang des philosophischen Gedankens nach höherer Einheit: das Konkrete aber als die Allgemeinheit im Einzelnen: dies ist das Echt-Menschliche, das Gesundlebendige: und so erscheint dies als die höchste Aufgabe der Rechtsphilosophie, den Geist eines geschichtlichen Volksrechts aus diesem selbst zu begreifen.
Neben jener systematisch-enzyklopädischen und historisch-enzyklopädischen Funktion der Rechtsphilosophie, in welchen sie als besondere Disziplin auftritt, hat die Rechtsphilosophie noch andere, mehr praktische Aufgaben zu lösen, welchen sie entsprechen kann, ohne äußerlich gesondert aufzutreten. Diese Seite unserer Wissenschaft, welche man etwa reale Rechtsphilosophie nennen könnte, hat nun wieder eine dreifache Erscheinungsform: eine kritische, dogmatische und legislative.
    1. Kritische Dienste kann die Rechtsphilosophie leisten, wenn in der Geschichte eines nationalen Rechts die Bedeutung irgendeines Rechtssatzes oder eines ganzen Rechtsinstituts dunkel oder streitig ist und es an positiven Gründen zur Aufklärung fehlt: dann wir die vergleichende Betrachtung gleicher oder verwandter Rechtsinstitute wenigstens subsidiäre [unterstützende - wp] Anhaltspunkte zur richtigen Beurteilung geben: z. B. die Analogie des römischen  ager publicus  [Land in Staatsbesitzt - wp] für das germanische Institut der  Allmende  [Kollektivbesitz - wp].

    2. Dogmatisch zu wirken hat die Rechtsphilosophie, wenn es gilt, in Ermangelung von positiven Gründen eine Kontroverse aus Gründen zu schlichten, die dem Begriff des betreffenden Rechtsinstituts entnommen sind.

    Solange das Gesetz nämlich selbst Anhaltspunkte zur Entscheidung einer Streitfrage gibt, ist die Beweisführung aus dem Begriff unzulässig: denn die Macht der Geschichte d. h. das Gebot seines Staates geht für den Richter über die Macht des Begriffs: allein falls die positiven Quellen schweigen oder sich widersprechen, dann ist es rechtsphilosophische Tätigkeit, aus der Analogie anderer Institute und dem Geist des betreffenden Rechts Entscheidungsgründe zu entnehmen: z. B. bei der Frage, ob der "dritte Dieb" der  Carolina  als Rückfall oder als bloße Wiederholung zu verstehen ist.

    3. Schließlich hat die Rechtsphilosophie noch eine legislative Funktion. Wenn es sich nämlich in der Gesetzgebung darum handelt, das richtige Maß zu halten zwischen dem Beharren beim Historischen und dem Fortschritt zu Postulaten einer verwandelten Zeit, so ist es eine rechtsphilosophische Weisheit, welche als ausgleichende Gerechtigkeit über dem Gegensatz jener beiden gleichberechtigten Momente den höheren Frieden findet, welche als Rechtspolitik das entscheidende, das schiedsrichterliche Wort spricht im großen Prozeß des Beharrens und der Bewegung. Hat die Rechtsphilosophie in unserem Sinne als enzyklopädische, kritische und dogmatische den Geist unseres Volkes und seines Rechtsbewußtseins begriffen, aus seiner Volks- und Rechtsgeschichte heraus begriffen, - dann wird sie auch als legislative Rechtsphilosophie zugleich die Befugnis und die Fähigkeit haben, zu bestimmen, was in der Gegenwart der Rechtszustand dieses Volkes bedarf und erträgt.


III. Die Methode der Rechtsphilosophie

Die Schlußfrage nach der Methode der Rechtsphilosophie beantwortet sich von selbst aus dem Bisherigen.

Soll die Rechtsphilosophie als enzyklopädische den Zusammenhang des Rechtszustandes und den Geist des Volksrechts begreifen, soll sie als reale kritisch, dogmatisch und legislativ eingreifen können in die Fortbildung des Rechtslebens, so kann sie nur  einen  Weg gehen, den der Geschichte: denn die Geschichte allein erschließt die lebendigen Quellen der Wahrheit und vermag daher Leben zu fördern, nicht die tote metaphysische Konstruktion  apriori. 

Der ganze Stoff des Rechtsgebietes muß beherrscht und bearbeitet vor uns liegen, wenn das Prinzip desselben gefunden werden soll, aus demselben Grund, aus dem man ein Haus von unten herauf baut und nicht von oben herunter. Im Detail muß die Eigentümlichkeit jedes Rechtsinstituts aus dessen eigenem Werdegang begriffen sein, ehe man auf seine Prinzipien schließen kann. Darum ist auch die Rechtsphilosophie eine vorzugsweise deutsche Wissenschaft: denn deutscher Geist vermag es vor anderen, sich mit objektiver Hingebung in einen fremden Stoff zu versenken und Fremdes mit fremden Augen anzusehen.

Die Grundlage allen Rechts ist die Volksgeschichte, denn alles Recht ist nationales Recht. Wie es widernatürliche wäre, einem Volk eine fremde Sprache aufzuzwingen, so ist es ein Unding, wenn das Recht eines Volkes nicht sein eigenes, nicht aus seiner Geschichte erwachsen ist: denn wie die Sprache der Ausdruck des Nationalcharakters, der Nationalnatur und der Nationalgeschichte, so ist Recht die Kristallisation der flüssigen nationalen Rechtsüberzeugung: jeder Inhalt bedarf seiner eigenen Form: die Rezeption des römischen Rechts aber durch das deutsche Volk ist nicht eine Widerlegung, vielmehr eine großartige Bestätigung obiger Sätze: nur der deutsche Nationalcharakter und die geschichtlichen Voraussetzungen des 13. bis 15. Jahrhunderts erklären diese merkwürdige Tatsache. (2)

Die Methode der Rechtsphilosophie ist also die historische, denn nur diese kann die obigen Aufgaben lösen.

"Aber - könnte man einwerfen - was hier gezeichnet wurde, mag ansich ganz gut und löblich sein: es ist jedoch nicht das, was man bisher Rechtsphilosophie genannt hat: der bisherige Begriff dieser Wissenschaft war metaphysischen, nicht historischen Inhalts, und man hat kein Recht, alte Namen auf neue Dinge zu übertragen."

Gegen diesen Einwand läßt sich auch wirklich nichts sagen und man muß jener abstrakten Wissenschaften den Namen: Rechtsphilosophie-Naturrecht zuweisen, wenn sie einen fordert. Aber uns liegt auch nichts am Namen, sondern alles an der Sache: denn der Name ist tot ohne die Wahrheit, die Wahrheit aber ist lebendig auch ohne den Namen.

Wird aber schließlich behauptet, daß die Rechtsphilosophie in unserem Sinne nie zu einem Abschluß kommen kann, weil sie die Rechtsgeschichte voraussetzt und diese sowohl ihrem Inhalt nach unerschöpflich wie ihrer Zukunft nach unendlich sei, so ist hierauf zu entgegnen: allerdings gibt es keine absolute Rechtsphilosophie, aber es gibt auch überhaupt keine absolute Philosophie. So gewiß die Idee der Schönheit fortwirken wird ohne Abschluß und Ende, solange Menschen leben, so daß man nie wird sagen können: in diesem Kunststil ist die erschöpfte, die vollendete Schönheit, über welche hinaus nichts mehr schöne ist, so gewiß die Idee des Guten nie in irgeneinem ethischen System oder einer nationalen Sitte vollbracht und vollendet sein wird - ebensowenig wird die Idee der Wahrheit jemals in einem philosophischen System erschöpft sein.

Die Rechtsidee ist eine Einheit, ihre Erscheinungen sind wandelbar, und wandelbar darum auch die Rechtsphilosophie: denn nicht nur in Gesetz und Gewohnheitsrecht, auch in den Gedanken der Rechtsphilosophen spiegeln sich die wechselnden Rechtsideale der Völker und Zeiten.

Der Tempel der Philosophie wird niemals voll ausgebaut sein: ein Stück der Kuppelwölbung wird immer fehlen: so kann auf ihren Altar der Stern der Idee niederleuchten.
LITERATUR Felix Dahn, Rechtsphilosophische Studien, Berlin 1883
    Anmerkungen
    1) Vortrag bei der Promotion zum Doktor der Reche, München, den 19. Juli 1855.
    2) Vgl. DAHN, Deutsches Rechtsbuch, Nördlingen 1877, Seite 34