ra-2SchmeidlerG. PatzigO. Dittrichvon RümelinE. MüllerE. Bernheim    
 
HEINRICH MAIER
(1867 - 1933)
Das geschichtliche Erkennen

"Heute hat die idealistische Bewegung, die dem naturalistischen Kulturphilistertum unserer Zeit und seiner geräuschvollen Agitation nicht ohne Erfolg entgegengewirkt, begonnen, der Geschichte, nicht weniger, wenn auch in anderer Weise, gefährlich zu werden. Wir müssen versuchen, uns durch das Gewirr widerstreitender Meinungen den Weg zur Sache zu bahnen."

"Die alltäglichen Verrichtungen des gewöhnlichen Sterblichen z. B. interessieren uns, zumindest als einzelne Tatsachen, geschichtlich ganz und gar nicht. Die historische Erkenntnis beschränkt sich vielmehr auf das, was sich in einen bestimmten Tatsachenzusammenhang einfügt - eben den, den wir den geschichtlichen nennen."

"Es bleibt dabei: die Geschichte hat es mit dem Individuellen als solchem zu tun. Und wenn es keine andere Art wissenschaftlicher Bearbeitung des historischen Tatsachematerials gibt, als die begrifflich-abstrahierende, wenn wirklich alles wissenschaftliche Erkennen auf das begrifflich Allgemeine gerichtet ist, dann muß eben die Historie den Anspruch, Wissenschaft zu sein, aufgeben."

"Rickert fragt nach dem entscheidenden Gesichtspunkt, unter dem sich die individualisierend-historische Begriffsbildung mit wissenschaftlicher Gültigkeit vollzieht. Da es aber augenscheinlich zunächst das Interesse des Historikers ist, was dessen Auswahlverfahren bestimmt, so meint er, die Auswahl wird dann eine objektiv gültige sein, wenn das leitende Interesse ein allgemeingültiges, zuletzt ein normativ allgemeingültiges ist, d. h. ein solches, das wir nicht bloß tatsächlich haben, sondern das wir haben sollen. So kommt er zu der Theorie, daß die individualisierende Begriffsbildung ein wertbeziehendes Abstrahieren ist."


Hochansehnliche Versammlung!

Nichts ist vielleicht für die Philosophie der letzten fünfzig Jahre so charakteristisch wie ihre methodologische Forschungsarbeit. Dieser zumeist hat es insbesondere die deutsche Philosophie zu danken, daß sie über die schwere Krise nach dem Zusammenbruch der idealistischen Spekulationen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts glücklich hinwegkam. Damals war man sich darüber klar geworden, daß es eine philosophische Wirklichkeitserkenntnis neben oder gar über derjenigen, die die empirische Wissenschaft in entsagungsvoller Einzelforschung zu gewinnen sich bemüht, nicht geben kann. Aber über die Stimmung skeptischer Resignation half die andere Einsicht hinweg, daß der Philosophie immer noch ein großes Arbeitsfeld blieb, die Untersuchung des Erkennens selbst, der Form des Wissens, die in ihren wesentlichsten Zügen allen positiven Wissenschaften, so weit ihre Wege auseinandergehen mögen, gemeinsam ist. Hier hat die erkenntnistheoretische Bewegung eingesetzt, die die Philosophie dazu brachte, sich ernsthaft um die Frage nach der Tragweite, den Grenzen und dem Geltungswert des menschlichen Erkennens zu mühen und schließlich den letzten Gründen unserer Wirklichkeitsvorstellungen nachzuspüren; das aber ist zugleich der Weg, auf dem allein auch die Lösung der metaphysischen Rätsel möglich sein wird - so weit uns Menschen eine solche gegönnt ist. Und aus demselben Gedankenkreis erwuchs der philosophischen Arbeit die andere Aufgabe, den Forschungsgängen der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis kritisch zu folgen, die Ziele und Methoden der positiven Wissenschaften, die Denkformen, mit denen diese arbeiten, ihre Leitprinzipien und Voraussetzungen herauszuheben und ins Licht der herrschenden Normen logischer Geltung zu rücken. Das brachte die Erkenntniskritik in Fühlung mit der Logik, und in die kritischen Bestrebungen wirkten auf das furchtbarste die methodologischen Tendenzen herein, die damals die logische Arbeit in eine neue Bahn leiteten. So entstand die philosophische Methodologie, die heute im Begriff steht, sich als Wissenschaftslehre von der allgemeinen Logik loszulösen und zu einer besonderen philosophischen Disziplin zu werden.

Zunächst nun war es vorwiegend das naturwissenschaftliche Gebiet, in dem sich das methodologische Interesse betätigte. Das erklärt sich nicht allein aus der dominierenden Stellung, die sich die Naturwissenschaften seit den mittleren Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts zu erringen gewußt hatten, sondern vor allem daraus, daß hier Vorarbeiten und Anknüpfungspunkt genug schon vorlagen und die ganze Arbeitsweise der damaligen Naturwissenschaft, zumal ihre vorsichtige Zurückhaltung gegen weitausgreifende naturphilosophische Hypothesen, mit der kritischen Stimmung der philosophischen Methodologie auf das Glücklichste zusammentraf. Nur zögern trat die methodologische Forschung an die Geisteswissenschaften heran. Hier lag ja nicht einmal das Einheitsband, das diese verschiedenartigen Disziplinen zusammenschließt, klar zutage. So kam es erst in den achtziger Jahren zu einer umfassenden Bearbeitung der geisteswissenschaftlichen Methodik. Auch heute noch ist hier alles im Fluß. Aber aus der Masse von Problemen, die auf diesem Gebiet noch der Lösung harren, ist in den beiden letzten Jahrzehnten eines herausgetreten, das in besonderem Maß das Interesse der Philosophie wie der beteiligten Fachwissenschaften in Anspruch nimmt. Es ist das Problem des geschichtlichen Erkennens. Immer noch steht dasselbe im Mittelpunkt der methodologischen Erörterungen, und noch ist eine Lösung nicht in Sicht. Inzwischen hat sich aber die Situation nicht unerheblich geändert. Als man anfing, nach einer Theorie der Geschichte zu suchen, war das leitende Motiv der Kampf gegen den historischen Naturalismus, gegen die Eintragung naturwissenschaftlicher Forschungsideal und Methoden in die Auffassung und Erklärung der geistig-geschichtlichen Wirklichkeit. Heute hat die idealistische Bewegung, die dem naturalistischen Kulturphilistertum unserer Zeit und seiner geräuschvollen Agitation nicht ohne Erfolg entgegengewirkt, begonnen, der Geschichte, nicht weniger, wenn auch in anderer Weise, gefährlich zu werden. Wir müssen versuchen, uns durch das Gewirr widerstreitender Meinungen den Weg zur Sache zu bahnen.

Ein negatives Ergebnis hat die geschichtsmethodologische Arbeit des letzten Menschenalters in jedem Fall zutage gefördert. Der Traum einer philosophischen Geschichtserkenntnis, die vollständiger und tiefer als die Geschichtsforschung den Verlauf des historischen Geschehens erfassen könnte, ist für die Wissenschaft verflogen. Zwar werden die Fragen nach dem Woher? und Wohin? des Menschengeschlechts nie verschwinden, solange es Menschen gibt. Und die Versuche, in rascher Intuition den Sinn und Plan, die Entwicklungsrichtung und die Entwicklungstendenz der Weltgeschichte zu ergründenm, werden nie aufhören. Sie wurzeln aber alle schließlich - das hat schon LOTZE, obwohl sein Herz an diesen Spekulationen hing, gesehen - in einem Bedürfnis des menschlichen Gemüts, im Lauf der Welt und der Geschichte eine wertvolle Ordnung zu suchen, und ihre stärkste Stütze habe sie an einem praktisch-sittlichen Glauben, der in den Zielen und Idealen des menschlichen Begehrens Weltwerte sehen möchte und sich am Gedanken einer aufwärtssteigenden Entwicklung der Menschengeschichte immer wieder erhebt und erbaut. Daß geschichtliche Erkenntnis und Verständnis des geschichtlichen Lebens auf einem anderen Weg als auf dem der historischen Forschungsarbeit nicht gewonnen werden kann, ist heute unter Sachkundigen eine selbstverständliche Wahrheit. Trivial ist sie jedoch immer noch nicht geworden. Zwar sind die Konstruktionen HEGELs trotz der hegelianisierenden Neigungen, die neuerdings auch in der deutschen Philosophie wieder hervorgetreten sind, der ernsten Geschichtswissenschaft nicht mehr gefährlich. Und auch der letzte Überrest von HEGELs Geschichtsphilosophie, die materialistische Geschichtsauffassung, die ja immer noch das Parteidogma des orthodoxen Marxismus ist, ist von den wissenschaftlich Kompetenten unter den Sozialdemokraten selbst längst aufgegeben. Daß aber die Ideen der französischen Soziologie, die die Geschichte der Menschheit wie der einzelnen Völker in das enge Schema eines Dreistadien- und des ihm ergänzend angeführten Konsensusgesetzes einzwängen wollte, auch heute ihre werbende Kraft noch nicht ganz verloren haben, ist bekannt. Und besonders stark wirkt immer noch der Zauber der evolutionistischen Gedanken. Es liegt ja nahe genug, von den Theorien, die die generelle Entwicklung des tierischen Lebens bis hinauf zum Menschen verfolgen und nicht bloß die treibenden Faktoren dieses Prozesses, sondern zuletzt auch seine ganze Tendenz zu bestimmen suchen, Aufschluß zu erwarten auch über die geschichtliche Entwicklung des Menschengeschlechts, über die Kräfte, die in ihr wirksam sind, und über den Gang, den sie genommen hat und vermutlich noch nehmen wird. Allein wir wissen jetzt, daß die soziologische Geschichtsspekulation COMTEs auf einer voreiligen Abstraktion aus einem doch recht kleinen und überdies mangelhaft beobachteten Tatsachenmaterial und andererseits auf der unhaltbaren Voraussetzung eines in sich geschlossenen Kollektivgeistes der Menschheit aufgebaut ist. Ferner führt uns die Entwicklungslehre zwar, sofern sie uns die körperlich-geistige Organisation der menschlichen Gattung in ihrer Differenzierung genetisch begreifen lehrt, bis an die Schwelle des geschichtlichen Geschehens, nicht aber in dieses hinein, und wir haben umso weniger ein Recht zu schließen, daß die Kräfte, die das animalische Leben von den niedrigsten Tierspezies bis zum Menschen emporgeführt haben, auch den Verlauf der innermenschlichen Geschichte beherrschen, da wir nicht einmal eine Gleichartigkeit beider Entwicklungen anzunehmen irgendeinen Grund haben: möglich ist ja, daß wir einer Höherbildung unserer Spezies, dem vielberufenen Übermenschentum, zutreiben; aber auch das ist nicht ausgeschlossen, daß das Menschengeschlecht einer langsamen Degeneration zusteuert, die ihm den schließlichen Untergang bringen wird.

Gewiß kann auch die Geschichtsforschung nicht auf Annahmen verzichten, die eine Ergänzung und Erweiterung unserer Geschichtsbilder über die Grenzen des sicher Festgestellten hinaus anstreben. Für zulässig aber hält sie nur diejenigen Hypothesen, die ihr aus ihrem eigenen Schoß, aus der Vertiefung in das geschichtliche Material selbst erwachsen. In die Region der geschichtsphilosophischen Phantasien wird sie auf diese Weise freilich nie dringen können. Aber sie hat hierzu auch gar kein Bedürfnis. Denn sie ist sich darüber im Klaren, daß das Wenige, was wir von der Gesamtheit des geschichtlichen Geschehens wissen und in Zukunft wissen werden, uns niemals einen Schluß auf die ganze Entwicklungsrichtung der Geschichte erlauben wird. Und sie weiß auch das andere, daß die letzte Voraussetzung all dieser Geschichtsdichtungen, der Gedanke einer einheitlichen Weltgeschichte, einer einheitlichen Menschheitsentwicklung, eine Fiktion ist, die mit den Tatsachen im schärfsten Widerspruch steht.

So unmöglich danach ein philosophisches Erkennen der Geschichte ist, so lebenskräftig ist die Philosophie des geschichtlichen Erkennens.

In ihrer ersten zeit nun wandte die Methodologie ihr Interesse vorwiegend dem Weg zu, auf dem die Forschung zur Feststellung der geschichtlichen Tatsachen und Tatsachenbeziehungen gelangt war. Wir begreifen das. Mit dem Geschäft der Tatsachenfeststellung hängt all das zusammen, was den besonderen Stolz des modernen Historikers ausmacht: die Aufspürung von Quellen, deren kritische Erschließung und die Verwendung des so gewonnenen und gesichteten Materials zur Konstatierung und Aufhellung des geschichtlich Gewordenen und Gewesenen. Und hier konnte sich die philosophische Untersuchung ja auch auf den soliden Grund stellen, den die technische Historik gelegt hatt. Die letztere widmet seit langem gerade dieser Seite des geschichtlichen Verfahrens, der Heuristik, Kritik und Interpretation, eine besonders liebevolle Pflege. Leider hat die philosophische Methodologie hierin mit der technischen weiterhin nicht gleichen Schritt gehalten. Nach der Festlegung der allgemeinen Umrisse kam die Arbeit ins Stocken. Erst neuerdings sind Anfänge zu einer tiefer eindringenden Analyse dieser verwickelten Erkenntnisprozesse gemacht worden. Und doch liegen hier überaus bedeutsame Probleme. Ob Überlieferung, Denkmäler oder Überreste die Quellen sind, aus denen die geschichtliche Forschung schöpft, in allen Fällen ist es eine lange Kette von Schlüssen, die von der Quelle zu den Tatsachen und Tatsachenbeziehungen führt. Und die genauer Zergliederung des Ganzen dieser Schlüsse, die sich größtenteils unwillkürlich, nur dunkel bewußt und in stark schematischer Verkürzung abspielen, die Aufdeckung ihrer logischen Struktur und ihrer inhaltlichen Stützen würde uns nicht allein in den Charakter jener Forschungsprozesse, in die Geheimnisse des Suchens und Findens, in das Walten der historischen Phantasie einen Einblick geben, sie würde auch auf die Natur der Begründung, die den geschichtlichen Feststellungen gegeben werden kann, zuletzt auf die Art und die Abstufungen der Gewißheit historischer Tatsachenerkenntnis ein Licht werfen. Vor allem aber würde von hier aus die dem geschichtlichen Erkennen selbst unvermeidlich anhaftende Subjektivität, an die sich so viele Mißverständnisse knüpfen, in die richtige Beleuchtung treten.

Es sind bekanntlich psychische Tatsachen, seelische Betätigungen und Vorgänge, auf die die historische Forschung in allen Gebieten letztenendes trifft. Denn all das physische Sein und Geschehen, das den Historiker beschäftigt - man denke an die mannigfachen physischen Äußerungsformen und Erzeugnisse und andererseits an die verschiedenartigen physischen Bedingungen und Veranlassungen geistigen Tuns und Erlebens - verdankt seine geschichtliche Bedeutung doch nur den inneren Beziehungen, in denen es zum menschlichen Geistesleben steht. Aber indem der Geschichtsforscher diese geistigen Tatsachen zu erkennen sucht, verwickelt er sich in eigentümliche Schwierigkeiten. Über die Natur dieses "Erkennens" - man nennt es neuerdings auch "Verstehen" - sind wir noch nicht ganz im Reinen. Sicher ist, daß es ein Sichhineinversetzen in fremdes Geistesleben ist. Und dies ist nur möglich durch eine innere Nachbildung der fremden Erlebnisse in einer Art von vorstellendem Nacherleben. Der Schlüssel zum "Verstehen" liegt also in der eigenen inneren Erfahrung, die dem Historiker allein die Auffassungsmittel liefern kann. Und es ist selbstverständlich, daß alle geschichtliche Erkenntnis durch diese Subjektivität hindurchgehen muß. Indessen ist das für sie zwar eine reichlich fließende Fehlerquelle, keineswegs aber eine absolute Schranke. Dem geschulten Forscher hilft der historische Instinkt, hilft die Erfahrung, die er sich in der Arbeit selbst erworben hat, nicht allzuschwer über die Klippe hinweg. Der Methodologie aber obliegt es, die Prozesse der inneren Ausweitung des geistigen Gesichtskreises, der Erweiterung des Auffassungsvermögens, die den Historiker befähigt, sich in die fremde Geistesart, in andere Völker und Zeiten in die höchsten und in die primitivsten Kulturen, in die abgelegensten wie in die nächsten Gedanken- und Stimmungskreise hineinzuschauen, zu zergliedern und kritisch festzulegen. Das ist kein Mysterium: schon der vorwissenschaftliche Mensch ergänzt und korrigiert, eben indem er sich in das Seelenleben anderer hineinversetzt, Schritt für Schritt die eigene innere Erfahrung. Der Historiker aber setzt nur diese Arbeit fort, wenn er sich zur geschichtlichen Objektivität emporringt. Und bleibt auch immer ein subjektiver Bodensatz, sein Ideal ist doch das Auslöschen des eigenen Selbst, das RANKE für die normale Disposition des Geschichtsforscher gehalten hat. Nichts kann darum verfehlter sein, als die unter den philosophischen Methodologen so stark hervortretende Neigung, das beliebte Modernisieren und Subjektivieren des einst Geschehenen geradezu zum historischen Prinzip zu machen. Zwar hat diese Manier als äußeres Darstellungs- und Veranschaulichungsmittel ihr Recht und ihren nicht zu unterschätzenden Wert - nach dieser Seite ist ja auch der Individualität des Historikers ein weiter Spielraum gegönnt -, verhängnisvoll aber wird sie, wenn man subjektiv-moderne Gesichtspunkte, Interessen, Wertmaßstäbe und Probleme an den geschichtlichen Tatsachenstoff heran und in ihn hineinträgt. Ich glaube, der philosophischen Methodologie wären manche Irrtümer erspart geblieben, wenn sie nicht diesen Teil ihrer Aufgabe gar zu sehr vernachlässigt hätte.

Richtig ist jedoch: in der Feststellung der Tatsachen und Tatsachenbeziehungen liegt das noch nicht, was die spezifische Eigenart des geschichtlichen Erkennens ausmacht. An jener haben die theoretischen Disziplinen der Geisteswissenschaften, Sprachpsychologie, Religionspsychologie, theoretische Ästhetik, theoretische Volkswirtschafts-, Staats-, Rechtslehre usw. gleiches Interesse; denn ihnen müssen die geschichtlichen Tatsachen das Induktionsmaterial liefern, aus dem sie die Theorien der Sprache, Religion, der Kunst, des Rechts, des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens usw. ableiten. Das Eigentümliche der geschichtlichen Erkenntnis kann nur in der besonderen Art liegen, wie sie sich zu jenem Tatsachenmaterial stellt. Nun scheint die Lösung des Rätsels die zu sein, daß, während die theoretische Betrachtung im konkreten Tatsachenstoff das Allgemeine aufsucht, die geschichtliche es mit dem Einzelnem als solchem, mit den einzelnen Tatsachen und Tatsachenbeziehungen zu tun hat. Dann aber wäre mit der Tatsachenfeststellung am Ende doch das wesentliche Geschäft der Historie erledigt. Allein es ist nicht schwer, einzusehen, daß die geschichtliche Erkenntnis sich hiermit keineswegs begnügt, daß auch sie, so gut wie die theoretische, eine Bearbeitung des Tatsachenmaterials vornimmt, nur eine Bearbeitung unter einem anderen Gesichtspunkt. Und auch das fällt sofort in die Augen, daß die geschichtliche Tatsachenbearbeitung eine Art von Auswahlverfahren ist.

Das Problem bleibt für die Epochen verdeckt, für die das Material spärlich oder die Überlieferung in Form von Geschichtswerken, die die Auswahl bereits vollzogen oder doch vorbereitet haben, die Hauptquelle ist. Nehmen wir aber z. B. die mitteleuropäische Kultur im 18. und 19. Jahrhundert! Die ungeheure Masse von festgestelltem oder feststellbarem Einzelnem, die uns hier entgegentritt, scheint sich der erkenntnismäßigen Bewältigung völlig zu entziehen. Und auch jede geschichtliche Einzelerscheinung, jede historische Persönlichkeit oder Bewegung weist eins solche Menge von Einzelzügen auf, daß der Historiker nicht zu wissen scheint, wo anfangen und wo aufhören. In dieser Lage nun hilft sich die historische Erkenntnis, so pflegt man zu sagen, indem sie das "geschichtlich Wesentliche" herausgreift. Was aber dieses geschichtlich Wesentliche ist, das ist die Frage. Und mit dieser ersten Frage verquickt sich sofort eine andere. Ansich liegt vor dem Historiker, sofern er es mit der Menschheitsgeschichte zu tun hat, das ganze Reich vergangener menschlicher Betätigungen. Aber es fällt uns nicht ein, diese Masse durchweg als historisches Material anzusehen. Die alltäglichen Verrichtungen des gewöhnlichen Sterblichen z. B. interessieren uns, zumindest als einzelne Tatsachen, geschichtlich ganz und gar nicht. Die historische Erkenntnis beschränkt sich vielmehr auf das, was sich in einen bestimmten Tatsachenzusammenhang einfügt - eben den, den wir den "geschichtlichen" nennen. Auch damit aber scheint eine Auswahl vollzogen zu werden. Und es fragt sich: worauf gründet sich diese? Was ist als geschichtlich zu betrachten? Es liegt nahe, die beiden Arten von Auswahl zusammenzufassen. Ob dies richtig ist, wird sich später zeigen. Die moderne Methodologie hat wirklich die Frage nach dem Gegenstand, dem Forschungsgebiet der geschichtlichen Erkenntnis jener ersten, die das geschichtlich Wesentliche betrifft, untergeordnet und in diesem Sinn das Problem des geschichtlichen Auswahlprinzips in den Vordergrund gerückt.

Für das geschichtliche Erkennen ist das in der Tat die Kardinalfrage, an der zuletzt das ganze wisenschaftliche Recht der historischen Betrachtungsweise, der wissenschaftliche Charakter und Rang der Historie hängt. Ansich stellt sich die Auswahl, die der Historiker vollzieht, als eine Verstümmelung der reichen Wirklichkeitsfälle dar, und darum als eine Entfernung von der Wirklichkeit, die umso größer wird, je höher die geschichtlichen Darstellungen ihren Betrachtungsgesichtspunkt nehmen. Gibt es nun eine objektive Berechtigung und Grundlage für dieses Verfahren? Das ist der entscheidende Punkt.

Die Wissenschaftslehre stand bis in die neueste Zeit herein unter der Nachwirkung der platonisch-aristotelischen Begriffsphilosophie. Für die griechische Wissenschaft bedeutete einst in kritischer Zeit PLATOs Entdeckung des Allgemeinen die Rettung. Man stand dem ungeheuren Reichtum des konkret Tatsächlichen rat- und hilflos gegenüber. Das Individuelle mit seiner Unübersehbaren Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit erschien als das wissenschaftlich Unfaßbare, ja als das schlechthin Irrationale. Im Allgemeinbegriff nun glaubte man das Mittel gefunden zu haben, dieser Mannigfaltigkeit Herr zu werden. So stellte ARISTOTELES der Wissenschaft grundsätzlich die Aufgabe, das Allgemeine zu suchen, und das begriffliche Wissen war ihm mit dem Wissen überhaupt identisch. Der Historie aber wollte er, da sie es mit dem Einzelnen zu tun hat, keinen wissenschaftlichen Charakter zuerkennen: selbst die Poesie stand in seinen Augen, da sie sich dem Typischen, dem Allgemeinmenschlichen zuwendet, der strengen Wissenschaft näher als die Geschichte. Von da ab blieb es Jahrhunderte lang ein unangetastetes Axiom, daß das Ziel einer Wirklichkeitswissenschaft in allen Fällen die Erkenntnis des Allgemeinen, die Aufsuchung von Allgemeinbegriffen, Gesetzen und am Ende auch von allgemeinen Vernunftidealen sein muß. Und auch das Urteil über die Geschichte erfuhr in dieser Zeit keine wesentliche Revision.

Es war ein Glück, daß sich die Historiker selbst durch diese Einschätzung ihres Metiers nicht beirren ließen. Sie schrieben, so weit sie zu ihrer Arbeit nicht durch besondere Veranlassungen oder Motive bestimmt waren, Geschichte, weil es ihnen Freude machte - unbekümmert darum, ob, was sie zu bieten hatten, Wissenschaft ist oder nicht, und sie erzählten eben, was sie interessierte und wofür sie bei ihrem Publikum ein Interesse voraussetzen konnten. Für die pragmatische Geschichtsschreibung aber boten die Vernunftideale, in deren Licht sie das historisch Gewordene zu betrachten liebte, die selbstverständlichen Auswahlgesichtspunnkte. Es kam jedoch auch für die Historie die Zeit, wo sie das große Problem in seiner vollen Tiefe empfand. Das war damals, als man begann, das Individuelle in seiner ganzen Tatsächlichkeit und geschichtlichen Konkretheit dem Allgemeinen gegenüber in sein wissenschaftliches Recht einzusetzen. Jetzt - es war in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts - galten die individuellen Erscheinungen nicht mehr als das Irrationale. Man sah in ihnen im Gegenteil gerade das Rationale. Rational aber hieß nicht mehr das durch die denkende Individualvernunft Erfaßbare, sondern das von der schöpferischen, in der Geschichte sich entfaltenden Universalvernunft Erzeugte. So stand die werdende Geschichtswissenschaft nun mit vollem Bewußtsein vor der Aufgabe, die unendliche Fülle des Individuell-Tatsächlichen erkennend zu meistern. Aber gleich am Eingang des neuen Wegs lag eine große Gefah. War nicht das Ziel dann am schnellsten und vollständigsten zu erreichen, wenn man mit den spekulativen Mitteln der Individualvernunft in das Wesen der historischen Kollektivvernunft eindrand und dieser die Geheimnisse des geschichtlichen Geschehens ablauschte? Das war der Weg HEGELs und der Geschichtsphilosophie, die sich an seinem Namen knüpfte. Das neuerwachte historische Denken selbst freilich, wie es am frühesten im Anschauungskreis der historischen Rechtsquelle Gestalt gewann, stellte diesem Unternehmen den schärfsten Widerstand entgegen. Von einer Gleichartigkeit der individuellen und der historischen Vernunft, wie HEGEL sie voraussetzte, und von dem Gesanken, das Walten der in der Geschichte wirsamen Weltkraft apriorisch zu ergründen, wollte man nichts wissen. Allein von einer Seite glaubte doch auch die historische Richtung in das Wesen der letzteren unmittelbar hineinschauen zu können: das Dogma von der Differenzierung der universalen historischen Vernunft in einer Reihe von Volksseelen, aus denen sich in naturhaften Prozessen Recht, Sitte, Sprache, Poesie, Kunst, Mythos und dgl. entwickeln, war doch nichts anderes als Spekulation. Auf der anderer Seite blieb die Aufgabe, das Einzelne in seiner verwirrenden Masse wissenschaftlich zu fassen, immer noch ungelöst. Aus dieser Situation entsprang die historische Ideenlehre. Man muß sich WILHELM von HUMBOLDTs klassisch schöne Abhandlung "Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers" (1822) hineindenken, um zu ermessen, wie sehr das geschichtliche Erkennen von da her bedroht war. HUMBOLDT selbst, einer der Bahnbrecher der neuen Geisteswissenschaft, war Empiriker genug, um zu wissen, daß sich geschichtliche Erkenntnis nur der Erforschung des Tatsachenstoffs erschließt, und er warnt den Historiker ausdrücklich, "über dem Suchen nach dem Zusammenhang des Ganzen auch nur etwas vom lebendigen Reichtum des Einzelnen aufzuopfern"; aber als einen Kenner der Historie läßt er doch nur den gelten, der nicht allein die in Erscheinung tretenden geschichtlichen Kräfte in den Tatsachen aufspürt, der vielmehr noch hinter diese zurückgeht auf die "Ideen, die, ihrer Natur nach, außerhalb des Kreises der Endichkeit liegen, aber die Weltgeschichte in allen ihren Teilen durchwalten und beherrschen". Erreichbar aber sind diese mysteriösen, überindividuellen Mächte am Ende nur der genialen Intution, und es verleugnet sich nicht, daß diese Ideenlehre zuletzt in SCHELLINGs Philosophie wurzelt.

Um so wunderbarer wird es immer bleiben, mit welcher Sicherheit LEOPOLD RANKE, der eigentliche Begründer der modernen Geschichtswissenschaft, der selbst von WILHELM von HUMBOLDT herkam un auch von SCHELLING nicht unberührt geblieben war, in dieser schwierigen Lage schon früh den richtigen Weg gefunden hat. Menschliche Dinge kennenzulernen, so lautet sein methodologisches Programm, gibt es zwei Wege: den der Erkenntnis des Einzelnen und den der Abstraktion; der eine ist der Weg der Philosophie, der andere der der Geschichte. Aber auch der Historiker hat sich über das ungeheure Aggregat von Tatsachen hinaus zum Allgemeinen zu erheben - aber freilich zum historisch Allgemeinen, das ein ganz anderes ist als das begrifflich Allgemeine. Die geschichtliche Forschung strebt von den speziellen Objekten, von denen sie jeweils ihren Ausgang nimmt, zu einem umfassenderen Ganzen, zu Völkern, zu Epochen hin, von den Völkern und Epochen aber schließlich zu einem letzten Ganzen, zur Einheit der Universalhistorie. Überall, auf allen Stufen aber hat sie die Zusammenhänge, zuletzt den Zusammenhang herauszuheben. Und das gelingt ihr, indem sie die leitenden Ideen aufgreift. Die Ideen selbst jedoch sind für RANKE nicht mehr mystische, hinter dem Spiel der geschichtlichen Kräfte liegende Wesenheiten, sie sind nichts anderes als die großen Tendenzen der geschichtlichen Epochen. Und die wesentlichste Aufgabe der historischen Verallgemeinerung sieht er im Emporsteigen vom Einzelmaterial der geschichtlichen Begebenheiten zu den beherrschenden Tendenzen der Jahrhunderte.

Leider haben RANKEs Schüler diese Gedanken des Meisters nicht weitergefühlt und nicht einmal aufgenommen. Zum Teil waren sie durch andere Aufgaben, die sich mit der historischen Auswahl nicht unmittelbar berührten, wie die Erschließung neuer Quellen und die kritische Sichtung des bekannten und des neuaufgefundenen Stoffs, vorwiegend in Anspruch genommen. Andererseits waren es aktuelle Interessen und Gesichtspunkte des staatlich-politischen Lebens, die ihre Geschichtsschreibung leiteten und ihnen so den Blick auf jene methodologische Schwierigkeit versperrten.

Inzwischen aber war das Auswahlproblem auch auf einem anderen Boden, in der Gedankenumgebung der französisch-englischen Soziologie, hervorgetreten. Aber die Lösung, die es hier fand, ist äußerst charakteristisch. Aus der Voraussetzung, die die französische Romantik mit der deutschen teilte, daß die geschichtliche Welt ein Erzeugnis des Kollektivgeistes der menschlichen Gesellschaft und die Träger des geschichtlichen Geschehens in allen Fällen Kollektivsubjekte sind, erwuchs hier die kollektivistische Theorie, daß die primären Gegenstände der historischen Forschung und die beherrschenden Faktoren der Geschichte die Massenerscheinungen sind. Und dazu kam nun der starke Drang, die Geschichtsforschung auf die wissenschaftliche Höhe zu heben, für die die Naturwissenschaft ein so leuchtendes Vorbild zu geben schien. War dies aber anders zu erreichen, als dadurch, daß man die Geschichte zu einer induktiven Wissenschaft gestaltete, zu einer Wissenschaft, die aus dem geschichtlichen Einzelmaterial das Allgemeine, das Gesetzmäßige heraushebt? Und hierzu bot, wie die Geschichtstheorie BUCKLEs besonders klar erkennen läßt, die kollektivistische Geschichtsauffassung ganz von selbst die Hand; denn die Massenerscheinungen waren nur der vergleichenden Abstraktion faßbar, die in den Einzeltatsachen das Gemeinsame aufgreift. So schien die Geschichte, wenn sie Wissenschaft werden wollte, eine Gesetzeswissenschaft werden zu müssen.

Verwandte Wege ist neuerdings KARL LAMPRECHT gegangen. Seine vielangefochtenen methodologischen Erwägungen setzten - das muß anerkannt werden - an dem Punkt ein, wo in der Tat das entscheidende Problem lag. Auch er wollt die Geschichte zum Rang einer Wissenschaft erheben, und er sah ein, daß es mit der exakten Feststellung der Tatsachen noch nicht getan ist: die Tatsachen sind eine rohe, formlose Masse; erst ihre Bearbeitung ergibt Wissenschaft. LAMPRECHTs Verhängnis aber war, daß er am alten platonisch-aristotelischen Vorurteil haften blieb: auch ihm ist nur die Erkenntnis des Allgemeinen Wissenschaft. So stellt er dem wissenschaftlichen Historiker wieder die Aufgabe, im Tatsachenstoff das Regelmäßige, das Typische, die Gesetze aufzusuchen. Und da auch er auf dem Boden der kollektivistischen Geschichtsauffassung steht, so ist auch ihm die geschichtswissenschaftliche Methode die vergleichend-begriffliche Abstraktion. Das Resultat, zu dem er selbst auf diesem Weg kam, sind die bekannten typischen Entwicklungen der Nationen, die mimt immanenter Gesetzmäßigkeit in einer überall gleichen Abfolge von Kulturzeitaltern ablaufen. Da LAMPRECHT aber zugleich die sozialpsychischen Faktoren aufzeigen will, die diese Entwicklungen bestimmen, so wird ihm die Historie zu einer sozialpsychologischen Wissenschaft, ja zur angewandten Psychologie. Im Singulären selbst dagegen sieht er wieder das Irrationale, das lediglich der künstlerischen Erfassung zugänglich ist und darum in der Geschichtswissenschaft nur sekundäre in Betracht kommen kann.

Ich habe nicht die Absicht, LAMPRECHTs Geschichtsauffassung im Einzelnen kritisch zu beleuchten. Auch die Soziologen erblicken in seinen Kollektiveinheiten, den Nationen mit ihren inneren Entwicklungsnotwendigkeiten, am Ende nur das Ergebnis einer allzu raschen Abstraktion und einer fehlerhaften Hypostasierung [einem Begriff wird gegenständliche Realität unterstellt - wp]. Darüber darf aber nicht verkannt werden, daß in der vergleichenden Geschichtsschreibung, zu der LAMPRECHT einen so wirksamen Anstoß gegeben hat, eine große und wichtige Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Forschung liegt. Man mag über LAMPRECHTs Methoden und Forschungsergebnisse denken, wie man will: wer aber das innere Wesen des Rechts, der Sitte, der Sprache, der Religion, der Kunst, des wirtschaftlichen und staatlichen Lebens theoretisch verstehen will, für den gibt es keinen besseren Weg als den, die Entwicklung dieser Kulturerscheinungen in den verschiedenen Kulturkreisen vergleichend zu verfolgen. So allein wird sich ihm der Einblick in die schaffenden Kräfte, die in den Sondergebieten wie auch im Ganzen des kulturellen Lebens an der Arbeit sind, erschließen; und wer wollte leugnen, daß diese Forschung zuletzt der Psychologie ihre Erkenntnismittel entnehmen muß? In der Tat, die vergleichende Geschichtsbetrachtung ist die Grundlage für die geisteswissenschaftlichen Theorien, die ihrerseits auf der Psychologie fußen. Allen beachten wir wohl: die Geschichte selbst ist keine vergleichende Geschichtsbetrachtung - die letztere liegt bereits in der Mitte zwischen Historie und Theorie; die Geschichte ist noch weniger geisteswissenschaftliche Theorie und darum auch nicht die sozialpsychologische Wissenschaft LAMPRECHTs. Am allerwenigsten ist sie schließlich, so wichtig und unentbehrlich das psychologische Können und Kennen für den Geschichtsforscher auch sein mag, - angewandte Psychologie. Das wissenschaftliche Ideal, das LAMPRECHT leitete, hat ihn von der eigentlichen Geschichte weit weggeführt.

Es war ein Zerhauen des Knotens, keine Lösung, dieser Versuch, der Geschichte dadurch zu einem wissenschaftlichen Rang zu verhelfen, daß man sie zu einer Gesetzeswissenschaft stempeln wollte. Es bleibt dabei: die Geschichte hat es mit dem Individuellen als solchem zu tun. Und wenn es keine andere Art wissenschaftlicher Bearbeitung des historischen Tatsachematerials gibt, als die begrifflich-abstrahierende, wenn wirklich alles wissenschaftliche Erkennen auf das begrifflich Allgemeine gerichtet ist, dann muß eben die Historie den Anspruch, Wissenschaft zu sein, aufgeben. In der Tat haben nicht bloß philosophische Theoretiker, sondern auch Historiker diese Folgerung mit vollem Bewußtsein gezogen. Sie stimmen mit LAMPRECHT darin überein, daß die Bearbeitung des Singulären als solche, wie die Geschichtsschreibung sie faktisch vornimmt, nichts anderes ist als eine künstlerische Betätigung. Die wissenschaftliche Aufgabe des Historikers reicht für sie also bsi zur Feststellung der Tatsachen und Tatsachenbeziehungen; alles aber, was darüber hinausgeht, so vor allem die Auswahl des "historisch Wesentlichen", ist Kunst, nicht Wissenschaft.

Ich brauche kaum zu sagen, daß das die historische Skepsis ist. Daß aber eine solche Ansicht auch nach RANKE unter den deutschen Historikern Platz greifen konnte, ist bezeichnend für die damalige Situation. Es ist das Verdienst HEINRICH RICKERTs, der seinerseits an WINDELBANDs Straßburger Rektoratsrede anknüpfte, hier einen Umschwung angebahnt zu haben. RICKERT hat das Problem der spezifisch historischen Abstraktion mit voller Schärfe erkannt und formuliert, und damit der geschichtsmethodologischen Forschung zumindest die Richtung gewiesen, in der ihre besondere Aufgabe liegt. Er spricht von einer historischen Begriffsbildung, die er der generalisierenden der Naturwissenschaft gegenüberstellt. In jener sieht er die Wirklichkeitsbearbeitung der individualisierenden, d. h. der auf das Individuelle gerichteten Erkenntnis, und er fragt nun nach dem entscheidenden Gesichtspunkt, unter dem sich die individualisierend-historische Begriffsbildung mit wissenschaftlicher Gültigkeit vollzieht. Da es aber augenscheinlich zunächst das Interesse des Historikers ist, was dessen Auswahlverfahren bestimmt, so meint RICKERT, die Auswahl wird dann eine objektiv gültige sein, wenn das leitende Interesse ein allgemeingültiges, zuletzt ein normativ allgemeingültiges ist, d. h. ein solches, das wir nicht bloß tatsächlich haben, sondern das wir haben sollen. So kommt er zu der Theorie, daß die individualisierende Begriffsbildung ein wertbeziehendes Abstrahieren ist: aus dem Tatsachenstoff werden jedesmal diejenigen Momente herausgegriffen und zu einem geschichtlichen Individualbegriff vereinigt, die zu einem Wert, schließlich zu einem unbedingt gültigen Wert in Beziehung stehen. Solche "sein sollende" Werte sind die Kulturwerte wie der Staat, das Recht, die Kunst, die Religion, die Wissenschaft und dgl. und historisch wesentlich ist das, was auf Werte dieser Art Bezug hat. Objektiv gültig aber ist ein historischer Begriff, der solche Züge auffaßt und zusammenstellt, darum, weil die leitenden Werte uns als unbedingt gültig erscheinen.

Es kann niemandem entgehen, daß RICKERT das Problem des individualisierenden Erkennens von Anfang an ganz auf die historische Abstraktion eingestellt hat. Darum kann es nicht überraschen, daß er andererseits auch den Versuch macht, aus dem Wesen der individualisierenden Begriffsbildung, wie er es faßt, die Begrenzung und Bestimmung des Gegenstandes der Geschichte im besonderen Sinn abzuleiten: wenn die Individualerkenntnis eine wertbeziehende Abstraktion ist, so ist ihr natürlichstes Objekt offenbar das Gebiet, in dem wollende und handelnde Subjekte an der Verwirklichung unbedingter Werte arbeiten, und dieses Gebiet ist das menschliche Kulturleben. So scheint sich auf "rein logischem" Weg zu ergeben, daß die Geschichte eine Kulturgeschichte sein muß.

So gern und vorbehaltlos ich nun RICKERTs Verdienst anerkenne - es ist doch ein verhängnisvoller Weg, den er zur Lösung seines Problems eingeschlagen hat, und ich wundere mich nur, daß die Historiker diese Gefahr nicht voll erkannt haben, die dem historischen Erkennen von dieser Geschichtstheorie drohen. Schon daß dieselbe von geschichtlichen Begriffen redet, ist bedenklich und am Ende auch nur eine Nachwirkung des für die geschichtliche Erkenntnis so verderblichen Begriffsaberglaubens. Zwar meint RICKERT Individualbegriffe, bezeichnend aber ist, daß auch ihm zuletzt ein anschaulicher Rest unter den Händen bleibt, den er nach bekanntem Muster der künstlerischen Bewältigung überlassen muß. Schlimmer noch ist, daß seine "unbedingten Werte" zu eigentlichen Auswahlgesichtspunkten und darum zu Prinzipien der historischen "Begriffsbildung" überhaupt nicht taugen. Wenn wir all die Tatsachen, die zum Staat, zum Recht, zum Wirtschaftsleben, zur Religion, Kunst, Wissenschaft usw. in Beziehung stehen, aufgreifen, so ist das immer noch eine unendliche Masse an Material, der gegenüber die Auswahlfrage erst recht zur Geltung kommt. Am bedenklichsten aber ist, daß es zuletzt doch äußere, von außen herangetragene Gesichtspunkte sind, anhand derer RICKERT das geschichtlich Wesentlich aus dem Tatsachenstoff auswählen will. Nach seiner Anschauung würden ja Interessen, die der Historiker von außen her mitbringt, die geschichtliche Abstraktion leiten. Gewiß nun wird der Geschichtsforscher, wenn er in der Lage ist, sich sein Forschungsgebiet frei zu wählen, sich für dasjenige entscheiden, für das er ein besonderes "Interesse" hat. Aber darum handelt es sich ja hier nicht. Richtig ist ferner, daß jede Zeit ihre eigenen Fragen an die Vergangenheit richtet und demzufolge auch neue Seiten an der Vergangenheit entdeckt. Aber das heißt doch nur, daß das jeweilige Gegenwartsinteresse der Geschichtsforschung fruchtbare Anregungen zum Suchen gibt. Die führenden Gesichtspunkte der Auffassung und Darstellung selbst müssen sich ihr durchaus aus ihrem Stoff ergeben. Nun gesteht auch RICKERT zwischendurch zu, die leitenden Werte der historischen Begriffsbildung müssen eine objektive Darstellung stets dem geschichtlichen Material selbst entnehmen. Aber seine ganze Theorie steht hierzu in einem seltsamen Widerspruch. Sie sucht die Subjektivität der von Interessen geleiteten Auswahl nicht dadurch zu beseitigen, daß sie das Auswahlinteresse den sachlichen Gesichtspunkten unterordnet, sondern dadurch, aß sie an die Stelle individueller und wechselnder Interessen unbedingt allgemeine setzt: sie gründet die objektive Geltung [rickgelt] ihrer historischen Begriffe auf die unbedingte Allgemeingültigkeit der für die Auswahl entscheidenden Werte, und als "geschichtlich" betrachtet sie das, was für diese "überhistorischen" Werte, die die Philosophie in normativ-kritischer Arbeit festlegt, Bedeutung hat. Als ob jemals ein subjektives Interesse, auch wenn es ein allgemein menschliches von unbedingter Autorität ist, uns darüber hinwegsetzen würde, daß wir in der geschichtlichen Abstraktion die individuelle Wirklichkeit verstümmeln! Objektiv gültig ist die historische Verallgemeinerung nur, wenn und soweit sie durch den Stoff selbst gefordert und begründet ist, wenn und soweit im geschichtlichen Material ein Recht und eine Aufforderung zu einer abstrahierenden Auswahl liegt. Ist dies nicht der Fall, so muß die Historie endgültig darauf verzichten, für ihre Darstellungen wissenschaftliche Geltung in Anspruch zu nehmen.

Der tiefste Grund von RICKERTs Fehlgriffen liegt, wenn ich recht sehe, darin, daß er das Problem, das ihn beschäftigt, nicht von vornherein in seiner vollen Allgemeinheit gefaßt hat. Die geschichtliche Abstraktion ist nur eine besondere Art der individualisierenden. Die letztere wird auch auf anderen Gebieten geübt und ist da ganz gewiß keine "wertbeziehende Begriffsbildung". Darum ist es auch verfehlt, aus der Natur des individualisierenden Erkennens rein logisch den besonderen Gegenstand der geschichtlichen Erkenntnis deduzieren zu wollen. Und die beiden von RICKERT und anderen miteinander verquickten Probleme der geschichtlichen Abstraktion und der Bestimmung des Objekts der geschichtlichen Erkenntnis sind streng voneinander zu scheiden: das Eine ist die Frage nach dem geschichtlich Wesentlichen, ein Anderes die Frage nach dem Wesentlichen des Geschichtlichen.
LITERATUR Heinrich Maier, Das geschichtliche Erkennen [Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers und Königs am 27. Januar 1914 im Namen der Georg-August-Universität] Göttingen 1914