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SIEGFRIED MARCK
Die Lehre vom erkennenden Subjekt
in der Marburger Schule

   
"Ohne Einheit des Ichs keine Einheit des Gegenstandes, aber ohne Einheit des Gegenstandes auch keine Einheit des Ich, das ist der Grundgedanke der transzendentalen Deduktion."

"Ist die  primäre  Materie denkerzeugt, so erst recht die  sekundäre  der inhaltlich bestimmteren Kategorien."

"Allein aber die Tatsache, daß das Verhältnis von Form und Materie des Denkens in der Marburger Schule durch räumliche Bilder symbolisiert wird, weist schon deutlich auf die rationalistische Tendenz hin. Denn diese Bilder leiden nicht an der Unadäquatheit jedes Bildes für reine Geltungsbeziehungen, sondern gerade der springende Punkt, das konstitutive Moment der logischen Sphäre bei ihrer nicht-rationalistischen Fassung ist mit dem räumlichen Bild verwischt; hier sind die Denkelemente schon in ein  homogenes  Medium eingestellt,  welches auch seine Elemente homogen macht  und aus seiner Gesetzlichkeit ableit- und konstruierbar."

"Nicht auf die Spezifikation des Verhältnisses von Form und Materie kommt es an, sondern auf die Tatsache des unverrückbaren  Zwischen,  auf das Vorhandensein eines Dritten, eines Mediums, innerhalb dessen ihre Beziehung zueinander beliebig variieren kann. Auch bei einer Verringerung der Distanz bis zum Unendlich-Kleinen bliebe sie doch bestehen."

"Die Trennung der Philosophie von der Seinswissenschaft ist das  A  und  O  aller Wertphilosophie."

"Der Gegenstand der Erkenntnis aber wird erst dadurch, daß er erkannt wird, also erst durch ein erkennendes Subjekt zum Gegenstand."
   

I. Kants Lehre vom Bewußtsein überhaupt

Innerhalb der neukritizistischen Bewegung in der Philosophie der Gegenwart stellt die Marburger Schule den Neukantianismus im engeren Sinne dar. Im Rahmen der Darstellung KANTs hat HERMANN COHEN seinen Grundgedanken der transzendentalen Methode entwickelt, ehe er zum eigenen System der Philosophie weiterschritt. So müssen wir die Wurzeln der Subjektslehre der Marburger Schule in den kantischen Motiven sehen, die die Marburger Interpretation in den Mittelpunkt stellt und besonders akzentuiert.

Als das Wesentliche der kantischen Philosophie wird der Grundbegriff des Transzendentalen wiederentdeckt. Die fundamentale Leistung dieses Begriffs aber sieht COHEN gerade in der endgültigen Lösung des Problems: Subjekt und Objekt. Die naiv-realistische Erkenntnislehre wird durch diesen Begriff überwunden. Der aller metaphysischen Erkenntnislehre gemeinsame Charakter war es, das erkannte Objekt und das erkennende Subjekt als zwei reale Welten, stumm, für einander funktionslos gegenüberzustellen und ihre nachträgliche Vereinigung zu suchen. Im "Kopernikanismus" rückte der erkannte Gegenstand in die Erkenntnis, in die Theorie des erkennenden Subjekts hinein. Subjekt und Objekt werden damit aus zwei einander gegenüberstehenden Welten zu einer den Begriff des transzendentalen Idealismus definierenden Korrelation. - Wie ist aber die korrelative Beziehung des erkennenden Bewußtseins zu seinem Gegenstand des näheren zu bestimmen? KANT denkt dieses Verhältnis im Sinne einer Spontaneität des Bewußtseins: der Gegenstand entsteht in der Synthesis des Bewußtseins, ist ein "Produkt der Methode". Die Spontaneität des transzendentalen Subjekts setzt sich den Gegenstand als ihr Erzeugnis gegenüber.

Aber bereits auf dem Boden KANTs gerät man bei dieser Interpretation in eine Reihe von Schwierigkeiten. Offenbar sollen bei KANT im Begriff des "Bewußtseins überhaupt" zwei Tendenzen der Philosophie zugleich befriedigt werden und stören einander in der Verwirklichung: die eine ist die des reinen Transzendentalismus, die andere die des Subjektivismus. Das Bewußtsein überhaupt dient bei KANT zugleich der Definition des Begriffs logischer Allgemeingültigkeit und der Fixierung des Subjektsbegriffs. Die reine ideelle Geltung des letzten theoretischen Wertes und die Funktion der ihm zugeordneten Subjektivität sollen in diesem Begriff den zusammenfassenden Ausdruck finden. Das besagt schon der Name "transzendentales Subjekt". Aber sind das Transzendentale und das Subjektive vertauschbare, einander fordernde, auf einander angewiesene Begriffe? Der Begriff des Transzendentalen findet zunächst auch bei KANT seine wesentliche Ergänzung nicht durch die Subjektivität, sondern durch das Apriori und die  Idealität.  Dieses Apriori soll das sein, was den Gegenstand "allererst möglich macht" und gerade damit deckt es den wörtlichen Sinn des Transzendentalen. Kann nun das  Subjekt  den Gegenstand allererst möglich machen? Ohne Einheit des Ichs keine Einheit des Gegenstandes, aber ohne Einheit des Gegenstandes auch keine Einheit des Ich, das ist ja der Grundgedanke der transzendentalen Deduktion. Diese Korrelation von Subjekt und Objekt muß also unter allen Umständen aufrecht erhalten bleiben; nur soll das eine Glied in ihr, das Subjekt, besonders ausgezeichnet werden. Seine Überordnung darf nicht die Korrelation aufheben; keines der beiden Glieder darf aus ihr herausgerückt und transzendiert werden. Nur innerhalb der Korrelation muß das Subjekt seine formende Kraft bewähren, mit der es das Objekt ermöglicht und erzeugt. Aber bietet die Korrelation ihrem strengen Begriff nach einem solchen Primat des Subjekts Raum? Ist nicht mit diesem schon auf kantischem Boden die wechselseitige Bedingtheit der beiden Elemente aufgehoben? Das Glied einer Korrelaton kann immer nur ein bedingt-Bedingendes sein; durch ein Primat wird es zum Unbedingten. (1) Die Subjektivität kann also nicht ein wesentliches Bestandstück des Transzendentalen sein, wofern dieses wirklich den "Gegenstand allererst möglich macht"; vielmehr muß das Transzendentale aus der Subjekt-Objekt-Korrelation wirklich  transzendiert  werden, über den ermöglichten Gegenstand "hinausliegen" und nicht nur diesem, sondern auch dem mit ihm gesetzten Subjekt vorangehen. Das Transzendentale ist der absolut geltende logische Wert, welcher dem Gegenstand der Erkenntnis und dem erkennenden Subjekt in gleicher Weise übergeordnet ist, Subjekt und Objekt erst durch diese gemeinsame Überordnung zur Korrelation verbindend. Dieser Wert liegt nicht nur über das naive Sein des Realismus, über das "Seiende", sondern auch über das idealistisch verstandene Sein aller wirklichen Erkenntnis (diese liegt ja in der Subjekt-Objekt-Gedankensphäre) hinaus. Aus diesem Grund hat daher auch mit vollem Recht RICKERT das  transzendentale Sollen  zum Grundbegriff der Transzendentalphilosophie gemacht und dem platonisch Guten parallelisiert. Nicht nur der naive, auch der funktionale Gegensatz von Subjekt und Objekt darf in dieser reinen Geltung noch keine Stelle haben.

Nach einer solchen Trennung des Transzendentalen vom Subjekt wird natürlich auch die Funktion des Subjekts dem Objekt gegenüber neu zu bestimmen sein. Die Funktion der transzendentalen Identität ist dem Subjekt abgenommen, der es nur in Form der Erzeugung des Gegenstandes zu genügen vermochte. Seine Rolle wird nicht allein mehr im Schaffen des Gegenstandes bestehen, sondern in diesem Schaffen das Moment der  Anerkennung  des Transzendentalen enthalten.

Eine weitere Schwierigkeit kompliziert beim Marburger KANT die Lehre vom Subjekt. Sie tritt bei KANT auf als eine Theorie des Bewußtseins. Die Beziehung, die sie damit zum psychologischen Ich gewinnt, wird bei KANT fühlbar in der Aufhebung einer zweiten Akzentuierung des naiv-realistischen Gegensatzes von Subjekt und Objekt. Im transzendentalen Idealismus fungiert das Subjekt nicht nur als Korrelat, sondern auch als Gegenpol des Objekts. Neben der "guten" Subjektivität des erkennenden Bewußtseins, welche das Objekt setzt, gibt es die "schlechte" Subjektivität, die dem Gegenstand und der Objekt setzenden Subjektivität zugleich diametral gegenüberliegt. Ist aber die transzendentale Subjektivität Bewußtsein überhaupt, so wird ihr negativer Wert in dessen Gegenpol, das psychologische, empirische Bewußtsein verlegt. Das Ziel der Erkenntnis wird die Ausschaltung dieses Subjektiven der Empfindung. Wenn diese aber als negative Bewußtseinssphäre mit einem spontanen, reinen Bewußtsein überhaupt zusammenhängt, so liegt die Tendenz wenigstens nahe, diese Ausschaltung in Form einer Erzeugung des "Nicht-Ich" durch das "Ich" zu denken. Werden vollends die Begriffe Form und Materie in diese Theorie des Bewußtseins eingesetzt und als Wertgegensatz verstanden, so entspricht der Emanation des empirischen Bewußtseins aus dem reinen die restlose Ableitung des Inhalts aus der Form der Erkenntnis. Bei KANT selbst bildet das Ding an sich den allerdings dogmatischen Riegel gegen eine derartige Weiterbildung. Aber die Nachkantianer sind diesen Weg des Kantianismus gegangen und auch in der Marburger Schule ist seine Richtung wenigstens eingeschlagen. (2)

Drei Probleme sind, wie mir scheint, in dieser einheitlichen Theorie des Bewußtseins bei KANT zu scheiden und erfordern eine getrennte Behandlung: die Frage nach der Beziehung von Form und Materie auf der einen, von Subjekt und Objekt auf der anderen Seite, als dritte tritt zu ihnen das Verhältnis des realen erlebenden Bewußtseins zu seinem Inhalt, wobei zugleich die Stellung dieser dritten Problemgruppe zu den vorhergehenden und die Stellung aller drei zueinander deutlich wird. Von Form und Materie beherrscht ist das Gebiet des eigentlichen Transzendentalen; sie enthält die Elemente des "logischen Gegenstandes überhaupt". (3) Dieser rein logische Gegenstand wird nicht selbst erkannt, er ist weder der erkannte Gegenstand in einer bestimmten inhaltlichen wissenschaftlichen Erkenntnis (etwa ein mathematischer oder physikalischer Gegenstand), er ist auch nicht das der  logischen Erkenntnis zugängliche  Gesetz aller inhaltlich erkannten Gegenstände, der Gegenstand mathematischer oder einer anderen wissenschaftlichen Erkenntnis. Er wird nicht in einer logischen Erkenntnis erfaßt, weil er selbst das Logische schlechthin, die Substanz des Logischen, ein rein formales denkbares Etwas repräsentiert. Er kann also nur im übertragenen Sinn als Gegenstand bezeichnet werden, wenn man unter Gegenstand etwas der Erkenntnis, dem erkennenden Subjekt Entgegenstehendes versteht. Er enthält die Struktur des reinen Denkens, welche dem Gegenstand der Erkenntnis vorausliegt, die Bedingung angibt, dem er zu genügen hat. So könnte er im Unterschied zum Gegenstand der Erkenntnis als das Gegenstands-Apriori, das notwendige, wenn auch nicht hinreichende Gegenstandsmoment, bezeichnet werden. Das Entscheidende aber ist, daß wir bei diesem Vorgegenständlichen vom Subjekt der Erkenntnis absehen müssen und loskommen, welches erst in der Beziehung zu einem Gegenstand der Erkenntnis seinen Platz erhält. Die Sphäre von Form und Materie enthält das, was nach Kant eine formale Logik für die Transzendentalphilosophie noch enthalten kann; nicht die Hülsen der Erkenntnis, wie die traditionelle formale Logik; die Form ist vielmehr das eminent Transzendentale. Indem die reine Geltung ihrem Begriff nach ihr Geltungsgebiet fordert, ist auch dieser Bereich, mit dem wir die Logik beginnen, nichts Einfaches, sondern eine Zweiheit, ist durch die Begriffe Form und Materie, nicht durch Subjekt und Objekt charakterisiert.

Ein neues Gebiet betreten wir, wenn es sich um die Struktur des Erkennens handelt, erst hier gewinnt der Gegensatz von Subjekt und Objekt seine zentrale Bedeutung. Auch erscheinen die Begriffe Form und Materie hier in neuer Funktion. Und endlich kann vom bloß unwirklichen erkennenden Bewußtsein zum konkreten erlebenden Bewußtsein übergegangen werden (dessen Gegensatz zur Unwirklichkeit des erkenntnistheoretischen Subjekts bedingt übrigens nicht, daß es selber ein im strengen Sinne Wirkliches ist.) Hier wird sich die Beziehung von Subjekt und Objekt in die des erlebenden Bewußtseins zum erlebten Inhalt umwandeln; auch diese Relation darf nicht mit der vorhergenannten vermischt werden, nur analog zu ihr, aber durch eine neue Problemschicht getrennt ist sie zu denken. In der Bedeutung dieses letzten Verhältnisses für die Transzendentalphilosophie wird sich die Rolle der Psychologie für die Erkenntniskritik, ihre Stellung im System der Philosophie bestimmen.

Die Marburger Schule ordnet mit KANT diese drei Problemgruppen in einem graduell abgestuften aber kontinuierlichen Zusammenhang, als "auf- oder absteigendes Bewußtsein" an. Es soll hier der Versuch gemacht werden, die Konsequenzen dieses Aufbaus an der spezifischen Ausprägung des kritischen Idealismus durch die Marburger Schule durchgehend aufzuweisen.


II. Form und Materie
    "Dasselbe ist Denken und Sein,
    Dasselbe ist Denken und wessen der Gedanke ist."
Diese Sätze des PARMENIDES setzt COHEN an den Beginn seiner "Logik der reinen Erkenntnis". Durch die Berufung auf den ersten "Idealisten" in der Philosophie soll ja zunächst nur der Kopernikanismus kritischer Philosophie zum Ausdruck gelangen. Aber sogleich gewinnt doch dieser Gedanke bei COHEN eine weitergehende Wendung. Der Monismus des PARMENIDES soll nicht nur eine Ausschaltung seiner dem Denken fremden, ganz von ihm losgelösten  Wel t verstanden werden, sondern jedwedes denkfremde  Element,  das im Denken selbst seine Identität mit sich selber stören könnte, wird mit diesem Satz beseitigt. Nicht nur die vorkopernikanische "zwei-Weltenlehre" wird hier aufgehoben, sondern auch das, was LASK treffend die "zwei-Elementenlehre" des Kopernikanismus genannthat. Wie selbstverständlich wendet COHEN diesen Idealismus sofort rationalistisch. Das Sein, welches PARMENIDES angeblich zugunsten des Denkens ausschaltet (4), ist ja nach der kantischen Wendung nur als Materie, als Inhalt des Denkens zu verstehen. Auch dieser ist mit dem Denken selbst identisch zu fassen, deshalb ist jene zweite Formulierung des PARMENIDES Einheit von Denken und Denkziel noch charakteristischer. Dieses Gedankenmotiv zu Ende gedacht, scheint der entscheidende Dualismus, der die kritische, auch die kantische Philosophie scharf gegen jeden Monismus abtrennt, aufgehoben. Wir scheinen wieder bei der hegelschen Identität der Denkform und des Denkinhalts zu stehen, durch welche die dialektische Methode die kritizistischen Trennungen überwindet. Aber das will COHEN ganz und gar nicht. Jene Identität muß also zunächst etwas anderes als ein restloses Verschwinden des Inhalts in der Denkform, des Mannigfaltigen in der Einheit bedeuten. Nicht sowohl dem ganzen Umfang und der ganzen Breite nach soll der Inhalt mit der Form identisch, soll alles, was gedacht wird, selbst Denken sein, sondern nur in ihrem wesentlichen Kern stimmen Form und Inhalt miteinander überein, in dem, was der Inhalt an Wesentlichem, Wertvollem, Charakteristischem für das Denken leistet, soll er mit der Form identisch gedacht werden, selbst etwas sein, was am Denken gestaltet und - formt. Form und Inhalt sollen eben darin übereinstimmen, daß sie beide zum Denken gehören und das Denken aufbauen, daß keines der beiden Glieder ganz und prinzipiell aus dem Denken herausfällt. Die Relation, die so zwischen Form und Materie entsteht, ist durch den gemeinsamen Bezugspunkt der beiden Glieder konstituiert, also eine  Korrelation.  Die Identität selbst wird als Korrelation verstanden: In ihr sind die beiden Glieder in innigerem Zusammenhang verbunden, als die bei der kantischen Scheidung der Fall war. Aber immer sind sie doch noch eine Zweiheit geblieben, nicht zu einem dialektischen Eins verschmolzen. (5)

Der Begriff der Korrelation ist zweifellos ein Grundpfeiler des Marburger Systems und wenn dieser in seiner Bedeutung schwankt, so muß das an noch radikaleren Motiven liegen, die ihn immer wieder gefährden und zu durchbrechen suchen. Bei aller expliziten Abwehr der dialektischen Identität HEGELs gelingt die Abgrenzung von ihr nicht und hieraus resultiert jene für die Marburger Schule charakteristische Mittelstellung zwischen KANT und HEGEL, zwischen Kritik und System der Vernunft. Die Motive, die die Korrelation in Identität verwandeln, sind die  subjektivistischen,  ist die Herrschaft des Subjekts im Funktionsbereich der abgelösten Form. Denken wird als Thesis, als setzendes Denken gedacht. Der Akt, in welchem das Denken sich selber setzt, ist auch für COHEN der Beginn der Philosophie. Durch Setzung soll die korrelative Einheit von Denken und Denkinhalt entstehen, durch Setzung die Inhaltsschicht hervorgebracht werden, die ihrer Funktion nach mit der Form identisch ist. In  einem  Akt entstehen nun also Form und Inhalt des Denkens, die Koinzidenz in der Setzung ist es, die ihre unlösbare Verknüpfung garantiert. Sind aber Form und Inhalt, wenn gerade die Einheit des Setzungsaktes sie verbindet, überhaupt noch zwei trennbare Bestandteile? Ist nicht Korrelation, die durch die Einheit des Miteinandersetzens  begründet  wird, schon gleich Identität? Wenn die Beziehung der beiden Glieder durch die Identität des Setzungsaktes vermittelt wird, so ist die von der Korrelation geforderte Trennung in der Verbindung nicht mehr aufrecht zu erhalten, diese beiden sind nicht mehr zu unterscheiden. Eine geschaffene Einheit kann nur Verschmelzung bedeuten. Das Denken hat eine spontane Kraft und Bewegung erhalten, die seine Struktur wesentlich bestimmt; durch deren Wucht muß der Inhalt, der ihm zugehört, wirklich in  seiner ganzen Breite  durchdrungen werden; ein Inhalt, der nur in einer "Hinsicht", einer oberen Schicht vom Denken erfaßt ist, kann streng genommen einem schaffenden Denken nicht zugehören. Korrelation von Form und Inhalt wird so zur Identität der Denkerzeugung und des Denkerzeugten. Der Inhalt entsteht dem Denken in seiner Selbstsetzung: Form und Materie werden zu allenfalls graduell, nicht prinzipiell zu scheidenden Stadien des  einen  Denkprozesses. "Der ganze unteilbare Inhalt des Denkens", so heißt es bei COHEN, "muß Erzeugnis des Denkens sein. Die ganze unteilbare Tätigkeit des Denkens selbst ist es, die den Inhalt bildet."

Der logisch scharf fixierbare Ausdruck für dieses Bild von der Denkerzeugung macht sich in der Form geltend, daß in der Marburger Schule der Wesenseinheit des Inhalts mit der Form in bezug auf die gemeinsame  Zugehörigkeit  zum Denken stets auch die  Ableitbarkeit  des Inhalts aus der Form, aus dem reinen Denken substiuiert wird. (6)

Nicht nur in der ausdrücklichen Abwehr des hegelschen Identitätsbegriffs soll der bedrohte Kritizismus der Marburger Schule gewahrt bleiben, noch viel gründlicher will sich die Marburger Schule von HEGEL durch die  methodologische  Bedeutung ihrer Grundbegriffe unterscheiden, welche sich alle in der Nähe der positiven Wissenschaften halten und an dieser bewähren sollen. Aber auch diese methodologische Beziehung der Kategorien COHENs trägt ein doppeltes Antlitz. So soll z. B. das mathematische Kontinuum einmal die Verifikation und  Rechtfertigung  der Denkkontinuität sein, bald lediglich ein  Symbol  der unendlichen Bewegung des Denkens selbst, die es aus sich beginnt und ohne fremde Zuhilfenahme als ein perpetuum mobile weiterführt. Die Infinitesimalzahl ist "Ursprung" der physikalischen Realität in dem methodischen Sinn, daß sie diese logisch fundamentiert, dann aber wieder Ursprung im Sinne einer Erzeugung des Denkens selbst.

Die methodologische Einkleidung kann nicht den entscheidenden Charakter der COHENschen Kategorienlehre verdecken. Dieser aber bleibt die Entwicklung der Kategorien im reinen System aus der selbstbewegenden Einheit des Denkens, bleibt der transzendentale Monismus, welcher mit dem einen Prinzip des sich selbst setzenden Denkens auszukommen und aus diesem die Fülle der inhaltlichen Bestimmung herzuleiten glaubt. Die Struktur des Denkens entfaltet sich in allen weiteren Gebieten der Wissenschaftslehre; ist die "primäre" Materie denkerzeugt, so erst recht die "sekundäre" der inhaltlich bestimmteren Kategorien. So gibt es in der Marburger Schule einen kontinuierlichen Übergang von der Logik zur positiven Wissenschaft, welcher durch die Kontinuität des immer neue Inhalte mit seinen spärlichen Mitteln sich einverleibenden Denkens, hergestellt wird. Unmittelbar aus den logischen Kategorien gehen ohne Übergang in ein neues "Medium" die mathematischen Kategorien hervor, deren Vereinigung untereinander, ihr "Zusammenwachsen", ergibt die physikalischen Kategorien und in demselben ununterbrochenen Stufengang muß auch rein konstruktiv zu den methodischen Grundlagen der Psychologie und der Geisteswissenschaften zu gelangen sein.

Auch in der Kategorienlehre NATORPs zeigen sich dieselben hervorstechenden Züge umso deutlicher, als er um die Aufrechterhaltung der transzendentalen Methode mit aller Energie bemüht ist. Die synthetische Einheit des Denkens bestimmt die Kategorien der reinen Qualität; unmittelbar aus der Mehrheit der Elemente, die in der Qualität zur Einheit gebracht werden, erhalten wir die Kategorien der Quantität. Die Mathematik wird so geradezu zu einer von außen her betrachteten, von der Mehrheit, die der Einheit zugeordnet ist, aus angesehenen Logik. Nicht die bloße synthetische Einheit, wohl aber eine Synthesis von Synthesen, deren Prinzip ebenfalls im reinen Denken angelegt ist, führt dann zu den Kategorien der Relation, des Erfahrungsgedankens; es ist nur konsequent, wenn im Fazit dieser Kategorienlehre, in der Modalität Möglichkeit und Wirklichkeit nur noch als methodologische Stufengrade im Erkenntnisprozeß sich gegenüberstehen.

Gerade aber das Bild, mit welchem NATORP das Prinzip dieser Kategorienlehre gegen die Einwände RICKERTs zu stützen und zu veranschauliche sucht, charakterisiert die Marburger Philosophie als  Rationalismus  und enthüllt zugleich die Motive, die hier entwickelt worden sind. Es entwickelt dieses Prinzip. Es entwickelt dieses Prinzip am Verhältnis von Qualität und Quantität. Auch er will die Quantität nicht identisch mit der Qualität setzen, etwa in dieser  enthalten  denken und  analytisch  aus ihr gewinnen. Daß sie ein "Anderes" ist als die Qualität, daß sie in gewisser Hinischt  außerhalb  der synthetischen Einheit des Denkens liegt, gibt auch er zu. Nur soll das Verhältnis des Außen zum Innen, die spezifischen Bestimmtheit ihrer Lage zueinander, im Bilde geblieben, ihrer geometrischen Relation in einer Weise gedacht werden, die die Zusammengehörigkeit der beiden Elemente als eine besonders innige determiniert. Die Qualität soll "Zentrum", die Quantität, die von ihm aus als festem Punkt konstruierte "Peripherie" des Denkens sein. Das Bild kennzeichnet treffend die vorhin geschilderte Situation. Die mathematische Konstruktion symbolisiert die Spontaneität des Denkens, welches seinen Inhalt als ein anderes und neues in einem  konstruktiven  Zusammenhang mit sich selber hervorbringt. Denken wir dieses Bild zu Ende, so kannes gerade zur Stütze der Argumente werden, denen es entgegentreten soll. Zur Konstruktion des Kreises gehört ja außer einem Zentrum noch die Bestimmtheit der gleichen Entfernung, die alle Punkte der Peripherie vom Mittelpunkt besitzen, gehört der Radius, mit welchem der Kreis geschlagen wird. Ist die Form lediglich Zentrum, was liefert dann das Ausmaß für die Entfernung der Peripherie vom Mittelpunkt, woher stammt mit anderen Worten der Radius dieses Kreises? Ist er das dem formalen Denken Unbekannte,  Gegebene,  ist die Distanz zwischen Form und Materie nicht aus der Form selbst herzuleiten, sondern bleibt als ein eigentümliches "Zwischen" beiden Gliedern bestehen, so hat das Bild, das das Außen des Denkens dem Innern annähern sollte, den Abstand zwischen beiden eklatant gemacht, ja ihn vielleicht mehr verstärkt, als notwendig ist. Soll der Sinn des hier gebrauchten Bildes gewahrt bleiben und sich nicht selbst aufheben, so muß es auch noch den Schritt symbolisieren, mit dem die Marburger Schule den Inhalt restlos aus den Mitteln des Denkens aufzubauen genötigt ist. Nicht nur das Zentrum, sondern auch den Radius seines Umkreises muß das Denken selbst liefern; erst dann ist alles Gegebene beseitigt, erst dann stelt das Denken die Methoden, das Werkzeug, welches allein seinen Inhalt wirklich als sein eigenstes "Werk"  erzeugt.  (7)

Allein aber die Tatsache, daß das Verhältnis von Form und Materie des Denkens in der Marburger Schule durch räumliche Bilder symbolisiert wird, weist schon deutlich auf die rationalistische Tendenz hin. Denn diese Bilder leiden nicht an der Unadäquatheit jedes Bildes für reine Geltungsbeziehungen, sondern gerade der springende Punkt, das konstitutive Moment der logischen Sphäre bei ihrer nicht-rationalistischen Fassung ist mit dem räumlichen Bild verwischt; hier sind die Denkelemente schon in ein  homogenes  Medium eingestellt,  welches auch seine Elemente homogen macht  und aus seiner Gesetzlichkeit ableit- und konstruierbar. Auch das logische Medium, das Form und Materie miteinander verbindet, ist ein homogenes Medium, dessen Elemente aber  heterogen bleiben,  nicht aus ihm und auseinander berechenbar. Sie bleiben immer das "Eine" und "Andere", verharren in Alternative; ihre Verbindung bleibt unverschiebbare und unaufhebbare Trennung.

Denn nur auf dem Standpunkt eines transzendentalen "Empirismus" (den man allerdings besser transzendentalen Dualismus der Pluralismus nennt) ist das Korrelationsverhältnis, von dem die Logik beherrscht wird, wirklich zu bestimmen. Durch die volle logische Koordination des Inhalts neben die Form ist keineswegs das Ding an sich in die Erkenntniskritik zurückgeführt,  noch ist dieser Inhalt gleichbedeutend mit dem Erleben,  welches vom Denken ganz unberührt geblieben ist. Der Inhalt tritt vielmehr zur Form hinzu als ein  neues rationales Prinzip  er ist lediglich der Ausdruck für die fundamentale Zweiheit, die allem Denken eigen ist. Es ist noch ein rationalistisches Vorurteil, die volle Selbständigkeit eines außerformalen inhaltlichen Faktors im Denken mit der Berufung auf eine erkenntnistranszendente dingliche Gegebenbeit gleichzusetzen. Dieser Faktor ist ein Irrationales lediglich unter einem monistischen Gesichtspunkt, welcher unter Denkrationalität absolute Einheit versteht. Der transzendentale Subjektivismus ist monistisch, daher wird auch sein Rationales ein Rationalistisches. Auch der transzendentale Dualismus hält streng daran fest, daß das Denken stets nur Denken, ratio sein kann. Aber im Rahmen dieser übergeordneten Rationalität findet er zwei Elemente, die nicht mehr  vereinheitlicht  werden können, die sich aber untrennbar und durch die Einheit der Funktion zusammenschließen. Er entdeckt das Rationale selbst als Dualität:  die letzte Einheit, zu der wir gelangen, ist eine Zweiheit.  Vom Standpunkt der Form betrachtet, ist der Inhalt allerdings "gegeben", d. h. nicht aus dem einen Element, wohl aber aus der dualistischen Gesetzlichkeit des Denkens selbst zu deduzieren. Die Gegebenheit bedeutet keine absolute Gegebenheit, sondern eine Form, welche notwendig zur Struktur des reinen Gegenstandes gehört und nicht durch eine monistische Tendenz zur Peripherie eines Denkzentrums herabgedrückt werden darf. Es ist in diesem Zusammenhang wohl möglich von der Form "Inhalt" zu sprechen, seine Gegebenheit ist eine Kategorie. RICKERT ist es, der diesen Gedanken in der Kategorie der Gegebenheit und in der Lehre vom "Einen" und "Anderen" den radikalen Ausdruck gegeben hat.

In der reinen Logik erhält das Verhältnis von Form und Materie seine Normierung. Diese Gesetzlichkeit bleibt gewahrt auf allen weiteren Stufen der Wissenschaftslehre. In diesen haben wir es nicht mit der Form überhaupt und dem Inhalt überhaupt zu tun, sondern mit spezifischen Formen und Inhalten; wo wir von der Qualität zur Quantität, vom Logischen zum Mathematischen übergehen, haben wir einen bestimmten Inhalt des Inhalts überhaupt vor uns und die mathematische Form etwa tritt auf als eine bestimmte Form der logischen Form überhaupt. Die Begriffe "Form der Form" und "Inhalt des Inhalts" sind in der Lehre des transzendentalen Empirismus keine Spitzfindigkeiten, sondern notwendige Ergänzungsstücke des heterologischen Prinzips. Jede neue Sphäre, in die wir in der Wissenschaftslehre gelangen, enthält Form und Materie, welche zur vorhergehenden Sphäre im geschilderten Verhältnis stehen. Wenn wir diese Reihe bis an ihr Ende verfolgen, so gelangen wir schließlich auch dazu, den transzendentalen Ort des Erlebnisses zu bestimmen. Es ist der letzte Inhalt des Inhalts, kann nicht mehr nur relativ zu einer übergeordneten Form Inhalt, sondern nur als  absoluter  Inhalt des Inhalts verstanden werden. Das Erlebnis, in der Sprache der Marburger Schule geredet, die Empfindung, ist dasjenige Element, welches niemals Form werden kann, weil es niemals der einer Form zugehörige Inhalt zu werden vermag. Es ist der schlechthin formunberührte Inhalt, welcher immer Inhalt des Inhaltes bleibt. Die Beziehungen und die Verwurzelung der durch Form und Inhalt konstituierten Erkenntnis zu diesem Unmittelbaren herauszustellen, muß über den Rahmen einer transzendental-logischen Betrachtungsweise hinausgehen; hier drängt sich eine phänomenologische Betrachtungsweise wenigstens als Problem auf. Indem der transzendentale Dualismus den Ort des Unmittelbaren zu bestimmen weiß, zeigt es sich, daß er auch die  rationalistische  Tendenz des Kritizismus in radikalerer Weise verwirklicht, als das der transzendentale Rationalismus vermag. Dort wird die Empfindung selbst zur Kategorie, wird das Unmittelbare durch das Denken verfälscht, weil - die Kategorie der Gegebenheit fehlt, der kühnste Rationalismus, welcher den Inhalt selbst zu einer Form, zu einem Denkprinzip stempelt. Ist dieser Standpunkt  rationalistisch  in der Ableitung des Inhalts aus der Form, so ist er zugleich  empiristisch  in der Versenkung der Form in den Inhalt. Nur die Einschaltung der Inhaltsform und ihre Trennung vom Inhalt des Inhalts kann dieses Erfülltwerden der Form mit nackter Inhaltlichkeit, die Rache der Empirie auf dem Boden jedes Rationalismus verhindern.

Mit der Beseitigung de transzendentalen Rationalismus fällt auch der Subjektivismus, aus dem er entsprang. Form und Materie treten auseinander nicht wie Erzeugung und Erzeugtes, sondern wie Bedingung und Bedingtes. Mit dem Dualismus der Geltungselemente ist auch die übersubjektive Transzendenz des Geltenden realisiert. Aus der Armut und Reinheit der logischen Alternative geht kein Drittes, etwa die mathematische Reihe oder Zahl, keine methodologische Form durch Vereinigung der beiden Elemente hervor. Aber in dieser Armut besteht auch die Erhabenheit des Logischen über alles inhaltliche Wissen, liegt die Trennung der Philosophie von der Seinswissenschaft, welche das  A  und  O  aller Wertphilosophie bedeutet.


III. Subjekt und Objekt

Das Verhältnis von Form und Materie im logischen Gegenstand überhaupt mußte unabhängig vom erkenntnistheoretischen Subjekt behandelt werden. Nicht die Grundgesetzlichkeit des Logischen selbst war vom Subjekt abhängig, umgekehrt vielmehr kann die Frage Subjekt-Objekt des Erkennens nur im Hinblick auf diese Gesetzlichkeit zur Bestimmung gelangen. In den Mittelpunkt der Erwägungen rückt das erkenntnistheoretische Subjekt erst dann, wenn wir vom denkbaren Etwas überhaupt zur tatsächlichen Erkenntnis dieses Etwas übergehen; dann wird dieses der vom erkenntnistheoretischen Subjekt erfaßte Gegenstand der Erkenntnis. Transzendental konstituiert aber war ein Gegenstand erst durch die unlösliche Verbindung, in die seine beiden Elemente, Form und Materie, in ihm treten. Aus der Verflechtung dieser beiden Faktoren baut sich der Gegenstand überhaupt, also auch der Gegenstand der Erkenntnis auf. Einen Gegenstand erkennen heißt daher, eine Form und eine Materie zur Einheit bringen und dadurch zum Gegenstand zusammenschließen. Welche Rolle fällt nun bei diesem Zusammenschluß der erkenntnistheoretischen Subjekt zu? In der reinen Denkgesetzlichkeit haben wir eine sich selbst tragende Einheit vor Augen; der Gegenstand der Erkenntnis aber wird erst dadurch, daß er erkannt wird, also erst durch ein erkennendes Subjekt zum Gegenstand. Also kann das Subjekt nicht ohne Anteilnahme an der Konstitution dieses Gegenstandes gedacht werden. Da allein dem erkenntnistheoretischen Subjekt als einem urteilenden Bewußtsein Aktivität zuzusprechen ist, eine solche Aktivität aber für den Zusammenschluß gefordert wird, wird das erkenntnistheoretische Subjekt die Rolle der Verbindung von Form und Materie zum Gegenstand auf sich nehmen müssen.

Aber auch das Verhältnis von Subjekt und Objekt muß als eine grundlegende erkenntnistheoretische Beziehung eine Korrelation sein, in welcher keinem Glied ein absoluter Primat zukommen darf. Mit der Abhängigkeit des Gegenstandes vom erkenntnistheoretischen Subjekt ist also sofort die  Gegenrichtung der Abhängigkeit des Subjekts vom Objekt  mitgesetzt. Um dieser Abhängigkeit willen aber ist das Subjekt in seiner Synthese nicht souverän; es kann durch die Synthesis den Gegenstand nicht in willkürlicher Freiheit schaffen, sondern gelangt nur durch die Unterwerfung unter eine objektive Gesetzlichkeit zur Freiheit seines spontanen Verknüpfungsaktes. Das Objekt "wirkt" auf das Subjekt ein und macht sich in dessen Synthesis in der Weise geltend, daß das Subjekt die Verbindung  anzuerkennen  hat, die es selbst vollzieht. Nur das Subjekt kann die Synthesis vollziehen, aber das Subjekt kann nur die oder jene Synthesis ausführen; es bleibt ihm lediglich die  Erkenntnisexekutive,  nur die formelle Sanktion der vollzogenen Verbindung. Es ist von seiten des Objekts aus verpflichtet, diese Anerkennung auszusprechen, aber nur das Aussprechen, nicht die objektive Geltung selbst kommt auf seine eigenste Rechnung. Spontane Verknüpfung und anerkennende Unterordnung unter das Verknüpfte, das ist die eigentümliche Mischung von Souveränität und Unterwerfung des Subjekts, die aus seiner Zugehörigkeit zum Gegenstand der Erkenntnis resultiert. Im konkreten Erkennen ist daher der Vollzug der Synthesis und die Anerkennung des Vollzogenen gar nicht zu trennen. Der Gegenstand der Erkenntnis drängt sich dem erkennenden Subjekt als eine Forderung auf, die dessen eigene Tätigkeit  in die Schranken ruft.  Das aber heißt: der Gegenstand ist für das erkenntnistheoretische Subjekt  Problem.  Denn das Problem fordert zugleich seine Lösung und bedarf dieser. Immer bedeutet die Problematik im Erkennen eine unvollzogene, vom Subjekt zu vollziehende Verbindung von Form und Materie.

Da nun eine aktive Synthesis auf absolute Einheit der beiden Elemente ausgeht, die sie verbindet, die Grundgesetzlichkeit des Objektbegriffs diese Elemente aber immer getrennt läßt, kommt die synthetische Tätigkeit des Subjekts an keinem Punkt zur Ruhe, der Gegenstand der Erkenntnis ist für das Subjekt eine unendlich Aufgabe. Wäre die Erkenntnis Erkenntnis eines Absoluten, in welchem sich Form und Materie völlig durchdringen, dann käme dem Subjekt nicht die ausschlaggebende Rolle der Synthesis im Erkennen zu, dann wäre der Gegenstand nicht das Problem, an dem es zu arbeiten hat. Dann könnte es höchstens eine abbildende Funktion besitzen, wie sie ihm die naive und metaphysische Erkenntnislehre auch zuweist. Aber ebenso wäre - das ist das andere Gesicht des Kopernikanismus, welches die Marburger Schule immer hinter ihrem Kampf gegen die Abbildtheorie verschwinden läßt - die Aufgabe für das Subjekt vernichtet, wenn dieses durch eine absolute Spontaneität den Gegenstand  schüfe  und damit das Ziel seiner Aufgabe von vornherein erreichen würde. Die hegelsche Philosophie zeigt es ja deutlich, daß ein Spinozismus des absoluten Objekts und ein "emanatistischer" [Hervorgehen der Dinge aus einem höheren Ursprung - wp] Subjektivismus wohl zu vereinen sind. Die absolute Einheit von Form und Inhalt wird zum absoluten Geist, der sie erkennt, in der er sich selbst in der Erkenntnis schafft: beide Tendenzen begegnen sich eben in der Aufhebung der "schlechten Unendlichkeit", der unendlichen unvollendbaren Aufgabe. Sowohl wenn das Objekt, als wenn das Subjekt aus dem Rahmen der Korrelation heraustritt, wird der Aufgabencharakter des Erkennens beseitigt.

Die eigentümliche Zwischenstellung zwischen KANT und HEGEL charakterisiert die Marburger Schule auch bei dieser Frage: Zunächst scheint sie allerdings gerade den kritischen Begriff des Problems zum Angelpunkt der Erkenntnis zu machen, in ihrem "genetischen" Erkenntnisbegriff dem "statischen" gegenüber alle Erkenntnis in den Prozeß zu verwandeln, in welchem das erkennende Subjekt seine Aufgabe erfüllt. Aber wiederum ist in diesem "Problematismus" (wie SESEMANN sehr treffend die Marburger Erkenntniskritik bezeichnet) ein Einschlag mitgedacht, welcher den ursprünglichen Sinn des Gedankens von innen heraus umgestaltet und auch im Begriff der unendlichen Aufgabe zu einer dialektischen Krisis führt. Das Subjekt erhält ja in der Marburger Schule seine Stelle nicht erst dort, wo es sich um das eigentliche Erkennen handelt; schon die logische Form ist bei ihnen subjektiviert worden. Da ein transzendentales Subjekt den Gegenstand allererst möglich macht, muß das erkennende Subjekt im engeren Sinn der Korrelation zum Gegenstand ebenfalls bei dieser den Primat erhalten. Das erkenntnistheoretische Subjekt ist mit anderen Worten in der Marburger Schule nur ein Sonderfall, eine Spezifikation des transzendentalen Bewußtseins überhaupt, es tritt nicht an einer ganz bestimmten Stelle der Philosophie in einer ganz bestimmten Funktion erst auf, sondern ist in allen ihren Bezirken zentral und es übt nur in verschiedener Gestalt in den verschiedenen Gebieten seine Souveränität aus. Daher kann das erkenntnistheoretische Subjekt nicht die bloße Verbindung von Form und Materie zum Gegenstand anerkennend vollziehen; es geht ja selbst schon eine ursprünglichere Verbindung mit der Materie durch jene Subjektivierung des Formbegriffs ein; es war ja das Subjekt, welches als setzendes Denken die Materie erzeugte. Entsprechend der halbdialektischen Fassung des Formproblems kommt es durch diese Fassung zum Widerstreit zwischen kritischen und dialektischen Tendenzen im Begriff der unendlichen Aufgabe. Für eine nicht-subjektivistische Betrachtungsweise ist die unendliche Aufgabe  ein Reflex des objektiven Bestands im Subjekt;  das erkenntnistheoretische Subjekt der Marburger Schule aber partizipiert an der Souveränität des transzendentalen Bewußtseins überhaupt, so ist auch das Problem, die unendliche Aufgabe des Erkennens seine  ureigenste Setzung.  Soll aber dann der Charakter einer Aufgabe im Problem noch gewahrt und dieses vom frei geschaffenen Phantasiegebilde geschieden sein, so kann es nur eine vom Subjekt sich selbst gestellte Aufgabe sein. In der Tat wird das Problem als der Vorwurf, der "Gegenwurf" bestimmt, den sich das Subjekt selber macht und bearbeitet.

Diese Bestimmung führt zu einer merkwürdigen Konsequenz für den Begriff der unendlichen Aufgabe. Gerade diese  Trennung  von Form und Materie in der Verbindung war es, welche die zu vollziehende Verbindung für das erkennende Subjekt zur unendlichen Aufgabe machte. Die Selbständigkeit der Materie war der Exponent der Gegenstandsproblematik; die  Kategorie  der  Gegebenheit  garantiert die Wesentlichkeit, die Unwegdenkbarkeit des  Aufgegebenen  für das Erkennen. In der Marburger Schule ist diese Gegebenheit, wenn nicht aufgehoben, so doch subjektivistisch entwertet. Ganz die entsprechende Entwertung erfährt die Objektsfunktion im Begriff des Problems. Genau in demselben Ausmaß, wie das transzendentale Subjekt die Materie der Erkenntnis, so erzeugt das erkenntnistheoretische oder besser noch das transzendentale Subjekt selbst unter dem Attribut des Erkennens, das Problem, den Gegenstand der Erkenntnis. Der Gegenstand ist Setzung des Subjekts, er ist ein "Produkt der Methode." Die unendliche Aufgabe aber war nur in dem Sinn der reinste Ausdruck der Unabgeschlossenheit und Wissenschaftsnähe des kritischen Philosophierens, als sie eben als Reflex des Objekts im Subjekt, als  Mittel  betrachtet wird, durch das sich das erkenntnistheoretische Subjekt des Gegenstandes bemächtigt, als der Weg, auf dem es ihn sucht. Durch das Übermächtigwerden des Subjekts wird nun dieser Reflex des Objekts im Subjekt selbst zu einer wesentlichen Eigenschaft des Objekts. Der Weg wird Selbstzweck, genügt sich selbst, bedarf überhaupt keines Zieles mehr. (8) Überall in der Philosophie, wo jedes einzelne Moment so funktional mit der Allheit der anderen verwoben ist, verliert es durch Unterstreichung und Isolation seinen  eigenen  Sinn, der doch gerade besonders erhöht werden sollte. So wird auch gerade die kritische Subjektivität im Begriff der unendlichen Aufgabe durch die Vorzugsstellung des Subjekts beeinträchtigt. Denn nur zwei Möglichkeiten gibt es, wenn der Gegenstand der Erkenntnis ganz in den Erkenntnisprozeß aufgelöst wird, statt als eine ideale Norm diesen zu fordern und zu leiten. Entweder eine völlige Relativierung des Objektbegriffs, der Gegenstand wird zum "Abbild" der Erkenntnis und ihrer relativen Haltepunkte. Auch Ansätze zu einem solchen Relativismus, ja zu einer Art  transzendentalem Pragmatismus,  in welchem die Objektivität lediglich zum Ausdruck des für das erkennende Subjekt methodisch Förderlichen wird, sind (besonders in der positivistischen Akzentuierung dieser Philosophie bei CASSIRER) vorhanden. Oder aber:  der Erkenntnisprozeß selbst wir Objekt.  Das Subjekt, welches das Objekt ganz in sich verschmilzt, setzt sich mit all seinen Bestimmungen an dessen Stelle. Seine fundamentale Bestimmung aber war sein unendliches Streben. Diese unendliche Bewegung wird nun von ihm in das Objekt  übertragen;  aus der "schlechten Unendlichkeit" muß so eine objektive "gute Unendlichkeit" werden. Nicht der Gegenstand spiegelt sich nunmehr in der unendlichen Aufgabe, sondern die unendliche Aufgabe reflektiert sich im Gegenstand; sie bedeutet nicht mehr die Endlosigkeit des Erkenntnisweges, sondern die unendliche Selbstentwicklung des Erkennens, in welcher Subjekt und Objekt miteinander verschmolzen, entstehen.

Die Bewegung wird so zur ewigen Bewegtheit eines unendlichen Gegenstandes, das Werden der Erkenntnis wird zum Sein und somit der Gegenstand der Erkenntnis ein Werden als Sein, eine Ruhelage der unendlichen Bewegung. Sehr charakteristisch für diesen Tatbestand ist NATORPs Bezeichnung des Erkennens und seines Gegenstandes als ein  Geschehen,  ein  Fieri.  Fieri ist ja nicht das Passivum zum aktivischen  Facere,  zum Tun, sondern eine Form, die dem griechischen Medium entspricht; Fieri ist das subjektive Tun - losgelöst vom Subjekt, objektiv gedacht, zu einem selbständigen Sich-Herstellen (se faire) geworden. Der Gegenstand wäre "Passivum" (etwas bloß Leidendes), ein Geschaffenwerden in der relativistischen Möglichkeit des transzendentalen Subjektivismus. Er wird zum "Medium", zum sichselbstherstellenden Geschehen, zur unendlichen Selbstentwicklung in der absolutistisch-dialektischen Konsequenz, in der sich die Aktivität des Subjekts aus sich heraustretend, zu etwas Objektivem kristallisiert. (9) Denn nur dialektisch ist die Bewegung zugleich als ruhendes Erkenntnisziel, nur im unendlichen Kreislauf eines Systems ist die "gute" Unendlichkeit positiv zu denken. So ist die unendliche Aufgabe, die ursprünglich der Ausdruck der Unabschließbarkeit des Erkennens war, zum sich unendlich aus sich selbst entwickelnden und in sich zurückkehrenden  Prozeß  geworden und dient somit der abgeschlossenen Totalität eines Systems. Die unendliche Linie ist in den Kreis übergegangen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der Begriff der unendlichen Aufgabe in der Marburger Schule bald im Dienst kritizistischer und relativistischer, bald im Sinne dialektischer und absolutistischer Tendenzen verwendet wird.


IV. Das Bewußtsein und sein Inhalt

Bei der Beherrschung der Philosophie durch das Bewußtsein überhaupt, welches in verschiedenen Strahlen gebrochen, ihr ganzes Gebiet durchleuchtet, muß zuletzt auch das "psychologische" Ich, besser das  erlebende  Bewußtsein in diesen Lichtkreis mit hinein bezogen werden. Die Psychologie wird in der Marburger Schule im System der Philosohie abgehandelt, eine philosophische Psychologie soll das System abschließen und krönen. Die empirische Psychologie soll durch diese "Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode" nicht angetastet werden; aber jene trägt nichts bei zum Problem des Subjekts; sie ist eine objektivierende Wissenschaft, welche die  Inhalte  des Bewußtseins beschreibt, sie als Gegenstände  in der Zeit  nebeneinander reiht. Die philosophische Psychologie hat es dagegen mit der Subjektivität schlechthin zu tun; sie steht an demselben Platz, den auch die Phänomenologie für sich in Anspruch nimmt, als ein Wissen um das Immanente, ursprünglich Erlebte, um das "Bewußtsein-von" und seine "Tendenzen"; wie diese will sie das Erlebnis in seiner transzendentalen Funktion als ein  Zeitloses  begreifen.

Eine solche Betrachtungsweise aber drängt sich angesichts des Tatbestandes des Bewußtseins auf. Im realen Erleben sind drei Elemente nach NATORPs Analyse zu trennen: ein etwas, welches bewußt wird, das Ich, welchem dieses etwas bewußt wird und die Beziehung zwischen beiden Faktoren, die Bewußtheit. Die Stellung der beiden Glieder in dieser Bewußtseinsrelation ist unvertauschbar und unumkehrbar; niemals geht das erlebende Ich selbst in das Erlebte ein, kann niemals zum  Inhalt  werden, welcher bewußt ist. Es ist nur der gemeinsame Bezugspunkt aller Bewußtseinsinhalte, niemals selbst ein einzelner Inhalt. Da die empirische Psychologie sich nur mit den objektiv feststellbaren  Bewußtseinsinhalten beschäftigen kann und muß, so ist sie nicht unmittelbar auf das erlebende Ich schlechthin gerichtet; sie kann dieses immer nur  an  den Inhalten, die sich auf das Ich beziehen und auf welche das Ich intendiert zur Darstellung bringen, nur durch diese symbolisieren.

Welches Interesse aber haben wir denn, uns dieses Ichs erkennend zu bemächtigen, wenn wir uns doch seiner nie bewußt werden, wenn wir dieses Ich selbst nie - erleben? Was führt uns zu dem Bestreben, dieser stummen "Psyche den Logos zu geben"? Es ist ein Interesse des Logos selbst, ein logisches, kein psychologisches, ein echt philosophisches Motiv, das uns dazu antreibt. In diesem Ich, welches den Ungrund der Erlebnisse bildet, welches nicht selber erlebt wird, weil es  lebt,  müssen wir den eigentlichen Gegenspieler des Logos sehen; dieser ist das Leben selbst in seiner durch keine Trennungen in Erlebnisinhalte getrübten schlechthinnigen Unmittelbarkeit. Das letzte Subjektive, zu dem wir in der Philosophie gelangen, ist das Leben, wie das erste Subjektive für die Marburger Schule der Logos war; das Absolute und das Unmittelbare bilden die äußersten Enden der Philosophie. Beide sind für die Marburger Schule Bewußtsein. Nur daß im Bewußtsein überhaupt, im transzendentalen Subjekt die Einheit des Bewußtseins zu reinem Ausdruck gelangt ist, in der Subjektivität des erlebenden Ich die pure Mannigfaltigkeit, welche untrennbar zur Einheit gehört: denn Bewußtsein bedeutet ja Einheit in der Mannigfaltigkeit. (10)

Wie aber ist die Erkenntnis des Unmittelbaren, wie ist philosophische Psychologie möglich? Zwei Wege bieten sich hier zur Lösung des Dilemmas, welches sich in der Erkenntnis eines Subjektiven verbirgt, an. Zwei Arten von Erkenntnis sind außer der wissenschaftlichen objektiven Erkenntnis denkbar: die absolute Erkenntnis und das unmittelbare Wissen.

Die absolute Erkenntnis HEGELs ist ja in der Tat eine subjektiv-objektive, eine Erkenntnis, in welcher die Unmittelbarkeit des Subjektiven (in HEGELs Terminologie heißt es allerdings das Substantielle im Gegensatz zum "für sich" des Vermittelnden, welches ihm leere Subjektivität ist) und die Vermittlung des Objektiven als Momente erhalten bleiben. Sie ist zugleich begriffliche Erkenntnis, damit hat auch sie das unmittelbare Leben verlassen und der vermittelnden Sphäre der Trennungen genügt; indem sie aber auch über das objektive Erkennen zum Überobjektiven, Absoluten hinausgeht, hebt sie mit dem Objektiven auch das Unmittelbare im Absoluten auf. Das Absolute ist das  sich selbst Vermittelnde  subjektive Objektivität, vermittelte Unmittelbarkeit. An die  Konkretheit  des Hegelianismus denkt auch NATORP, wenn er in einem allseitigen Bezugssystem die Erkenntnis des Subjektiven ausgeführt denkt. Nur auf dieser Stufe gilt ihm die Erkenntnis des "vollbewußten Erlebens" als die "gehaltvollste urlebendigste allergewisseste Erkenntnis": denn nur in einem vollen Bewußtsein, in welchem sich Einheit und Mannigfaltigkeit durchdringen (er selbst nennt es schon ein Überbewußtsein), wäre sie wirklich zu leisten.

Aber eine solche absolute Erkenntnis bleibt für den Kritizismus NATORPs ein unerreichbares Erkenntnisideal, eine ewige Aufgabe. Der Weg zu diesem Absoluten hin, der immer in den vermittelnden Trennungen und Relationsverbindungen wissenschaftlicher, relativer Erkenntnis verläuft, nie aus ihnen herausführt, hilft uns nichts für das Unmittelbare. Ist er ja im Gegenteil dessen Negation, selbst in einer Dialektik seine Antithesis. Um den Strom des Lebens aufzunehmen, brauchen wir das Meer des Absoluten; die Brücken über diesen Strom lassen ihn unter sich. Wie HEGEL aber die intellektuelle Anschauung, so lehnt auch NATORP BERGSONs Intuition, die unmittelbare Erkenntnis des Unmittelbaren, die Erkenntnis, die mit dem Strom des Lebens selbst schwimmen will, wegen ihrer problematischen Nähe zur Mystik ab. Den Ausweg, den HUSSERLs Phänomenologie durch eine zugleich unmittelbare und absolute Wesenserkenntnis hier zu geben sucht, weist er als einen statischen Platonismus von sich.

Trotz dieser für den Transzendental-Logiker trüben Aussichten zu einer Einverleibung des Lebens in die Philosohie sucht NATORP auch hier den Rahmen der Transzendentalphilosophie zu erweitern, ohne ihn zu sprengen. Die objektivierende Methodik der Philosophie und Wissenschaft soll gewahrt bleiben, die Methode der Konstruktion. An Stelle der unerreichbaren Konstruktion des Unmittelbaren im Absoluten aber soll seine  Rekonstruktion  treten. Rekonstruktive Psychologie, die das von der objektivierenden Wissenschaft und Philosophie "ausgeleerte" Leben wieder aufbaut, soll den Ersatz bieten für den Intuitivismus und die Dialektik. Die kritische Philosophie stellt den "Aufstieg" vom Mannigfaltigen zur Einheit dar, die rekonstruktive Psychologie tritt dieser objektivierenden Philosophie als "Abstieg" zur Seite. Nu um einen Richtungsunterschied soll es sich jetzt in der objektivierenden und subjektivierenden Methode handeln, ja diese beiden Richtungen sollen einander fordern wie das  +  und das  -  in der Algebra.

Das Unmittelbare des Lebens war um seines Auftretens im erlebenden Bewußtsein willen als das Subjektive schlechthin gekennzeichnet worden. Die  absolute  Subjektivität,  die den Gegenwert des Objektiven  darstellt, muß aufs schärfste geschieden werden vom  erkenntnistheoretischen zum Objekte korrelativen Subjekt.  Wohl kann es auch in der Sphäre des erkenntnistheoretischen Subjekts einen Rückgang vom Objektiven zum Subjektiven geben. Jede noch nicht mit dem Inhalt verbundene Form, jeder noch nicht in die Form eingegangene oder von ihr wieder gelöste Inhalt kann als dem Subjekt zugehörig betrachtet werden. Jede Erkenntnisstufe ist subjektiv im Vergleich mit der höheren, in welcher das Subjekt erst die wirkliche Verbindung von Form und Materie herstellt oder enger gestaltet. Und so ist es wohl möglich, zu bestimmten Erkenntniszwecken auch einmal einen Rückgang zur niederen Erkenntnisstufe, zum Subjektiven vorzunehmen. Keinen Rückgang aber gibt es von der Objektivität der Wissenschaft zur absoluten Subjektivität des unmittelbaren Lebens. (11) Denn in diesem handelt es sich nicht um eine vorläufige Stufe der Erkenntnis gegenüber der zu ihr relativen höheren Erkenntnisstufe; es steht in einem schroffen Bruch der objektivierenden Wissenschaft gegenüber. Man gelangt zum objektiven Erkennen nur, wenn man sich in Form eines Bruchs vom Unmittelbaren prinzipiell abscheidet und zu den Spaltungen Subjekt-Objekt, Form-Materie übergeht. Der Weg aber, auf dem wir hier vorwärtsschreiten, kann nicht selbst wieder zur Rückkehr ins Unmittelbare benutzt werden: Dieses ist durch eine Kluft von ihm getrennt, die wir wieder zurückspringen müßten, wie wir sie anfänglich nach vorwärts übersprungen haben. Rekonstruktion aber will eine Rückkehr auf diesem Weg selbst sein. Nicht einmal in ihrem allmählichen Abbau werden die Methoden der Wissenschaft fähig, das ihnen ganz heterogene unmittelbare Leben zu erfassen. Nur  innerhalb  der objektiven Erkenntnis kann es bestimmte Stadien des Abstiegs geben, kann überhaupt von Auf- und Abstieg geredet werden. Denn diese erfordern ja kontinuierliche "Stufen". Man gelangt bei diesem Abstieg allenfalls zur untersten Erkenntnisstufe zurück, zu den infimae objectivationes [die niedrigsten Objektivierungen - wp]; das Unmittelbare aber ist der Strom, der die Stufen bespült, die vielleicht tief in ihn hinabführen, niemals aber ist er selbst eine dem Abstieg Halt bietende Stufe. NATORPs rekonstruktive Psychologie kann nur zum Mannigfaltigen der Einheit, nie zum absolut Mannigfaltigen, nur zur Form  Inhalt  zurückführen, nie den Inhalt des Inhalts erreichen. Dann aber ist das Geschäft der PENELOPE, welche nachts das Gewand wieder zerreißt, das sie am Tag gesponnen hat, weder eine fruchtbare Aufgabe für die Wissenschaft und Philosophie, noch umfassend genug für eine Erkenntnis des unmittelbaren Lebens.

Von diesem Punkt aus fällt ein helles Licht auf die gesamte Struktur dieses Systems der Philosophie, insbesondere können wir von hier aus die drei Sphären, die wir durchlaufen haben, als ein Ganzes übersehen. Der eine charakteristische Zug ist die dialektische Wendung des Kritizismus. Der Rückgang vom Objektiven zur Subjektivität ist im Grunde ein  Rückgängigmachen der logischen Grundlage der kritischen Philosophie.  NATORPs Bezeichnung der Marburger Philosophie als "korrelativer Monismus" ist ein außerordentlich glücklich gewählter Name. Korrelation ist und bleibt Zweiheit; in der Marburger Schule aber soll sie sich mit einem philosophischen Monismus verbinden. (12) - Der zweite vielleicht noch wichtigere Grundzug der Marburger Schule enthüllt sich hier als der Aufbau des Systems der Philosophie in einem kontinuierlichen Stufengang, die Anordnung ihrer Gebiete als ein stetiges Übergehen von einem zum andern nach Analogie einer  Reihe.  In dieser auf- und absteigenden Reihe ordnen sich für die Marburger Schule im wesentlichen Leben, Wissenschaft und Philosophie zueinander. Aus der Unmittelbarkeit gelangen wir ohne Bruch in den Bereich der abstraktiven Spaltungen und von ihm aus im stetigen Fortgang zur Philosophie, welche die Konstruktionsarbeit der Wissenschaft in Richtung auf das Ganze der Erfahrung fortsetzt. Die positive Wissenschaft ist der Durchgang, der Philosophie und Leben miteinander verbindet. Diese Zwischenschaltung der Wissenschaft macht also letzten Endes dieses System der Philosophie erst möglich. Hier stoßen wir auf das zentralste Motiv des Marburger Philosophierens; hinter der Einheit des Subjekts, welche die Kontinuität des Übergangs sichert, arbeitet der  Methodologismus  der Marburger Schule. So ist dieses System beherrscht vom Gedanken der positiven Wissenschaft; es ist  ihr  Absolutwerden,  ihr  Vordringen in das Unmittelbare und das Absolute, in das Leben und die Philosophie, welches zum dialektischen Einschlag der transzendentalen Logik führt. Ihre Mittelstellung zwischen Philosophie und Leben verwandelt sich in ein Zentrum, in welchem sich Philosophie und Leben schneiden müssen. So ist diese Philosophie letzten Endes ein System, in welchem die positive Wissenschaft, besonders die mathematische Naturwissenschaft das erste und letzte Wort zu sprechen hat. Geht sie einmal von KANT auf HEGEL vorwärts, so geht sie in derselben Bewegung gleichzeitig von KANT auf LEIBNIZ zurück. Denn kritizistisch ist eine solche Durchdringung der Philosophie und der positiven Wissenschaft  gerade  nicht. Der kritischen Philosophie entspricht vielmehr der scharfe Schnitt zwischen Philosophie und Wissenschaft auf der anderen Seite. Sie ist durch und durch Dualismus. Die Einheit von Philosophie und Wissenschaft führt zum  Rationalismus,  die durch diese Einheit vermittelte Näherung der Philosophie und des Lebens zur  Dialektik. 

Auch historisch lassen sich in der Marburger Schule bereits die direkte Aufnahme hegelscher und aristotelischer Motive aufweisen. (13) Das ist für eine Schule, deren Programm ein durch PLATO vertiefter KANT ist, keine Bereicherung, sondern eher eine immanente Krisis. Trotz dessen oder vielleicht gerade um der Gärung der in ihr angelegten Gedankenmotive willen, bleibt ihr die philosophie-historische Bedeutung: sie hat auf dem Boden des Kantianismus von neuem den harten Kampf um ein System der Philosophie gewagt.
LITERATUR - Siegfried Marck, Die Lehre vom erkennenden Subjekt in der Marburger Schule, "Logos" [Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, Bd. IV, Tübingen 1913
    Anmerkungen
    1) Der Widerstreit zwischem dem Gedanken der korrelativen Wechselbedingtheit und dem geforderten Primat des Subjekts durchzieht die gesamte Wissenschaftslehre FICHTEs von 1794 und wird dort zum eigentlichen Mittel des Übergangs von der transzendentalen zur dialektischen Methode.
    2) Die Schwierigkeiten der kantischen Subjektslehre, aus denen die rationalistische Weiterbildung des Kantianismus hervorgeht, liegen in der Behandlung des Transzendentalen und der Korrelation von Subjekt und Objekt in einer Theorie des Bewußtseins. Gerade in diesem Punkt aber hält die Marburger Schule an KANT fest. Sie beharrt auf der "Fundamentalsynthese Kants vom Gegenstand, Gesetz und Bewußtsein", wie es in ihrem vorgeschobenen Posten, NATORPs "Allgemeiner Psychologie nach kritischer Methode" heißt.
    3) Siehe hierzu RICKERTS Logos-Aufsatz (Bd. II, Seite 26f) über "Das Eine, die Einheit und die Eins", in welchem diese Theorie des logischen Gegenstandes überhaupt ihre Formulierung findet.
    4) Der historische PARMENIDES kann mit demselben Recht als Vater des Realismus angesprochen werden, mit dem ihn COHEN als Vater des Idealismus bezeichnet.
    5) Der konsequent festgehaltene Standpunkt der Korrelation in der Marburger Schule ist im wesentlichen gleichbedeutend mit dem heterologischen Prinzip RICKERTs. Dies ist auch von Vertretern der Marburger Schule, besonders von NATORP, hervorgehoben worden.
    6) Es ist charakteristisch, daß für COHEN das letzte denkbare Etwas überhaupt noch erzeugt gedacht wird aus dem "Nichts des Ursprungs". Auch die Art, wie COHEN dieses Nichts, welches in der Koinzidenz der Gegensätze geradezu das Prinzip aller Dialektik als einer logifizierten Mystik in sich enthält, der  kritizistischen  Verwandlung jeder Gegebenheit in ein Problem, dem kritischen Prinzip der Frage gleichzusetzen sucht, ist sehr charakteristisch für die Verflechtung dialektischer und kritischer Gedankenmotive in der Marburger Philosophie. Der Ursprung ist bald Erzeugung des Etwas aus seiner  Negation,  seinem  Widerspruch,  bald ein noch-nicht-Etwas in demselben Sinn, wie die Frage als Nichtwissen das Wissen, das mathematisch Unendliche das Endliche begründet.
    7) Ein Anhänger der Marburger Schule würde sich diesen Argumentationen gegenüber vielleicht auf die  Verschiebbarkeit  des Abstandes zwischen Form und Materie berufen. Aber um die Entfernung verschieben zu können, muß ich sie erst besitzen. Nicht auf die Spezifikation des Verhältnisses von Form und Materie kommt es an, sondern auf die Tatsache des unverrückbaren "Zwischen", auf das Vorhandensein eines Dritten, eines Mediums, innerhalb dessen ihre Beziehung zueinander beliebig variieren kann. Auch bei einer Verringerung der Distanz bis zum Unendlich-Kleinen bliebe sie doch bestehen.
    8) Wohl ist es möglich auch in der Erkenntnistheorie den Grundsatz anzuwenden: "Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts." Aber in diesem Satz ist doch vorausgesetzt, daß es ein Ziel gibt, wenn auch sein  Wert  nur im Antrieb zu finden ist, den es uns vermittelt. Wird das Ziel ganz in die Bewegung aufgelöst, so wird man Relativist oder muß die Bewegung selbst in das Ziel verlegen, das Subjektive zum Objektiven machen.
    9) Folgende Stelle aus NATORPs "Logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften" möge zum Beleg dienen: "Erkennen möchte man doch was  ist. Werden  aber meint man, sei bloß subjektiv. Und wird es, an sich aber ist es ... Doch braucht man sich auf diese subjektivistische oder subjektivistisch scheinende Ansicht überhaupt nicht zurückdrängen zu lassen. Vielmehr das Werden - ist, der Gang - besteht, die Entwicklung ins Unendliche findet statt, so objektiv (!) wie nichts anderes."
    10) Obige Ausführungen knüpfen durchweg an NATORPs "Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode" an und die außerordentlich klärende Ergänzung, die er in diesem Buch in dem kürzlich erschienenen Logos-Aufsatz "Philosophie und Psychologie" gegeben hat. [Bd. IV, Heft 2]
    11) Hier bleibt BERGSONs Behauptung in Kraft, daß es wohl einen Weg von der Intuition zur Analyse, aber keine Möglichkeit gibt, von der Analyse wieder zur Intuition zurückzugelangen.
    12) In die tiefsten Motive eines philosophischen Monismus hat KRONER (Zur Kritik des philosophischen Monismus, Logos III, Heft 2) einen bedeutsamen Einblick gewährt.
    13) Die Beziehung zu HEGEL ausdrücklich herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst NICOLAI HARTMANNs (vgl. besonders "Systematische Methode", Logos III, Heft 2).