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GUSTAV von RÜMELIN
(1815-1889)
Über Gesetze der Geschichte
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"Ich muß es als eine widerspruchsvolle und im Einzelnen nicht begreiflich zu machende Theorie bezeichnen, wenn man der einzelnen Menschenseele die Willensfreiheit im Sinn einer vernünftigen oder unvernünftigen Selbstbestimmung innerhalb des weiten Spielraums gegebener Anlagen beilegt, aber in den Zuständen und Geschicken der Menschheit oder der einzelnen Völker und Zeitalter eine feste Determination und Notwendigkeit erkennen will. Der psychologische und der historische Indeterminismus stehen und fallen miteinander. Taten und Zustände haften an den Individuen. Wenn der gesamte Komplex der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die ich hereingestellt bin, all mein Denken und Tun bestimmt, oder mir nur das winzigste Feld individueller Selbsttätigkeit übrig läßt, so kann von Freiheit und Zurechnung nicht weiter die Rede sein."

Als ich vor Jahren zum erstenmal die Ehre hatte von diesem Platz aus zu reden, versuchte ich mich an der Aufgabe, den Begriff eines sozialen Gesetzes festzustellen. Indem ich dabei den strengeren Sinn des Gesetzesbegriffs zugrunde legte, im Unterschied von bloßen Regelmäßigkeiten, allgemeinen Erfahrungssätzen, Eigenschaften der Dinge, ständigen Kausalverknüpfungen, gelangte ich zu der Fassung, daß ein Gesetz die konstante Grundform für die Wirkungsweise von Kräften zum Ausdruck bringen müsse. Diese Definition erschien mir gleich anwendbar auf die Erscheinungen der leblosen Natur wie der organischen und psychischen Welt. Unter sozialen Gesetzen verstand ich dabei nur eine besondere Art der psychischen, nämlich diejenigen, welche die aus dem gesellschaftlichen Zusammen- und Gegeneinanderwirken vieler psychischer Individualkräfte entstehenden Erfolge oder Masseneffekte in ihrer festen Grundform angeben. Als Beispiele solcher solzialer Gesetze wußte ich zwar nur einige Sätze der Nationalökonomie zu nennen und auch sie mit nur hypothetischer Geltung, ich war aber der Meinung, es müsse solche Gesetze geben und die Statistik sei vielleicht besonders fruchtbar an Mitteln, dieselben aufzufinden.

Ich habe nun durch eine Reihe von Jahren die Aufgabe, Gesetze solcher Art zu finden, nie aus den Augen verloren und habe sie nicht bloß in der Statistik und Gesellschaftslehre, sondern auch bei den Historikern und Philosophen gesucht. Ich stieß dabei auf zahlreiche Regeln und Gleichmäßigkeiten, auf Erfahrungssätze von umfassender Tragweite, auf deutliche und sichere Kausalzusammenhänge, aber niemals auf einen Satz, der jener Formel für ein Gesetz entsprochen, der die konstante und unausbleibliche Grundform für die Massenwirkung psychischer Kräfte zum Ausdruck gebracht hätte. Dieser Erfolg oder vielmehr Nichterfolg scheint mir zweierlei Erklärungen zuzulassen. Entweder habe ich noch nicht lange genug und nicht auf die richtige Weise gesucht und meine Bemühungen weiter fortzusetzen, ein Fall, den ich nicht gemeint sein kann ganz ausschließen zu wollen. Aber dennoch neige ich mich mehr der zweiten Möglichkeit zu, daß keine richtig gestellte Aufgabe vorlag, daß sich das überhaupt nicht finden läßt, was ich gesucht habe. Es mußte der Zweifel entstehen, ob denn überhaupt jene strenge und stramme Formel eines Gesetzes nur so ohne weiteres auch auf die Welt des Bewußtseins, der inneren Erfahrung übertragbar sei und die nähere Erwägung konnte diesen Zweifel nur verstärken. Denn Gesetze sind ja nicht befehlende Mächte, die von außen an die Dinge herantreten und sie ihrer Herrschaft unterwerfen; sie sind keine Gewalten, sondern Gedanken, in welchen gleichsam die Seele, das wahre innere Wesen der Dinge, ihrer Verhältnisse und Kräfte zum Ausdruck kommt. Und wenn nun die physikalischen und die psychischen Erscheinungen bis zur Unvergleichbarkeit voneinander abweichen, wenn zwischen materiellem Sein und räumlicher Bewegung auf der einen, Empfindung, Denken und Wollen auf der anderen Seite eine unausfüllbare und bis jetzt auch unüberbrückbare Kluft besteht, ist es dann zu erwarten,  daß,  und wäre es nicht vielmehr befremdlich,  wenn  eine und dieselbe Formulierung des Gesetzesbegriffs auf beide Gebiete gleich anwendbar wäre?

Ich will hier nur an einige der nächstliegenden Unterschiede erinnern. Von einem echten physikalischen Gesetz fordern wir, daß es nicht nur im Allgemeinen einen Zusammenhang, eine kausale Beziehung zwischen zwei Arten von Vorgängen behaupte, sondern zugleich ein festes Maßverhältnis, eine quantitative Begrenzung angebe, in welcher sich jene kausale Beziehung verwirklicht, daß es also z. B. nicht nur überhaupt eine Umsetzung von Wärme und Bewegung ineinander ausdrücke, sondern zu zeigen vermöge, welches Maß von Wärme welchem Maß von Bewegung entspreche. Die Wirkung im Einzelfall wird dadurch zum Gegenstand der Berechnung. Im Bereich unseres Seelenlebens aber läßt sich nichts zählen, nichts messen und nichts berechnen. Denn alles Zählen hat zu seiner Grundvoraussetzung den Begriff der Einheit. unsere ganze innere Erfahrung bietet uns aber keinen einzigen Vorgang, den wir in dem Sinne als einfach, als ein Eins betrachten könnten, daß irgendein anderer Vorgang als dessen Mehrfaches oder Bruchteil erschiene. Zwar spielt der Komparativ, das Mehr oder Weniger eine große, ja insofern die dominierende Rolle in unserem Bewußtsein, als alles Wollen stets auf dem Grund einer Vergleichung von Reizen, von verschiedenen Arten und Graden der Lust und Wertgefühle ruht. Aber dieses Vergleichen ist stets nur auf die Qualität und Intensität der Reize gerichtet und entzieht sich jeder quantitativen oder numerischen Fassung. Wir können wohl von einem Gesicht, einer Gestalt sagen, sie sei viel schöner als eine andere; ja wir setzen vielleicht bei, 100 oder 1000 mal schöner, aber niemals zweimal oder 2½ mal so reizend. Ja, selbst auf die einfachsten Sinnesempfindungen ist das anwendbar. Der Druck einer Last von 2 Zentnern erscheint uns nicht als das Doppelte der von einem Zentner und eine Flüssigkeit schmeckt nicht noch einmal so süß, wenn wir die Zuckermenge verdoppelt haben. Jenes sogenannte psychophysische Gesetz begründet dagegen keinen Einwurf; denn es sagt nur, daß bestimmte meßbare Abstände der Reizgrößen erforderlich sind, um einen gerade noch merklichen Zuwachs unserer Empfindung zu bewirken, aber nicht, daß diese Empfindungszuwächse nun unter sich oder zu den Reizen in irgendeiner numerisch bestimmbaren Proportion oder Relation stünden. Wir können uns gar nicht denken, daß das jemals anders werden, daß man jemals sollte sagen können, ein Mensch habe noch einmal soviel Verstand, Phantasie, Gewissen, Tugend, Frömmigkeit als der andere.

Der Analysis werden die Tore der Seelenlehre für immer verschlossen bleiben, während diese gerne und viel von den Dichtern lernt, die doch meistens zu den schlechtesten Mathematikern gezählt werden.

An diesen Mangel fester Maßverhältnisse, der schon für sich alles ändert, schließt sich gleich ein weiterer charakteristischer Unterschied psychischer Gesetze an. Dem physikalischen Gesetz legen wir unbedingte und unfehlbare Geltung bei; jede wirkliche und unzweifelhafte Ausnahme würde nur den Schluß übrig lassen, daß die richtige Formel des Gesetzes noch nicht erkannt ist. Nur der kindlichen Auffassung erscheint es als Ausnahme vom Gesetz der Schwere, daß der Luftballon in die Höhe steigt. Dagegen tritt schon in der organischen Welt der der unbelebten Natur fremde Gegensatz des Normalen und Abweichenden, des Physiologischen und Pathologischen, des Typischen und Individuellen in vollster Deutlichkeit auf; im Psychischen aber wird dieses Typische und Normale vom Individuellen so durchzogen und überwuchert, daß jenes eigentlich nur noch entweder als der ideale oder als der tatsächliche, statistisch ermittelte Durchschnittsfall gedacht wird. Die Logik legt den Grundformen unseres Denkens, z. B. daß ein und dasselbe Urteil nicht im gleichen Sinn bejaht und auch verneint werden kann, daß es neben Bejahung und Verneinung nicht noch ein drittes gibt, daß wir zu jeder wahrgenommenen Veränderung der Dinge ein Bewirkendes, eine Ursache vermuten, daß wir gewisse Stammbegriffe und Anschauungsformen nicht erst aus der Erfahrung schöpfen, sondern ihr entgegenbringen und an ihr entwickeln, mit unbestreitbarem Recht den Namen von Gesetzen bei, nicht bloß im Sinne von Normen und Vorschriften, die wir befolgen sollen, sondern im Sinn von Naturgesetzen, die unser Denken ohne unser Wissen und Zutun leiten und beherrschen. Aber darum fehlt nun doch viel daran, damit diese Gesetze von uns gar nicht verletzt werden könnten, daß sie mit zwingender unfehlbarer Sicherheit unser tatsächliches Denken regierten. Nicht bloß Gedankenlosigkeit und Zerstreutheit läßt sie uns mißachten; auch der Wille, das Motik kann den Intellekt verblenden und verwirren. Das Gesetz der Identität und des Widerspruchs wird von uns fast alltäglich übertreten und auch die Werke der größten Denker wimmeln von solchen Verstößen. Und so sind die Denkgesetze doch nicht in dem Sinn Gesetze, daß sie ein ausnahmsloses tatsächliches Geschehen bewirkten, sondern nur die Regeln, von welchen das aufmerksame, unbeirrte, nur auf Erkenntnis der Wahrheit gerichtete Denken unwillkürlich geleitet wird und sich leiten lassen muß, wenn es zur Wahrheit gelangen und andere davon überzeugen will.

Aber auch dieser bereits sehr umgewandelte und abgeschwächte Begriff eines Gesetzes scheint uns zu verlassen, wenn wir aus dem Gebiet des Erkennens in das des Wollens hinübertreten. Wenn von Gesetzen des menschlichen Wollens gesprochen wird, so denken wir sofort an etwas durchaus Verschiedenes und Unvergleichbares, nicht an Gesetze, die unser Wollen tatsächlich beherrschen, wäre es auch nur nach der Analogie der Denkgesetze, sondern an Normen und Vorschriften, die wir befolgen sollten, aber ebensogut befolgen wie auch unbefolgt lassen können. Das Sollen setzt Freiheit voraus, etwas zu tun oder zu unterlassen und ist unvereinbar mit einem Naturgesetz des Wollens. Wer daher die Willensfreiheit leugnet, ist verpflichtet Naturgesetze nachzuweisen, die das Wollen bestimmen und die Freiheit ausschließen. Der Determinismus versucht das ja auch; wenn uns z. B. gesagt wird, das menschliche Wollen werde mit Notwendigkeit durch stärkste Motiv bestimmt. Wenn das nur mehr wäre als eine wertlose Tautologie, wenn uns nur verständlich gemacht würde, was denn sonst ein Motiv zum stärksten machen könne, als eben das Wollen! Oder es wird uns die Lösung geboten, das Wollen sei mit Notwendigkeit bestimmt als das Produkt aus dem individuellen Charakter, wie er durch ererbte Eigenschaften, Erziehung und Lebensgang geworden sei und aus den konkreten Umständen des gegebenen Falls. Wenn dabei zugestanden wird, daß unter den ererbten Eigenschaften auch Vernunftanlage und Gewissen mit enthalten und beim Wollen in ihrer Weise mitzuwirken imstande sind, so kann man sich die Antwort gefallen lassen, nur ist es dann ein bloßer Wortstreit, noch von naturgesetzlicher Bestimmtheit, von Notwendigkeit des Wollens zu sprechen. Alles menschliche Handeln hat allerdings seine festen Schranken einerseits an den gegebenen Triebreizen, außerhalb welcher es kein Begehren gibt, andererseits in der Abhängigkeit von den Gesetzen und Ordnungen der Natur bei allem Wirken nach außen. Aber für die Stärkegrade der verschiedenen Motive gibt es keine naturgesetzliche Skala. Zwar scheint  eines  von diesen Motiven vor allen anderen hervorzutreten, der Trieb der Selbsterhaltung und bereits wird der Kampf ums Dasein auch für die treibende und entscheidende Grundkraft aller menschlichen Entwicklung erklärt. Die Statistik zeigt uns aber nur für Europa jährlich etwa 25 000 Selbstmordfälle, in welchen überall ein anderes Motiv stärker sein mußte als die Liebe zum Leben; eine unbestimmbar große Zahl setzt ihr Leben aufs Spiel um der Pflicht oder der Ehre willen oder aus bloßer Lust an der Gefahr und dem Abenteuer; und wenn schon der bloße Wunsch, nicht länger zu leben, todbringend wäre, so würde vielleicht nur die Minderzahl eines natürlichen Todes sterben.

Ich glaube gezeigt zu haben, daß das psychische Gesetz von durchaus anderer Natur und Gestalt ist als das physikalische und darum mit demselben wohl auch nicht unter  eine  Formel fallen kann. Nicht die unwandelbar gleiche Leistung, sondern die freie Beweglichkeit, die unendliche Bildsamkeit, mach das Wesen der psychischen Kräfte aus; die genauere Redeweise vertauscht im Psychischen überhaupt den Ausdruck "Kräfte" lieber mit dem der Anlagen und Triebe, da es zum Wesen der Kraft nur gehört, auf gebotenen Anstoß hin in Aktion zu treten, nicht aber die Anlässe ihrer Aktion selbst aufzusuchen. Die Psychologie stützt sich in der Lehre von der sinnlichen Empfindung und Wahrnehmung auf die Physiologie; die Theorie des Erkennens tritt sie an die Logik und Erkenntnislehre ab; auf dem übrig bleibenden Gebiet vermag sie wenigstens nach ihrem jetzigen Stand nicht, etwa wie die Physik, ein System von Gesetzen aufzustellen, sondern sie ist eine beschreibende Wissenschaft und hat in ihrem wichtigsten Kapitel, vom Wollen, mit dem durchaus eigenartigen Begriff einer Kausalität der Freiheit zu rechnen.

Ich habe nun früher gezeigt und halte daran fest, ein soziales, und wie ich nun hinzufüge, ebenso ein geschichtliches Gesetz müßte die konstante Grundform für die Massenwirkung psychischer Kräfte oder die aus dem Faktor des Zusammenlebens Vieler abzuleitenden Folgen darstellen. Ich glaube in der Tat, daß die Begriffe eines sozialen und geschichtlichen Gesetzes ihrem allgemeinen Charakter nach als gleichbedeutend gebraucht werden können. Denn wenn es soziale Gesetze gibt, so müssen sie in der Geschichte an den Tag treten und vom Historiker nachgewiesen werden können; und wenn es Geschichtsgesetze gibt, so können sie ihre Wurzel nirgends anders haben, als im Wesen und der Natur gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß im engeren Wortsinn beide Begriffe auch wieder auseinandertreten, indem wir die sozialen Gesetze mehr auf die stabileren Grundformen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, auf Bevölkerung, Erwerb und Verkehr, Gliederung nach Stand, Beruf und Bildung usw. beziehen, die geschichtlichen mehr auf die Entwicklung und Fortbewegung menschlicher Zustände beschränken. Beides verhält sich etwa zueinander, wie der Aufriß und der Querdurchschnitt eines Bauwerks, die auf  einen  Plan zurückweisen und für sich allein nicht verständlich sind. Der Gesetzesbegriff müßte auf beiden Gebieten der gleiche sein; ich beabsichtige jedoch hier mehr die geschichtlichen Formen desselben ins Auge zu fassen.

Ich muß es nun als eine widerspruchsvolle und im Einzelnen nicht begreiflich zu machende Theorie bezeichnen, wenn man der einzelnen Menschenseele die Willensfreiheit im Sinn einer vernünftigen oder unvernünftigen Selbstbestimmung innerhalb des weiten Spielraums gegebener Anlagen beilegt, aber in den Zuständen und Geschicken der Menschheit oder der einzelnen Völker und Zeitalter eine feste Determination und Notwendigkeit erkennen will. Der psychologische und der historische Indeterminismus stehen und fallen miteinander. Taten und Zustände haften an den Individuen. Wenn der gesamte Komplex der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die ich hereingestellt bin, all mein Denken und Tun bestimmt, oder mir nur das winzigste Feld individueller Selbsttätigkeit übrig läßt, so kann von Freiheit und Zurechnung nicht weiter die Rede sein. Wenn ich aber von mir selbst heraus eine neue Reihe von Wirkungen hervorzubringen, mich im Widerspruch mit den Meinungen und Gewohnheiten der Anderen ausbilden und behaupten kann, dann ist auch vom Ganzen der Gemeinschaft ein freies Geschehen, ein unableitbares Vorschreiten in neue Bahnen nicht auszuschließen und die Notwendigkeiten beschränken sich auf die Geltung der allgemeinen Schranken menschlichen Wirkens und den unvermeidlichen Einfluß der Gemeinschaft auf den Einzelnen.

Ich vermag mich nicht zu überzeugen, daß alle Forschung über das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft bis jetzt auch nur einen Schritt weiter geführt hat als zum Begriff einer innigen und allseitigen Wechselwirkung, in welcher sich, wenn auch in der mannigfaltigsten Abstufung, alle zugleich gebend und empfangend, aktiv und passiv verhalten. Man kann von einem einzelnen Volk oder Zeitalter ausgehend jene Wechselwirkung wohl in anschaulicher und konkreter Weise zur näheren Darstellung bringen; daß es aber schon irgendwie gelungen wäre, das allgemeine Gesetz in eine Reihe von ebenfalls allgemeingültigen Sätzen auseinanderzulegen, glaube ich bezweifeln und bestreiten zu müssen. Nichts wesentlich Neues, wohl aber viel Schiefes und Unzutreffendes wird dem Begriff der Wechselwirkung oder des psychischen Rapports beigefügt, wenn man ihn in der beliebten Weise mit dem Bild des Organismus oder organischen Zusammenhangs vertauscht. Ein geistvoller Denker sagt darüber, wenn es wahr sei, daß einmal von jeglichem unnützen Wort Rechenschaft abzulegen sein werde, so müßte die Verantwortung für das Wort "organisch" eine sehr große werden. Das psychische Leben ist nun einmal eine höhere Daseinsform als das organische und wird durch die Analogien der niedrigeren Ordnung mehr entstellt und verdunkelt als aufgehellt.

Es versteht sich ja von selbst, daß der Einzelne außerhalb der Gesellschaft kaum lebensfähig und jedenfalls nicht bildungsfähig wäre, daß in ihr die Wurzeln seiner Entwicklung liegen, aber die Taten der Geschichte werden nicht von einem unfaßbaren Volksgeist vollbracht, die Ordnungen der Gesellschaft, die Werke der Wissenschaft, der Kunst, der Technik nicht von einem organischen Sozialwesen ins Leben gerufen. Alles geschieht durch Einzelne, die keineswegs immer getragen sind von der entgegenkommenden Gunst und Empfänglichkeit der Mitlebenden, sondern in der Regel mit deren Vorurteil, Widerstand und Undank zu ringen haben. Es waren nicht der Genius der deutschen Nation und des 18. Jahrhunderts, die in mystischer Umarmung GOETHE, SCHILLER, KANT, MOZART, FRIEDRICH den Großen erzeugt hätten, sondern diese Männer haben die Werke geschaffen, die ihr Volk emporhoben, von denen zuvor niemand auch nur eine Ahnung hatte. Ein origineller Schriftsteller hat gefragt, ob, wenn KANT als Kind den Blattern erlegen wäre, dann wohl ein anderer die Kritik der reinen Vernunft geschrieben hätte. Man versichert uns zwar, jedes Volk und Zeitalter erzeuge und finde von selbst zur rechten Stunde die Männer, deren es bedürfe. Aber hätten die Generationen, denen solche Männer fehlen, derselben nicht auch bedurft? Warum fanden sie sich nicht? Darauf wird der Orakelspruch erteilt, der jener delphischen Priester würdig erscheint: weil die Bedingungen dafür nicht vorhanden waren.

Aber nicht bloß der Freiheit und Genialität der Einzelnen ist in der Geschichte die Bahn offen zu halten, sondern auch dem Zufall ist ein weites Gebiet der Einwirkung einzuräumen. Es muß der religiösen Betrachtung gestattet bleiben, dem Zufall sowohl im Leben des Einzelnen wie auch in den großen Geschicken der Völker einen Platz zu versagen. Vom realistischen und wissenschaftlichen Standpunkt aus müssen wir mindestens da Zufall anerkennen, wo aus dem zeitlichen und räumlichen Zusammentreffen von zwei oder mehreren, unter sich durch kein Kausalverhältnis verbundenen Ereignissen neue Wirkungen hervorgebracht werden, die ohne diesen Kontakt nicht eingetreten wären. Dieses ineinandergreifen getrennter Kausalreihen, das wir selbst nicht weiter begründen können, spielt aber in der Geschichte die dominierendste Rolle. Es beschränkt sich keineswegs auf die auffälligeren Beispiele, die man anzuführen pflegt, wie wenn PHILIPPs Armada durch Stürme verschlagen, NAPOLEONs beste Heeresmacht durch frühe und strenge Winterkälte vernichtet, wenn GUSTAV ADOLF mitten im Siegerlauf und den umfassendsten Entwürfen von einer feindlichen Kugel getroffen wird, wenn Kaiser HEINRICH IV. in blühendster Kraft und Jugend stirbt und ein unmündiges Kind als Erben hinterläßt, gerade als ein INNOZENZ III. den päpstlichen Stuhl besteigt. Dieses Zusammentreffen von Kräften, Tendenzen, Personen, die wie TIMUR und BAJASED aufeinanderstoßen, vielleicht auch nur ohne vorher überhaupt voneinander zu wissen, ist wie das stärkste, so das unberechenbarste unter den Agentien der Weltgeschichte. Ebenso tritt die Eigenart der historischen Personen nach Talent und Charakter wie etwas Zufälliges in der Geschichte auf; und es ist für den Historiker praktisch nicht von Belang, ob er die Willensfreiheit anerkennt oder leugnet, da er auch im letzteren Fall die Determinationen niemals nachweisen kann und die Persönlichkeiten für ihn in der Hauptsache fertig auf den Schauplatz treten. Ja man darf sogar den Satz, daß oft kleine Zufälle große Folgen haben, jene Anekdoten vom Glas Wasser oder vom Fenster zu Trianon nicht einfach mit der Berufung auf die Gleichheit von Ursache und Wirkung, auf das  causa aequat effectum  [Ursache gleich Wirkung - wp] abfertigen. Denn im Wirkungsgebiet freier Seelenkräfte können die Reihen weit auseinander gehender Möglichkeiten an ihren Ausgangspunkten sehr nahe beisammen liegen, nur durch eine dünne Scheidewand getrennt, die ein leichter Stoß durchbricht und es liegt nichts Widersprechendes darin, daß ein kleiner Anlaß eine ganze Masse geistiger Spannkräfte zur Auslösung bringen kann, die auch in eine andere Richtung hätten geleitet werden können.
LITERATUR Gustav von Rümelin - Über Gesetze der Geschichte, Reden und Aufsätze I, Neue Folge, Freiburg i. B. und Tübingen 1881