ra-2cr-2ra-1M. SchelerTh. NagelK. F. StäudlinW. JerusalemW. Stark    
 
ERNST STIEDENROTH
Theorie des Wissens
[mit besonderer Rücksicht auf Skeptizismus
und die Lehren von einer unmittelbaren Gewißheit]

[1/3]

"Solange das Denken nur den Schein trennt und verbindet, steht ihm eine wichtige Krise bevor, der es nicht entgehen kann. Die Zeit muß nämlich kommen, wo die mancherlei Widersprüche, welche die nächsten und gewöhnlichsten dem Sinnenschein nachgebildeten Ansichten enthalten, offenbar werden, wo sich an den gefundenen Widersprüchen der Zweifel erhebt über die Möglichkeit eines genügenden Wissens, einer völligen Übereinstimmung dessen, was zu sein scheint, mit dem was einem notwendigen Denken zufolge sein muß."

"Es werden sich solche finden, die von Wissenschaftlichkeit durchdrungen, und ihr ganz ergeben, diese erweitern und kräftigen, indem sie bald einer hervorstechenden dogmatischen Seite gegenüber eine skeptische ausbilden, bald den Skeptizismus in sich selbst fest und unerschütterlich zu machen trachten. Sie sind die Treiber, welche das Denken weiter führen, wenn etwa ein System durch Feinheit und Fülle seine Irrtümer verborgen und die freie Betrachtung allzusehr umstrickt."

"Die Philosophen der neuesten Zeit haben durch ihre heillose Verrückung und Verwirrung aller Gesichtspunkte eine solche Masse von falschen Begriffen und Ansichten teils hervorgebracht, teils veranlaßt, daß das Zeitalter, welches jetzt noch manche derselben für die ausgemachten Wahrheiten hält, zu tun haben wird, sich wieder von ihnen loszusagen."


Vorwort

Da die Einleitung über den Ursprung und die bestimmtere Tendenz dieser Schrift hinreichende Kunde geben wird, so bedarf es hier nur weniger Worte über die Behandlung, welche der Verfasser gewählt hat. Ein doppelter Weg lag ihm offen, ein künstlerischer und ein praktischer. Hätte er den ersteren eingeschlagen, so würde er entweder auf dialektischem Weg von der Prüfung entgegengesetzter Ansichten zu den seinen haben fortschreiten können, so daß diese sich fortwährend im Gegensatz gegen jene entwickelt hätten, oder er hätte auf dogmatische Weise verfahrend bei jeder Erörterung die möglichen Gegensätze beleuchten und aufheben können. Allein in diesem Fall hätte er befürchten müssen, daß es in einer Zeit, die keineswegs geneigt ist, ein längeres, ernstes, durchaus besonnenes und prüfendes Studium philosophischen Werken zu widmen, seiner Schrift an jener Verständlichkeit fehlen wird, die er ihr vor allen Dingen zu geben wünschte, damit sie in die Masse der sich kreuzenden Ansichten eingreißen und nach dem Maß ihrer Kraft aufräumen möchte. Die Rücksicht auf diese Wirksamkeit bewog ihn zu dem anderen Weg. - Je größer die Menge der Lehren ist, welche zugleich oder schnell nacheinander auftreten, desto unbedeutender ist die Aufmerksamkeit, die einer jeden gewidmet wird, umso schwächer die Kritik. Gewisse gemeinschaftliche Punkte der Untersuchung treten als die allein wichtigen Fragen der Philosophie hervor; gewisse Übereinstimmungen fangen anf für ausgemachte Wahrheiten zu gelten. Huldigt ein Denker diesen vermeintlichen Wahrheiten nicht, so wird ihm wohl gar zu seiner Abfertigung der philosophische Zeitgeist entgegengesetzt. So sah der Verfasser sich genötigt, Lehren, welche entweder gar keine oder eine höchst unzureichende Kritik erfahren haben, aufs Neue der Beurteilung zu unterwerfen, damit endlich einmal das verwirrende Gerede und Beurteilen vom Mittelpunkt solcher Ansichten aus aufhört; er sah sich ferner genötigt, diese Lehren zum Zweck der Kritik zu zeichnen, weil sie teils weniger gekannt, teils weniger verstanden sind. So entstand die unförmliche Einrichtung dieser Schrift. Was aber die eigentliche Theorie betrifft, so wird es ein anderes sein, sie zu widerlegen und ein anderes, sie mit vornehmer Miene, hinter der sich die Schwäche nur zu gern verbirgt, abzuweisen.



Einleitung

Der philosophische Skeptizismus muß seiner Natur nach eine der späteren Erscheinungen auf dem Gebiet der Philosophie sein; denn bevor ein Mißtrauen gesetzt wird in die Fähigkeit, die Natur, den Zusammenhang und die letzten Gründe der Dinge zu erforschen, muß dieses lange versucht und vielfältig gewendet sein. Doch wie denkende Individuen irgendwann einmal die Unhaltbarkeit des Gedankengewebes durchschauen, welches ihnen das vielgestaltete Leben in den Zeiten kindlicher Hingebung angeeignet hat, so pflegen auch philosophische Völker, nachdem sie lange den Schein für das Sein genommen und ihn zur Einstimmung mit sich selbst zu bringen gesucht haben, die Widersetzlichkeit desselben zu entdecken und an ihr den Zweifel zu nähren.

Was sollte den jugendlichen Menschen, wie die jugendlichen Völker verhindern, sich mit ungetrübtem Vertrauen den Erscheinungen hinzugeben, welche sich mit so unwiderstehlicher Gewalt in ihrem Gemüt geltend machen, und in ihrer bunten Verwirrung kaum etwas anderes, als die ordnende Hand zu erwarten scheinen? Finden sie diese, wie sie denn müssen, werden sie nach Ähnlichkeiten gesondert und in Gruppen verteilt, so fordern diese mehrere Gruppen eine neue Vereinigung umso lauter, als sie offenbar einer gemeinschaftlichen Abhängigkeit in den mannigfaltigsten Veränderungen hingegeben sind. Entsteht nun an dieser Abhängigkeit die große Idee einer Gottheit, so ist das Philosophieren in Gefahr; denn indem die Wahrheit dieser Idee, je länger sie gehegt und genährt wird, sich umso stärker kund tut und das höchste Bedürfnis des Menschen am ehesten befriedigt wird, gerät der Geist, der im Glauben alle ihn umgebenden Veränderungen der Wirksamkeit des höchsten Wesens unmittelbar zuschreibt, und in ihm die Einheit findet für die Umwandlungen der Welt, in eine Ruhe, welche zwar durch ein gedachtes Mißverhältnis des Menschen zu Gott, nicht aber durch Wissensprobleme so leicht gestört werden mag. Wird hingegen der Grund der Abhängigkeit in der Natur selbst gesucht, so dürfte das Göttliche - wie vielfach dieses Wort auch gebraucht werden möchte, - nur allzuleicht verfehlt werden; wie auch selbst ANAXAGORAS, der den ordnenden Geist einführte, in der Naturphilosophie seiner Zeit noch so sehr befangen war, und der Wirksamkeit jenes Geistes so wenig bedurfte, daß dieser mehr als ein müßiger Gedanke, denn als ein lebendiger Vermittler der Dinge erschien. Dennoch kann nicht geleugnet werden, daß eben ein solches Anheben, wie es hier bezeichnet ist, und wie es sich im griechischen Denken fand, dem Philosophieren seinen stärksten Schwung und seinen naturgemäßen, aufsteigenden Gang gibt, wie sehr diese Behauptung auch dem Geist dieser Zeit widerstreben mag, der es verschmäht einen ruhigen Blick auf das Gegebene zu werfen und es nur zu sehr liebt, gangbare Irrtümer, nach verschiedener Neigung, bald so bald anders zu verbinden und zu einem Ganzen zu gestalten - umso schlimmer, je mehr diese Irrtümer selbst Anspruch darauf machen wollen, gegeben zu sein.

Wird also das Eine, welches natürlich zugleich als das Erste betrachtet wird, in der Natur selbst gesucht, so versteht sich, daß nicht etwa ein ganz Unbekanntes, welches hinter den Erscheinungen verborgen liegen mag, angestrebt wird, vielmehr was näher liegt - in diesen selbst forscht der Blick nach dem, was alle durchdringen und beleben mag durch das Leben, welches es in ihnen selbst hat. So muß es geschehen, daß das scheinbar Notwendigste und Unentbehrlichste anerkannt wird als das Erste, aus dem alles geworden ist, und wie gar vieles notwendig und unentbehrlich ist, so müssen auch die nebeneinander oder nacheinander auftretenden Ansichten des Ersten verschieden sein; das Wasser muß der Luft, die Luft dem Feuer weichen, denn die Erde will niemand, weil sie zu träge und tot scheint. Aus demselben Grund aber kann keine dieser Lehren, welches scheinbare Element sie auch zum Rang des Ersten mag erhoben haben, zu der gegebenen Mannigfaltigkeit erklärend herabsteigen, oder wenn sie es tut, müssen notwendig Dichtungen die Stelle von Gedanken vertreten. So wird das Denken in seinem ungehinderten Gang an der Sinnenwelt selbst zum ursprünglich Vielen fortgetrieben, allein solange es nur den Schein trennt und verbindet, steht ihm eine wichtige Krise bevor, der es nicht entgehen kann, wenngleich sie es bei seiner jugendlichen, ungeschwächten Kraftfülle leicht überwindet umso mächtiger und gediegener daraus ersteht. Die Zeit muß nämlich kommen, wo die mancherlei Widersprüche, welche die nächsten und gewöhnlichsten dem Sinnenschein nachgebildeten Ansichten enthalten, offenbar werden, wo sich an den gefundenen Widersprüchen der Zweifel erhebt über die Möglichkeit eines genügenden Wissens, einer völligen Übereinstimmung dessen, was zu sein scheint, mit dem was einem notwendigen Denken zufolge sein muß. Man braucht sich hier nur der Begriffe von Raum und Zeit zu erinnern, und der anderen, welche von ihrem Einfluß leiden, der Materie, des Geschehens, der Bewegung, um sich zu überzeugen, daß jene Widersprüche wirklich vorhanden sind und wer sein historisches Studium nicht auf KANT und dessen Nachfolger beschränkt hat, der wird auch wissen, daß sie schon von den Eleaten gefunden und ungleich besser von ihnen beleuchtet sind, als von jenem. Das Gebiet einer solchen Skepsis darf so wenig unberührt bleiben, daß vielmehr eben sein Betreten erst den elastischen Schwung gibt in die Welt des Intelligiblen, in der die Philosophie allein ihr Heil suchen und hoffen darf, die Wahrheit auszumitteln. Jenes noch rüstige Denken kann in der Skepsis nicht untersinken, es muß hindurchgetrieben werden, und umso schneller, je wirksamer der Sporn ist, den es durch die gefundenen Widersprüche, die eine Lösung fordern und erwarten, zum Weitergehen erhalten hat. So trifft es wohl, daß dieselben energischen Männer, welche die skeptische Ansicht gefaßt haben, sogleich eine höhere Stufe gewinnen, um von hier aus das Streitende in Übereinstimmung zu bringen, wie vielfach sie in solch ungewohnter Höhe auch umherirren und sich verirren mögen. Diesem sind die Eleaten nicht entgangen; ihr Verdienst wird dadurch nicht vermindert.

Wir haben das erste Aufkeimen, die eigentliche Genesis der skeptischen Ansicht aufgedeckt und ihre Notwendigkeit zum Fortschreiten der Philosophie dargestellt. Nur suche man nicht in sich selbst nach den Gegenständen, welche den Zweifel zuerst erregten, um die Wahrheit jener Schilderung zu erkunden; wir sind, wenn sich das Denken zur Selbständigkeit erhebt, mit einem strengen System erfüllt, welches unsere Kräfte so sehr in Anspruch nimmt, daß wir einen großen Teil der philosophischen Probleme kaum ahnen, wie vielweniger auf jenem Weg der skeptischen Ansicht zugeführt werden könnten, den die unbefangene und deshalb den nächsten und aufforderndsten Erscheinungen hingegebene Forschung ergreift. Jene Ansicht einmal aufgenommen in die Gemüter, muß wohltätig darin fortwirken; sie muß die folgenden dogmatischen Versuche begleiten, und ihren Urhebern eine Sorgfalt mitteilen, die, solange man noch nicht verzweifelnd alle Weisungen des Denkens mit seinen Gesetzen überspringt, der Wissenschaftlichkeit nur förderlich sein kann. Auch werden sich solche finden, die von ihr durchdrungen, und ihr ganz ergeben, sie mit den weiteren Ausbildungen einer positiven Philosophie fortwährend erweitern und kräftigen, indem sie bald einer hervorstechenden dogmatischen Seite gegenüber eine skeptische ausbilden, bald den Skeptizismus in sich selbst fest und unerschütterlich zu machen trachten. Sie sind die Treiber, welche das Denken weiter führen, wenn etwa ein System durch Feinheit und Fülle seine Irrtümer verborgen und die freie Betrachtung allzusehr umstrickt hätte oder wenn man müde würde und die eine oder die andere Lehre, welche auf irgendeine Weise anspräche und dem Geist der Zeit zusagte, sich wollte gefallen lassen. Doch jene Ermüdung kann nicht ganz verhindert werden; die produktive Kraft schwindet mit der freien Tätigkeit überhaupt, wie eine Nation mehr und mehr vom Handeln zum Gehorchen und Genießen herabsinkt. So wird der Skeptizismus bei den besseren und rüstigeren Köpfen leicht die Oberhand gewinnen, und sich solange erhalten, als noch eine Spur von gesundem Philosophieren übrig ist. Allein selbst dann hat er seine Zeit; entbehren kann man das Positive nicht, es erhebt sich umso stärker und mystischer, je dürrer und kahler der vorangegangene Zeitraum war und je kräftiger es von einem überall eingerissenen Aberglauben unterstützt wird. Statt der verschwundenen Philosophie tritt ein fromme und schwärmerische Dichtung auf, welche die höchsten Gedanken, die die Vorwelt aufstellte, mit sich zu verschmelzen sucht. Dieses Schauspiel gewährt uns die griechische Philosophie, die deshalb vor allen Dingen betrachtet zu werden verdient, weil sie ungefesselt den naturgemäßen Gang des menschlichen Geistes mehr als irgendeine andere durchlaufen ist.

Eine solche Erwägung könnte mutlos machen für das Schicksal der Philosophie, es könnte scheinen, als sei der Skeptizismus der unwiderlegbare Widersacher, der der Verfertigung philosophischer Kunstwerke ruhig zusieht, diese sich bald durcheinander zerstören läßt, bald selbst Hand legt an ihre Vernichtung, übrigens unbekümmert, wieviel er selbst in dieser oder jener Zeit gelten mag und seines endlichen Sieges gewiß. Allein so wenig ein System, das etwa in der Mitte einer großen philosophischen Periode läge, schon dadurch widerlegt sein würde, daß man es verlassen hätte, ebensowenig würde der Skeptizismus sich dadurch bewähren können, daß er in einer solchen Periode zuletzt geherrscht hat. Überhaupt kann er seine Bewährung nie finden in irgendwelchen äußeren Erscheinungen, sondern muß sich auf innere Gründe stützen, oder sich gefallen lassen, daß man ihn geradezu abweist. Unstatthaft ist es deshalb, wenn Skeptiker gesagt haben, ihre Ansicht gründe sich darauf, daß die Wahrheit bisher noch nicht gefunden wurde, sie leugneten aber gar nicht, daß sie sich nicht bei weiter gediehener Forschung und reiferer Einsicht möchte finden lassen. Zuerst möchte man den Zweifler wohl fragen, woher er denn so zuverlässig weiß, daß Wahrheit noch nicht gefunden ist? etwa aus der Streit der Systeme, den er so gern im Mund führt? Doch dieses wird er im Ernst nicht behaupten wollen, oder er würde den Gegnern sehr bald das Feld räumen müssen. Dann möchte man ihn ermuntern, doch jene unnütze Zweifelei ganz beiseite zu lassen, die Forschung selbst weiter zu führen und die Reife der Einsicht womöglich befördern zu helfen. Auch haben jene Männer wohl nur unbesonnen einmal diese Rede geführt, denn nebenbei haben sie doch Gründe aufgesucht, oder, wenn man lieber will, gefunden, aus denen es einleuchten soll, daß der menschliche Geist niemals wissen kann, ob er im Besitz der Wahrheit ist oder nicht, obgleich man nicht leugnen kann, daß die eine Ansicht dem Menschen allerdings natürlicher scheint und ihn deshalb mehr anspricht, als die andere, ja daß es sogar allgemeinmenschliche Ansichten gibt. Dieses und was sonst dahin gehört, wird sich in der Folge untersuchen und aufklären lassen; hier kommt es nur darauf an, den Einfluß, den der Skeptizismus in neueren Zeiten auf die Behandlung der Philosophie gehabt hat, zu zeichnen, damit es klar wird, wie ein solcher, der die Bodenlosigkeit jener Ansicht und der andern, welche sich in Bezug auf sie gebildet haben, klar durchschaut, gerade jetzt den Beruf fühlen kann, im Gegensatz gegen herrschende Lehren die Natur, die Möglichkeit und den Gang des Wissens aufs Neue zu mustern.

Man darf in Wahrheit sagen, daß fast die ganze neueste Philosophie ihre Eigentümlichkeit durch das Bedrängnis erhalten hat, welches die wiederaufgerufenen und erweiterten skeptischen Argumentationen herbeiführten. HUME griff, sich vorzüglich auf empirische Vorstellungsarten stützend, die Gültigkeit des Kausalbegriffs an und brachte auch nebenbei einen Grund vor, weshalb er nicht für apriorisch angesehen werden kann; fällt aber der Kausalbegriff, als bloßes Produkt der Einbildung weg, so geht, wie sich von selbst versteht, auch alles Wissen mit ihm zugrunde. KANT, der HUMEs Skeptizismus man weiß nicht für wie scharfsinnig hielt, glaubte schon im Voraus zu wissen, daß es ein apriorisches Wissen gibt und hielt sich überzeugt, auch HUME würde dies anerkannt haben, hätte er sich nur zufällig der reinen Mathematik erinnert. Ihm aber war nur das a priori, was sich als völlig unabhängig von der Erfahrung und nicht bloß komparativ [vergleichend - wp], sondern schlechthin allgemeingültig erwweisen konnte. So vom Vorhandensein apriorischer Urteile überzeugt, geriet er auf den Einfall, ob sich nicht, statt daß unser Geist sich vermeintlich nach der Erfahrung formt, diese vielmehr in ihrer besonderen Eigentümlichkeit nach der Form unseres Geistes richten müsse und durch dieselbe erst wird. Billig hätte er diesen Einfall sogleich beiseite setzen sollen, weil ihm gemäß weder die äußere noch die innere Zutat zum Ganzen der Erfahrung ausgemittelt werden konnte, indem es niemandem gegeben war, eine jede für sich zu betrachten - kamen sie doch nur vereint und verschmolzen zum Bewußtsein - folglich auch für keinen von beiden Teilen das Geringste erschlossen werden konnte. Allein seine falsche Ansicht der Mathematik, seine psychologischen Vorurteile, sein reges Bestreben die Philosophen zustande zu bringen, verbunden mit der Meinung, daß dieses nur durch sein vermeintliches a priori geschehen kann, ließen ihn darauf nicht achten, und trieben ihn vielmehr mit solcher Blindheit und Unwissenschaftlichkeit zur Verfolgung dessen, was er nun einmal wollte, an, daß man in der Tat nicht weiß, worüber man sich mehr verwundern soll, ob über dieses befangene, so ganz unphilosophische und alle Forderungen wissenschaftlicher Strenge ablehnende Verfahren oder über den Geist, der es dennoch vermochte, ohne alles Fundament und fast ganz im Reich der Dichtung ein so großes und scheinbar festes und haltbares Gebäude aufzuführen. Doch auch die gänzliche Trüglichkeit seiner Gründe und Folgerungen abgerechnet, hatte er doch gar nichts für ein objektives Wissen erbeutet, und wenn wir uns nach HUME auch den Zusammenhang der Dinge einbildungsweise vorstellen oder nach KANT vermöge einer Form des Geistes, mußte für den, dem ein Wissen des Nichtwissens nicht genügen konnte, ziemlich einerlei sein; wurde doch nach den beiden von der Natur und dem wirklichen Zusammenhang der Dinge nichts erkannt. Außerdem durfte KANT sich nicht rühmen, HUME widerlegt zu haben, wie er es doch wollte; dies hätte für sich und vor dem Beginnen des Systems geschehen müssen; das Anheben desselben und der Gebrauch des Kausalbegriffs zu Ableitungen, ja zu seiner eigenen, setzte schon eine vorläufige und blinde Anerkennung seiner Gültigkeit und wissenschaftlichen Brauchbarkeit, die HUME eben bezweifelt hatte, voraus. AENESIDEMUS war bei der Kritik von REINHOLDs Verbesserungen bemüht, dies ins Licht zu setzen; und in der Tat hätte sowohl dies, wie auch die grenzenlose Grundlosigkeit des Systems einem Jeden in die Augen fallen müssen, der beim Studium desselben einige Schärfe des Denkens mit Unbefangenheit und Ruhe verbunden hätte, statt daß alles, eingenommen vom Ruf der Lehre und dem Vorurteil ihrer Wahrheit, sich ihr mit Leidenschaftlichkeit hingab, nicht um sie zu prüfen, sondern um sie zu erlernen, und sie wieder zu lehren. Die älteren Philosophen aber hatten wohl eine zu unbedeutende geistige Gymnastik durchlebt und waren selbst zu sehr an Unwissenschaftlichkeit und Widersprüche gewöhnt, als daß sie mit Erfolg hätten kämpfen können - trotz der besten Absicht. Focht AENESIDEMUS das System von außen an, so löste es SALOMON MAIMON dagegen in sich selbst in Skeptizismus auf, in den es auch, bei sich selbst genommen, ohne Widerstreit aufgeht.

Die Schriften beider Skeptiker hatte FICHTE gelesen und war dadurch nach seiner eigenen Aussage überzeugt worden, daß die Philosophie noch nicht zum Rang einer evidenten Wissenschaft erhoben ist. Strenge Wissenschaftlichkeit war sein Bestreben und er glaubte, den Weg zu kennen, auf dem sie erreicht und dadurch der Sieg über den Skeptizismus erhalten werden könnte. Die kantische Philosophie stützte sich nicht auf ein Prinzip, welches seine Gewißheit in sich selbst tragend, alle übrigen Lehren begründet hätte; sie ruhte vielmehr auf einer Masse nur locker zusammenhängender Untersuchungen und geriet noch obendrein durch die vorausgesetzten Dinge-ansich und die abgesprochene Erkenntnis eines Ansich, mit sich selbst in den offenbarsten Widerstreit. Schon REINHOLD hatte ihr die vermißte Wissenschaftlichkeit durch die Aufstellung eines Prinzips zu geben versucht und von dieser Seite betrachtet mußte REINHOLDs Unternehmen für FICHTE eine, wenngleich, wie die skeptische Kritik ergab, verfehlte, doch durch ihre Tendenz wichtige Vorarbeit erscheinen. Denn er selbst hielt sich überzeugt, daß eine jede Wissenschaft nur ein Prinzip haben darf - hätte sie mehrere, so würde die vermeintliche eine Wissenschaft, da die Prinzipien nicht zusammenhängen, in mehrere zerfallen müssen - daß dieses Prinzip aber in ihr selbst nicht erwiesen werden kann, weil sie damit anhebt und alles in ihr erst durch dasselbe gewiß wird; daß vielmehr, wenn es irgendein Wissen geben und alles menschliche Denken kein bloßes Herumtappen sein soll, eine Wissenschaft selbst von der Wissenschaft oder eine Wissenschaftslehre müsse aufgestellt werden können, welche zwar gleichfalls auf einem Prinzip ruhen muß, das aber keines weiteren Beweises bedürftig ist, in welchem vielmehr der Gehalt die Form, und umgekehrt die Form den Gehalt bedingt und notwendig macht. Aus diesem Prinzip müßten in der Folge die Prinzipien aller anderen Wissenschaften dergestalt fließen, daß sie durch dasselbe, mittels der mittleren Sätze begründet würden. Jenes erste Prinzip nun glaubte er in dem Satz Ich bin Ich - A = A - gefunden zu haben; wie wenig es ihm aber gelungen ist, daraus die Prinzipien der übrigen Wissenschaften bündig abzuleiten, ist schon hinreichend beleuchtet. Man kämpfte gegen den Idealismus mit einem vorgehaltenen Nihilismus; allein mit Konsequenzen ist alsdann nichts auszurichten, wenn man nicht beweisen kann, daß das, was die Konsequenzen aufheben, unbezweifelbar da ist. Offenbar hätte das Prinzip angegriffen werden müssen, welches in der Tat Widersprüche enthält, welche die idealistische Ansicht aufheben, und die realistische notwendig machen. Geschah nun dieses gleich zu jener Zeit nicht, so hätte doch der Idealismus die Gemüter nicht lange beherrschen können; diese werden lieber ihre Welt behalten, sollten sie auch selbst darin untergehen müssen, als sich selbst ohne die Welt. Dieser Neigung muß es wohl zum Teil zugeschrieben werden, daß aus der Lehre FICHTEs entsprungene Ideal-Realismus in kurzer Zeit so viele Anhänger erhielt. Doch ehe von diesem die weitere Rede sein kann, muß einer anderen, früheren philosophischen Erscheinung erwähnt werden.

Fast zu gleicher Zeit mit KANT war FRIEDRICH HEINRICH JACOBI aufgetreten, wie jener der herrschenden Philosophie entgegengesetzt, wiewohl auf eine andere Weise. Früh von der Nichtigkeit der Demonstrationen für das Dasein Gottes überzeugt, konnte er nicht begreifen, wie denkende Männer ihnen noch beitreten könnten. Seinem Grundsatz treu, daß man die Ansichten Anderer nicht durch seine entgegengesetzten für widerlegt ansehen, sondern sie sich möglichst vernünftig machen muß, unternahm er es, den ontologischen Beweis in seiner Quelle aufzusuchen, und in seinem Ausbildungen zu verfolgen. Dieses Studium führte ihn zu SPINOZA, der auf seine eigene Denkart einen entscheidenden Einfluß haben sollte. Sein Gemüt war in der Tat zu erhaben, und deshalb durch das Gefühl selbst zu lebendig überzeugt von der Wahrheit all dessen, was der Menschheit allein Würde und Erhabenheit gibt, als daß jene Lehre, welche den Funken des Göttlichen im Menschen nur durch Sophismen und Widersprüche zu retten sucht, ihn konsequent durchgeführt aber hätte vertilgen müssen, ihm hätte zusagen können. Dennoch wußte er die Demonstrationen derselben nicht zu widerlegen, war vielmehr überzeugt, daß alle Demonstrationen, wenn sie allseitig und bündig sein und so das Verhältnis Gottes zur Welt erklären will, in einen Pantheismus [alles ist Gott - wp] hinauslaufen müßte. Da sich diesem aber sein innigstes Bewußtsein entgegensetzte, so war ihm zweierlei gewiß: der Pantheismus hob sich ihm durch seine eigenen Resultate auf und Demonstrieren, wie Erklären konnte das Wesen der Philosophie nicht sein; ihr Hauptgeschäft mußte vielmehr sein, Dasein zu enthüllen und das Letzte, das Unerklärliche zu suchen. Dieses konnte sich nur in den Tiefen des Bewußtseins finden und an dasselbe konnte man beim unvermeidlichen Schicksal aller Demonstration nur glauben. Demonstration aber, - und dies war die festeste Stütze, auf der sein Glaube ruhte - war gar nicht einmal möglich, wenn sie nicht mit dem Glauben beginnen wollte, weil alles, was zum Zweck einer Demonstration vorausgesetzt wird, was den Obersatz derselben bilden soll, wieder demonstriert werden muß und so ins Unendliche rückwärts.

Die letztere Ansicht von der Unendlichkeit, und der daraus folgenden Unmöglichkeit aller Demonstration ist bekanntlich eine alte skeptische Argumentation, und so war auch bei dieser Lehre der skeptische Einfluß neben dem spinozistischen unverkennbar. Jene Ansicht führte zum Nichts des Wissens; fragte man also, warum glaubst Du, so mußte die Antwort erfolgen, welche der Urheber selbst gab: in fugam vacui, aus Scheu vor dem Nichts.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die kritische Philosophie, welche allen Gebrauch der Denkbegriffe auf das Anschauliche beschränkte und den Ideen keinen realen Gehalt bewilligen wollte, die Idee des Pantheismus und der Naturphilosophie hervorrufen konnte; daß ferner FICHTEs Idealismus, der die eine Seite ausbaute, notwendig erinnern mußte an die entgegengesetzte Seite. Dennoch wäre es die große Frage, ob ohne die kräftige Auferweckung des SPINOZA durch JACOBI, den der Urheber der Naturphilosophie wohl studiert hatte, der neuere Pantheismus jemals erschienen wäre? Dieser bedurfte einer Haltung, einer Verschmelzung der beiden Seiten und eingedenk jener oben erwähnten skeptischen Argumentation konnte der Urheber desselben sie nicht durch Demonstration geben wollen. Hier kam die schon von KANT erwähnte, wiewohl verworfene, von FICHTE aber später gebrauchte intellektuelle Anschauung zur gelegenen Zeit, der die Summe des Systems um der Haltbarkeit willen übergeben wurde. Auch hier also war, wie in der Lehre JACOBIs, das Wissen von Grund auf, seinem eigentlichen Begriff nach aufgegeben, wenngleich es sich von selbst verstand, daß das System dadurch keinen unsicheren Boden erhalten zu haben glaubte.

Wie sehr diese Philosophie sich ausbreitete, so konnte sie doch keinen Beifall bei denen erhalten, welche einen Unterschied machten zwischen Denken und Dichten. Diese schlossen sich vielmehr allmählich, bald näher, bald entfernter, an dein in diesem Kampf und Wechsel der Systeme allein aufrechtstehenden JACOBI an. Nur wenige, gebildet durch die Alten und gewarnt durch die Neueren, bahnten sich einen eigenen Weg; allein was gegen den Zeitgeist ist, wird anfangs verschmäht und erst später erkannt.

Wohl läßt sich begreifen, wie solche, die sich der Glaubenslehre näherten, ihr eine höhere Geltung und wissenschaftliche Gestalt anzueignen suchen konnten, wie jene deshalb bald mit fremden Lehren gemischt, bald in eine unmittelbare Erkenntnislehre verwandelt werden mochte. Überall blickt jedoch der Einfluß des Skeptizismus durch, und ein Wissen von Grund auf scheint von der Mehrheit aufgegeben, die nur darüber uneinig ist, was an die Stelle jenes ersten Wissens gesetzt werden muß. Daß nun bei solchen Grundlagen das ganze darauf ruhende Gebäude keinen echt wissenschaftlichen Charakter tragen kann, leuchtet wohl von selbst ein, und ebenso sehr, daß es erwünscht sein müßte, wenn die strenge Wissenschaftlichkeit aus ihrer Verbannung zurückgerufen werden konnte. Zu zeigen, daß sich dies so verhält, ist die Absicht dieser Schrift, da aber jene dem Wissen entgegenstehenden Lehren noch keineswegs widerlegt sind, diese auch zum Teil nur in sich selbst widerlegt werden können, so ist die Theorie des Wissens nicht anders als polemisch durchzuführen, wobei sie auf zweierlei Ansichten Rücksicht zu nehmen hat: auf die skeptischen nämlich, welche sich gegen alles Wissen schlechthin erheben und auf die unmittelbaren, welche nur ein gründliches Wissen, oder ein Wissen vom Anfang [an-arche - wp] leugnen. Wieviele Wendungen es von beiden geben kann und wieviele deshalb ihre Kritik hier finden müssen, wird zunächst zu untersuchen sein.

Alle Philosophie ist entweder empirisch oder rational, d. h. sie folgt entweder dem Gegebenen, wie es liegt oder sie erhebt sich über dasselbe, dadurch daß sie es durchdringt, berichtigt, ordnet. Dieses mag denen wenig bedeuten wollen, welche das Durchdringen und Berichtigen wenig versucht haben; vielleicht dürften andere sagen, hier sei allerdings der falsche Rationalismus bezeichnet, der wahre jedoch liegt außerhalb dieser Sphäre. Allein eben jener sogenannte wahre Rationalismus ist nichts weiter, als die bloße Empirie, zu der ein Wahrheitsvermögen, Vernunft genannt, hinzugedacht wird, damit es sie kraft seiner angestammten Autorität bestätigt und bewährt. ARISTOTELES und die späteren Philosophen bis auf KANT waren in der Tat nicht die blinden Männer, für die man sie wohl ausgibt, vielmehr hatten sie einen ungleich besseren Blick als die Philosophen der neuesten Zeit, die durch ihre heillose Verrückung und Verwirrung aller Gesichtspunkte eine solche Masse von falschen Begriffen und Ansichten teils hervorgebracht, teils veranlaßt haben, daß das Zeitalter, welches jetzt noch manche derselben für die ausgemachten Wahrheiten hält, zu tun haben wird, sich wieder von ihnen loszusagen. Eben dahin gehört auch die vermeintlich so wichtige Unterscheidung von Vernunft und Verstand, welche doch jeden Augenblick und selbst von denselben anders bestimmt werden, so daß man sich wundern muß, warum man nicht näher über diese Dinge ebenso sehr im Klaren ist, wie über Gedächtnis und Einbildung. Wie es sich mit der Vernunft verhält, wird sich in der Folge zeigen; beim Schwanken in jenen Begriffen aber wird man uns vorläufig schon verstatten müssen, den Unterschied zwischen einem wahren und einem falschen Rationalismus zur Seite zu setzen, und auf unserer obigen Beschreibung beharren, und das umso mehr, da sie schon durch den bloßen Gegensatz gerechtfertigt wird. Beiden, sowohl dem Empirismus wie auch dem Rationalismus, ist das Demonstrieren gemeinschaftlich. Folglich kann es auch nur drei verschiedene Arten des Skeptizismus geben, den empirischen, den rationalen und den logischen, welche weiter unten näher bekannt werden sollen.

Erkennt man ferner, irgendeiner skeptischen Argumentation gemäß, ein ursprüngliches oder erstes Wissen für unmöglich an, so gibt es nur dreierlei Weisen, auf die man eine unmittelbare Gewißheit begründen kann, das Gefühl nämlich, welches den Glauben ergibt - mag nun das Gefühl selbst noch durch eine unmittelbare Annahme bewährt werden sollen, oder nicht - die unmittelbare Erkenntnis oder das unmittelbare Anerkennen durch irgendein dazu ausgestattets Vermögen und die intellektuelle Anschauung, welche den Gegenstand vor sich sieht und nicht täuschen kann, weil hier das verderbende, ja zweifelhafte Medium der Sinne fehlt. Man sieht wohl, wie sehr alle drei, für sich genommen und ohne das, was vorliegt, betrachtet, sich zu vereinigen streben und wirklich wird auch das eine und das andere von diesem und jenem für so gar unrecht nicht erklärt, wenn es nur um das Objekt besser stände.

Dieses nun sind die Ansichten, welche ihre Prüfung erwarten, und so muß diese Schrift in drei Hauptabschnitte zerfallen. Der erste derselben muß den Begriff des Wissens mit seinen Verwandtschaften und Gegensätzen erörtern, damit man weiß, worüber wir reden; der zweite muß das Wissen von den Anfechtungen, die ihm gemacht werden, befreien; der dritte schließlich die Theorie desselben aufstellen.

Hinreichend übrigens gewarnt durch soviele Versuche der neuesten Zeit, welche nicht sowohl die Wahrheit auszumitteln, als vielmehr gewisse Lieblingslehren, auf die eine oder andere Weise, koste es was es wolle, zu heben und zu halten trachten, werden wir uns dem einzigen Interesse überlassen, welches mit dem Zweck des Philosophierens besteht, dem Interesse der Forschung nach Wahrheit. Was sich als solche durch seine Gewißheit darbietet, werden wir, was auch immer es ist, auf keinen Fall von uns ablehnen; denn nur dann kann die Philosophie Fortschritte machen, wenn ein jeder, was sich ihm wissenschaftlich darbietet und aufdringt, redlich annimmt und verkündet; nicht aber, wenn sein ganzes Verfahren nur ein Aufsuchen von Gründen ist, um das, was er nun einmal will, vielleicht zu seiner eigenen Überzeugung, vielleicht auch nicht, herauszubringen. Die letzteren werden sich einen entschiedenen Ton schon gefallen lassen müssen; denn die durch unbefangene, strenge und besonnene Forschung bewirkte Lebendigkeit der Überzeugung kennt keinen andern.
LITERATUR: Ernst Stiedenroth, Theorie des Wissens, Göttingen 1819