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HEINRICH RICKERT
Wilhelm Windelband

"Im Anschluß an den Gegensatz des Veränderlichen und des Bleibenden, der allen Philosophen wichtig war, hat auch Windelband auf dem Boden Kants, mit Zuhilfenahme des von Lotze herausgearbeiteten Begriffs der Geltung, das Programm zu dem entworfen, was man heute eine Philosophie der Werte nennt."

"Wir glauben im Leben alle an ein Überindividuelles, das den Einzelnen bindet und verpflichtet. In den gültigen Werten haben wir jene andere Welt, die schon Plato suchte, und die jedem Wandel entzogen ist. Sie tritt uns gegenüber als das, was ewig sein soll, ohne sein zu müssen, und indem wir das Geltende in das Wirkliche hineinarbeiten, bekommt unser Dasein einen lebendigen Sinn, der es wahrhaft lebenswert macht."


Vorwort

 
Am 22. Oktober ist WILHELM WINDELBAND im 68. Lebensjahr entschlafen. Die folgenden Darlegungen sind in der Hauptsache unter dem unmittelbaren Eindruck der Todesnachricht schnell niedergeschrieben, auf Veranlassung der Frankfurter Zeitung, die von mir eine "Würdigung" meines verstorbenen Lehres wünschte. Der Raum, der mir zu diesem Zweck zur Verfügung stand, war beschränkt, und einiges, was ich zu sagen hatte, schien mir auch für viele Zeitungsleser weniger geeignet. Deshalb veröffentliche ich den zum größeren Teil bereits gedruckten Versuch noch einmal in erweiterter Form unter dem freundlichen Schutz des Verlegers, mit dem WINDELBAND seit langen Jahren durch freundschaftliche Beziehungen verbunden war, und dessen verständnisvolles Entgegenkommen er ebenso wie ich selbst oft dankbar empfunden hat.

Vervollständigt ist besonders die Darstellung der Lehre im dritten Abschnitt. So hoffe ich, den zahlreichen Lesern, Schülern und Verehrern WINDELBANDs ein einigermaßen abgerundetes und nicht schwer verständliches Bild zumindest von den Hauptzügen seines Schaffens, Denkens und Lehrens zu geben. Mehr als Umrisse bieten die wenigen Seiten selbstverständlich nicht. Gelingt es mir, zur Vertiefung in seine Werke anzuregen, so würde ich darin den schönsten Erfolg dieser kleinen Schrift erblicken.

Vielleicht vermißt Mancher das Eingehen auf die Persönlichkeit, die bei Männern von WINDELBANDs Art sich nicht in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit erschöpft. Ich gestehe, daß es mir nicht gelingen wollte, auch hiervon schon jetzt ein mich befriedigendes Bild zu entwerfen, und ich möchte die Gründe dafür andeuten. Nur als Student lebte ich längere Zeit mit ihm am selben Ort. Später hat sich unser Verkehr auf Briefe und Begegnungen beschränkt, die sich meist nur über wenige Stunden erstreckten. So ist das persönliche Verhältnis zwischen uns immer das des Schülers zum Lehrer geblieben, und es gibt gewiß Freunde, die über die außerwissenschaftliche Gesamtheit seines Wesens aus eigener Erfahrung besser unterrichtet sind als ich. Andererseits bedeutet sein Tod für mich einen so überaus schmerzlichen Verlust, daß ich mir das rein Menschliche heute noch nicht in der Weise zu objektivieren vermag, wie das bei einem Mann von seiner Bedeutung notwendig wäre. Darum habe ich mich auf das Sachliche beschränkt, das ich als einer seiner ältesten Schüler mir zu Bewußtsein zu bringen, früher schon oft Veranlassung hatte, und vielleicht darf man sagen: eine solche Darstellung entspricht am meisten auch WINDELBANDs persönlicher Geistesart.




I. Die Herkunft

In Jena und Göttingen erhielt WILHELM WINDELBAND als Student die stärksten wissenschaftlichen Anregungen. KUNO FISCHER und HERMANN LOTZE lehrten an diesen Universitäten, und sie haben seine philosophische Entwicklung bestimmt, soweit sie von äußeren Einflüssen abhängig war. An die Namen seiner beiden Lehrer knüpft sich zugleich ein Gegensatz von sachlicher Bedeutung, der sich durch die Geschichte der gesamten europäischen Philosophie hindurchzieht, und daher läßt sich aus der Kenntnis von WINDELBANDs geistiger Herkunft vielleicht am Besten auch das Wesen seiner Lehre und seine Bedeutung als Lehrer unserer Zeit verstehen.

KUNO FISCHER, sein einer Meister, war Hegelianer. Das will sagen, er stand unter dem Einfluß des größten modernen Philosophen der Entwicklung. Kein Denker vorher zeigt sich so stark an der Geschichte orientiert wie HEGEL, und es ist kein Zufall, daß aus seiner Schule die Männer hervorgegangen sind, denen die deutsche Geschichtsdarstellung der Philosophie ihre überragende Bedeutung verdankt. Neben FISCHER stehen hier die Hegelianer EDUARD ZELLER und JOHANN EDUARD ERDMANN. In ihren Werken wurzelt WINDELBANDs historisches Schaffen. Sein "Lehrbuch der Geschichte der Philosophie" bildet die Krönung dieser Reihe. Zugleich hat sich ihm für sein systematisches Denken vom Hegelianismus her die Idee eines unaufhörlichen Wandels aller Gestaltungen eingeprägt.

Sein anderer Lehre, LOTZE, stand mit einer ungemein umfassender Bildung dem Gedanken des geschichtlichen Werdens zwar ebenfalls nicht fern. Doch wirkten in ihm auch starke Motive dem Evolutionismus und vollends jedem Historismus entgegen. Der Einfluß HERBARTs, des entschiedensten Antipoden, den HEGEL innerhalb des deutschen Idealismus gehabt hat, ist, wenn LOTZE selbst ihn auch nicht für groß hielt, nicht zu verkennen, und in derselben Richtung machten sich die Naturwissenschaften geltend, denen er einen Teil seiner Lebensarbeit widmete. Für die Physik ist die Veränderung nicht das Wesentliche. Sie sucht nach einer Realität, deren unveränderliche Elemente unter immer gleichen Gesetzen nur die Beziehungen zueinander wechseln, und dieser Geistesart entspricht LOTZEs Metaphysik: in einer Vielheit von wandellosen Wirklichkeiten erblickt sie die letzten Grundlagen allen Geschehens. So tritt dem Gedanken des rastlosen Werdens der des beharrenden Seins entgegen, und auch in WINDELBAND, dem von KUNO FISCHER historisch geschulten Denker, wird durch LOTZEs Anregung neben dem Entwicklungsprinzip die Tendenz mächtig, zum Festen und Bleibenden vorzudringen.

Bringt man sich das Wesen der antagonistischen Einflüsse, die WINDELBAND von seinen beiden Lehrern erfahren hat, in dieser Form zu Bewußtsein, so kommt man damit zugleich über das Persönliche und Zufällige hinaus. Man sieht sich vor ein Problem gestellt, das bereits die Anfänge des europäischen Denkens beherrscht, und das bis heute nicht aufgehört hat, die Geister zu beschäftigen. Die Bedeutung der ersten griechischen Philosophie beruth nicht zum Wenigstens auf der Herausarbeitung des Gegensatzes, der sich an die Namen von HERAKLIT und PARMENIDES knüpft. Alles fließt; die Welt ist nicht, sondern wird, und sie gleicht so einer sich selbst fortwährend verzehrenden Flamme. das war die Paradoxie, die der "dunkle" Weise von Ephesus der Meinung der "Vielen" entgegenwarf, und wer will leugnen, daß ein tiefes Wahrheitsmoment in ihr steckt? Nicht weniger entschieden aber wendeten sich die Eleaten gegen diesen heraklitischen Weltbegriff. Werden und Veränderung kann es gar nicht geben, ja sie lassen sich als ein "Nichtseiendes" nicht einmal denken. Die Welt ist; das ist der Satz aller Sätze, und wie bei HERAKLIT das Feuer für das Werden, so wird bei PARMENIDES die starre, in sich geschlossene Weltkugel zum Symbol für den Gedanken des wandellosen Seins. Damit kommen wir dann zu einer scheinbar unüberwindlichen Antithese, welche der Folgezeit viel zu schaffen machte. Wie haben wir die Welt zu denken, um ihrem ewigen Gehalt ebenso gerecht zu werden wie ihrem zeitlichen Prozeß?

Vor diesem Problem stand schon PLATO, und seine Ideenlehre war die folgenreichste von allen Lösungen, die man dafür gefunden hat. Der wechselnden Sinnenwelt, in der tatsächlich "alles fließt", setzte er zum erstenmal mit vollem Bewußtsein ein übersinnliches Reich "unkörperlicher Ideen" entgegen: die ewigen Urbilder all dessen, was da ist und sein soll, und das irdische Geschehen wurde ihm zum schwachen Abglanz des wandellosen göttlichen Seins. Doch bei diesem schroffen Dualismus, der alles, was wir als Sinnenwesen tun, zu einem nichtigen Spiel herabzusetzen droht, und den PLATO selbst niemals durchgeführt hat, konnte sich die Folgezeit nicht beruhigen. Seit ARISTOTELES sind die Denker Europas bemüht gewesen, zu einem mehr oder weniger "monistischen" Ausgleich zu kommen, bis KANT die Unlösbarkeit des Problems auf dem alten metaphysischen Boden nachwies und mit seiner neuen "Ideenlehre", die er der platonischen entgegensetzte, das Feld bereitete für einen neuen Dualismus, der das "Ideal" mit dem "Leben" versöhnt und das Ganze er Welt einheitlich zu begreifen gestattet.

Trotzdem drängte sich der alte Gegensatz von Werden und Sein auch in der nachkantischen Philosophie immer wieder hervor, und wir verstehen nun leicht, was die Beeinflussung durch zwei Denker, von denen der eine der Entwicklung des Geistes hingegeben war, der andere nach dem ewig Gültigen in der Erscheinungen Flucht suchte, für einen Mann bedeuten mußte, der wie WINDELBAND schon in früher Jugend mit einem starken Interesse an der wechselnden Mannigfaltigkeit der Gedanken ein ebenso starkes Bedürfnis verband, zu der Wahrheit vorzudringen, die nur eine sein kann und immer gilt. Der zeitliche Wandel und die überzeitliche Vollendung, die Geschichte mit ihren immer neuen Stufen und die Natur mit ihren immer gleichen Gesetzen, kurz das historische und das systematische Problem der Philosophie wurden die beiden Brennpunkte, um welche sein Denken sich mit gleicher Energie bewegte.

Von hier aus suchen wir daher sein Schaffen, seine Lehre und schließlich auch seine Bedeutung als Lehrer zu verstehen.


II. Die Werke

Schon ein Blick auf das äußere Bild von WINDELBANDs wissenschaftlichem Leben und Arbeiten zeigt deutlich die Doppelseitigkeit seines geistigen Wesens. Zuerst wendete er sich systematischen Untersuchungen zu und hatte damit frühen Erfolg. Zweiundzwanzigjährig schloß er seine Studentenzeit mit einer Dissertation über die Lehren vom Zufall ab, eine verheißungsvolle Studie, die Ansätze zu manchem enthält, was er später weiter ausführte, und die bekannter zu sein verdient, als sie ist. Bald darauf habilitierte er sich an der Leipziger Universität mit einer Schrift über die Gewißheit der Erkenntnis und erregte mit ihr das lebhafte Interesse von CHRISTOPH SIGWART. Nicht lange blieb er Privatdozent. Noch vor der Vollendung seines achtundzwanzigsten Lebensjahrs erhielt er einen Ruf nach Zürich als ordentlicher Professor. Dort führte er sich mit einer Antrittsrede über den gegenwärtigen Stand der psychologischen Forschung ein, in der er als einer der ersten die dringend notwendige und leider noch nicht vollzogene Trennung der empirischen Psychologie von der Philosophie verlangte. So zeigt er früh schon ausgeprägte Züge seiner bleibenden wissenschaftlichen Eigenart und erscheint als junger Mann ganz von systematischen Interessen beherrscht.

An der Freiburger Universität, an die er bereits nach einem Jahr übersiedelte, widmete er sich jedoch hauptsächlich historischen Arbeiten. Ihre Frucht war die "Geschichte der neueren Philosophie", die in zwei Bänden 1878 und 1880 herauskam. Mit diesem umfassenden Werk hat der Zweiunddreißigjährige sich eine feste wissenschaftliche Stellung unter den Historikern geschaffen. Das Buch ist mit vollendeter Klarheit und großer Eleganz geschrieben und macht die Vertiefung in die Gedankenwelt vom Beginn der Renaissance bis HEGEL und HERBART zu einer so angenehmen Lektüre, daß oberflächliche Beurteiler darin mehr eine populäre Schrift als eine selbständige wissenschaftliche Leistung gesehen haben. Tatsächlich beruth alles auf eigenen und eigenartigen Studien, und zumal der zweite Band, der die Blütezeit der deutschen Philosophie behandelt, ist heute nach fünfunddreißig Jahren noch unübertroffen.

Eine Fülle von Schriften über KANT haben wir seitdem erlebt, und doch wüßte ich unter ihnen keine zu nennen, die alles Wesentliche seiner ungeheuren Geisteswelt so glücklich zusammengefaßt und zu einem so durchsichtigen Ausdruck bringt, wie WINDELBAND es auf einem verhältnismäßig kleinen Raum vermocht hat. Seine Darstellung des nachkantischen Denkens hatte auch eine aktuelle Bedeutung, denn vor einem Menschenalter wurde sogar von klugen Männern die Ansicht verbreitet und fand Glauben, es seien die großen Jünger KANTs, besonders FICHTE, SCHELLING und HEGEL als Philosophen nicht ganz ernst zu nehmen, und man brauche sich nicht um sie zu kümmern. WINDELBAND mußte jedem, der sehen wollte, die Augen dafür öffnen, daß der nachkantische Idealismus ein ebenso reiches wie organisch zusammenhängendes Geistesgebild bedeutet, das gerade als Totalität unvergleichlich groß ist, da in ihm Schritt für Schritt auch das zur vollen Entfaltung kommt, was bei KANT zum Teil nur in Ansätzen vorhanden war. In Verbindung mit dieser Würdigung der großen idealistischen Systeme wird dann SCHOPENHAUER, der die einsichtslose Geringschätzung seiner älteren Zeitgenossen durch sein sinnloses Schimpfen auf sie zur Mode gemacht hatte, zum erstenmal in einem umfassenden Zusammenhang so gezeigt, wie er geschichtlich gesehen werden darf, nämlich als Einer unter Anderen, stark beeinflußt von FICHTE und noch mehr von SCHELLING, also nicht in jenem Licht, in dem er selbst sich sah, und in dem die Masse seiner kritiklosen Leser ihne erblickt hat. Klarheit über diese Zusammenhänge ist auch in unseren Tagen wichtig, wo Viele den zum Teil durch RAVAISSON, zum Teil durch SCHOPENHAUER angeregten, von HENRI BERGSON mit viel "esprit" und noch mehr blendendem Geschick ins Französische "übersetzten" Schellingianismus als funkelnagelneue Weisheit anstaunen.

Nach Abschluß des ersten historischen Werkes traten dann in WINDELBANDs Publikationen die systematischen Interessen wieder mehr in den Vordergrund. Von Freiburg war er 1882 nach Straßburg gegangen. Hier hob er, wie EDUARD SCHWARTZ an seinem Sarg mit Recht gesagt hat, die Philosophie, die bei der Gründung der Universität zurückgestanden hatte, rasch auf die ihr gebührende Höhe, und sein Seminar wurde eine Pflanzschule, von deren Gedeihen die Lehrkörper der deutschen Hochschulen ein beredtes Zeugnis ablegen. Einundzwanzig Jahre hat er in Straßburg gewirkt. Als erstes Werk dieser Zeit erschienen 1883 seine "Präludien", eine Sammlung von Aufsätzen und Reden zur Einleitung in die Philosophie. In ihnen und in den ungefähr gleichzeitig herausgegebenen "Beiträgen zur Lehre vom negativen Urteil" besitzen wir die Abhandlungen, in denen er die Grundgedanken seiner eigenen philosophischen Überzeugung niederlegte. Die Aufsätze über den Begriff der Philosophie, über Normen und Naturgesetze, über kritische und genetische Methode, von *Prinzip der Moral und die in der zweiten Auflage hinzugefügte religionsphilosophische Skizze über das Heilige enthalten das Wichtigste für seine Systematik. WINDELBAND vertritt darin eine Philosophie, die er selbst als Kritizismus bezeichnet, und bekennt sich als Anhänger KANTs. Doch haftet er nirgends am Buchstaben, sondern dringt überall zum Geist dieser Lehre vor, der eine freie Weiterbildung nicht nur gestattet, sondern fordert. Am Schluß des Vorworts steht der viel angefochtene und doch durch die Entwicklung des nachkantischen Denkens glänzend bestätigte Satz: "Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen." Man kann hiergegen keinen Widerspruch erheben, sobald man eingesehen hat, daß von einem systematischen Standpunkt aus KANT nicht höher zu preisen ist als durch diese Worte.

Die Präludien bezeichnen sich selbst als Vorstudien für eine systematische Behandlung der Philosophie und als ein Programm der Untersuchungen, die WINDELBAND später auszuführen hoffte. Zunächst war er jedoch noch mit historischen Arbeiten beschäftigt, und das Jahr 1888 brachte seine "Geschichte der alten Philosophie" im Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft. Das Werk war bestimmt, hauptsächlich den Philologen als Lehrbuch zu dienen, ist aber weit davon entfernt, nur zu überliefern. Es gibt eine ganz selbständige Auffassung vieler Teile des griechischen Denens, die, wo sie ihre eigenen Wege ging, dies nur durch knappe Hinweise begründen konnte und deshalb besonders anfangs auch auf starken Widerspruch stieß, sich jedoch immer mehr durchsetzte. Manche Abweichungen von der Tradition, z. B. bei der Behandlung der Pythagoräer, bei der Nebeneinanderstellung von DEMOKRIT und PLATO und bei der Auffassung der hellenistisch-römischen Philosophie, beruhen nicht allein auf historischen Forschungen, sondern auch darauf, daß der Systematiker WINDELBAND die Probleme in neuen Zusammenhängen sah und am Geschichtlichen überall das in den Vordergrund stellte, was davon heute noch lebendig ist. Insofern kann die Schrift als Vorläufer des Buches bezeichnet werden, das bald darauf in Lieferungen zu erscheinen begann und 1892 seinen Abschluß fand: das schon erwähnte "Lehrbuch der Geschichte der Philosophie". Es ist das eigentliche Hauptwerk WINDELBANDs, die Synthese seines historischen und systematischen Denkens, und es gibt vielleicht keine andere Wissenschaft, die ein solches "Lehrbuch" aufzuweisen hat. Es bringt die gesamte Entwicklung des europäischen Philosophierens von den Griechen bis zur Gegenwart in einen nicht allzu umfangreichen Band und leistete damit etwas, was man wahrscheinlich für unmöglich gehalten hätte, ehe es ausgeführt vorlag.

Eine so kurze und trotzdem bis in die letzten Tiefen dringende Darstellung war dadurch allein möglich, daß, ganz im Gegensatz zu KUNO FISCHERs Art, alles Persönliche fortblieb und nur die Geschichte der immer wiederkehrenden Probleme wie ihrer wichtigsten Lösungen gegeben wurde. Die griechische Philosophie nimmt den breitesten Raum ein. Nachdem ihre Kenntnis vorausgesetzt werden darf, ist es möglich, das Folgende als ihre Fortbildung zu verstehen. Besonders wichtig ist die Darstellung des Mittelalters, für das nicht viele brauchbare Vorarbeiten zu benutzen waren. Hier zeigt WINDELBAND eine erstaunliche Beherrschung des großen Stoffes, an der auch die besten Kenner des mittelalterlichen Denkens, die seiner Auffassung zum Teil wenig freundlich gegenüberstaden, sachlich nicht viel auszusetzen wußten, und er glieder die Gedankenmassen so übersichtlich, wie es bisher noch keinem gelungen war. Die Systeme der modernen Philosophie vor KANT werden dann unter den Begriff der Renaissance zusammengefaßt, wodurch dieses Wort eine weitere als die übliche Bedeutung erhält. Aber die Darstellung zeigt eben, daß es sich hier wie im Mittelalter hauptsächlich um eine Verwendung griechischer Begriffe zur Lösung neuer Probleme handelt. Erst mit KANT beginnt das eigentlich moderne Denken, zu dem die Philosophie der Aufklärung hinüberleitet, und die ganze Fülle der durch KANTs Genius angeregten Schöpfungen baut sich nun in großen Zügen vor uns auf. Die neueste zeit endlich brauchte nur kurz dargestellt zu werden, denn prinzipiell Neues enthält sie im Licht von WINDELBANDs Geschichtsauffassung nicht. Ihre Bewegungen sind um den Kampf um die Seele, um die Begriffe Natur und Geschichte und um das Problem der Werte gruppiert.

Was dieses Buch für jeden, der von der Philosophie mehr verlangt als nur Geschichte, vor allem auszeichnet, ist die Geschlossenheit der Gedankenführung, die fast etwas Systematisches hat. Eine Philosophie der Geschichte der Philosophie wird uns hier gegeben, wie sie seit HEGELs epochemachendem Werk nicht wieder geschrieben war. Trotzdem hält WINDELBAND sich von jeder willkürlichen Konstruktion frei. Allen wesentlichen Gedanken von mehr als zwei Jahrtausenden wird ihr selbständiges Recht gewahrt. Hat aber der Leser dieses Werk verstanden, so kann er niemals wieder glauben, es sei die Geschichte des philosophischen Denkens ein zufälliges Aggregat individueller Meinungen, das nur für den Antiquar noch Interesse besitzt. Unter WINDELBANDs Blick wird die ganze Vergangenheit lebendig, und wer sie aus dieser Darstellung kennt, weiß zugleich, worin die wesentlichen Fragen jeder Weltanschauungslehre bestehen. Er ist dann auch nicht mehr in Gefahr, sich von irgendwelchen ephemeren [vorbergehend ohne bleibende Bedeutung - wp] Einfällen der Neuzeit blenden zu lassen. Insofern darf man diese Geschichte als die beste Einführung in die Philosophie bezeichnen, die wir überhaupt besitzen. Sie konnte nur von einem Mann geschrieben werden, der als Systematiker selber fest stand, und dessen Blick doch weit genug reichte, um auch die der eigenen Überzeugung entgegenstehenden Meinungen zu würdigen.

So nimmt das Werk geschichtlich und systematisch-philosophisch eine einzigartige Stellung in unserer Zeit ein. Unter den Historikern kommt, abgesehen von den genannten Hegelianern, nur noch WILHELM DILTHEY als WINDELBAND ebenbürtig in Betracht. Für einige Teile des großen Stoffes verdanken wir ihm sogar vielleicht ein noch reichere Fülle von originellen Einsichten in die historischen Zusammenhänge, und eventuell werden die Schüler dieses feinen Geistes Einzelheiten des WINDELBANDschen Gedankengebäudes modifiziert zu sehen wünschen. Zu einer geschlossenen Gesamtdarstellung aber hat DILTHEY es niemals gebracht, und wo er gar den Ertrag seiner geschichtlichen Forschungen für die Probleme der Gegenwart fruchtbar zu machen sucht, verfällt er in einen Historismus, mit dem kein systematisch gerichteter Kopf sich anfreunden kann. Es wird der Schein erweckt, als sei es mit dem selbständigen, schöpferischen Denken für alle Zeit vorbei, und als hätten wir auf den Lorbeeren der Vergangenheit auszuruhen, indem wir die von ihr geschaffenen Haupttypen der Weltanschauung friedlich nebeneinander stellen. Im Grunde ist der Glaube an ein Ende der Geschichte nicht nur lebensfeindlich, sondern ganz unhistorisch, ja hätte diese resignierte Stimmung immer geherrscht, dann gäbe es auch keine Geschichte der Philosophie. Das ist im Gegensatz zur historischen Geisteshaltung das Herrliche an WINDELBANDs echt geschichtlichem Werk, daß es uns mit der Hoffnung entläßt: so groß wie die Vergangenheit war, wird die Zukunft sein, sobald nur wieder ein Genius erscheint. Es liegen noch unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten vor uns. Was einst gewesen ist, darf sich niemals dem Werdenden hemmend in den Weg stellen.

WINDELBANDs wichtigste geschichtliche Arbeit war mit seinem "Lehrbuch" getan. Trotzdem konnte er das historische Forschen noch nicht aufgeben. Von seiner Darstellung der neueren Philosophie fehlte der dritte Band, der die Entwicklung bis zur Gegenwart behandeln sollte. Das bedeutete eine ebenso schwierige wie interessante Aufgabe, denn eine tief dringende und einheitliche Darstellung dieses Zeitraumes besitzen wir noch nicht. Auch WINDELBAND ist mit ihr nicht zu Ende gekommen, obwohl er viel dafür gearbeitet hat. Zur Geschichte publizierte er nur noch kleinere Bücher. Das wichtigste davon ist sein "Plato", dem er eine auf denkbar intimstem und liebevollstem Verständnis beruhende, höchst eigenartige und zugleich ästhetisch vollendete Darstellung widmete. THEODOR GOMPERZ, ein hervorragender Kenner der alten Philosophie, der aber von seinem positivistischen Standpunkt aus Vieles sehr anders sah als WINDELBAND, hatte an diesem Werk eigentlich nur auszusetzen, daß es "abgeklärt" ist: ersten Eindrücken begegne man allzu selten. Das mag zutreffen, denn WINDELBAND kannte PLATO in der Tat seit einem Menschenalter, und er hatte ihn immer von neuem gelesen, durchdacht und seinen Schülern erläutert. Daher stammt die wundervolle Abgeklärtheit seiner Auffassung, die dieses Buch so wertvoll macht. Erschienen sind ferner noch Vorträge über die Philosophie im Deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts, die er in Frankfurt gehalten hat. Eine Monographie über COMTE, den Begründer des französischen Positivismus, welche für dieselbe Sammlung wie der PLATO bestimmt war, ist nicht mehr zur Veröffentlichung gelangt. WINDELBAND gab nur noch eine Reihe von kürzeren Abhandlungen und Reden zur Geistesgeschichte heraus, die nicht alle aufgezählt zu werden brauchen. Viel beachtet wurde seine Rede über die "Erneuerung des Hegelianismus". Doch versteht man sie völlig falsch, wenn man in ihr eine Änderung seines Standpunktes oder gar ein Bekenntnis zu HEGEL erblickt. Sie ist seinen historishen Schriften zuzurechnen und diesen von WINDELBAND stelbst bei der Aufnahme in die Sammlung seiner Reden und Aufsätze eingeordnet. Er blieb "Kantianer" in dem Sinn, wie er in seinen Präludien sich 1883 als Anhänger KANTs ausgegeben hatte.

Über sein geschichtliches Arbeiten ist endlich noch zu bemerken, daß er sich dabei nicht auf die Philosophie beschränkte. Auch die allgemeine Literatur beherrschte er, und das gehört notwendig zu seinem Werk, denn wenn man auch glauben mag, deutsche "Literaturgeschichte" ohne Kenntnis deutscher Philosophie schreiben zu können, so ist dem Philosophiehistoriker die erstaunliche Fähigkeit versagt, von zwei so innig verknüpften geistigen Bewegungen, wie das deutsche Dichten und das deutsche Denken es sind, die eine völlig abgesondert von der anderen zu verstehen. Literarische Stoffe hat WINDELBAND nur selten für sich behandelt. Zu nennen sind seine Darstellung HÖLDERLINs und ein Vortrag über GOETHEs Faust. Doch schenkte er in seinen philosophiegeschichtlichen Werken auch der deutschen Literaturgeschichte viele Anregungen. Als kleines Musterbeispiel einer Vereinigung philosophischer und literaturhistorischer Betrachtungsweise kann seine Rede "Aus Goethes Philosophie" gelten, die in einzig schöner, dem großen Gegenstand prächtig angepaßter Sprache aus Anlaß des Straßburger Denkmals für den jungen GOETHE 1899 entstand.

Mit dem historischen Forschen ging dauernd die Beschäftigung mit systematischen Problemen Hand in Hand. Unter ihren Ergebnissen ist besonders die berühmt gewordene Rede über "Geschichte und Naturwissenschaft" zu nennen, die WINDELBAND als Rektor der Straßburger Universität 1894 hielt. Man versteht aus seiner geistigen Entwicklung leicht, weshalb sich ihm gerade dieses Problem aufdrängen mußte, auf das er übrigens bereits 1878 im ersten Band seiner "Geschichte der neueren Philosophie" bei der Darstellung LESSINGs hingewiesen hatte. Er zeigt, aß nicht, wie die meisten glauben, der Unterschied von Körper und Geist für die logische Gliederung der Wissenschaften maßgebend sein darf, denn die Psychologie, die das geistige Leben darstellt, ist ihrer logischen Struktur nach eine "Naturwissenschaft" so gut wie die Physiologie. Die wesentliche Differenz der Methoden beruth vielmehr auf dem Gegensatz der sich immer gleichbleibenden Gesetze und der sich fortwährend verändernden Ereignisse, ein Unterschied, dessen Bedeutung dem historischen Sinn der deutschen Romantik nicht entgangen war und den bereits SCHOPENHAUER scharf herausgearbeitet hatte, um die Geschichte als eine "Wissenschaft von Individuen" herabzusetzen. WINDELBAND sucht das Recht des geschichtlichen Denkens, das nicht auf die Formulierung von Gesetzen ausgehen kann, gegenüber der einseitig naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise darzulegen, und er trennt zu diesem Zweck von den "nomothetischen" die "ideographischen" Disziplinen. Der letzte Begriff bezeichnet freilich nur ein Problem, und WINDELBAND hat dessen Lösung, die erst im Begriff einer historischen Kulturwissenschaft zu finden sein dürfte, auch später nicht gegeben. Doch ist die Straßburger Rede mit Recht berühmt geworden, denn sie bietet im engsten Rahmen eminent wichtige und fruchtbare Anregungen.

Einen gleichen Charakter tragen die meisten anderen Arbeiten zur systematischen Philosophie, die darauf noch folgten. Hervorzuheben sind besonders die kleine Schrift "Vom System der Kategorien" (1900), die im Anschluß an LOTZEs Unterscheidung der realen und formalen Bedeutung des Logischen den Gegensatz des Konstitutiven und Reflexiven entwickelt, und die Vorlesungen über "Willensfreiheit" (1904), die WINDELBERG in Heidelberg gehalten hat. Dorthin war er 1903 übergesiedelt, um zunächst neben KUNO FISCHER und dann als dessen Nachfolger zu wirken. Einen besonders glücklichen Gedanken verkörpert die Festschrift, die er zum achtzigsten Geburtstag seines Lehrers unter dem Titel "Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts" im Verein mit einigen seiner Schüler und anderen Gelehrten 1904 herausgab. Sie orientiert über den Stand der philosophischen Disziplinen in einer Reihe von programmatischen Abhandlungen und bietet damit etwas prinzipiell Anderes als die sonst bei solchen Gelegenheiten üblichen Sammelbände, denen es an jeder Einheit zu fehlen pflegt. Wie wenig einseitig andererseits WINDELBAND dabei vorging, zeigt schon äußerlich der Umstand, daß er WILHELM WUNDT veranlaßte, die Psychologie darzustellen, und daß THEODOR LIPPS für die zweite Auflage einen Beitrag über Naturphilosophie lieferte. Die Kapitel über Logik und Geschichte der Philosophie hatte WINDELBAND selbst übernommen.

In Heidelberg schrieb er zur systematischen Philosophie endlich eine Reihe von Abhandlungen für die Sitzungen der Akademie der Wissenschaften und die Zeitschrift "Logos" und gab eine kurze Darstellung der "Prinzipien der Logik" in einem Sammelband. Das einzige umfassendere systematische Werk, das er veröffentlicht hat, war zugleich sein letztes: die "Einleitung in die Philosophie" vom Jahr 1914. Darin nimmt er auch zu den ästhetischen Fragen Stellung, was er in seinen kleineren Arbeiten noch nicht getan hatte. Abgesehen hiervon wird dieses Buch dem Kenner seiner früheren Schriften nicht sehr viel Neues geben. Es ist reich an außerordentlich glücklich ausgewählten historischen Beispielen, geht jedoch in systematischer Hinsicht nicht prinzipiell über den Rahmen des vorher von ihm schon Gesagten hinaus. Die Hauptbedeutung des letzten Werkes besteht darin, daß es den Ertrag von WINDELBANDs Lebensarbeit zusammenfaßt. Es ist eine Ernte. Als er es schrieb, war seine Gesundheit bereits schwer erschüttert. Umfassendere Darstellungen der Logik und Ethik, die er plante, sind nicht mehr zum Abschluß gelangt.


III. Die Lehre

Vom sachlichen Gehalt dieses reichen, durch fünfundvierzig Jahre hindurch unermüdlich und freudig fortgesetzten Schaffens mit wenigen Sätzen ein allgemein verständliches Bild zu geben, ist nicht leicht. WINDELBAND kennt, wie KANT, vier Hauptgruppen von Problemen, die theoretischen oder logischen, die im wesentlichen Wissensfragen sind, die ethischen, die das handelnde Individuum wie die Willensgemeinschaften und die Geschichte betreffen, die ästhetischen, die sich auf das Schöne und die Kunst beziehen, und schließlich die religionsphilosophischen Fragen, die das Heilige und die Wahrheit des Glaubens in den Mittelpunkt stellen. Psychologie und Soziologie rechnet er zu den Spezialwissenschaften, so eng ihre Beziehungen zur Philosophie sein mögen, und eine Metaphysik im alten Sinn gibt es nach KANTs Kritik für ihn auch nicht mehr. Will man sich die allgemeinsten Grundbegriffe seiner Weltanschauung vergegenwärtigen und verstehen, was die vier Teile seiner Philosophie zu Gliedern eines Ganzen macht, so denkt man am Besten wieder an den Gegensatz des Veränderlichen und des Bleibenden, der allen Philosophen wichtig war. Im Anschluß an ihn hat auch WINDELBAND auf dem Boden KANTs, mit Zuhilfenahme des von LOTZE herausgearbeiteten Begriffs der Geltung, das Programm zu dem entworfen, was man heute eine Philosophie der Werte nennt.

Dieses oft mißdeutete Schlagwort haben wir so zu verstehen. Mit der gesamten Sinnenwelt und ihrer wechselnden Mannigfaltigkeit beschäftigen sich die Einzelwissenschaften, die entweder fortwährend den historisch neu gestaltenden einmaligen Verlauf der Ereignisse oder als Naturwissenschaften die sich immer gleichbleibenden Gesetze des körperlichen wie des seelischen Lebens erforschen. Welches Gebiet bleibt hiernach der Philosophie? Eine übersinnliche wandellose Realität, die nach der Meinung der Metaphysiker "dahinter" liegen soll, ist als Objekt der Wissenschaft völlig problematisch, und die moderne Formulierung, zu der die alte Ansicht der großen Dogmatiker verblaßt ist, die Philosophie habe die Resultate der Einzelwissenschaften zu einem einheitlichen Weltbild zusammenzufassen, gibt kein fruchtbares Programm für eine selbständige wissenschaftliche Arbeit. Über das Wirkliche haben uns allein die Einzelwissenschaften zu belehren, die alle seine Teile untersuchen. Der Philosoph setzt sich dem berechtigten Vorwurf des prinzipiellen Dilettantismus aus, wenn er meint, sich in diese Forschung hineinmischen zu dürfen. Das Wirklichkeitsganze bleibt für immer "Idee" im Sinne KANTs, d. h. eine ebenso notwendige wie unlösbare theoretische Aufgabe, und allein als logischen "Wert" haben wir die "Welt" philosophisch zu verstehen. Trotzdem ist WINDELBAND weit davon entfernt, die Wissenschaft auf das Sinnliche und seine Gesetze zu beschränken. Wäre die Gesetzmäßigkeit, welche Naturwissenschaften und Psychologie untersuchen, die einzige, die wir kennen, dann bliebe unser ganzes Dasein ein bedeutungsloses, nichtiges Fließen und Geschehen, in dem nicht allein für das sittliche Wollen oder das künstlerische Fühlen oder das Leben im Göttlichen jeder Platz fehlte, sondern in dem auch die wissenschaftliche Arbeit selbst völlig sinnlos würde. Es gibt außer den Naturgesetzen Normen, die nicht wirklich sind, sondern gelten, und sie allein verleihen unserem Wollen und Fühlen ebenso wie unserem theoretischen Denken den festen Halt. An ihrer überzeitlichen Bedeutung zu zweifeln, führt auf logischem Gebiet zur Absurdität und in den anderen Teilen der Philosophie zu einem unfruchtbaren negativen Dogmatismus. Wir glauben im Leben alle an ein Überindividuelles, das den Einzelnen bindet und verpflichtet. In den gültigen Werten haben wir jene "andere Welt", die schon PLATO suchte, und die jedem Wandel entzogen ist. Sie tritt uns gegenüber als das, was ewig sein soll, ohne sein zu müssen, und indem wir das Geltende in das Wirkliche hineinarbeiten, bekommt unser Dasein einen lebendigen Sinn, der es wahrhaft lebenswert macht.

Die Aufgabe der Philosophie besteht nun darin, eine "Weltanschauung" in der Art zu geben, daß sie uns die Mannigfaltigkeit unseres sinnvollen Lebens einheitlich verstehen lehrt. Überall fragt sie daher nicht so sehr nach der Entstehung der Dinge, sondern nach dem, was sie bedeuten. An die Stele der "genetischen" Methode, die sie den Einzelwissenschaften überläßt, hat die "kritische" Methode zu treten, die wir KANT verdanken. Nicht die Natur ist es dementsprechend, auf die es dem Philosophen in erster Linie ankommt, sondern die Kultur hat er zu begreifen. Indem er durch Logik, Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie die vier großen Kulturgebiete der Wissenschaft, der Sittlichkeit, der Kunst und des Glaubens aufgrund der geltenden Werte des Wahren, Guten, Schönen und Heiligen zu deuten unternimmt, stellt er sich die höchste Aufgabe, welche die Wissenschaft neben der Erforschung der gesamten Wirklichkeit durch die Einzeldisziplinen noch haben kann, und die sie sich zugleich stellen muß. Dem Versuch, zu entscheiden, wie weit der Glaube an gültige Werte, den jeder Mensch durch sein Handeln bezeugt, sich theoretisch begründen und in ein Wissen verwandeln läßt, darf sich keine Philosophie entziehen, die diesen Namen verdient. Erst dadurch erreicht sie eine Weltanschauung. Das also meint der Satz, es sei die Philosophie durch KANT zur kritischen Lehre von den Normen geworden. Unter demselben Gesichtspunkt hat WINDELBAND auch die Vergangenheit betrachtet, so daß seine geschichtlichen Bücher zugleich einen wesentlichen Bestandteil seines systematischen Denkens darstellen. Sie führen den Nachweis, wie wenig seine Bestimmung der Philosophie als willkürlich gelten darf, da sie lediglich das zum klaren Ausdruck bringt, was mehr oder weniger bewußt im Grunde die letzte Absicht aller großen Systeme war.

Sieht man näher zu, so ist diese Auffassung vom Wesen des Philosophierens dem Bewußtsein wenigstens der Neuzeit in der Tat nicht fremd, und wer daher die Philosophie der Werte für einen individuellen Einfall WINDELBANDs hält, verrät damit nur seine Unkenntnis. Schon KANT hatte den Unterschied von quaestio facti und quaestio juris betont, also das Tatsächliche vom Geltenden getrennt und besonders durch den Begriff der "Regel" das normative Moment auch in die theoretische Sphäre eingeführt. Sein "a priori" ist als ein Wirkliches nie zu verstehen. Vollends zeigt KANTs Ideenlehre, wie sich für den großen Kritiker die letzten Probleme der alten metaphysischen Ontologie in Wertprobleme verwandeln. Die übersinnlichen Realitäten werden zu "Aufgaben" der Vernunft. Dementsprechend tritt dann bei FICHTE, KANTs größtem Schüler, eine Philosophie des "Sollens" ganz in den Vordergrund, und ebenso hat SCHILLERs Denken sich im wesentlichen um die Wertprobleme der Kultur gedreht. Andere deutsche Idealisten wie HEGEL lehnten solche Bestrebungen mit Worten freilich ab, aber auch die Lehre vom "objektiven Geist" läßt sich nur als Wertlehre richtig würdigen, und insofern allei ist eine "Erneuerung des Hegelianismus" zu begrüßen. Ausdrücklich wurde dann das Weltproblem von SCHOPENHAUER und NIETZSCHE wieder als Wertproblem gestellt. Nur handelt es sich bei dem einen um eine Wertphilosophie mit negativem Vorzeichen, d. h. es läuft bei SCHOPENHAUER alles darauf hinaus, daß die Welt im tiefsten Grund sinnlos oder gar wertfeindlich ist, und wenn NIETZSCHE von der Lebensverneinung auch wieder zur Lebensbejahung übergeht, so kann doch die wissenschaftliche Philosophie sich auf ein Unternehmen wie die "Umwertung aller Werte" nicht einlassen, weil das Schaffen von neuen Werten Sache des Willens oder der Religion, aber nicht des theoretischen Denkens ist. Die Philosophie wendet sich an den Intellekt und beschränkt sich darauf, das Geltende zu verstehen. Sie knüpft an das an, was den Anspruch erhebt, wertvoll zu sein, und sucht darin das Überindividuelle, Bleibende vom bloß subjektiv Persönlichen und Wechselnden zu scheiden. Das macht ihren "kritischen" Charakter aus, der im Einklang mit den großen Traditionen des deutschen Idealismus steht, und damit tritt sie allem Prophetentum, das sich für Philosophie ausgibt, ebenso entschieden entgegen wie aller spezialwissenschaftlichen Beschränkung auf die faktische Sinnenwelt.

So verstanden liegt WINDELBANDs Auffassung endlich auch manchen Richtungen der Gegenwart, die mit Worten eine Wertlehre ablehnen, weil die den Begriff des geltenden Wertes mißdeuten oder zumindest zu eng, nämlich meist einseitig moralistisch fassen, gar nicht so fern, wie es dem flüchtigen Blick erscheinen kann. Freilich rechnet sie alle "dogmatische" Metaphysik, wie sie heute noch versucht wird, zur vorkantischen Philosophie, und ebenso entschieden wendet sie sich gegen jede Erweiterung einer Spezialwissenschaft zur Weltanschauung, wie sie im Psychologismus oder Historismus [menger/histirr], im Physikalismus oder Biologismus vorliegt. Solche Richtungen sind ja von vornherein zur Enge und Einseitigkeit verurteilt. Vollends lehnt sie jeden Pragmatismus und Utilitarismus ab. Aber mit den wichtigsten philosophischen Bestrebungen der Zeit hat sie viel gemeinsam, wenn man sie nur richtig versteht.

Mit der Schule HERMANN COHENs und NATORPs z. B. verbindet sie nicht allein die Berufung auf KANT und die Ablehnung einer Metaphysik der "Dinge-ansich", sondern auch das Bestreben, zum Ganzen einer Kulturphilosophie zu kommen, sich also nicht etwa auf Erkenntnistheorie zu beschränken, wie andere Kantianer das tun und damit unphilosophisch auf jede umfassende Weltanschauung verzichten. Ebenso besitzt sie zum Denken von THEODOR LIPPS positive Beziehungen, welche dieser selbst in der letzten Zeit seines Lebens mit Nachdruck anerkannt hat. Vollends darf man die Verwandtschaft mit den Bestrebungen HUSSERLs und seiner Anhänger, besonders auf dem Gebiet der Logik, nicht übersehen. HUSSERL weist ausdrücklich auf seine Abhängigkeit von LOTZE hin und sucht ebenfalls den Begriff des "Geltens" weiterzubilden, um damit zu einem Bleibenden zu kommen, das es außer der wechselnden Sinnenwelt gibt. Worin aber besteht das Geltende, wenn nicht in Werten? Ja sogar zu anderen Schülern von FRANZ BRENTANO, wie z. B. zu MEINONG, lassen sich Verbindungslinien ziehen, die umso deutlicher hervortreten werden, je mehr die scholastisch-naturalistischen und psychologistischen Lehren BRENTANOs verschwinden. Auf die Verwandtschaft mit EUCKEN oder mit LIEBMANN oder mit MÜNSTERBERG braucht kaum ausdrücklich hingewiesen zu werden, so sehr deren metaphysischen Tendenzen einer Wertlehre im Sinne WINDELBANDs widerstreiten mögen, und andererseits scheint auch ein "Relativist" wie SIMMEL, falls man sein bewegliches Denken überhaupt in irgendeiner "Richtung" festlegen will, das Bleibende immer mehr in Werten zu suchen. Schon seine "Philosophie des Geldes" ist am Besten als Teil einer umfassenderen Philosophie des Geltens zu verstehen, und ebenso forscht er auf vielen anderen Gebieten weniger nach dem Sein als nach dem Sinn der Erscheinungen oder will den Gehalt oder will den Gehalt im Gegensatz zum Prozeß des Lebens herausarbeiten. Sinn und Gestalt aber sind nur aufgrund von Wertvoraussetzungen verständlich zu machen. Kurz, so einzigartig WINDELBANDs Werk ist, so wenig steht es isoliert und vereinzelt da.

Ist hiernach im Allgemeinen sein Wesen und seine Stellung innerhalb der Philosophie unserer Zeit gekennzeichnet, dann wird man verstehen, welche eine Fülle von Anregungen das von WINDELBAND entworfene Programm all denen geben mußte, die von der Philosophie Aufklärung über die Bedeutung ihres Denkens und Wollens, ihres Fühlens und Glaubens im persönlichen Leben wie in der allgemeinen Kultur erwarten. Freilich ist ausdrücklich auch das zu sagen: es handelt sich bei WINDELBAND in systematischer Hinsicht nur um ein Programm und um Anregungen. Einen bis ins Einzelne durchgeführten, in sich systematisch abgerundeten Aufbau einer umfassenden Weltanschauung, wie in neuerer Zeit LOTZE und HARTMANN, COHEN oder WUNDT ihn geschaffen haben, hinterläßt er nicht, und es wäre falsch, beim Tod dieses Mannes nur von der Größe, nicht auch von einer Grenze seiner Lebensarbeit zu sprechen. Er war viel zu bedeutend, um einer solchen Rücksicht zu bedürfen, ja seine Größe wird erst dann ganz zu messen sein, wenn man auch ihre Grenze kennt.

Es ist bezeichnend für sein Schaffen, daß die systematischen Gedanken, abgesehen von seinem letzten Werk, in lauter kleinen Abhandlungen enthalten sind, die sich auf besondere Probleme beschränken. Das bedeutet mehr als eine Äußerlichkeit. WINDELBAND selbst hat vor wenigen Jahren, im Vorwort zur vierten Auflage der "Präludien" dem Gefühl Ausdruck gegeben, daß zwischen den einzelnen Stücken dieser Sammlung mancherlei Verschiedenheiten bestehen, und Unausgeglichenheiten von solcher Art zeigt seine "Einleitung in die Philosophie" noch stärker, gerade weil sie die Form eines Systems trägt. Hierauf ist zunächst zur Vervollständigung des Bildes anhand einiger Beispiele hinzuweisen, und auch dies haben wir dann aus WINDELBANDs Wesen heraus zu verstehen, um den Charakter seiner Lehre ganz deutlich zu machen.

Schon früh bezeichnete er die Metaphysik als ein "Unding", und doch sind seine eigenen Schriften nicht frei von metaphysischen Bestandteilen. Als einer der ersten verlangte er die Trennung der Psychologie von der Philosophie; trotzdem beruth die Gliederung seiner Lehre auf der traditionell gewordenen psychologischen Dreiteilung des Seelenlebens in Vorstellen, Wollen und Fühlen, die KANT seinem System zugrunde gelegt hat. Das bringt nicht nur die Religionsphilosophie in eine unbefriedigende Stellung, sondern läßt auch die notwendige historische Orientierung, die jede Kulturphilosophie braucht, ebenso wie die Selbständigkeit, die jede philosophische Systematik haben muß, gerade an entscheidender Stelle vermissen. WINDELBAND hat nie die Frage aufgeworfen, ob in KANTs Systematik, die eine Dreiteilung scheint und auf eine Vierteilung hinausläuft, sich die Mannigfaltigkeit des eines sinnvollen Lebens erschöpfend behandeln läßt, oder ob es nicht noch prinzipiell andere Arten von Werten gibt, die eine wahrhaft umfassende Deutung des Lebenssinnes nicht vernachlässigen darf. Der Entwurf zum System der Kategorien enthält ferner die Auffassung der Kausalität, die, wie KANTs Lehre, noch zu einseitig naturwissenschaftlich ist, um mit der Einteilung in "nomothetische" und "idiographische" Disziplinen vereinbar zu sein, und andererseits legt der von WINDELBAND in seiner Rektoratsrede betonte Gegensatz von Gesetz und "Gestalt" zumindest das Mißverständnis nahe, als werde von ihm die Geschichte mehr als künstlerische Anschauung denn als Wissenschaft bestimmt, wie das ja oft geschehen ist. In einer späteren Abhandlung hat er dann die von mir versuchte rein logische Lösung des Problems, die auf dem Unterschied von wertfreier generalisierender und wertbeziehender individualisierender Begriffsbildung in den Kulturwissenschaften beruth, zwar ausdrücklich akzeptiert, aber trotzdem "aus prinzipiellen Gründen" die frühere Rede unverändert gelassen. Und ebenso finden wir noch manche Bestandteile älterer Systeme bei ihm bewahrt, die nicht recht zum Ganzen einer Philosophie in seinem Sinn passen wollen.

Besonders auffallend war es, um nur dies noch zu erwähnen, daß er in seiner "Einleitung" alle philosophischen Probleme in theoretische und axiologische oder in Wissensfragen und Wertfragen gliederte und damit dem Herkommen ein Zugeständnis machte, welches auf dem Standpunkt einer konsequent und einheitlich durchgeführten kritischen Wertlehre geradezu unerträglich erscheinen muß, denn dadurch wird der Anschein erweckt, als seien die theoretischen Probleme nicht ebenso Wertfragen wie die ethischen, ästhetischen und religionsphilosophischen. Trifft das zu, dann fehlt dem ganzen Gebäude das wissenschaftliche Fundament. Muß denn nicht gerade eine Einleitung in die Philosophie der Werte den Charakter der Wissensfragen als Wertfragen, der logischen Probleme als axiologischer Probleme betonen und so den Begriff des Wertes theoretisch an die Spitze stellen? Dadurch allein wird doch der Begriff des vom Subjekt unabhängigen, "objektiv" geltenden Sollens auch für den wissenschaftlichen Menschen zwingend. WINDELBAND bringt in seinem letzten Buch die theoretische Wertphilosophie mit dem "Pragmatismus" in Verindung, den er bekämpft, und eine klare Entscheidung über das Verhältnis der Wissensfragen zu den Wertfragen suchen wir in seinem einzigen umfassenderen systematischen Werk vergeblich.

Ich hebe diese Mängel mit voller Schärfe hervor, nicht um Kritik zu üben, denn die gehört nicht an diese Stelle, sondern um zu zeigen, daß das, was von einem systematischen Standpunkt aus unbefriedigend bleibt, mit der Größe WINDELBANDs im engsten Zusammenhang steht. Fast durchweg nämlich lassen die Unausgeglichenheiten und Widersprüche sich aus der Tendenz verstehen, soviel wie möglich aus der großen Vergangenheit der Philosophie in die Gegenwart hinüber zu retten. WINDELBAND mochte die Psychologie und die ontologische Metaphysik, die durch zwei Jahrtausende als besonders wichtige Glieder der Philosophie gegolten hatten, auch nach der Aufteilung des Wirklichen an die Spezialwissenschaften nicht ganz aus der philosophischen Domäne verbannen. Er konnte sich von KANTs Identifizierung der Kausalität mit der Gesetzlichkeit nicht trennen, weil zu allen Zeiten der Begriff des Naturgesetzes, wo man ihn nur ahnte, eine der besten geistigen Waffen gewesen war, um den flachen Empirismus und den zersetzenden Relativismus zu bekämpfen. Die "Notwendigkeit" der Kausalität schien ihm bedroht, wenn sie nicht die Notwendigkeit des Naturgesetzes einschloß. Auch wo es galt, die logische Struktur der Geschichtswissenschaften aufzudecken, wollte er den ästhetischen Zauber nicht ignorieren, der auf den großen historischen Darstellungen aller Zeiten ruht, und sprach von "Gestalt" im Gegensatz zu Gesetz, wo gerade der Anschein, als sei der Historiker der Anschauung hingegeben wie der Künstler, am sorgfältigsten abzuweisen war, weil alles auf die logische Struktur des historischen Begriffs ankam, der im Gegensatz zur anschaulichen Gestalt steht. Er konnte sich endlich nicht entschließen, die "klassische" Einteilung der philosophischen Probleme in Fragen der Theorie und des Werthaften, die ARISTOTELES vertreten hatte, radikal über Bord zu werden, weil in ihr zugleich das tief berechtigte Motiv steck, das allem einseitigen "Voluntarismus" gegenüber geltend zu machen ist. Der altehrwürdige griechische "Intellektualismus" brach daher bei ihm an einer Stelle durch, wo er eine der größten Errungenschaften KANTs, die Einsicht in den "Primat des Praktischen", zu gefährden drohte. Und so suchte er noch manches Alte zu stützen, das fallen mußte und fallen wird.

Wohl ist dieses Bestreben teilweise auch in WINDELBANDs persönlichem Wesen begründet, das, allem Radikalismus abhold und im besten Sinn des Wortes "konservativ", das Herkommen zu bewahren suchte, wo es nur irgendwie ging. Aber das sachliche Wesentliche ist doch dies, daß zwischen historischem und systematischen Denken ein Antagonismus besteht, den auch WINDELBAND nicht zu überwinden vermochte, obwohl es sehr wenige Gelehrte gegeben hat, die in so hohem Maß wie er zugleich Geschichtsforscher und selbständige philosophische Denker waren. Die Weite des Blickes, die der Historiker nicht entbehren kann, wir das restlose Aufgehen in einem streng geschlossenen Gedankenzusammenhang vielleicht immer als unerträgliche Verengung des Horizontes empfinden. WINDELBAND sah zu deutlich das relative Recht all der verschiedenen in der Geschichte hervorgetretenen Motive und die Wandelbarkeit aller Geistesgebilde, um das absolute Unrecht der Vergangenheit in einem fertigen System zu behaupten. Der Systematiker muß nun einmal "intolerant" sein, und das widerstreitet dem Wesen des Historikers, der, um mit RANKE zu reden, nicht das Frühere zugunsten des Späteren "mediatisieren" darf.

Wir berühren also damit wieder das Problem, von dem wir bei WINDELBANDs Herkunft ausgegangen sind, den Antagonismus von zeitlicher Entwicklung und überzeitlicher Vollendung, und wir verstehen von hier aus, warum der große Historiker der Philosophie ein fertiges System nicht haben konnte. Die Philosophie ist eine Wissenschaft, und keine Wissenschaft darf hoffen, jemals mit ihrer Arbeit zu Ende zu kommen. Zugleich wird aber der Systematiker der Philosophie stets nach einem Ende und Abschluß streben, und ihm bleibt daher gar nichts anderes übrig, als es zu ignorieren, daß er ein historisch bedingtes Individuum ist. Er muß die Geschichte gerade dann vergessen können, wenn er selbst Geschichte machen will. Dem Historiker ist ein solches Vergessen für immer versagt, und falls er wie WINDELBAND zugleich nach einem System sucht, wird er daher umso notwendiger bei etwas Unabgeschlossenem und Unfertigem stehen bleiben, je größer er als Historiker ist.


IV. Der Lehrer

Bei WINDELBAND haben wir umso weniger Grund, über Unabgeschlossenheit zu klagen, als er gerade durch seine Stellung zwischen Geschichte und Systematik das wurde, was die Zeit brauchte, und das ist doch wohl das Beste, was wir von einem Mann sagen können: er hat an seiner Stelle getan, was kein anderer so gut wie er zu vollbringen vermochte. WINDELBAND ist aus der Entwicklung der neuesten deutschen Philosophie nicht fortzudenken, und um ganz zu verstehen, was das bedeutet, müssen wir endlich auch noch wissen, was er als Lehrer war. Das läßt sich am besten wieder unter demselben Gesichtspunkt sagen, der uns bei der Darstellung seiner Lehre geleitet hat. Nur ein Historiker von seiner Art konnte seine Schüler mit sicherer hand aus einem vorwiegend geschichtlichen Jahrhundert wie dem neunzehnten in eine Zeit des systematisch-philosophischen Denkens hinüberführen, die wir von der Zukunft erhoffen.

Zunächst aber ist bei der Frage nach seiner Wirksamkeit einiges Tatsächliches zu konstatieren. WINDELBAND, der eine durchaus kontemplative Natur besaß, dem alles Agitatorische, ja jede "Öffentlichkeit" widerstrebte, hat trotzdem auf weite Kreise einen starken Einfluß ausgeübt. Das zeigt schon die Verbreitung seiner Schriften. Denkt man daran, daß besonders sein Lehrbuch der Geschichte der Philosophie wahrlich keine "bequeme" Lektüre ist, sondern allein wegen der ungewöhnlichen Gedrängtheit der Darstellung intensive und ernste Arbeit erfordert, wenn man sich seinen Inhalt zu eigen machen will, so ist sein äußerer Erfolg auffallend groß. Es liegt in sechs starken Auflagen vor, und die letzten sind schneller aufeinander gefolgt als die ersten. Die "Präludien", die später in zwei Bänden erschienen, mußten fünfmal gedruckt werden, und ebenso hat die zweibändige Geschichte der neueren Philosophie es zu fünf Auflage gebracht. Da WINDELBAND sich nicht entschließen konnte, allzuviel Zeit auf die Bearbeitung älterer Werke zu verwenden, überließ er die Besorgung der dritten Auflage seiner Geschichte der alten Philosophie einem anderen Gelehrten, und gerade diese Bearbeitung durch BONHÖFFER zeigt am deutlichsten, welche fruchtbaren Anregungen sein Forschen gegeben hat. Daß sein PLATO viel gelesen worden ist, versteht sich bei der wundervollen Form dieses Buches von selbst.

So dürfte WINDELBAND zu den am meist gelesenen streng wissenschaftlichen Philosophen unserer Zeit gehören. Er gab ihr tiefe Gedanken in kristallklarer Form, die sie dankbar aufnahm, und dieselben Eigenschaften zeichneten auch die Vorträge aus, die er gern und oft außerhalb der Universität für weitere Kreise hielt. Hier kam außerdem noch das künstlerische Element, das in ihm steckte, in der Schönheit der Sprache und in einem bisweilen dichterischen Schwung des Vortrags in besonders glänzender Weise zum Ausdruck, und er hat damit seine zahlreichen Zuhörer nicht nur belehrt und geklärt, sondern zugleich entzückt und erhoben.

Auch in mehrere fremde Sprachen sind seine Hauptwerke übersetzt. Sie haben im Ausland einen ebenso großen Erfolg in weiteren Kreisen gehabt wie das selbständige wissenschaftliche Denken fremder Forscher stark beeinflußt. WINDELBAND wurde immer mehr der Lehrer des deutschen Idealismus für einen großen Teil der gebildeten europäischen Welt. Wir werden ihn daher besonders schwer vermissen, wenn nach dem Krieg die philosophischen Köpfe unter den Franzosen, Engländern und auch den Russen aus der Betäubung erwachen, die jetzt ihren Verstand umnebelt, und sie wieder anfangen, der Stimme der theoretischen Vernunft Gehör zu schenken. Verdankt auch in der Philosophie nach LEIBNIZ und KANT das Ausland den deutschen Denkern viel mehr, als wir von anderen Völkern lernen konnten, die ihre philosophische Blüte in früheren Jahrhunderten erreichten, so wollen und dürfen wir doch den Gedankenaustausch mit den fremden Nationen auf die Dauer nicht entbehren. Das wissenschaftliche Denken ist im innersten Kern bedroht, wenn es nicht auch eine übernationale Sprache redet. Das wäre keine echte Philosophie, die nur von Deutschen verstanden wird. Die Griechen müssen uns dies lehren, falls jemand es bezweifeln sollte. Was sie waren, wollen auch wir werden: Schöpfer eines Menschheits-Idealismus, und dazu brauchen wir eine lebendige Wechselbeziehung zum außerdeutschen Geist. WINDELBAND, dessen Stimme so weithin klang, wäre für die internationale Verständigung auf philosophischem Gebiet der geborene Vermittler gewesen.

Der Beliebtheit und Verbreitung seiner Schriften entsprach der Erfolg seiner akademischen Lehrtätigkeit, die sich besonders in Heidelberg imposant gestaltete. Dort hatte KUNO FISCHER eine gute Tradition geschaffen, aber es war gar nicht leicht, sein Nachfolger auf dem Katheder zu sein. Er verfügte über blendende äußere Mittel. Eine großartige Geste und eine mächtig dahinrollende Rhetorik verliehen seinen Vorlesungen eine geradezu dramatische Lebendigkeit, und sein prachtvolles, künstlerisch geschultes Organ gab, zumal beim Rezitieren von Versen, den Studenten einen ästhetitschen Genuß, der auch die zu fesseln vermochte, die vom philosophischen Gehalt wenig verstanden. Von solchen außerwissenschaftlichen Reizen war WINDELBANDs Kolleg frei. Seine Stimme klang etwas spröde, und jedes Pathos lag ihm im Auditorium fern. Sein Vortrag besaß bei aller Unmittelbarkeit und Frische etwas Zurückhaltendes und Kühles, und von den künstlerischen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, machte er vor den Studenten nur selten Gebrauch. Hier wirkte er allein durch die Sache, die er mit vollendeter Klarheit, souveränder Beherrschung des Stoffes und unvergleichlicher Gliederung des Gedankenaufbaus vortrug. Nur wer wissenschaftlich etwas lernen wollte, hatte Veranlassung, in sein Kolleg zu gehen, und trotzdem kamen die Studenten zu ihm wie zu KUNO FISCHER in großen Scharen.

Der Grund war: er gab ihnen in einer Zeit, die philosophisch lebhaft interessiert ist, aber kein die Geister beherrschendes System der Philosophie hervorgebracht hat, mit pädagogischer Meisterschaft einen Einblick in die Welten des griechischen und des deutschen Idealismus und damit etwas, was für das ganze Leben jedes ernsten wissenschaftlichen Menschen etwas unendlich Wichtiges, Großes bedeuten mußte. Besonders ist an seiner Lehrwirksamkeit auch das hervorzuheben, was seine Kollegen bei den Studenten davon merkten, und was EDUARD SCHWARTZ, der jahrelang mit WINDELBAND in Straßburg dozierte, also hierüber Erfahrungen besitzt, mit den Worten zum Ausdruck gebracht hat:
    "Nichts lag ihm ferner, als die jungen Brauseköpfe hinauszulocken aus ihren Grenzen in die gefährlichen Nebel abstrakter Allgemeinheit; die geistige Kraft, die er verlieh, sollte sie stählen zur strengen Arbeit in der Einzelwissenschaft. Immer wieder haben wir alle an unseren eigenen Schülern den Segen seiner Zucht empfunden, seiner Fähigkeit, die jugendlichen Geister aufzulockern und zur Selbstbesinnung zu bringen."
Daß dieser überragende Historiker und Lehrer nur an kleineren und mittleren Universitäten Süddeutschlands wirkte, war für diese zwar ein beneidenswertes Glück, aber daß man ihm in Berlin weder den Lehrstuhl ZELLERs noch den DILTHEYs angeboten hat, liegt die Frage nahe, ob die Berufungen nach der Reichshauptstadt stets aus rein sachlichen Gründen erfolgen. Über die Rangordnung von Systematikern wird man vielleicht immer streiten. Über den Platz, der WINDELBAND unter den Historikern der Philosophie gebührt, kann ein ernsthafter Zweifel nicht bestehen und ist auch wohl nie von einem Urteilsfähigen geäußert worden.

Doch war es im Grunde genommen gleichgültig, wo er wirkte. Das Wichtigste bei der Beurteilung seiner Lehrtätigkeit ist der Einfluß, den er auf diejenigen gehabt hat, die durch ihn angeregt selbständig weiter arbeiteten. Sie suchten ihn dort auf, wo er zu finden war. Auch ihre Zahl ist verhältnismäßig recht groß, und, was besonders hervorgehoben werden muß, die Ausbildung seiner Gedanken erfolgte in verschiedenen, zum Teil voneinander stark abweichenden Richtungen. Historisch haben in seinem Sinn leider nur wenige wie PAUL HENSEL und später OTTO BAENSCH oder GEORG MEHLIS weitergearbeitet, aber systematisch knüpfen viele Denker in der mannigfaltigsten Weise an ihn an, und auch auf Einzelforscher wie die Juristen JELLINEK und BINDER, den Historiker FESTER, die Nationalökonomen SCHULZE-GÄVERNITZ und MAX WEBER und den Theologen TROELTSCH hat sich sein Einfluß erstreckt. Man spricht von einer Schule WINDELBANDs, und das mit Recht, denn er hat viele Schüler gehabt. Aber das Wort "Schule" muß mit Vorsicht gebraucht werden, weil es in gewisser Hinsicht zu wenig sagt. Versteht man darunter eine Gemeinschaft, deren Mitglieder bestimmte Lehren unverändert übernehmen und nur in Einzelheiten ausarbeiten, so kann von einer Schulbildung durch WINDELBAND nicht geredet werden. Er hat seinen Schülern viel mehr gegeben und ist deshalb als Lehrer so bedeutsam gewesen.

Ich darf mich seit dreißig Jahren seinen Schüler nennen und habe bis heute nicht aufgehört, von ihm zu lernen, aber ich bin trotzdem niemals mit allem restlos einverstanden gewesen, was er systematisch gelehrt und geschrieben hat. Ebenso gestaltete sich das Verhältnis zwischen ihm und LASK, auf den er die größten Hoffnungen setzte, und der, wie alle meine Schüler, selbstverständlich auch ein Schüler WINDELBANDs genannt werden muß, von ihm aber in noch wesentlicheren Punkten abwich. Und nicht viel anders haben noch manche von seinen und meinen Schülern sachlich zu ihm gestanden. So ging z. B. CHRISTIANSEN auf ästhetischem Gebiet ganz selbständig vor und sucht neuerdings nach Metaphysik. RICHARD KRONERs feine und tiefe Studie über KANTs Weltanschauung wurzelt in WINDELBANDs Auffassung, kommt aber zu Ergebnissen, denen er seine volle Zustimmung wohl versagt hätte. BRUNO BAUCH zeigt, daß sie "Marburger" Anregungen sehr gut mit "südwestdeutschem" Denken vereinigen lassen, und FRIEDRICH KUNTZE fand von hier aus den Weg erst zu HUSSERL, dann zu RIEHL. Vollends darf man Männer wie MÜNSTERBERG oder JONAS COHN, obwohl auch sie ohne WINDELBAND nur schwer zu denken sind, nicht zu seiner "Schule" rechnen, und ebenso zeigen sich JULIUS EBBINGHAUS, FRITZ MEDICUS, FRIEDRICH ALFRED SCHMID und LEOPOLD ZIEGLER von ihm beeinflußt, ohne darum seine Anhänger zu sein. Man konnte seine Philosophie gar nicht als ein "Dogma" übernehmen, da er selbst ein fertiges Dogma nicht besaß. Doch gerade weil er kein bereits abgeschlossenes und ausgearbeitetes System lehrte, hat er uns allen so außerordentlich viel gegeben, und das möchte ich zum Schluß noch recht einleuchtend machen. Zu diesem Zweck muß ich auch von einem seiner Schüler etwas mehr sagen, da ein Schüler notwendig zu einem Lehrer gehört und ich wähle als Beispiel den Schüler, über dessen Beeinflussung durch WINDELBAND ich wohl am Besten unterrichtet bin.

Als ich vor dreißig Jahren zu ihm kam, schien mir die wissenschaftliche Philosophie der Zeit nicht allzu begeisternd. Ein packendes System, das mich in seinen Bann gezogen hätte, fand ich hier nicht. Nach mancherlei vergeblichen Versuchen, mich an einen Denker anzuschließen, bei dem es nicht nur etwas zu lernen gab, sondern unter dessen Leitung ich auch selbständig arbeiten konnte, hatte mir noch am meisten der englische Positivismus des 18. Jahrhundert und seine Vertretung in unserer Zeit zugesagt. Doch bald sah ich mich in den allgemeinen Relativismus verstrickt, der sich als einzige wirkliche Konsequenz dieser Gedankenrichtung ergibt, und da ich schließlich auch die logischen Normen und Werte vom wertenden Individuum abhängig machte, löste sich mir alles Philosophie, ja alles theoretische Denken in Nichts auf. Die Geschichte der menschlichen Irrtümer zu durchschauen, erschien mir als die allein noch lohnende Aufgabe.

In dieser Stimmung ging ich zum Historiker WINDELBAND, der damals in der Blüte seines Schaffens lebte. Da wurde mir kein System angeboten oder gar aufgedrängt, und das war gut, denn mit einer solchen, von außen kommenden Gabe hätte ich in meiner "skeptischen" Geistesverfassung nichts anzufangen gewußt. Da hatte ich mich vielmehr in die Denker der Vergangenheit zu vertiefen, und sowohl im Kolleg als auch im Seminar erschloß sich mir nun eine reiche Welt, an die ich nicht etwa glauben sollte, sondern die es lediglich zu verstehen galt. Da fühlte ich einen festen philosophischen Boden unter den Füßen. Bald stand nicht mehr ein Gewirr von individuellen und einander widersprechenden Meinungen vor mir, sondern die verschiedenen Gedankengebilde der Geschichte schlossen sich zu einer großen Symphonie zusammen, und immer klarer hoben sich allmählich bestimmte leitende Motive heraus. Was mir vorher als "neueste" Weisheit der Zeit angeboten war, sah ich in früheren Jahrhunderten viel umfassender und tiefer ausgeführt und zum größten Teil in späteren Jahrhunderten längst widerlegt. KANT, den ich bis dahin für einen "überwundenen Standpunkt" gehalten hatte, lernte ich jetzt kennen, und zwar nicht als einen Denker, dessen Resultate man einfach übernehmen konnte, sondern als den Schöpfer von Werken, in denen alles Wesentliche, was die Vorwelt dachte, zu einem Gebilde von unerhörter Kühnheit und Originalität verarbeitet war, und dessen neue Ideen man sich jedenfalls erst einmal zu eigen gemacht haben mußte, wenn man nicht, wie so viele der angeblich "Modernsten", in irgendwelchen Theoremen früherer Jahrhunderte stecken bleiben wollte.

Dabei nahm ich dann, ohne daß mir das zuerst ausdrücklich zu Bewußtsein kam, auch vieles von den systematischen Überzeugungen meines Lehrers in mich auf, denn sie erschienen mir als das selbstverständliche Ergebnis der bisherigen geschichtlichen Entwicklung. Es war nicht eine Philosophie, die hier vorgetragen wurde, sondern die europäische Philosophie in ihrer Totalität, und alles, was mir früher in seiner Vereinzelung nahegetreten war, begriff ich nun, mit Einschluß meines eigenen Relativismus und Skeptizismus, als Glied eines umfassenden Ganzen und kam so am sichersten darüber hinaus. Das Ganze bedeutete mir viel mehr als ein System, und es konnte mir nur gegeben werden von einem Mann, der zwar selber fest stand, aber gar nicht darauf ausging, seine Gedanken so abzuschließen, daß sie nicht auch Raum für eine weitere Entwicklung geboten hätten. Deshalb fand ich in WINDELBAND den Lehrer, den ich suchte. Hier gab es nicht nur etwas zu lernen, sondern hier wurde das Gelernte zugleich zum Material für die eigene Tätigkeit.

Ich habe von mir selbst gesprochen, da ich so am Besten deutlich und lebendig machen konnte, was ich meine. Aber nur weil, wie ich glaube, mein eigenes Erlebnis typisch ist für eine Zeit, die nach Weltanschauung sucht, ohne sie in wissenschaftlicher Form zu besitzen, gehört das Persönliche in diese Darstellung, die WINDELBANDs Bedeutung auch als Lehrer seiner Zeit würdigen möchte. Er war darin einzigartig in demselben Sinn, wie sein "Lehrbuch der Geschichte der Philosophie" und seine Präludien einzigartig sind: er gab die Geschichte als System, die Vergangenheit, die in die Zukunft weist. Gewiß ist das nicht das Letzte. Es soll und muß wieder zu Systemen kommen, die nur nach dem Übergeschichtlichen streben. Aber aus den Tiefen einer Zeit völliger philosophischer Zerfahrenheit, die jede Fühlung mit der großen Vorwelt verloren hatte, ja vielfach geneigt war, der Philosophie die Existenzberechtigung abzusprechen, führte der sicherste Weg hinauf, wenn man Geschichte in der Art trieb, wie WINDELBAND sie lehrte. Deshalb gibt es nur sehr wenige Denker, denen die Zeit für die Förderung der wissenschaftlichen Philosophie soviel Dank schuldet wie ihm.

Freilich nicht allen hat er als Lehrer zugesagt. Manche verließen ihn enttäuscht, und in gewisser Hinsicht war er in der Tat nicht das, was man einen "Lehrer" nennt. Wie sein Vortrag bei aller Frische und Lebendigkeit kühl anmutete, so wirkte er auch im Verkehr mit seinen Schülern zurückhaltend und dachte nicht daran, die Studenten persönlich anzupacken und so in seine Kreise hinein zwingen zu wollen. Er breitete freigiebig seine reichen Schätze vor ihnen aus und stellte es ihnen anheim, sich davon das zu wählen, was sie brauchen konnten. Daher stammte die Enttäuschung und die Unzufriedenheit bei manchen. Auch denen, die bei ihm arbeiteten, um ihr Doktorexamen zu machen, drängte er niemals irgendetwas auf. Höchstens schlug er ihnen ein Thema vor, bei dessen Behandlung durch einen verständigen und fleißigen Mann, wie er annehmen durfte, etwas Brauchbares herauskommen konnte. Doch dann überließ er seine Doktoranden meist ihrem Schicksal, und sie mußten zusehen, wie sie mit ihrer Arbeit fertig wurden. Unter den Dissertationen, die so entstanden sind, befinden sich dann neben ausgezeichneten, den Durchschnitt weit überragenden Schriften auch herzlich schwache Leistungen, die ein weniger toleranter Lehrer vielleicht nicht durchgelassen hätte.

Für alle aber, die selbständig arbeiten wollten und konnten, war gerade WINDELBANDs Art zu lehren die größte Wohltat. Er versetzte seine Schüler in die Atmosphäre, in der sie ihre Kräfte zu entfalten vermochten, wenn irgendetwas in ihnen steckte. Indem er ihnen die große Vergangenheit lebendig machte, sorgte er am Besten für einen gedeihlichen Fortschritt des wissenschaftlichen Philosophierens. er führte die jungen Männer an die Probleme der Philosophie heran, die immer wiederkehren und immer zu neuer Behandlung reizen. Auf diese Weise befreite er sie am sichersten von den Moden des Tages und faßte das Große, das einmal war, zusammen, um es darzubieten als Stoff für die neue Philosophie, die in der Zukunft entstehen sollte. Gerade als ein Historiker, der jeden Historismus und Relativismus bekämpfte, lehrte er das bloß Geschichtliche vom Übergeschichtlichen zu trennen, ohne seine Schüler damit auf irgendein Dogma festzulegen.

Trotzdem er so als Lehrer ebenso wie als Mann der Wissenschaft weitherzig und jedem Fanatismus abhold war, hatte er heftige Gegner, und sogar nach seinem Tod noch hat man ihm Unduldsamkeit gerade in seiner Lehrtätigkeit vorgeworfen: er habe seinen Schülern eine unberechtigte Geringschätzung der experimentellen Psychologie übermittelt! In dieser Form ist der Vorwurf völlig ungerechtfertigt. Aber das ist allerdings richtig: WINDELBANDs Duldsamkeit ging nicht so weit, daß sie zur Schwäche oder Indolenz [Gleichgültigkeit - wp] gegenüber anti-philosophischen Bestrebungen geworden wäre, und seine Stellung zur experimentellen Psychologie sei hier ebenfalls noch gestreift, weil sie für seine Auffassung von den Pflichten, die er als akademischer Lehrer hatte, sehr charakteristisch ist.

Diese Disziplin ging ihn als eine Spezialwissenschaft nicht mehr an als Biologie oder Physik, und niemals ist es ihm in den Sinn gekommen, irgendwelche Einzelforschungen ernster Art gering zu schätzen oder gar diese Geringschätzung seinen Schülern beizubringen. Wer das glaubt, weiß nichts von seinem Wesen. Wohl aber erfüllte es ihn mit schwerer Sorge, wenn er sah, wie an den Universitäten die Lehrstühle der Philosophie mit Spezialisten besetzt wurden, und es war einfach seine Pflicht, als Hüter seiner Wissenschaft hiergegen mit seinem allbekannten Namen energisch zu protestieren. Hat er doch auch die "Kantphilologen" nicht geschont, wenn sie über der Philologie die Philosophie vergaßen. In dem nur allzu berechtigten Unmut, der ihn erfüllte, sprach er gewiß hie und da manches recht scharfe Wort, das so gedeutet worden ist, als wollte er nicht nur die anti-philosophischen Tendenzen mancher Psychologen, sondern die experimentelle Psychologie selber treffen. Aber man sollte doch verstehen, wie sehr das anmaßende Gebaren kleiner Spezialisten, die, weil sie Philosophieprofessoren sind, "auch" Philosophie dozieren, ihn reizen mußte. In allem wesentlichen war seine Haltung in dieser Sache unanfechtbar, und er stand mit ihr wahrlich nicht allein. Männer, bei denen von einer Beeinflussung durch ihn gar keine Rede sein kann, wie EUCKEN, HUSSERL, NATORP und RIEHL, haben sich gern mit ihm zusammengetan, um die Verdrängung der Philosophie von den Kathedern der Universitäten zu bekämpfen und eine große Zahl von Denkern der verschiedensten Richtungen, darunter auch solche, die selber experimentell-psychologisch tätig sind, ist ihnen gefolgt. Daß ein so toleranter und weitblickender Mann wie WINDELBAND gegenüber der experimentellen "Philosophie" die Geduld verlor, sollte auch diejenigen stutzig machen und nachdenklich stimmen, welche die aus der Vermengung von Philosophie und empirischer Psychologie entstehende Gefahr für die Vertretung der wissenschaftlichen Anschauungslehre an unseren Universitäten noch immer nicht sehen wollen.

Es bleibt also dabei: für jedes echt philosophische Streben hatte WINDELBAND das entgegenkommendste und weitgehendste Verständnis. Jene Unduldsamkeit, in welche der Systematiker dem Wesen der Sache nach leicht verfällt, lag ihm völlig fern. Von der Grenze, die seiner Systematik gezogen war, wird so von Neuem seine Größe auch als Lehrer deutlich. Gegen antiphilosophisches Spezialistentum hat er rücksichtslos in seiner Jugend wie in seinem Alter gekämpft. Jedem aber, der ernsthaft nach philosophischer Einsicht strebte, war er ein helfender Freund, und für das, was er uns gegeben hat, können wir alle, die von ihm lernen durften, ihm gar nicht dankbar genug sein. Sein Geist wird in uns fortleben, nicht in der Gestalt eines starren Systems, sondern als bewegliche Fülle tiefgehender Anregungen, die jeder nach seiner Individualität und Begabung zu verarbeiten hat, und diesen seinen Geist wollen wir, die wir selber Lehrer geworden sind, in unseren Schülern immer wieder von neuem lebendig zu machen suchen, so daß er nie sterben kann. Das bedeutet unendlich viel mehr als eine "Schule", deren Mitglieder auf die Worte ihres Meisters schwören. Uns selber ein solches Versprechen abzulegen, ist das Beste, was wir an seinem frischen Grab in dankbarer treuer Verehrung tun können.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband, Tübingen 1915