p-4tb-1J. VolkeltE. DürrDescartesR.RichterE. Dubois-ReymondM.Verworn    
 
WILHELM WINDELBAND
Über die
Gewißheit der Erkenntnis

[eine psychologisch-erkenntnistheoretische Studie]
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"Betrachtet man diejenigen Epochen genauer, mit denen Perioden eingetreten sind, welche wir als speziell philosophisch bezeichnen dürfen, so fällt es in die Augen, wie das besondere Interesse sich der Philosophie immer zu solchen Zeiten zugewendet hat, wo auf irgendeine Weise der ganze Wert der bisherigen Forschungen in Frage gestellt und der Zweifel an der Gewißheit dieser Erkenntnise in größerer oder geringerer Ausdehnung geltend gemacht worden war."

"Die Intellektualisierung der Anschauungstätigkeit, ist Resultat der nun wohl von keiner Seite mehr anzuzweifelnden Tatsache, daß nicht nur die sogenannten Eigenschaften der Dinge Bestimmungen sind, deren sinnliche Qualitäten lediglich den spezifischen Energien unserer Sinnesorgane angehören, sondern auch, daß von der unmittelbaren Empfindung eines Gegenstandes keineswegs mehr die Rede sein kann, vielmehr die Vorstellung eines solchen überhaupt erst durch die in der Empfindung unbewußt tätige Anwendung der Verstandesfunktionen zustande kommt."

"Die ganze logische Bewegung beruth auf einer Fragetätigkeit, und diese Fragetätigkeit läßt sich immer darauf zurückführen, daß die Seele nach einer Vereinigung zweier oder mehrerer Vorstellungen hinstrebt. Während also die Form des Prozesses die logische ist, muß der ganze Prozeß selbst als solcher psychologisch aufgefaßt werden. Hier liegen die Grenzen der formalen Logik: sie erklärt, wie wir denken, aber nicht daß wir denken. Wir könnten hinzufügen, sie erklärt auch nicht was wir denken. Wenn man den Vorgang des Denkens als eine Bewegung auffaßt, so hat es die Logik weder mit dem Bewegten, noch mit dem Grund der Bewegung, sondern lediglich mit der Form derselben zu tun."



Vorwort

Eine Reihe persönlicher Umstände hat das Erscheinen dieser seit fast einem Jahr druckfertigen Schrift sehr zum Bedauern ihres Verfassers so lange verzögert, daß derselbe an seinem Recht zu dieser Veröffentlichung beinahe zweifelhaft geworden ist. Denn die folgenden Untersuchungen können weder, noch sollen sie den Anspruch erheben, eine Lösung des darin behandelten Problems auch nur zu versuchen; sie wollen sich auch durchaus keiner neuen Resultate der erkenntnistheoretischen Forschung rühmen; und dazu kommt, daß die darin gewählte Behandlung des Problems keineswegs die Form eines streng systematischen Fortgangs hat. Vielmehr möchte Manchem der Weg dieser Betrachtungen als ein ziemlich willkürlicher erscheinen: sie wandern zuerst auf einer redlich betretenen Heerstraße einem hoch gesteckten Ziel entgegen; plötzlich zeigt sich (da, wo der Wegweiser nach der Notwendigkeit steht) ein Nebenweg, und wenn derselbe auch durch Dick und Dünn, an allerlei Abgründen vorbei und über weitausschauende Punkte schließlich auf die große Straße zurückführt, so kann doch eben eine solche Darstellungsweise dem Vorwurf subjektiver Willkür schwerlich entgehen.

Wenn trotzdem diese Untersuchungen der Öffentlichkeit übergeben werden, so lag eine äußere Veranlassung dazu allerdings zunächst in dem Umstand, daß dieselben in dieser Form zwecks der Habilitation ihres Verfassers der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig vorgelegen haben; zugleich aber schien dafür noch eine andere Erwägung zu sprechen.

Vielfach begegnet man der Ansicht, daß nach einer Zeit zuerst der Abspannung und dann der inneren Sammlung die Philosophie im gegenwärtigen Augenblick mit gesättigter Kraft zu ihrer Arbeit zurückkehrt, und die lebhaften Versuche einer neuen Systembildung scheinen aus dieser Tendenz erwachsen zu sein. Es ist hier nicht der Ort zu prüfen, ob die Zeit für diese Versuche schon reif, ob schon das Material zu einer neuen Systembildung vorhanden ist, und nur als eine Ansicht kann es aufgestellt werden, daß eine fruchtbare Fortbildung der Philosophie nur in einer sicheren Grundlegung der erkenntnistheoretischen Prinzipien zu suchen sei. Es scheint nicht nur, daß alle diejenigen Untersuchungen, mit denen die moderne Naturwissenschaft der Philosophie entgegenkommt, auf diesen Punkt hinzielen, sondern die Frage nach dem Wesen und der Möglichkeit des Wissens birgt noch immer alle Rätsel des Daseins in sich: und deshalb arbeitet jeder Versuch, diese Frage scharf und genau zu bestimmen, recht eigentlich im Mittelpunkt der Wissenschaft. Denn die Geschichte der Philosophie ist der Beweis davon, daß der Lösung jedes Problems seine genaue Präzisierung vorhergehen muß, und daß die richtige Antwort nur möglich ist auf die richtige Fragestellung. Möchte daher auch wirklich diese Schrift nichts anderes sein, als die Beschreibung des Weges, auf dem sich der Verfasser das große Grundproblem der Erkenntnis in seiner Weise zurechtgelegt hat, so wird sich derselbe vollauf daran genügen lassen, wenn es ihm gelungen sein sollte, den Leser in die jetzt noch scheinbar bodenlose Tiefe dieses Problems zu führen und ihm darin eine Anregung zu einer eigenen Betrachtung desselben zu geben.


Wie im Verlauf der Kulturgeschichte die Wissenschaft bald als das geistige Hauptinteresse ganzer Generationen erscheint, bald hinter anderen Tätigkeiten der menschlichen Intelligenz mehr zurücktritt, so wechselt auch innerhalb des wissenschaftlichen Lebens das Interesse an den einzelnen Disziplinen - vergleichbar den mannigfaltigen Fäden eines Gewebes, deren einzelne bald an der Oberfläche sinnvolle Gestalten bilden, bald im Verborgenen fortlaufen, um anderen zur Ausbreitung Raum zu geben und erst an späterer Stelle selbst wieder in Erscheinung zu treten. Es sind häufig die großen Tatsachen der Vergangenheit, deren klare Erkenntnis im Vordergrund der gelehrten Forschungen steht, und der Geist einer edlen Epoche, in welche sich die Gemüter mit ernster Bestrebung vertiefen: zu anderen Zeiten beschäftigen die ewig neuen Erscheinungen der Natur das staunende Denken der Menschen, und mit emsigem Fleiß bemühen sich die hervorragendsten Köpfe, in das Geheimnis ihrer Wirksamkeit einzudringen: und wieder zu anderen Zeiten scheint es, als ob der Geist, wie geängstigt von der Fülle der Erscheinungen in Natur und Geschichte, in sich selbst zurückflüchtet und mit den tiefen Rätseln seines Innern zugleich die der ihn umgebenden Welt zu lösen hofft.

Man wird einen solchen Wechsel, in welchem das wissenschaftliche Hauptinteresse zwischen Historik, Naturwissenschaft und Philosophie hin und her schwankt, in der Geschichte der Wissenschaften leicht verfolgen können, und mannigfach sind die Anregungen, welche zu einem solchen Wechsel Veranlassung gegeben haben. Die Ebbe und Flut der geistigen Strömungen ändert nicht nur das Maß der in jedem Zeitalter auf das wissenschaftliche Denken überhaupt verwendeten Menschenkraft, sondern auch die Verteilung des jedesmaligen Quantums auf die einzelnen Wissenszweige, und der Ursprung dieser veränderlichen Strömungen liegt keineswegs immer und allein in den Kulturbewegungen des Denkens, sondern fast zum größeren Teil in anderen Verhältnissen, durch welche die theoretische Kraft hier in untätig bedrückter Spannung gehalten, dort zu eigener Bewegung frei gemacht, überall aber in der Richtung ihrer Wirksamkeit bestimmt wird, in politischen Beziehungen, industriellen Bewegungen, Entdeckungen, Erfindungen und in anderen Dingen, die mit der Geschichte der Wissenschaft nicht immer so unmittelbar zusammenzuhängen scheinen.

Dennoch wird der Kulturhistoriker auch in dieser Mannigfaltigkeit gemeinsame Züge auffinden können, und zwar namentlich da, wo die Übergänge mehr auf rein wissenschaftlichen Motiven beruhen. Betrachtet man z. B. genauer diejenigen Epochen, mit denen Perioden eingetreten sind, welche wir als speziell philosophisch bezeichnen dürfen, so fällt es in die Augen, wie das besondere Interesse sich der Philosophie immer zu solchen Zeiten zugewendet hat, wo auf irgendeine Weise der ganze Wert der bisherigen Forschungen in Frage gestellt und der Zweifel an der Gewißheit dieser Erkenntnise in größerer oder geringerer Ausdehnung geltend gemacht worden war.Wie nach einem altehrwürdigen Ausspruch der Krieg der Vater der Dinge, so ist auch der innere Kampf der Gedanken, der Zweifel, der Vater der philosophischen Erkenntnis. Es genügt ein einfacher Hinweis auf die beiden größten Epochen der Philosophie, die Anfangspunkte zugleich der beiden größten philosophischen Zeitalter, auf SOKRATES und KANT. Vor dem einen lag das sitzfindig gewordene Gewebe der Sophisten, welche aus dem unentfalteten Tiefsinn der ersten metaphysischen Versuche nur die Unmöglichkeit einer sicheren Erkenntnis gefolgert hatten; vor dem andern stand auf der einen Seite der starre, leblos unfruchtbare Formalismus der rationalen Philosophie, auf der anderen Seite der bodenlose Skeptizismus der englischen Sensualisten: und indem beide die unerschütterlichen Grundlagen einer gewissen Erkenntnis suchten, wurden sie die Väter zweier Zeitalter, in denen die Philosophie im Vordergrund der Kulturinteressen stand. Es scheint auch in der Wissenschaft so zu sein, daß nach dem Bankrott in frischer Tätigkeit eine neue Blütezeit hereinbricht.

Während somit die Wissenschaft überall da zur Philosophie zurückkehrt, wo mit dem Zweifel an der Gewißheit ihrer Erkenntnisse die Verzweiflung an ihrer eigenen Tätigkeit sich Bahn gebrochen hat, so ist es eben dieser Durst nach Gewißheit, der zu allen Zeiten den Einzelnen, er mochte kommen, aus welchem Gedankenkreis auch immer, in das philosophische Studium hineingetrieben hat. Dem tiefer schauenden Geist entdeckt sich gar bald, daß die ganze Summe seiner Anschauungen und Kenntnisse, die er in unmittelbarer Betätigung seines Leben gewonnen hat, sich leicht in eine Reihe zweifelhafter Meinungen auflösen läßt, und mit dem Bedürfnis nach Gewißheit wendet er sich an diejenige Wissenschaft, welche in der Untersuchung der letzten Gründe des Seins und des Denkens die Unruhe der Seele zu stillen verspricht. Und so stark ist dieser Drang nach Gewißheit im menschlichen Innern, daß, wem es nicht beschieden ist, das Gewisse auf dem mühsamen Weg des Denkens zu suchen, oder wer auch in der Wissenschaft das Gewisse, das er suchte, nicht gefunden zu haben meint, zu allen Zeiten sich mit desto heißerer Glut in diejenige Gewißheit gestürzt hat, welche der Glaube an die Autorität mehr dem Herzen als dem Verstand darbietet.

Es mag sich daher wohl verlohnen, zu untersuchen, was denn eigentlich diese Gewißheit, wonach alle denkenden Wesen so begierig sind, überhaupt ist, ob eine solche Gewißheit in der wissenschaftlichen Erkenntnis möglich ist und worin sie besteht, und schließlich, auf welchen Wegen diese Gewißheit des Wissens zu erreichen ist.

Vielleicht ist das Zeitalter derartigen Untersuchungen nicht so abhold, als man befürchten möchte: vielmehr vereinigen sich in der letzten Zeit manche Erscheinungen, um auf einen Umschwung aufmerksam zu machen, vermöge dessen sich das Interesse der wissenschaftlichen Welt der so lange verschmähten Philosophie allmählich wieder zuzuwenden beginnt, und es scheint fast, als ginge die Anregung dazu gerade von derjenigen Seite aus, von welcher die Philosophie noch vor nicht allzulanger Zeit entweder den heftigsten Widerspruch oder die verächtlichste Ignorierung zu erfahren gewohnt war. Und es wäre dies keineswegs unbegreiflich. Die außerordentlich große Fülle geistiger Arbeit, welche in diesem Jahrhundert auf die Naturwissenschaft verwendet worden ist und verwendet wird, hat mit einem Aufschwung dieser Wissenschaft, wie er in der Geschichte des Denkens fast ohne Beispiel ist, zugleich eine solche Ausbreitung des Materials herbeigeführt, daß die Grenze, innerhalb deren sich die wissenschaftliche Tätigkeit des Einzelnen bewegen kann, sich immer enger und enger zieht, eine vollständige Beherrschung des ganzen Gebietes selbst für das Genie beinahe unmöglich geworden ist und die Naturwissenschaft fast zu existieren aufgehört hat, um den Naturwissenschaften Platz zu machen. Sie gleichen jetzt einem ausgebreiteten Bergwerk, in welchem Jeder mit stiller, langsam mühevoller Arbeit in seinem Stollen beschäftigt ist und nur noch so eben das Gehämmer hört, womit neben ihm, unter ihm, über ihm gleich einsame Genossen in die dunklen Gänge der Natur eindringen und kostbare Erze dem harten Gestein abgewinnen. Wenn es also wahr ist, daß sich Gegensätze anziehen, so muß aus solcher Anfangs vielleicht reizenden Isolierung der Einzelforscher sich allmählich zu einer allgemeineren Erfassung der wissenschaftlichen Arbeit zurücksehnen, und das tiefere Bedürfnis nach einer deduktiven Grundlage der Erkenntnis, welches sich jetzt mehr und mehr geltend zu machen und auszusprechen beginnt, ist nur ein bewußterer Ausdruck dessen, was bei aller Detailforschung nie verloren gegangen ist. Denn der Materialismus, der sich mit so großer Emphase [Begeisterung - wp] als das letzte Resultat der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ankündigte, was war er schließlich Anderes, als die Erneuerung eines alten philosophischen Systems, als der Versuch einer Naturphilosophie des Stoffs? Und indem er den Geist aus den Bewegungen des Stoffs zu deduzieren und zu erklären unternahm, machte er nicht den Anspruch auf die Geltung eines philosophischen Systems wie jedes andere? Während er den Namen schmähte und verschmähte, suchte er doch selbst die Sache. Daß er sie nicht fand, daß dieser Versuch, eine Metaphysik zu machen aus den empirischen Begriffen einer einzelnen Wissenschaft gründlich gescheitert ist, das möchte ein Los sein, welches er mit manchen anderen metaphysischen Versuchen teilt, von so ganz verschiedenen Seiten sie auch die Probleme gestellt und zu lösen versucht haben.

Seitdem sich von diesem gescheiterten Versuch die Größen der Naturforschung immer mehr zurückgezogen haben, wie denn überhaupt die eigentlich wertvollen exakten Forschungen nie davon berührt worden sind, verhielt sich die Naturforschung gegen die philosophische Erkenntnis vollkommen ablehnend, und erst in neuester Zeit scheint sich ein fruchtbares Verständnis zwischen beiden Zweigen der Wissenschaft anbahnen zu wollen. Einen Teil des Verdienstes daran trägt die Philosophie selbst. Die Zeit ist vorüber, wo diese dem Phantom einer schöpferischen Erkenntnis in der blauen Luft der Einbildungskraft nachjagte. Das Wachs an den Flügeln des neuen Ikarus ist geschmolzen, und ein Meer von stolzen, gewaltigen Gedanken wird ewig den Namen des deutschen Idealismus tragen: die Philosophie aber, von der dieser Ikarus nur eine Erscheinungsform war, rettet sich auf festeren Boden und hat es eingesehen, daß sie mit einem klareren Blick sich im Reiche der Tatsachen umsehen muß, daß auch sie nichts Anderes vermag, als in der Gestaltung des Gegebenen eine Bild dessen zu suchen, was außer ihr geschaffen worden ist und ewig geschaffen wird. So sucht sie sich dann vor Allem in den Resultaten exakter Naturforschung zu orientieren, sie steigt aus ihrer luftigen Höhe herab, um mit den übrigen Wissenschaften Hand in Hand emporzusteigen, und indem sie die Fesseln abstreift, die sie sich selbst anzulegen sonst nur allzu geschäftig war, bemüht sie sich, die Sprache der gebildeten Welt zu reden.

Wenn nun diese der Naturwissenschaft zuneigenden Bestrebungen der Philosophie hauptsächlich auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie hervortreten, - demselben, auf welchem sich die folgenden Untersuchungen bewegen, - so hat das seinen Grund darin, daß auf diesem Gebiet die naturwissenschaftliche Erkenntnis ihr bisher am meisten und erfolgreichsten die Hand reicht. Eine neue Wissenschaft ist, wie über Nacht, entstanden, von der man nicht zu sagen weiß, ob sie mehr philosophisch oder naturwissenschaftlich ist, die Psychophysik, welche mit Messung und Induktion dem Rätsel des leiblich-geistigen Zusammenlebens nachgeht, und die Physiologie der Sinnesorgane, eben jenes Gebiet, auf welchem das Physische und das Psychische in wunderbarer Gemeinsamkeit und Wechselwirkung ineinander überfließen, findet sich plötzlich zu ihrem eigenen nicht geringen Erstaunen auf ihrem emprischen Weg zu einem Punkt geführt, wo die Übereinstimmung ihrer Resultate mit einer der fundamentalsten Lehren der deutschen Philosophie unverkennbar in die Augen fällt. Man wird kaum zu weit gehen, wenn man in dieser Identität eine der großartigsten und wertvollsten Tatsachen in der Geschichte der Wissenschaften überhaupt erblickt. Denn wie feindliche Brüder stehen sich häufig genug in der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens die deduktive und induktive Methode gegenüber, jede auf ihrem Recht beharrend, jede mit einem wohlerworbenen Schatz von Erkenntnissen dieses Recht verteidigend: und während sie sonst meistens das Gebiet ihrer Herrschaft einander streitig zu machen suchen, nehmen sie hier in endlicher Versöhnung von einem überaus wichtigen Punkt gemeinschaftlich Besitz. Diese beiden Linien, von so weit entfernten Regionen ausgehend, schneiden sich hier in einem Punkt und vereinigen sich in einem höchst bedeutsamen Resultat.

Dieses Resultat ist bekanntlich die Intellektualisierung der Anschauungstätigkeit, es ist die nun wohl von keiner Seite mehr anzuzweifelnde Tatsache, daß nicht nur die sogenannten Eigenschaften der Dinge Bestimmungen sind, deren sinnliche Qualitäten lediglich den spezifischen Energien unserer Sinnesorgane angehören, sondern auch, daß von der unmittelbaren Empfindung eines Gegenstandes keineswegs mehr die Rede sein kann, vielmehr die Vorstellung eines solchen überhaupt erst durch die in der Empfindung unbewußt tätige Anwendung der Verstandesfunktionen zustande kommt. Die metaphysische Bedeutung dieser Erkenntnis lehrt die Philosophie ihres Urhebers, der Kritizismus, und die Geschichte von deren Entwicklung zum Idealismus: die skeptische Tragweite dieser Lehre, - das beweist schon die Entwicklung des Denkens gleich nach KANT in  Aenesidemus  und MAIMON, - ist nicht minder groß, und sie wird es namentlich für die Naturwissenschaft, weil dieselbe mit den empirischen Tatsachen der Sinnesempfindung arbeiten und deren objektive Gültigkeit annehmen muß, während doch gerade deren Gewißheit und Objektivität durch diese Intelektualisierung der Anschauung in einer gewissen Richtung in Frage gestellt ist.

So scheint es, als ob mit jeder höheren Erkenntnis ein tieferen Zweifel sich der Wissenschaft bemächtigen und immer von Neuem die Frage hervortreten muß, was denn nun eigentlich an der ganzen Ausdehnung der Erkenntnisse, die man zu haben meint, als gewiß gelten darf.


Wenn es deshalb zunächst wünschenswert ist, sich ganz klar darüber zu werden, was man unter Gewißheit versteht, so sei es gestattet, zu diesem Zweck vom allgemeinen Sprachgebrauch des Wortes auszugehen.

Dasjenige Gebilde unserer psychologischen Tätigkeiten, für welches wir das Prädikat der Gewißheit in Anspruch zu nehmen nach dem Obigen überall so begierig sind, ist niemals die einzelne Vorstellung oder der einzelne Begriff. Zwar pflegen wir zu sagen, wir seien unserer einzelnen Vorstellungen gewiß, und man nennt wohl diese unsere Gewißheit die erste und unleugbarste aller unserer Erkenntnisse: allein einerseits kommt eine solche Gewißheit allen unseren Vorstellungen in ganz gleichem Maß zu, und eine Vorstellung vom geringsten Grad der Stärke, wenn sie überhaupt noch über der Bewußtseinsschwelle liegt, ist uns genau so gewiß wie die stärkste dominierende Vorstellung, andererseits drückt diese Gewißheit gar nicht irgendeine Qualität der Vorstellung, weder ihrer Intensität noch ihres Inhalts aus, sondern für gewiß wird dabei nur das erklärt, daß das Ich diese Vorstellung hat. Dies aber ist eine Beziehung zwischen zwei Vorstellungen, ein Urteil. Von einer Gewißheit kann daher erst auf derjenigen Stufe der psychologischen Komplexionen die Rede sein, auf der das Urteil erscheint, und nur für dieses kann das Prädikat der Gewißheit in Anspruch genommen werden. Wenn von der Gewißheit eines Begriffs gesprochen wird, so ist dies ein uneigentlicher Ausdruck, mit welchem eigentlich die Gewißheit des Urteils gemeint ist, daß der Inhalt des Begriffs wirklich ist: wenn z. B. der Glaube die Gewißheit des Gottesbegriffs anerkannt wissen will, so verlangt er nicht nur, daß wir zugeben, er habe die Vorstellung eines Gottes, sondern vor Allem, dieser von ihm vorgestellte Gott existiert. So läßt sich das Prädikat der Gewißheit stets in ein zweites Urteil fassen, worin ausgesprochen wird, daß der Inhalt eines ersten Urteils wirklich ist, und so liegt in der Gewißheit eine über das Gebiet des Denkens in dasjenige des Seins hinübergreifende Tendenz; es ist dasjenige Prädikat, durch welches wir für unsere Vorstellungen einen Wert in Anspruch nehmen, der außerhalb unseres Vorstellungsprozesses seine selbständige Geltung hat. Dieser Wert, vermöge dessen sich die Erkenntnis identisch mit dem Sein wissen will, wird die Wahrheit genannt, welche danach als das ideale Bild eines Realen erscheint.

Somit ist die Gewißheit der Erkenntnis dasjenige Prädikat unserer Urteile, durch welches wir dem Inhalt derselben Wahrheit zuschreiben.

Allein diese ganze eben entwickelte Bedeutung der Gewißheit als eines Prädikats unserer Urteile ist eine abgeleitete. Wir nennen gewiß in einem abgeleiteten Sinn diejenigen Urteile, deren wir uns gewiß sind, d. h. die Gewißheit ist ursprünglich kein Prädikat der Urteile, sondern ein Zustand der erkennenden Seele (1), in welchem sich dieselbe zum Inhalt des Urteils in einer gewissen, näher zu untersuchenden Beziehung befindet. In diesem Charakter der Gewißheit als eines psychologischen Zustandes liegt es begründet, daß die Frage nach der Gewißheit nicht ins Unendliche treibt. Denn wäre die Gewißheit nur jenes oben beschriebene zweite Urteil, worin irgendeinem ersten Urteil Wahrheit in der bezeichneten Bedeutung zugeschrieben würde, so müßten wir für dieses zweite ebenfalls ein die Wahrheit desselben aussprechendes drittes Urteil verlangen, und frügen wir so nach der Gewißheit der Gewißheit, so müßten wir wieder nach einer Gewißheit der Gewißheit der Gewißheit fragen usw. bis ins Unendliche. Dadurch aber, daß bereits jenes zweite Urteil nur der logische Ausdruck eines psychologischen Zustandes ist, in welchem sich die Fragetätigkeit der Erkenntnis beruhigt, wird dieser ganze unendliche Prozeß unmöglich gemacht. Schon die erste Frage nach einer Gewißheit der Gewißheit fällt uns gar nicht ein, und zwar lediglich aus dem Grund, weil durch das Urteil der Gewißheit ein psychologischer Zustand herbeigeführt ist, in welchem keinerlei Antriebe zu einem weiteren Zweifel und weiterer Beunruhigung liegen. Die Gewißheit gehört daher der psychologischen Seite des Denkens an, und wir werden über jene nähere Beziehung, in welcher sich die erkennende Seele im Zustand der Gewißheit zu ihren Vorstellungen befindet, nur klar werden können, wenn wir auf die psychologischen Grundbedingungen des Denkens überhaupt zurückgehen.

Die psychologische Auffassung des Denkens scheint uns überhaupt den erkenntnistheoretischen Untersuchungen wenigstens überall zugrunde gelegt werden zu müssen. Denn welches auch die logischen Formen und die metaphysischen Inhaltsbestimmungen des Erkennens sein mögen, so ist das Erkennen selbst zunächst in durchaus psychologischer Vorgang, dessen Grenzen, Wert und Berechtigung man füglich an seinen psychologischen Gründen und Zwecken prüfen muß. Unsere gesamte Denktätigkeit hat ihren Grund nicht direkt in den Verhältnissen unserer Vorstellungen, sondern vielmehr in einem ungleichgewichtigen Zustand, in welchen sie die Seele versetzen. In der Vorstellung, im Begriff, im Urteil ihrer rein logischen Natur nach ist kein einziges Moment zu entdecken, das zum Weiterdenken, zu einer Entwicklung und Ausgleichung des logischen Inhalts auffordert: vielmehr geschehen diese Tätigkeiten nur deshalb, weil die Vorstellungen psychische Kräfte sind und als solche durch eine Strebetätigkeit der Seele so lange in Bewegung gesetzt werden, bis ein Gleichgewicht, das wir näher zu bestimmen haben werden, erreicht ist. Solange man diesen psychologischen Charakter des Denkens außer Acht läßt, wird man allerdings die Formen des Denkprozesses abstrahieren und vollständig begreifen können, aber man wird in den eigentlichen Triebmechanismus des Erkennens nicht eindringen. Man setze z. B. die beiden Prämissen  M = P, S = M:  so lehrt die formale Logik nur, daß, wenn aus diesen Prämissen ein Schluß gemacht werden soll, derselbe notwendig die Form  S = P  annehmen muß. Aber aus bloßer Logik ist nicht einzusehen, weshalb überhaupt ein Schluß gemacht werden, weshalb die beiden Prämissen nicht so ruhig nebeneinander stehen bleiben sollen. Daß sie es nicht tun, davon ist der zureichende Grund nicht ein logischer, sondern ein psychologischer Vorgang. Das Zusammentreffen der beiden als Prämissen anzuehenden Urteile in der Seele war entweder beabsichtigt oder unwillkürlich. Im ersten Fall waren die beiden Urteile aufgesucht worden, um durch ihre Vereinigung im Schluß zu einem Urteil über die Verbindung der beiden Begriffe  S  und  P  zu gelangen, es lag also schon der Bildung der beiden Urteile die psychologische Fragetätigkeit zugrunde, wie wohl die Begriffe  S  und  P  zu vereinigen sind. Im zweiten Fall, wo der psychologische Mechanismus die beiden Urteile unwillkürlich zusammengeführt hat, springt, sobald beide zum Bewußtsein gelangt sind, dieselbe Frage hervor und beantwortet sich in einem Schluß. Die ganze logische Bewegung beruth also auf dieser Fragetätigkeit, und diese Fragetätigkeit läßt sich immer darauf zurückführen, daß die Seele nach einer Vereinigung zweier oder mehrerer Vorstellungen hinstrebt. Während also die Form des Prozesses die logische ist, muß der ganze Prozeß selbst als solcher psychologisch aufgefaßt werden. Hier liegen die Grenzen der formalen Logik: sie erklärt,  wie  wir denken, aber nicht  daß  wir denken. Wir könnten hinzufügen, sie erklärt auch nicht  was  wir denken. Wenn man den Vorgang des Denkens als eine Bewegung auffaßt, so hat es die Logik weder mit dem Bewegten, noch mit dem Grund der Bewegung, sondern lediglich mit der Form derselben zu tun. Die dialektische Logik der absoluten Philosophie, welche mit einem Schlag und von einem Standpunkt aus zugleich erklären wollte,  daß, wie  und  was  gedacht wird, übersah von dieser Seite den psychologischen Charakter der Erkenntnis vollständig und deutete infolgedessen die psychologische Gegeneinanderbewegung der Vorstellungen in einen objektiven Kampf- und Versöhnungsprozeß des Vorstellungsinhalts um.

Daß also überhaupt gedacht wird, hat keine logischen Gründe, sondern psychologische Ursachen, und es fragt sich, ob in denselben nicht eine gemeinschaftliche Grundbestimmung aufgefunden werden kann. Wenn wir der Fragetätigkeit in ihren Funktionen folgen und auf die primitivsten Äußerungen derselben zurückgehen, so finden wir die Aufmerksamkeit zunächst überall mit dem Aufsuchen von Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten, Verwandtschaften und Widersprüchen in den Merkmalen unserer Vorstellungen beschäftit und sehen aufgrund solcher Beobachtungen stets unsere Denktätigkeit sich in der Richtung des Gleichen, Ähnlichen, Verwandten bewegen, das Unverwandte dagegen eliminieren und das Widersprechende solange bearbeiten, bis es irgendeine Vereinigung gefunden hat. Man muß daraus schließen, daß es der Seele unmöglich ist, disparate Vorstellungen mit gleicher Energie in sich aufrechtzuerhalten, daß der Widerspruch der Vorstellungen für sie ein Motiv der Unruhe und einer Bewegung in diesen Vorstellungen ist, vermöge deren die gemeinschaftlichen Merkmale derselben sich vereinigen, der Rest aber unter die Bewußtseinsschwelle zurücksinkt. Dieses Streben nach einer Einheit ihrer mannigfaltigen Vorstellungen ist die Grundlage aller Denktätigkeit der Seele: alles Unverwandte und gar Widersprechende ist für sie ein Motiv, in der Bewegung des Denkens diese Einheit neu zu suchen. Da wir nicht gesonnen sind, uns hier auf irgendwelche metaphysischen Standpunkte zu stützen, so sehen wir gänzlich davon ab, daß dieses Streben nach Einheit der Vorstellungen als eine Äußerung der metaphysisch-einheitlichen Tätigkeit der Seele anzusehen ist, und beschränken uns lediglich auf die psychologische Tatsache, daß dieses Einheitsstreben allen Operationen des Denkens zugrunde liegt. Der Fortschritt von der Wahrnehmung zum Begriff, die Bildung allgemeiner Vorstellungen, ist der erste Schritt dazu, wofür die Vergleichung und Unterscheidung nur als das Mittel der Aufmerksamkeit betrachtet werden muß: der Fortschritt vom Begriff zum Urteil, die Bildung der Vorstellungen von der Zusammengehörigkeit der Begriffe, erscheint, psychologisch betrachtet, lediglich als Fortsetzung dieser auf die Einheit der Vorstellungen gerichteten Tätigkeit: und schließlich der Fortschritt vom Urteil zum Schluß, die Bildung neuer Urteile aus schon vorhandenen, beruth ebenfalls auf dem Bestreben, bisher noch nicht im Urteil vereinigt gedachte Begriffe mittels der schon gefundenen Vereinigungen zu verknüpfen. Hier unterscheiden sich induktive und deduktive Schlußreihen sehr bedeutend. Der induktive Schluß erscheint als der direkte Weg der immer höhere Einheiten suchenden Denktätigkeit: er verhält sich zu einer Reihe von Urteilen genau so, wie der Begriff zu einer Reihe von Wahrnehmungen, indem er all diese verschiedenen Urteile in ein gemeinschaftliches verbindet. Wenn dagegen der deduktive Schluß nur neue Begriffsverbindungen sucht, die oft von einem geringeren Allgemeinwert sind, als die schon vorhandenen, so geschieht dies, weil die Seele aus (theoretischen oder praktischen) psychologischen Motiven gerade für die Vereinigung der beiden im Schluß verknüpften Begriffe interessiert ist und daher den Mittelbegriff nur als ein Mittel zur Erreichung jener Vereinigung benutzt. Sobald daher in der Seele Vorstellungen vorhanden sind, zwischen denen die Aufmerksamkeit Beziehungen zu entdecken vermag, so vollzieht sich das Einheitsstreben sofort in der Form der Begriffsbildung, des Urteilens und des Schließens, und sie wendet den gesamten Apparat ihrer Einbildungskraft und ihres Gedächtnisses an, um, wenn es nötig ist, durch Mittelglieder diese Verbindungen zu finden. Gelingt ihr dies aber nicht - und je nach der Energie der Aufmerksamkeit und dem Interesse des Gegenstandes ermattet dieses Bestreben früher oder später -, so wird man bemerken, daß zwei unvereinte oder unvereinbare Vorstellungen nicht mehr nebeneinander bestehen können: es wird entweder die eine von der anderen oder beide von neuen Vorstellungen verdrängt werden. Mehrere Vorstellungen können somit nur dadurch sich nebeneinander erhalten, daß sie ihre Vereinigung suchen (2), die unzusammenhängenden Elemente ausscheiden und ihre Einheit als eine höhere, sie beide umfassende Vorstellung erzeugen: sie setzen daher die nach dieser Einheit strebende Seele so lange in einen unruhig tätigen Zustand, bis sieh ihre Vereinigung gefunden haben und die Vorstellung dieser Vereinigung dem Einheitsstreben das Gleichgewicht hält. Ist aber durch die Entfernung der Widersprüche und des Unverwandten dieses Gleichgewicht erlangt, so hört selbstverständlich die Bewegung in den Vorstellungsmassen solange auf, bis neue Vorstellungen dasselbe entweder stören oder das Interesse der Seele so in Anspruch nehmen, daß die ganze erste, ins Gleichgewicht gekommene Masse unter die Bewußtseinsschwelle sinkt. In diesem selben Gleichgewichtszustand erscheint diese Vorstellungsmasse jedoch bei der Reproduktion, und einer solchen dem Gedächtnisvermögen als gleichgewichtig übergebenen Summe von Vorstellungen erfreut sich die Seele als eines unentreißbaren Besitzes, sie ist sich der durch dieselbe dargestellten einheitlichen Erkenntnis gewiß. Dies ist, rein psychologisch und ohne Rücksicht auf den Inhalt der Erkenntnis betrachtet, der Zustand der Gewißheit. Die Seele zweifelt nicht mehr an ihren Erkenntnissen, wenn sie die Widersprüche daraus entfernt und die Möglichkeit einer einheitlichen Verknüpfung derselben gefunden hat. Diese Einheit stellt sich nun nach den verschiedenen Graden der Erkenntnis in verschiedenem Wert dar. Wir sind uns unserer Wahrnehmungen, unserer Begriffe, unserer Urteile gleich gewiß, sobald wir in ihnen keine Widersprüche zu entdecken vermögen: aber die Gewißheit des Urteils ist uns die wertvollste, weil sie die reichste und umfassendste ist.

Gewißheit ist derjenige psychologische Zustand, in welchem sich die Seele einer widerspruchslosen Einheit ihrer Vorstellungen bewußt ist.

Wir haben nun zwei Definitionen der Gewißheit gefunden, welche sich allerdings bisher sehr wenig ähnlich sehen: aber sie haben es auch mit zwei sehr verschiedenen Gegenständen zu tun. Die eine bezieht sich auf eine erkenntnistheoretische Eigenschaft unserer Urteile, die andere beschreibt nur einen psychologischen Zustand, in welchen die Seele sich durch das widerspruchslose Verhältnis ihrer Vorstellungen versetzt findet. Es wird sich daher eine Beziehung zwischen beiden Definitionen nur auffinden, indem man die bisher nur psychologisch betrachteten Denktätigkeiten in ihrer erkenntnistheoretischen Bedeutung prüft. Richten wir deshalb unsere Aufmerksamkeit darauf, wie die Seele die so lebhaft angestrebte Vereinigung ihrer Vorstellungen überhaupt herbeizuführen imstande ist, und suchen wir dasjenige Moment in dieser Tätigkeit, wodurch es möglich wird, dem Inhalt der Vorstellungen einen Wert zuzuschreiben, der auch außerhalb der Vorstellung seine Geltung behält. Nun erst rücken wir dem Kernpunkt unserer Frage nah: denn es hat uns nicht entgehen dürfen, daß die Beschreibung der rein psychologischen Momente des Gewißheitszustandes uns schließlich nur zu einer deutlicheren Vorstellung von jener wenig wertvollen Gewißheit geführt hat, die wir am Anfang unserer Untersuchung berührten und von der wir damals sagten, daß sie uns nur des Besitzes dieser Vorstellungen, nicht aber ihres Erkenntniswertes versichert. Es leuchtet somit ein, daß wir der eigentlichen Bedeutung der Gewißheit gleich fern geblieben sind, gleichviel ob wir nun den Vorstellungsinhalt der Gewißheit in eine logische Formel brachten, wie in der ersten Definition, oder ob wir, wie zuletzt versucht wurde, die bloß psychologischen Charakteristika der Gewißheit aufsuchten. Beide Definitionen sind gleich einseitig: in der einen handelt es sich nur um ein Verhältnis der Vorstellungen zu einer unabhängig von ihnen gedachten Wahrheit,, in der andern nur um ein Verhältnis der Seele zu ihren Vorstellungen. Das aber können wir schon an dieser Stelle voraussehen, daß, wenn zwischen diesen beiden Definitionen eine Verbindung gefunden wird, wir schließlich zu einer Beziehung gelangen werden, in welche die Seele durch die Vorstellungen zu den Gegenständen derselben tritt. Hier also müssen wir den psychologischen Standpunkt überschreiten und uns mit dem objektiven Charakter des Denkens beschäftigen.

Der psychologische Trieb, welcher der Denktätigkeit zugrunde liegt, ist das Streben der Seele nach der Einheit ihrer Vorstellungen, die Vereinigung der Wahrnehmungen in Begriffe, der Begriffe in Urteile, der Urteile in Schlüsse. Die Form nun, in der diese Vereinigung geschieht, ist die logische: aber es leuchtet ein, daß diese logische Form auch nur den Weg darstellt, auf welchem die Einheit gefunden wird, daß der Inhalt dieser Vereinigung selbst aber nicht von der logischen Form, sondern vielmehr vom Inhalt der Vorstellungen abhängt. Wäre die Qualität des Vorstellungsinhaltes dabei nicht entscheidend, so müßte die Seele, da sie über den logischen Apparat vollständig frei verfügt, jede Vorstellung mit jeder anderen zu einer Einheit verbinden können. Das negative Urteil wird hier die Stellung des Denkens zu seinem Inhalt klar machen. In einem solchen ist die ganze Freiheit der logischen Tätigkeit entfaltet, zwei Begriffe sind in einem einheitlichen Urteil zusammengefaßt: und doch sagt gerade eben diese ihre Vereinigung nichts Anderes aus, als daß zwischen ihnen beiden keine Vereinigung möglich ist. Das negative Urteil enthält somit nur logisch eine Vereinigung zweier Begriffe: in erkenntnistheoretischer Beziehung dagegen ist es der Verzicht des Denkens auf die Vereinigung dieser beiden Begriffe (3). Und da dieser Verzicht nicht auf der Unmöglichkeit beruth, die beiden Begriffe in einer logischen Form zu vereinigen - dies leistet ja das negative Urteil -, sondern vielmehr auf der völligen Verbindungslosigkeit zwischen dem Inhalt beider Begriffe, so beweist die einfache Tatsächlichkeit negativer Urteilsformen die Abhängigkeit des Denkprozesses von seinem Inhalt. Das menschliche Denken ist kein schöpferisches, sondern nur ein suchendes, und die logischen Formen, weit entfernt, ihren Inhalt zu erzeugen, sind nur die Mittel, durch welche die Seele, um zur Einheit ihrer Vorstellungen zu gelangen, die im Inhalt dieser Vorstellungen selbst enthaltenen Vereinigungspunkte aufsucht. Um unsere Vorstellungen zu vereinigen, müssen wir den Inhalt derselben in diejenige Verbindung setzen, welche ihm zukommt, wenn sie nicht getrennt vorgestellt werden, d. h. um zur Einheit der Vorstellungen zu gelangen, müssen wir die Verbindung derselben so vorstellen, wie sie unabhängig von der Vorstellungstätigkeit durch den Inhalt der Vorstellungen ansich gefordert wird. Auf dieser Abhängigkeit der Denkoperationen vom Inhalt der Vorstellungen beruth die Möglichkeit, mittels der Denkformen einen außerhalb des Denkens seienden Inhalt zu erfassen, beruth das Verhältnis des Denkens zu Gegenständen oder sein objektiver Charakter. All unser Denken beschäftigt sich damit, Beziehungen zwischen Vorstellungen aufzufinden, und zwar eben diejenigen, welche den Verhältnissen des Vorstellungsinhaltes ansich entsprechen.

Ein solches Abhängigkeitsverhältnis des Denkens von seinen Gegenständen, müssen selbst diejenigen Lehren zugestehen, welche mit der Auflösung des Dings-ansich eine solche "Ordnung der Vorstellungen nach der Ordnung der Dinge" in einem realistischen Sinn zurückweisen. Denn wenn die idealistische Erkenntnistheorie die Beziehung unserer Vorstellungen auf ein außerhalb des Denkens befindliches Sein, metaphysisch für unmöglich erklärt, so muß sie doch eine solche Beziehung psychologisch anerkennen. Wenn auch wirklich die ganze Summe desjenigen, was dem unmittelbaren Bewußtsein als Gegenstand erscheint, sich als ein Erzeugnis der produktiven Einbildung eines allgemeinen Ich erweist, so ist doch nicht zu verkennen, daß alle diese Erzeugnisse für die Denktätigkeit des Individuums Gegenstände ganz im Sinne des unbefangenen Denkens bleiben, d. h. unabhängig von willkürlicher Konstruktion und der Auffassung des reflexiven Bewußtseins von außen gegeben -, daß daher für das erkennende Individuum die Erkenntnis auch in diesem Fall eine objektive und das uralt empiristische Kriterium der Wahrheit als einer Übereinstimmung des Denkens mit seinem Gegenstand, lediglich dasselbe bleibt. Ohne daher schon hier einer späteren Untersuchung darüber vorzugreifen, was eigentlich metaphysisch die Objekte der Anschauung sind, können wir doch feststellen, daß alle auf dieser Anschauung fußenden Denkoperationen es mit einer für das Individuum objektiven Erkenntnis zu tun haben. Wenn nämlich der Idealismus nachweist, daß die sogenannten Qualitäten nicht Eigenschaften der Dinge, sondern der in der Anschauung tätigen Intelligenz sind, so muß doch bedacht werden, daß diese gesamte Anschauung sich im Individuum mit einer mechanischen Notwendigkeit vollzieht, über welche dasselbe nicht Herr ist, und daß daher für den Denkfortschritt des Individuums die Resultate der Anschauung gegebene Objekte bleiben. Daher kann man sagen, daß die kritische Erkenntnistheorie psychologisch (für die menschliche Erkenntnis) ebenso realistisch ist, wie sie metaphysisch (für das absolute Ich) dem Idealismus huldigt, und dies hat schon KANT ausgesprochen, indem er dem Raum, der Zeit und den Kategorien "empirische Realität und transzendentale Idealität" zuschrieb. Wenn KANT, nur auf die Untersuchung der formgebenden Prinzipien bedacht, die Möglichkeit der einzelnen Wahrnehmung unerklärt ließ, welche sich bekanntlich dem Individuum mit der gleichen Notwendigkeit aufdrängt, wie jene allgemeinen Prinzipien, - ein Vorwurf, den ihm schon JABOBI an mehr als einer Stelle mit Recht machte -, so war dies ein Mangel seiner Theorie, den FICHTE in konsequent idealistischer Weise durch die absolut freie Tätigkeit der produktiven Einbildung zu ergänzen suchte.

Ohne uns daher an irgendwelche metaphysische Theorien anzulehnen, können wir, auf dem reflexiven Charakter der menschlichen Denktätigkeit bestehend, an einem objektiven Wert der Denkoperationen festhalten, wenn wir nur unter objektiv (ohne Beimischung metaphysischer Vorstellungen) lediglich das von der Subjektivität Unabhängige und derselben Gegebene verstehen: und unter diesem Gesichtspunkt kann es nicht mehr zweifelhaft sein, daß die Seele, indem sie die Einheit ihrer Vorstellungen sucht, dies nur erreichen kann, indem sie dieselben nach ihrer objektiven Ordnung verbindet. Der psychologische Trieb nach einer Einheit der Vorstellungstätigkeit realisiert sich im Aufsuchen der objektiven Erkenntnis. Die Seele, ursprünglich nur bestrebt, der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen gegenüber die Einheit ihrer Tätigkeit aufrechtzuerhalten, kann dieses Streben nur erfüllen, indem sie die objektive Verbindung ihres Vorstellungsinhaltes aufsucht.

Wenn man diese Tatsache anerkennt, so möchten wir in derselben den Schwerpunkt aller erkenntnistheoretischen Untersuchungen erblicken. Denn nur hieraus erklärt es sich, wie der ansich rein psychologische und im Innersten der Seele vorgehende Denkprozeß eine Beziehung gewinnen kann, welche über die erkennende Seele hinaus in andere Regionen - seien sie nun metaphysisch wie sie wollen - sich erstreckt; nur hieraus begreift es sich, wie die unter dem logischen Gesetz des Denkens vollzogenen Komplexionen der Vorstellungen einen Anspruch auf die Identität ihres Inhaltes mit Verhältnissen erheben können, die außerhalb der erkennenden Seele objektiven Bestand haben sollen. Ohne diese Tatsache würden wir nie von einer Erkenntnis, sondern immer nur von Vorstellen und Denken reden dürfen, und es würde unbegreiflich bleiben, wie jemals ein Produkt des psychologischen und des logischen Prozesses einen erkenntnistheoretischen Wert erreichen könnte. Wenn die Erkenntnistheorie eine Wissenschaft ist, die sich mit gleicher Energie auf den Gebieten des Psychologischen, des Logischen und des Metaphysischen zu bewegen hat, so liegt in dieser Tatsache ihr Mittelpunkt, insofern sich darin übersehen läßt, wie der psychologische Prozeß mittels der logischen Funktionen metaphysische Verhältnisse zu begreifen vermag.

Hier nun suchen wir auch die Gewißheit. Wenn die Seele die widerspruchslose Einheit ihrer Vorstellungen als Gewißheit empfindet und wenn der Weg zu dieser Einheit identisch ist mit dem Aufsuchen der objektiven Verhältnisse des Inhalts ihrer Vorstellungen, so muß mit dem Zustand der Gewißheit zu gleicher Zeit die Vorstellung verbunden sein, daß der Inhalt der Vorstellungen, deren die Seele gewiß ist, objektive Wahrheit besitzt. Damit haben wir in der Tat die gesuchte Verbindung jener beiden Definitionen gefunden, von denen die erste nur die gewissen Vorstellungen, die zweite nur den Zustand der gewissen Seele charakterisierte. Jetzt ist es klar geworden, daß und weshalb die Seele, wenn sie der widerspruchslosen Einheit ihrer Vorstellungen gewiß ist, für diese Einheit den Wert einer objektiven Erkenntnis beansprucht, und so können wir unsere Untersuchung in die folgende Vereinigung der beiden Bestimmungen zusammenfassen:
    Gewißheit ist derjenige psychologische Zustand, in welchem sich die Seele der widerspruchslosen Einheit ihrer Vorstellungen als einer objektiven Wahrheit bewußt ist.
In dieser Gewißheit tritt nun also die Seele wirklich in eine bestimmte Beziehung nicht nur zu ihren Vorstellungen, sondern zu den Gegenständen derselben, indem sie die Verhältnisse der Vorstellungen für identisch mit denjenigen der Gegenstände erklärt. Damit ist die Gewißheit als erkenntnistheoretischer Begriff gewonnen: demnach werden wir von diesem Standpunkt aus die beiden verschiedenen Seiten des Begriffs, von denen wir in unserer Bestimmung ausgingen, abermals sehr sorgfältig zu unterscheiden haben. Denn wenn es die Natur des Denkprozesses erfordert, daß die Seele, indem sie die Einheit der Vorstellungen sucht, die objektive Erkenntnis anstreben muß, so ergibt sich allerdings für den psychologischen Zustand der Gewißheit die Folge, daß die Seele die Erfüllung ihres Einheitsstrebens als eine Leistung objektiver Erkenntnis ansehen muß. Damit aber ist noch nicht gesagt, daß jede Erfüllung des Einheitsstrebens wirklich eine objektive Erkenntnis ist, wohl aber, daß sie der Seele als solche erscheint. Es ist sehr wohl möglich, daß wir eine widerspruchslose Einheit unserer Vorstellungen gefunden haben, die noch lange keine Wahrheit ist, wenn wir sie auch nach dem oben Entwickelten dafür halten müssen. Hieraus folgt die wichtige Tatsache, daß die Gewißheit als psychologischer Zustand vorhanden sein kann, wenn die Gewißheit als objektive Erkenntnis noch gar nicht erreicht ist. Der Zustand der Gewißheit involviert immer die Vorstellung der objektiven Erkenntnis, aber keineswegs immer die objektive Erkenntnis selbst. Die Denktätigkeit der Individuen beruhigt sich eben auf verschiedenen Punkten, wobei sie aber immer in den Zustand der Gewißheit übergeht, und die Verschiedenheit dieser Punkte beruht nicht nur auf der verschiedenen Intensität des Einheitsstrebens, sondern einerseits auf der verschiedenen Stärke, mit der die Vorstellungen selbst für das Interesse des Individuums auftreten, andererseits aber in der verschiedenen Klarheit und Deutlichkeit, mit der sie in der Denktätigkeit enthalten sind. Denn es leuchtet ein, daß die Seele sich mit ihrem Einheitsstreben umso eher beruhigen wird, je schwächer die Vorstellungen sind, mit denen sie es zu tun hat, und je weniger klar die begrifflichen Elemente derselben auseinander gelegt sind, daß sie sich bei einer deshalb zu früh eingebildeten Einheit ebenso beruhigen wird, wie bei der objektiven. Es ist bekannt, daß nach der Verschiedenheit der Klarheit und Schärfe im Denken der Eine sich mit einem schwierigen Problem da herumschlägt, wo der Andere in einer harmlosen Gewißheit schwelgt, daß gerade hierin der große Abstand der Wissenschaft und besonders der Philosophie von einem ungewöhnlichen Denken und häufig die völlige Unbegreiflichkeit wissenschaftlicher Untersuchungen für den sogenannten "gesunden Menschenverstand" liegt. Welche Mühe hat sich eine der bedeutendsten neueren Philosophien gegeben, um überhaupt erst die Widersprüche klar zu machen, welche in den überall ungehindert kursierenden Grundbegriffen allen Denkens enthalten sind!

Hierauf stützt sich eine Terminologie, welche wir im Folgenden der Kürze wegen anzwenden gedenken. Wir wollen den Zustand, in welchem die Seele sich der Einheit ihrer Vorstellungen als einer objektiven Erkenntnis bewußt ist, die subjektive Gewißheit, die Eigenschaft der Urteile aber, vermöge deren sie die Verhältnisse der vom Vorstellungsprozeß unabhängigen Gegenstände ausdrücken, die objektive Gewißheit nennen. Dann dürfen wir nach dem Vorigen behaupten: die subjektive Gewißheit enthält immer die Vorstellung der objektiven; allein sie garantiert dieselbe in keiner Weise, auch die stärkste subjektive Gewißheit kann niemals ein Beweis für die objektive Gewißheit sein. Danach ist die subjektive Gewißheit nur eine psychologische Tatsache, welche ebensogut berechtigt wie unberechtigt sein kann. Die objektive Gewißheit erst enthält ihre Berechtigung.

Das subjektive Verhältnis, welches wir zwischen der widerspruchslosen Einheit der Vorstellungen und der objektiven Wahrheit aufgefunden haben, wirft ein höchst interessantes Licht über die Grenzen der Berechtigung, mit welcher man lange Zeit den Satz des Widerspruchs als ein allbeherrschendes Prinzip an die Spitze der Philosophie gestellt hat. Wenn die Denktätigkeit, um in den Ruhezustand der Gewißheit überzugehen, bei einer Einheit ihrer mannigfachen Vorstellungen angelangt sein muß, so muß die Erkenntnis, welche jene Gewißheit enthalten soll, zu allererst der formalen Forderung entsprechen, unter der die Vorstellungen logisch miteinander einig sein können (4), so darf innerhalb des Begriffs, der die Gewißheit in sich tragen soll, keinerlei Widerspruch mehr enthalten sein. Daher ist der Satz  A = A  unbedingt die  conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] jeder Gewißheit: allein es ist aus den obigen Ausführungen klar, daß sein Wert den einer  conditio sine qua non  nicht überschreitet, daß er an und für sich allein nimmermehr als ein Kriterium der Wahrheit angesehen werden kann. Das Nichtwidersprechende einer Vorstellung ist wohl ein Merkmal der wahren Vorstellung, aber nicht das entscheidende, charakteristische; und es können gar manche Vorstellungen, die logisch widerspruchsvoll sind, ohne jeden Erkenntniswert sein. Der Satz des Widerspruchs garantiert daher nur die Möglichkeit eines Begriffs, niemals seine Wirklichkeit, deren Kriterien auf ganz anderen Gebieten liegen. Die Verwechslung aber der logischen Möglichkeit mit der erkenntnistheoretischen Wirklichkeit, wie sie in der Erhebung des Satzes  A = A  zum Fundament des metaphysischen Denkens ausgesprochen ist, charakterisiert die gesamte vorkantische, dogmatische Philosophie. Die logische Wahrheit erscheint in derselben  eo ipso [schlechthin - wp] zugleich als die metaphysische, - eine verhängnisvolle Täuschung, welche wir weiter unten genauer zu untersuchen haben werden.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Über Gleichheit und Identität, Sitzungsbericht der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1910, Heidelberg 1910.
    Anmerkungen
    1) Es wird hier, wie in den ganzen folgenden Untersuchungen, der Begriff der "Seele" ohne irgendwelche metaphysischen Voraussetzungen nur der Einfachheit des Ausdrucks halber für die Gesamtheit der psychischen Erscheinungen und Bewegungen angewendet werden und nur in den metaphysischen Schlußbemerkungen eine schärfere Fassung finden.
    2) Vgl. HERMANN HELMHOLTZ, Physiologische Optik, Seite 804 (Erklärung der Erscheinungen des Wettstreits).
    3) Damit soll der Wert negativer Urteile für die Erkenntnis nicht geleugnet, sondern nur beschränkt werden: sie sind keine Erkenntnis selbst, sondern nur methodische Mittel. Jedes negative Urteil ist im Denkprozeß ein limitierender Fortschritt, es ist der Abschluß eines Weges, auf dem sich nun die Seele klar gemacht hat zu einer Vereinigung ihrer Vorstellungen nicht gelangen zu können, und es enthält somit stets die Aufforderung, einen anderen Weg einzuschlagen.
    4) Es möchte gleich hier eine Andeutung am Platz sein, deren Ausführung nicht innerhalb der Grenzen dieser Abhandlung liegt. Zwischen dem psychologischen Einheitsbestreben der Seele und der logischen Grundform  A = A,  welche sich als die  conditio sine qua non  von dessen Erfüllung darstellt, dem Satz des Widerspruchs, findet eine so auffallende Verwandtschaft statt, daß dieselbe nicht unbeachtet bleiben kann. Wie die Vorstellungen als psychologische Kräfte solange einander widerstreben, bis sei in einer gemeinschaftlichen Vorstellung verbunden sind - ein Verhältnis, aus welchem sich übrigens die größere Vorstellungsstärke eines Urteils gegenüber derjenigen einer Einzelvorstellung durch einfache Rechnung ergibt -, so verlangt das erste Gesetz der Logik, daß sich die Merkmale eines Begriffs nicht gegenseitig widersprechen. Es liegt dabei die allgemeine Bemerkung nahe, daß die logische Form nichts anderes ist als das Mittel, durch welches die Seele ihr Streben nach Einheit auf theoretischem Gebiet realisiert, - die Bemerkung, daß der tiefste Grund der logischen Formen in den psychologischen Zwecken der denkenden Seele enthalten ist. Eine derartige Auffassung des logischen Mechanismus, als gesetzt von der Seele zur Bearbeitung des psychologischen Vorstellungsverlaufs zwecks der von der Seele verfolgten Zwecke, ist in letzterer Zeit wesentlich durch HERMANN LOTZE vertreten, dessen Logik (Leipzig 1842), getreu dem Charakter seiner ganzen Philosophie, die logischen Formen in den Dienst der ethischen Theologie stellt und aus derselben zu deduzieren unternimmt.