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KUNO FISCHER
Die hundertjährige Gedächtnisfeier der
kantischen Kritik der reinen Vernunft


"Die Philosophie mußte ... die Möglichkeit der Erfahrung selbst, die Möglichkeit einer Erkenntnis der Dinge überhaupt zu ihrem Problem machen, aus dessen Lösung sich die neue Weltsicht ergab. Dies war der einzig mögliche Ausweg, welcher der Philosophie übrig blieb; es war zugleich eine notwendige, vom Erkenntnisberuf des menschlichen Geistes geforderte Aufgabe."

"Jetzt hieß die Grundfrage nicht: wie sind die Dinge und ihre Erscheinungen möglich, die Tatsachen, deren Inbegriff wir Natur oder Wirklichkeit nennen? Sondern sie hieß: wie ist die Tatsache der Erfahrung und der Erkenntnis der Dinge selbst möglich? Es ist klar, daß diese Frage nicht durch die Erfahrung gelöst werden kann, denn diese ist und kann nicht ihr eigener Gegenstand sein."

"Jede unserer wissenschaftlichen Größen seit den Tagen Lessings darf als ein Beispiel gelten, wie man sich im Erkennen der Dinge kritisch verhält; auf dem Gipfel steht Kant, weil er sich zum Erkennen selbst kritisch verhielt' und dadurch der Begründer eines Zeitalters wurde, das man mit Recht das kritische genannte hat. Das vorige Jahrhundert hieß das der Aufklärung, das unsrige ist das der Kritik: darin liegt die Bedeutung und Tragweite der Epoche Kants, die in dieser Geltung niemals ausgelebt werden kann."

"Die kantische Philosophie muß bei der Art, wie sie ihre Aufgabe gefaßt hat, einen Gesichtspunkt fordern und ergreifen, unter dem die Sinnenwelt nicht mehr als etwas Gegebenes, sondern als etwas Kraft der Vernunft Hervorgebrachtes erscheint: einen Gesichtspunkt, unter dem die Entstehung der Sinnenwelt aus den Bedingungen der Vernunft und ihrer Tätigkeit einleuchtet."

I. Die Erscheinung der kantischen Vernunftkritik bezeichnet im Entwicklungsgang der neuen Philosophie den Wendepunkt, der die erste Periode von der zweiten scheidet: jene nahm ihre Anfänge in England und Frankreicht und gewann ihren Abschluß in Deutschland, diese ist deutschen Ursprungs und stammt aus Preußen. Die Geburt solcher Werke hat ihren Zeitpunkt erst dann erfüllt, wenn sie erschienen, d. h. aus der Verborgenheit ihrer Werkstätten in das volle Licht der Welt hervorgetreten sind. Die "Kritik der reinen Vernunft" erschien im Hochsommer des Jahres 1781. Gleichzeitig kam SCHILLERs erstes Trauerspiel. KANT hatte sein Werk dem preußischen Minister von Zedlitz zugeeignet, der ihm und seiner Sache günstig gesinnt war, er hat die Widmung den 29. März 1781 unterzeichnet und wahrscheinlich in derselben Zeit auch die (undatierte) Vorrede geschrieben; indessen war damals erst die größere Hälfte des Werkes selbst gedruckt, und es vergingen noch Monate, bevor die Herausgabe vollendet war. Es ist daher nicht richtig, wie mehrfach geschehen, das Datum der Zueignung für den Geburtstag der Vernunftkritik zu halten; fertig geschrieben war sie früher, fertig gedruckt war sie noch nicht. Aus den Briefen, die in jenen Tagen JOHANN GEORG HAMANN in Königsberg teils an HARTKNOCH, teils an HERDER schrieb, geht hervor, daß er, dem (gleichzeitig mit KANT) die Druckbogen zugesendet wurden, erst in der letzten Woche des Juni den Text zu Ende lesen konnte und erst vier Wochen aus der Hand des Verfassers ein vollständiges Exemplar geschenkt erhielt. Er schrieb für die Königsberger Zeitung den 1. Juli 1781 eine Anzeige des Werkes, die er aber aus gewissen Rücksichten ungedruckt ließt. Das Schlußwort derselben lautete: "Das Glück eines Schriftstellers besteht darin, von einigen gelobt und allen bekannt - Rezensent setzt noch als das Maximum echter Autorschaft und Kritik hinzu - von blutwenigen gefaßt zu werden." Der Erfolg hat diesen Ausspruch bestätigt. Die erste öffentliche Beurteilung, die von dem breslauer Philosophen CHRISTIAN GARVE herrührte und auf KANT den übelsten Eindruck machte, erschien in der Zugabe zu den "Göttingischen gelehrten Anzeigen" den 19. Januar 1782. Demnach fällt die Erscheinung der Vernunftkritik in die Mitte und ihre erste Verbreitung in die zweite Hälfte des Jahres 1781.

II. Bevor wir uns die Bedeutung dieses epochemachenden Werkes vergegenwärtigen, wollen wir noch einen flüchtigen Blick auf die Entstehung desselben richten, soweit uns Nachrichten darüber aus der Werkstätte des Philosophen zugekommen sind. Als KANT nach fünfzehnjährigem Zuwarten in seinem 47. Lebensjahr aus einem Privatdozenten Professor geworden war, mußte er sein Lehramt der Logik und Metaphysik nach üblicher Art mit der Verteidigung einer gedruckten Abhandlung antreten. Es geschah den 21. August 1770. Das Thema der lateinischen Inauguralschrift betraft "Form und Prinzipien der sinnlichen und intelligiblen Welt", sein Respondent war ein junger Mediziner jüdischer Herkunft, MARCUS HERZ, mit dem der Philosoph als Lehrer und Freund verkehrte, und dem er das Zeugnis erteilte, er habe seine Ideen am tiefsten durchdrungen. Gleich nach jener Disputation ging HERZ nach Berlin, wurde hier täglicher, gern gesehener Gast in MENDELSSOHNs Haus und erwarb sich mit der Zeit als Arzt und Philosoph eine sehr angesehene Stellung; er wurde durch Gespräche, später durch Vorlesungen vor einer gemischten Zuhörerschaft der erste Verkündiger der kantischen Philosophie in der preußischen Hauptstadt. Nach seiner Heirat mit der durch Schönheit, Geist und Sittenanmut ausgezeichneten Tochter eines portugiesisch-jüdischen Arztes war es die Anziehungskraft von HENRIETTE HERZ, die sein Haus zu einem der gesuchtesten Mittelpunkte des schöngeistigen Berlin machte (1779-1803). Unter den Briefen KANTs sind die an HERZ die interessantesten und zugleich die einzigen, die uns einen genaueren Einblick in die Entstehung der Vernunftkritik gewähren.

In jener Inauguralschrift waren die Aufgaben der Kritik schon die erste ihrer grundlegenden Entdeckungen, die neue Lehre von Zeit und Raum, enthalten. Es ist leicht zu sehen, daß die Frage nach "Form und Prinzipien der sinnlichen und intelligiblen Welt" zusammenfällt mit der Frage nach den Grundformen und Grenzen des sinnlichen und intellektuellen Erkenntnisvermögens; denn die Sinnenwelt umfaßt die Objekte, wie sie unserer Sinnlichkeit einleuchten, die intelligible Welt dagegen die Vorstellungen der Dinge, wie sie unabhängig von ihrer sinnlichen Erscheinung oder der Art unserer Sinneswahrnehmung ansich sind und nur durch den Intellekt gefaßt werden können. Der Philosoph mußte sich daher jetzt die Aufgabe stellen, in einem ausführlichen Werk "die Grenzen der Sinnlichkeit und Vernunft" auseinanderzusetzen. Die Vernunfterkenntnis aber betraf in ihrem ganzen Umfang die Prinzipien der Naturlehre, der Moral und der Ästhetik oder, anders ausgedrückt, "die Metaphysik der Natur, die Metaphysik der Sitten und die Geschmackslehre". Damals beabsichtigte KANT, den ganzen Inhalt der kritischen Philosophie in einem Gesamtwerk baldigst darzustellen. Aber die Aufgaben sonderten sich, es entstanden eine Reihe grundlegender kritischer Untersuchungen, deren jede ein Werk für sich ausmachte, und es dauerte zwanzig Jahre, bis der Plan ausgeführt war, den KANT in einem Brief an HERZ vom 7. Juni 1771 als sein Vorhaben bezeichnete.

Von diesen Aufgaben rückte eine sogleich in den Vordergrund: das metaphysische Problem, die Frage nach der Erkenntnis der Dinge, der theoretischen und praktischen. Die Lösung dieser Aufgabe nannte der Philosoph eine "Kritik der reinen Vernunft". Auch so waren Plan und Grenzen des Werkes noch viel zu weit gefaßt. Die Kritik der reinen Vernunft mußte sich einschränken auf die theoretische Erkenntnislehre: die Begründung unserer Erkenntnis der Dinge vermöge der Sinnlichkeit und des Verstandes. Ein solches Werk hoffte KANT binnen drei Monaten herauszugeben: so schrieb er den 21. Februar 1772. Aus drei Monaten wurden neun Jahre. Immer wieder sieht er in diesem langen Zeitraum das Ziel weit näher, als es ist; immer wieder rückt es in die Ferne. Vergeblich hofft er, dasselbe im Sommer 1777 erreichen zu können; der nächste Winter, der folgende Sommer vergehen, und noch bleiben Hoffnungen wie Versprechungen unerfüllt; auch in den Weihnachtstagen 1779 ist der gehoffte Abschluß noch nicht gewonnen. Nachdem die Schwierigkeiten der Untersuchung besiegt sind, kommen die der Darstellung und Verdeutlichung, weil stärkere Hindernisse, als KANT sich vorgestellt hat. "Was ich die Kritik der Vernunft nenne", schreibt er den 20. August 1777, liegt mir wie ein Stein im Weg". "Was mich aufhält, ist nichts weiter als die Bemühung, allem darin Vorkommenden die völlige Deutlichkeit zu geben." Die echte Deutlichkeit fordert, daß man die Ausführung und Verständlichkeit mit der Kürze vereinigt. Kürze auf Kosten der Deutlichkeit kostet dem Leser einen unnützen Zeitaufwand, und das ist auch eine Länge, für welche der Autor verantwortlich gemacht wird. KANT hat das treffende Wort des Abbé TERRASSON wohl beherzigt: "Manches Buch würde weit kürzer sein, wenn es nicht so kurz wäre". Aber es gibt auch eine Breite der Ausführung auf Kosten der Deutlichkeit: wenn uns dadurch das Ganze verdunkelt wird! "Manches Buch", sagte KANT, um den Ausspruch TERRASSONs nicht weniger treffend zu ergänzen, "würde viel deutlicher geworden sein, wenn es nicht gar so deutlich hätte werden sollen." Die musterhafte Art der Deutlichkeit dem schwierigsten aller Bücher zu geben, war das Ziel, das dem Philosophen in seiner Vernunftkritik vorschwebte, das er aber in dieser Vollendung auf den ersten Wurf unmöglich zu erreichen vermochte.

Endlich war die Arbeit so weit gediehen, daß KANT, nachdem er das Ganze erst durchdacht, dann die einzelnen Teile schriftlich entworfen und im Zusammenhang bearbeitet hatte, nun die letzte Hand an die Sache legen und die für den Druck bestimmte Komposition und Abschrift besorgen konnte. Es geschah im Laufe des Jahres 1780 binnen vier bis fünf Monaten. Im Oktober bot ihm HARTKNOCH in Riga seinen Verlag an, und noch vor Abschluß des Jahres begann der Druck. Aus den drei Monaten waren neun Jahre, aus dem versprochenen "Werkchen von geringer Bogenzahl" ein korpulentes Werk geworden, dessen Bogenzahl zwei Alphabete überstieg, und von dem HAMANN scherzhaft sagte: "Es paßt nicht zur Statur des Autors".

Den 1. Mai 1781 schrieb KANT seinem Schüler und Freund in Berlin:
    "Diese Ostermesse wird ein Buch von mir unter dem Titel "Kritik der reinen Vernunft" herauskommen. Es wird für Hartknochs Verlag bei Grunert in Halle gedruckt". "Dieses Buch enthält den Ausschlag aller mannigfaltigen Untersuchungen, die von den Begriffen anfingen, die wir zusammen unter der Benennung des mundi sensibilis und intelligibilis abdisputierten; es ist mir eine wichtige Angelegenheit, demselben einsehenden Mann, der es würdig fand, meine Ideen zu bearbeiten, und so scharfsinnig war, darin am tiefsten einzudringen, diese ganze Summe meiner Bemühungen zur Beurteilung zu übergeben."
III. Ein Jahrhundert ist seit der Geburt dieses Werkes, eines der schwierigsten und reifsten, die je erschienen sind, abgelaufen und heute streitet man von Neuem über den Sinn der kantischen Lehre, als ob sie von gestern wäre, und die Reihe der Systeme, die aus ihr hervorgegangen sind, nicht zu den Früchten gehörten, woran der Baum erkannt wird; als ob jetzt erst eine "philologische" Interpretation seiner Sätze das Verständnis des Philosophen herbeiführen soll, das ein von den Ideen KANTs bewegtes und erfülltes Jahrhundert verfehlt hat! Indessen läßt sich das Werk eines großen Denkers auch im Einzelnen nur richtig verstehen, wenn uns die Aufgabe und der innerste Gedanke des Ganzen einleuchtet. Versuchen wir also, die Grundidee zu erhellen, daß unseren Lesern jene Schwierigkeiten erspart werden, welche eine Dunkelheit im Ausdruck und die Breite im Detail verursachen. Worin lag die Notwendigkeit einer neuen Epoche der Philosophie, die Aufgabe, welche KANT ergriff, und deren eigentümliche Fassung, worin selbst die Neuheit und das unterscheidende Kennzeichen seiner Sache erblickte?

Vor ihm wollte alle Spekulation eine Erklärung der Dinge sein, jede strebte in ihrer Weise nach einem Weltsystem und gab einen mehr oder weniger ausgeführten Entwurf, der das All der Dinge umfaßte. Solange es nun neben einer solchen universellen Erkenntnis noch keine besonderen, in die Einzelgebiete der Dinge verzweigten Wissenschaften gab, herrschte die Philosophie ohne mächtige Widerrede und erstreckte sich über ein weites Reich, dessen Provinzen herrenlos waren. Aber sobald die besonderen Wissenschaften sich einstellten und jene Provinzen anbauten, erhoben sich in immer stärkerer Zahl die Gegner, die der Philosophie mit der Herrschaft auch die Berechtigung ihrer Existenz streitig machten. Im Altertum hatte die Metaphysik, im Mittelalter die Theologie, die deren Stelle vertrat, gut reden, denn die beobachtenden Wissenschaften waren noch unreife und unmündige Kinder. Durch die Entdeckungen, welche die Epoche der neuen Zeit ausmachten und unsere Weltanschauung auf allen Gebieten umgestalteten, wurden sie groß; die Spezialforschung erstarkte und in demselben Maß, wie auf dem Gebiet der menschlichen Erkenntnis die Territorialhoheit zunahm, sank das kaiserliche Ansehen der Philosophie. Sollte ihr Reich nicht zugrunde gehen, wie weiland das römisch-deutsche, so mußte sie darauf bedacht sein, sich eine neue, feste, von Seiten der Erfahrungswissenschaften anerkannte und unbestreitbare Stellung zu erobern.

Sie war überflüssig, wenn sie nur den Doppelgänger der Erfahrungswissenschaften machte und nachsprach, was diese entdeckt und erkannt hatten; sie war von Übel, wenn sie unabhängig von aller Erfahrung dieselben Gegenstände ergründen wollte und mit unsicheren oder falschen Spekulationen sicheren Ergebnissen widersprach: sie mußte der Erfahrung aus dem Weg gehen und durfte sie nie aus dem Auge verlieren; sie mußte zunächst das Feld der Erfahrungstatsachen, das Gebiet der Erkenntnis der Dinge verlassen und die Möglichkeit der Erfahrung selbst, die Möglichkeit einer Erkenntnis der Dinge überhaupt zu ihrem Problem machen, aus dessen Lösung sich die neue Weltsicht ergab. Dies war der einzig mögliche Ausweg, welcher der Philosophie übrig blieb; es war zugleich eine notwendige, vom Erkenntnisberuf des menschlichen Geistes geforderte Aufgabe.

Jetzt hieß die Grundfrage nicht: wie sind die Dinge und ihre Erscheinungen möglich, die Tatsachen, deren Inbegriff wir Natur oder Wirklichkeit nennen? Sondern sie hieß: wie ist die Tatsache der Erfahrung und der Erkenntnis der Dinge selbst möglich? Es ist klar, daß diese Frage nicht durch die Erfahrung gelöst werden kann, denn diese ist und kann nicht ihr eigener Gegenstand sein. Daher wird eine wissenschaftliche, von der Erfahrung unterschiedene und doch unverwandt auf dieselbe gerichtete Untersuchung gefordert. Es mußte der Ort gefunden werden, von dem aus man die Erfahrung, die Erkenntnis der Dinge überhaupt ihrem ganzen Umfang nach vor sich zu sehen und zu durchschauen vermochte. Auf diesen Punkt stellte KANT die Philosophie und brachte einfach genug das Ei zum Stehen, was vor ihm so viele Hände versucht hatten, aber das Ei war immer wieder umgefallen.

Die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis war als solche nicht neu, es gab in der Geschichte der Philosophie jede Menge Erkenntnistheorien; man hatte vor KANT in der alten wie neuen Zeit diese Frage oft genug gestellt und untersucht, aber stets so beantwortet, daß die Bedingungen, woraus die Tatsache unserer Erkenntnis hervorgehen sollte, bei Licht besehen, selbst schon das volle Faktum der Erkenntnis waren, wenn auch in der einfachsten Gestalt. So war die fragliche Tatsache nicht erklärt, sondern vorausgesetzt, gleichviel ob diese Voraussetzungen im Faktum angeborener Ideen oder sinnlich gegebener und verknüpfter Eindrücke bestanden; gleichviel wie diese Verknüpfung genannt wurde, ob Kausalzusammenhang oder Zeitfolge. Die Philosophen vor KANT erklärten die Erkenntnis durch eine Art Erkenntnisstoff, wie vordem die Physiker die Wärmeerscheinungen durch den Wärmestoff oder die Verbrennung durch das Phlogiston. So blieb die Tatsache der möglichen Erkenntnis unerklärt, und da die gemachten Voraussetzungen nicht zufällig waren, sondern aus der Beschaffenheit und Richtung ihrer Systeme notwendig folgten, bliebe sie auch unerklärlich: sie galt als ein Dogma, welches selbst die Skeptiker trotz aller Verneinung bestehen ließen und brauchten.

Diesen dogmatischen Zustand aller Philosophie vor ihm durchschaute KANT und machte demselben mit der sehr einfachen und einleuchtenden Forderung ein Ende, daß die Bedingungen zur Erkenntnis und Erfahrung nicht selbst schon Erkenntnis oder Erfahrung dürfen, sondern derselben vorausgehen müssen, wie die Faktoren dem Produkt und die Ursachen der Wirkung. Es ist ein großer Unterschied zwischen dem, was über unsere Erkenntnis hinausgeht oder dieselbe übersteigt (transzendiert), und dem, was ihr vorausgeht und von KANT mit dem Wort "a priori" oder "transzendental" bezeichnet wird: das Erste liegt jenseits unseres Erkenntnishorizonts, das Letztere diesseits. Auf diese diesseitigen Bedingungen unserer Erkenntnis und Erfahrung richtet KANT seine Untersuchung. In dieser Richtung ist sie neu und von aller früheren Philosophie unterschieden: sie verhält sich zu den Bedingungen der menschlichen Erkenntnis nicht voraussetzend, sondern untersuchend, prüfend, sichtend, d. h. nicht dogmatisch, sondern kritisch. Der Gegenstand dieser kritischen Untersuchung sind die Erkenntnisfaktoren, d. h. unsere Vernunftvermögen: daher der Name "Vernunftkritik" für die kantische Forschung. Es handelt sich aber um die Vernunft, wie dieselbe die Erfahrung hervorbringt und nicht aus der letzteren hervorgeht, erfüllt mit mannigfachen empirischen Vorstellungen; es handelt sich, kantisch zu reden, um die Vernunft a priori, die reine Vernunft als den Inbegriff transzendentaler Vermögen; daher nannte der Philosoph sein Werk "Kritik der reinen Vernunft". Das Wort transzendental" bezeichnet bei ihm sowohl die Bedingungen, die der Erfahrung vorausgehen, als auch die darauf gerichtete Untersuchung; es ist im ersten Fall gleichbedeutend mit "a priori", im zweiten gleichbedeutend mit "kritisch": daher die kritische Philosophie auch Transzendentalphilosophie heißt und die Vernunftkritik jeden ihrer Abschnitte und jede ihrer Untersuchungen unter dem Titel einer "transzendentalen" ankündigt. Es ist gut, den Sinn dieser Bezeichnung zu erklären, da man sich unter dem unverstandenen oder mißverstandenen Wort allerhand Dunst und Schwärmereien vorzustellen pflegt.

In der kritischen Richtung, die KANT der Philosophie angewiesen und bebahnt hat, liegt seine epochemachende Tat, die weit mehr als nur einen Fortschritt bedeutet, denn sie enthält für alles philosophische und wissenschaftliche Denken, welches gelten will, die fortbeständige, unvertilgbare Norm. Dieser Ausspruch bedarf einer näheren Begründung.

IV. Um die Bedeutung und Tragweite dieser Epoche richtig zu würdigen, müssen wir uns klar machen: was heißt überhaupt kritisch zu denken?

Man kann sich zu den Objekten dogmatisch oder kritisch verhalten: dogmatisch, wenn man sie als gegeben nimmt und ihre Eigenschaften erkennt; kritisch, wenn man die Bedingungen untersucht, woraus sie und ihre Beschaffenheiten hervorgehen, d. h. ihre Entstehung erforscht und ihre Entwicklungszustände verfolgt. Die Entstehung und Entwicklung der Objekte sind die Probleme des kritischen Denkens, die entwicklungsgeschichtliche Vorstellung der Dinge ist dessen Arbeit und Frucht. Wenn wir das Weltgebäude als gegeben und fertig annehmen und die Gesetze seiner vorhandenen Einrichtung zu erkennen suchen, so verhalten wir uns zur Sache dogmatisch, kritisch dagegen, wenn es sich um die Frage handelt: wie ist das Weltall entstanden, und aus welchen Veränderungen ist sein gegenwärtiger Zustand allmählich hervorgegangen? Ebenso steht es mit der Betrachtung der Erde und alles irdischen Lebens in der ganzen Mannigfaltigkeit seiner Formen und Arten, mit der Betrachtung der Menschheit und ihrer Rassen, der Völker und Sprachen, der Religionen und Religionsurkunden, der Dichtung und Kunst, mit einem Wort der gesamten Welt der Natur und Bildung. Ich brauche bloß die Namen KANT und LAPLACE, LAMARCK und DARWIN, FRANZ BOPP, KARL RITTER, DAVID FRIEDRICH STRAUSS u. a. zu nennen, um den Anblick eines Jahrhunderts hervorzurufen, das von allen Seiten auf den Wegen kritischer Forschung der entwicklungsgeschichtlichen Weltansicht zustrebt. Ich spreche nicht von diesem oder jenem Ergebnis der Forschung, sondern von der kritischen Geistesrichtung, in welche auch die Gegner eingehen müsen, um die Resultate, denen sie abgeneigt sind, zu bekämpfen. Jede unserer wissenschaftlichen Größen seit den Tagen LESSINGs darf als ein Beispiel gelten, wie man sich im Erkennen der Dinge kritisch verhält; auf dem Gipfel steht KANT, weil er sich zum Erkennen selbst kritisch verhielt und dadurch der Begründer eines Zeitalters wurde, das man mit Recht das kritische genannte hat. Das vorige Jahrhundert hieß das der Aufklärung, das unsrige ist das der Kritik: darin liegt die Bedeutung und Tragweite der Epoche KANTs, die in dieser Geltung niemals ausgelebt werden kann.

Aus der Fassung der kantischen Aufgabe läßt sich sogleich eine Vorstellung ihres Umfangs gewinnen, der über den Bezirk aller früheren Erkenntnistheorien weit hinausgeht, und dessen Nichtbeachtung oder Nichtverständnis die Einsicht in den Geist der kantischen Lehre verhindert. Es sollen die Erkenntnisfaktoren entdeckt und daraus die Möglichkeit der Erfahrung erklärt werden. Darin besteht die Aufgabe. Nun leuchtet ein, daß ohne die Möglichkeit der Erfahrung es auch keine Gegenstände möglicher Erfahrung, keine Erfahrungsobjekte, keinen Inbegriff derselben gibt, wobei wir letzteren mit mit dem Wort Sinnenwelt bezeichnen. Daher muß in einem gewissen Sinn die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung, nach der Entstehung der Erkenntnis zusammenfallen mit der Frage nach der Entstehung der Sinnenwelt. Die kantische Philosophie muß bei der Art, wie sie ihre Aufgabe gefaßt hat, einen Gesichtspunkt fordern und ergreifen, unter dem die Sinnenwelt nicht mehr als etwas Gegebenes, sondern als etwas Kraft der Vernunft Hervorgebrachtes erscheint: einen Gesichtspunkt, unter dem die Entstehung der Sinnenwelt aus den Bedingungen der Vernunft und ihrer Tätigkeit einleuchtet.

Jetzt erst erhellt sich die ganze Kluft zwischen der dogmatischen und der kritischen Denkweise, und wir erkennen die ungemeine Geistesanstrengung, die sowohl zu den Entdeckungen der Kritik als auch zu deren Verständnis erforderlich ist. Die Schwierigkeiten, welche neue Lebens- und Erkenntniszustände zu überwinden haben, sind allemal so groß, als der Abstand beider vom gewohnten Gang des Lebens und Bewußtseins; sie erscheinen in der hartnäckigsten Stärke, wenn wir genötigt werden, den natürlichen und gleichsam eingewurzelten Gesichtspunkt unserer Vorstellungen aufzugeben. So verhält es sich mit der kritischen Denkart gegenüber der dogmatischen. Ich will die Schwierigkeiten, um die es sich handelt, durch einen Vergleich, der mit unserer Sache eine tiefere als nur bildliche Verwandtschaft hat, zu verdeutlichen suchen. Unter dem natürlichen Gesichtspunkt, auf den wir uns gestellt finden, erscheint uns das Weltgebäude als ein vorhandenes gegebenes Objekt, als ein Kugelgewölbe, in dessen Mittelpunkt die Erde ruht, um welche Himmel und Sonne, Mond und Planeten in verschiedenen Umlaufzeiten ihre Kreise beschreiben. Auf diese Anschauung gründete sich die alte Astronomie, die zur Auseinandersetzung der gegebenen Phänomene, der gemeinsamen und eigentümlichen Umläufe der Weltkörper einer künstlichen Sphärenmaschinerie, zur Erklärung des scheinbar verwickelten Planetenlaufs jener ptmolemöischen Annahme der Epizyklen bedurfte, die am Ende doch nicht ausreichten, um die Tatsachen der planetarischen Bewegungserscheinungen aufzulösen. Die Phänomene blieben unerklärt. KOPERNIKUS durchschaute den unhaltbaren Zustand der alten Astronomie und die Wurzel ihres Irrtums: sie lag in der geozentrischen Vorstellung. Um die Planetenwelt zu verstehen, mußte dieser natürliche Gesichtspunkt der ersten, sinnlich nächsten Betrachtung aufgegeben und der heliozentrische ergriffen werden, von dem aus der menschliche Geist die Erde in seinem Horizont faßt, unter den Planeten entdeckt und auf seinen irdischen Standort herabsieht. Nun leuchtet ein, daß der Erdbewohner die Achsendrehung und Zentralbewegung des eigenen Weltkörpers nicht wahrnimmt, daß aus dieser Nichtwahrnehmung, diesem Nichtwissen der eigenen Tätigkeit jener notwendige Schein hervorgeht, der uns den täglichen Umschwung des Firmaments, die jährliche Bewegung der Sonne um die Erde und die Unregelmäßigkeiten im Lauf der Planeten, die mit der Erde dasselbe Zentrum umkreisen, erblicken läßt. Das kopernikanische System widerlegt und stürzt das ptolemäische, es erkennt dessen Grundirrtum und erklärt aus dem geozentrischen Standpunkt all jene scheinbaren Bewegungen, die demselben als unumstößliche Tatsachen des Augenscheins gelten und gelten müssen; es setzt an die Stelle künstlicher und unzureichender Hypothesen die einfachste und naturgemäßeste Lösung. Wie sich in der Astronomie das kopernikanische System zum ptolemäischen, wie sich in der Vorstellung der Planetenwelt der heliozentrische Standpunkt zum geozentrischen: so verhält sich überhaupt die kritische Betrachtungsweise zur dogmatischen, der transzendentale Gesichtspunkt zum natürlichen.

Unwillkürlich gibt uns das Beispiel und die Lehre des KOPERNIKUS einen bedeutsamen Fingerzeig. Wie es sich mit unserer Vorstellung der Körperwelt im Großen, des Planetensystems im Besonderen verhält, so kann und wird es sich wohl mit der Sinnenwelt im Ganzen verhalten. Es ist vorauszusehen, daß ähnliche Grundirrtümer ähnliche Folgen haben werden, daß wir, unbewußt der eigenen Geistestätigkeit in der Ausbildung unserer gesamten Vorstellungswelt, diese letztere für ein gegebenes Objekt ansehen und das eigene Tun für den Zustand und die Eigenschaften der Dinge halten; so wie wir im Universum statt der Bewegung des eigenen Weltkörpers die Bewegungen und Bewegungszustände fremder Weltkörper erblicken, weil wir die des unsrigen nicht wahrnehmen. Eine ähnliche Selbsttäuschung, welche der geozentrische Standpunkt mit sich führt, beherrscht unsere gesamte Weltvorstellung und bedarf, um erleuchtet und in ihrer Geltung zerstört zu werden, einer ähnlichen Selbstbestimmung und Selbsterkenntnis; nur daß ihre Grundlagen weit umfassender und verborgener, deshalb schwieriger zu entdecken und zu erforschen sind, als die unserem kosmischen Wohnort anhaftende Wurzel des geozentrischen Irrtums.

Um die Ordnung der Planetenwelt und in ihr die Bewegung der Erde zu erkennen, mußte KOPERNIKUS den heliozentrischen Standpunkt in die Astronomie einführen. Um die Ordnung der Sinnenwelt und in ihr unsere Vernunfttätigkeit zu erkennen, mußte sich die Philosophie auf den kritischen (transzendentalen) Standpunkt erheben, von dem aus die Welt der Erscheinungen in Zeit und Raum erblickt wird. Wie sich der heliozentrische Standpunkt zum menschlichen Wohnort, so verhält sich der kritische zur menschlichen Vernunft; der Erkenntnishorizont des ersten reicht so weit wie das Gebiet der Weltkörper, der des andern so wie wie Zeit und Raum, als die Vernunft und ihre Grenzen. Kant wurde der Kopernikus der Philosophie und wollte es sein. Unser Vergleich ist ihm aus der Seele und nach dem Mund gesprochen, er hat sein Werk gern und wiederholt mit dem des KOPERNIKUS verglichen, wie BACON das seinige mit dem des KOLUMBUS.

V. Wir haben vorhin den Unterschied der dogmatischen und kritischen Denkweise so ausgedrückt, daß dort die Objekte als gegeben vorausgesetzt sind, hier dagegen wird gefragt: wie sind sie entstanden? Nun leuchtet ein, daß in unserer Vernunft kein Objekt erscheinen und zustande kommen kann ohne unsere eigene erzeugende Tätigkeit. Daher ist die Ansicht, nach welcher die Dinge uns von außen gegeben sind, nur möglich, wenn man die eigene hervorbringede Tätigkeit nicht einsieht, nicht kennt oder vergißt. Der Zustand der Unbewußtheit oder Selbstvergessenheit charakterisiert den Dogmatismus der Denkart. Nicht wissen was man tut, und deshalb das eigene Produkt für ein fremdes ansehen: darin besteht und daraus erklärt sich alles dogmatische Verhalten. Entspringt jene Tätigkeit tiefer als unser Bewußtsein, oder, was dasselbe heißt, geht sie dem letzteren vorher, so geschieht sie unbewußt, und die dogmatischste Ansicht der Objekte ist dann die natürlichste Sache der Welt; sie ist die erste und nächste Vorstellungsart, deren Widerlegung nur möglich ist, wenn die unbewußte Produktion erleuchtet und in das Bewußtsein erhoben wird. Darin besteht eine der schwierigsten Aufgaben des kritischen Denkens. Ist die erzeugende Tätigkeit eine bewußte, so kann sie nur durch einen völligen Mangel an Selbstbesinnung in Vergessenheit geraten, aber die Folge wird die gleiche sein; wir werden im Zustand einer solchen Vergessenheit das eigene Werk für ein fremdes ansehen, nur daß in diesem Fall die Torheit der dogmatischen Vorstellung sogleich in die Augen springt. Niemand findet die geozentrische Weltanschauung, bevor wir deren Ungrund erkannt haben, töricht, aber jeder lacht über den Mann, der sich nicht genug darüber wundern konnte, daß man entdeckt hat, wie die Sterne heißen. Und doch ist der erste Irrtum ebenso dogmatisch wie der zweite: sie folgen beide notwendig aus dem Nichtwissen des eigenen Tuns, nur daß wir die Erdbewegung nicht wahrnehmen können, wohl aber wissen, daß alle Namensgebung ein Werk menschlicher Erfindung ist. Wer dies nicht weiß oder vergißt, dem müssen die Namen der Weltkörper als von außen gesetzt, gleichsam als Signaturen erscheinen, die sich zu den Sternen verhalten, wie die Schilder zu den Wirtshäusern, und dann hat man freilich Recht, sich über die teleskopische Entdeckung derselben zu wundern.

dennsiewissennicht Das Nichtwissen des eigenen Tuns ist der innerste Grund allen dogmatischen Verhaltens, aller Selbsttäuschung, Verblendung und Torheit, auch in der Wahl unserer Lebensziele und Lebensrichtung. Das Wissen des eigenen Tuns ist die durchgängige Aufgabe des kritischen Denkens, der Weg der Selbsterkenntnis und Selbstbesinnung, gerichtet auf das Ziel echter Wissenschaft und Lebensweisheit. Man hat KANT wohl mit SOKRATES verglichen. In dem eben ausgesprochenen Charakter liegt der Vergleichspunkt: Selbsterkenntnis, Wissen des eigenen Tuns in Absicht auf die wahrhaft menschlichen Lebenszwecke war das Thema, womit SOKRATES im Altertum, KANT in der neuesten Zeit die Epoche der Philosophie gemacht haben. In der Hervorhebung dieser Aufgabe sind sie einander ähnlich, in der Art der Lösung grundverschieden.

Unsere Weltvorstellung ist unbewußt entstanden und darum von Geburt dogmatisch: auf diesem Punkt steht und beharrt das natürliche Bewußtsein, auf dieser Grundanschauung ruht die dogmatische Philosophie, die ihre Systeme in allen möglichen Richtungen ausgebildet und erschöpft haben muß, bevor der kritische Umschwung eintreten kann. Daher ist es nicht befremdlich, daß sich der Zeitpunkt des letzteren so spät erfüllt, erst nachdem im Ideengang der Menschheit mehr als zwei Jahrtausende abgelaufen waren. Die dogmatische Philosophie ist die entwicklungsgeschichtliche Voraussetzung der kritischen, wie das ptolemäische System die des kopernikanischen.

Es gibt im Entwicklungsgang jedes Menschen, auch derer, die zu den höchsten wissenschaftlichen Entdeckungen berufen sind, einen Geisteszustand, worin das dogmatische Verhalten das allein naturgemäße und das kritische geradezu unmöglich ist. Man muß eine Fülle von Objekten kennengelernt und einen Reichtum von Vorstellungen erworben haben, um ein Interesse an ihrer Erzeugung fassen und die Frage stellen zu können: wie sind diese Objekte entstanden? Man muß Vorstellungen haben, um fragen zu können, woher man sie hat.

Wenn dem Kind eine Geschichte erzählt wird, die es mit Begierde und Spannung anhört, um sein Einbildungsbedürfnis zu sättigen, so fällt es ihm nicht ein, sich zu erkundigen: woher diese Geschichte? wer ist ihr Gewährsmann und Urheber? Es fragt wohl, ob die Geschichte auch wahr ist, aber nicht aus irgendeinem Interesse der Erkenntnis, sondern weil es diese Wahrheit wünscht, denn die wirkliche Begebenheit macht auf die Phantasie des Kindes einen ganz anderen und weit stärkeren Eindruck als die erfundene. Um einen solchen Eindruck ist es dem Kind zu tun, wenn es gläubig einer Erzählung lauscht, keineswegs um eine Prüfung, die seinen Glauben erschüttern könnte. Daher ist es auch gleich und gern zufrieden, wenn ihm versichert wird, daß die Sache wahr ist. Aus eben demselben Grund fordert in religiösen Dingen der kindliche, darum auch der volkstümliche Glaube die Wirklichkeit der heiligen Geschichte und empfindet jede Abminderung der historischen Realität, jede mythologische Erklärungsart als eine Abschwächung des erhabenen Eindrucks und als eine Verflüchtigung des Glaubens.

Wenn dem Kind Bilder gezeigt werden, so ist seine Schaulust ganz von den dargebotenen Gegenständen erfüllt; es ergötzt sich am Bild, es will wissen, was dargestellt ist, und frägt nicht, von wem? Sagen wir ihm, die Frau in diesem Gemälde ist Maria mit dem Jesuskind auf ihrem Arm, so ist es völlig befriedigt. Daß der Maler RAPHAEL heißt, sagt ihm gar nichts. Es wird nicht fragen: "echt oder unecht? Kopie oder Original?" Solche Fragen können ihm nicht in den Sinn kommen, denn sie setzen Vorstellungen voraus, die das Kind nicht hat und haben kann. Man sieht, wie notwendig und unentbehrlich in der Ausbildung unserer Vorstellungswelt das dogmatische Verhalten ist, wie ungereimt und lächerlich die Forderung wäre, von vornherein kritisch zu denken. Ebenso notwendig und unentbehrlich ist die dogmatische Philosophie im Ideengang der Menschheit, ebenso unmöglich ist die kritische am Beginn der philosophischen Weltbetrachtung.

Nicht bloß die Voraussetzung, sondern der Gegenstand der Kritik ist unsere Erkenntnis der Dinge in ihrer angeborenen dogmatischen Verfassung. Offenbar muß die Tatsache der Erkenntnis vorhanden sein, bevor und damit die Möglichkeit und Berechtigung derselben erforscht wird; sie muß gegeben und auf einem reflexionslosen, unkritischen Weg entstanden sein, um die Frage hervorzurufen: wie ist sie gegeben? Die kritische Philosophie verhält sich demnach zu unserer natürlichen (dogmatischen) Erkenntnis der Dinge, die letztere in ihrem ganzen Umfang genommen, der auch die dogmatische Philosophie in sich schließt, wie die Physiologie zum Leben, die Optik zum Sehen, die Akustik zum Hören, die Grammatik zum Sprechen usw. Durch eine falsche Umkehrung dieses Verhältnisses könnte man leicht der kritischen Philosophie eine Torheit zuschreiben, die dem Unsinn gleich käme: als ob sie meinte oder meinen müßte, daß mit der Erkenntnis der Dinge zu warten ist, bsi sie mit der Erklärung und Begründung derselben ins Reine gekommen ist; daß man erst ergründen muß, wie man erkennt, bevor man sich mit dem Erkenntnisvermögen in den Strom der Dinge wagt! Dann freilich würde KANT, wie HEGEL gespottet, jenem törichten Mann gleichen, der nicht eher ins Wasser gehen wollte, bevor er nicht schwimmen gelernt hat. Um das Bild festzuhalten und das natürliche Erkennen mit dem Schwimmen zu vergleichen, so verhält sich KANT zu jenem, wie ARCHIMEDES, der die Gesetze des Schwimmens entdeckte, zu diesem. Man beachte wohl die Reihenfolge unserer Wahrnehmungs- und Erkenntniszustände, sie ist einleuchtend genug: erst das natürliche Sehen, dann die Optik, dann das unterrichtete, urteilende, kritische Sehen, wobei wir uns aller unvermeidlichen optischen Täuschungen, aller Trugbilder des Augenscheins wohl bewußt sind. Das natürliche Sehen ist Gegenstand der Optik, das kritische ist deren Folge. Ganz ähnlich ist die Reihenfolge in den Entwicklungszuständen der Philosophie: erst das natürliche Erkennen und die dogmatischen Systeme, dann die Vernunftkritik, aus der ein geschultes, belehrtes, berichtigtes Erkennen hervorgeht, das die Selbsttäuschungen der Vernunft, die dogmatischen Trugbilder durchschaut und alle darauf gegründeten Erkenntnissysteme und Erkenntniskünste vermeidet. Wenn KANT in diesem Sinn dem Fortbau und den Versuchen einer gewissen Metaphysik sein Halt zurief, so wollte er, um das vorige Bild noch einmal zu brauchen, nicht vor dem Schwimmen im Wasser, sondern vor einem halsbrecherischen Flug durch die Lüfte gewarnt haben.

VI. Die Aufgaben der Vernunftkritik mußten dem Zeitalter angepaßt sein, woraus sie hervorging, und es gehört zu ihrer hundertjährigen Gedächtnisfeier, daß wir uns ihren historischen Charakter und den dadurch bestimmten Gang ihrer Untersuchung vergegenwärtigen. Richten wir deshalb einen orientierenden Blick auf die philosophischen Erkenntniszustände, die KANT vor sich sah, ich meine die dogmatischen Systeme, welche die neue Aera seit den Anfängen des siebzehnten Jahrhunderts erzeugt hatte: sie gründen sich alle auf die Forderungen des natürlichen Erkennens und sind aus den letzteren ohne gelehrte Weitläufigkeiten zu verstehen.

Die natürliche Vernunft fordert im Vertrauen auf ihre Kräfte die Erkenntnis der Dinge durch eine eigene, unbefangene und vorurteilsfreie Forschung: dieser Ausgangspunkt gilt für die gesamte neuere Philosophie. Daß sie in gutem Glauben an das natürliche Licht der Vernunft mutig ans Werk geht, macht ihren dogmatischen und naturalistischen Charakter aus. Aber hieraus entspringt eine Streitfrage, die den Entwicklungsgang der Philosophie nötigt, sich in entgegengesetzte Richtungen zu scheiden: den Einen gilt als der einzige Weg der Erkenntnis die sinnliche, richtig geleitete Erfahrung und Beobachtung, den Anderen das von der sinnlichen Wahrnehmung unabhängige klare und deutliche Denken; wir nennen die Philosophie der ersten Art Empirismus, die der zweiten Rationalismus. Die Berechtigung des Empirismus versteht sich von selbst; die des Rationalismus liegt darin, daß wir auf dem Weg der sinnlichen Wahrnehmung die Dinge nur erkennen, wie sie in unseren Sinnesorganen erscheinen, nicht wie sie in Wahrheit oder unabhängig davon ansich sind. Das klare und deutliche, d. h. einleuchtende Denken besteht in einem stetig fortschreitenden Begründen und Folgern nach dem Vorbild der Mathematik und muß deshalb von unmittelbar gewissen Grundsätzen oder Prinzipien ausgehen, woraus alles Übrige folgt. Eine solche Prinzipienlehre nennt man Metaphysik: daher entwickelt sich der Rationalismus in einer Reihe metaphysischer Systeme. Die durchgängige Streitfrage der neueren Philosophie schwebt demnach zwischen Metaphysik und Erfahrung, und KANT wollte der Richter sein, der in seiner Vernunftkritik diesesn Prozeß untersucht und entscheidet.

Den Empirismus hatte BACON in zwei epochemachenden Werken, dem "Über den Wert und die Vermehrung der Wissenschaften" (1605) und seinem "Neuen Organon" (1620) begründet, er hatte den Weg der Erfahrung, die induktive Methode beschrieben, die von der Wahrnehmung der Tatsachen zur Erkenntnis der Ursachen führt, aber nicht untersucht, aus welchen Elementen die Erfahrung selbst besteht. Diese Aufgabe löste LOCKE in einem der wichtigsten und einflußreichsten Werke der neueren Philosophie, seinem "Versuch über den menschlichen Verstand" (1690); er begründete den Standpunkt des Sensualismus: alle Erfahrung ist Wahrnehmung, äußere und innere (Sensation und Reflexion), alle Wahrnehmungsobjekte sind Ideen oder Eindrücke des äußeren und inneren Sinnes. Nun frägt es sich: was sind Eindrücke? Hier entsteht ein neuer Gegensatz innerhalb des Sensualismus: Eindrücke sind entweder nur Perzeptionen (Vorstellungen), dann sind alle unsere Erkenntnisobjekte Ideen, dann gibt es in Wahrheit nur wahrnehmende und wahrgenommene Wesen, nur Geister und Ideen; oder sie sind bloß körperlicher Natur, Impressioinen, organische Veränderungen, dann gibt es in Wahrheit nur Materie und Bewegung. Der erste Standpunkt nennt sich Idealismus, wobei dieses Wort zunächst nur den Standpunkt bezeichnet, den BERKELEY begründete (1710-13), der zweite Materialismus, den besonders die französische Philosophie des vorigen Jahrhunderts ausgeführt und im "Systéme de la nature" (1770) vollendet hat.

Es gibt noch eine dritte Folgerung. Wenn alle Erkenntnisobjekte nur Eindrücke sind, so bestehen sie in einzelnen Erscheinungen ohne ein allgemeines und notwendiges Band; dann ist jede Art der Verknüpfung durch uns gemacht und durch unsere Gewohnheit befestigt, also ohne einen objektiven und gültigen Erkenntniswert, dann gibt es überhaupt keine wahre Erkenntnis: dies ist der Standpunkt des Skeptizismus, den DAVID HUME, einer der scharfsinnigsten Männer, die aus der Erfahrungsphilosophie hervorgingen, in seiner *"Abhandlung über die menschliche Natur" (1739) und seinem "Versuch über den menschlichen Verstand" (1748) darlegte. Von allen früheren Untersuchungen haben diese auf unseren KANT den größten Einfluß ausgeübt. Daß unter allen bisherigen Voraussetzungen der Philosophie eine wahre Erkenntnis der Dinge unerklärt, unerklärlich, unmöglich ist, hat HUME bewiesen und dadurch bewirkt, daß gründlicher und tiefer als bisher die Frage gestellt werden mußte: wie ist die Tatsache der Erkenntnis möglich? Erst der Skeptizismus, dann die Kritik! Erst die großen Sophisten des Altertums, dann SOKRATES! "Ohne Berkeley kein Hume, ohne Hume kein Kant", sagte HAMANN, und KANT selbst hat bestätigt, daß HUME einer seiner wichtigsten Vorgänger, wenn nicht der wichtigste war. Der erste Rezensent seiner Vernunftkritik wußte zwischen BERKELEY und KANT nicht genau zu unterscheiden. Als KANT zur Erläuterung und Verteidigung seiner Vernunftkritik die "Prolegomena" geschrieben hat, erklärte er in der Vorrede:
    "Ich gestehe frei die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, wass mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Feld der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab."
Wenn nun so die Erfahrungsphilosophie auf dem beschriebenen Weg zum Skeptizismus geführt hat, wohin trieb auf der entgegengesetzten Seite der Rationalismus? Ich will es in der Kürze sagen und die schwierigen metaphysischen Lehrgebäude, die hier errichtet wurden, im natürlichen Licht der Vernunft so erscheinen lassen, daß ihr Thema sofort einleuchtet. Es sind drei Hauptsysteme, deren jedes von einer Grundanschauung beherrscht wird, die sich aus der Verfassung der Welt dem unbefangenen Sinn mit der Gewalt einer Naturwahrheit aufdrängt. Diese Wahrheiten sind:
    1. der Gegensatz zwischen den bewußtlosen und bewußten Wesen, zwischen Geist und Materie,

    2. der notwendige und durchgängige Zusammenhang aller Dinge trotz jener Kluft

    3. die fortschreitende Stufenordnung, die in der Natur der Dinge keine Entzweiung verträgt und deren Gegensätze durch allmähliche Übergänge vermittelt.
Die erste Idee erfüllt und reguliert die Lehre des DESCARTES, die zweite das System SPINOZAs, die dritte das unseres LEIBNIZ. Dies sind gleichsam die drei Worte der naturalistisch gesinnten Metaphysik vor KANT. Es gibt kein viertes. Und wie dem natürlichen Verstand jede dieser Grundwahrheiten einleuchtet, so wird derselbe unwillkürlich bestrebt sein, alle drei zu vereinigen und nur diejenigen Schlußfolgerungen zu vermeiden, welche mit ihm und seiner Erfahrung streiten: er bejaht mit DESCARTES die Wesensverschiedenheit von Geist und Körper, aber ohne zu folgern, daß nun alle Körper kraftlos, alle Tiere empfindungslos sein müssen; er bejaht mit SPINOZA den durchgängigen Kausalzusammenhang aller Dinge, aber ohne die Geltung der Zwecke und zwecktätigen Kräfte in der Welt zu verneinen; er bejaht mit LEIBNIZ das Stufenreich der Dinge, aber der Satz, worauf dieser seine Lehre gründete, daß alle Wesen vorstellende Krafteinheiten (Monaden) sind, erscheint ihm paradox und erfahrungswidrig.

Man sieht, worauf die Sache hinaus will. Es wird eine solche Vereinigung der metaphysischen Systeme erstrebt, die mit der Erfahrung übereinstimmt und die Probe derselben besteht: ein Universalsystem, das alle Erkenntnisbedürfnisse befriedigt und alle Gegensätze ausgleicht, nicht bloß den Widerstreit zwischen den Metaphysikern, auch den zwischen Rationalismus und Empirismus, zwischen Metaphysik und Erfahrung. Dieses System der geforderten eklektischen Art in breitester Deutlichkeit ausgebildet, schulmäßig verfaßt und in einem reinlichen Deutsch literarisch beurkundet zu haben, ist das unleugbare und wichtige Verdienst, das sich CHRISTIAN WOLFF um die Philosophie und Bildung seiner zeit wie seines Volkes erworben hat. Er hat die Schule gegründet, woraus die deutschen Philosophieprofessoren des vorigen Jahrhunderts hervorgegangen sind, unter ihnen die ersten Lehrer KANTs.

Indessen erstreckten sich die Wirkungen der wolffischen Lehre weiter als Schule und Katheder. Was ihr zugrunde lag und den eigentlichen Werkmeister dieses so schulmäßig ausgerüsteten und ausstaffierten Systems bildete, war keineswegs philosophischer Tiefsinn, der verborgene Wahrheiten entdeckt und mit rücksichtsloser Konsequenz durchführt, unbekümmert was Erfahrung und gewöhnliches Bewußtsein dazu sagen, sondern es war eben dieses gewöhnliche Bewußtsein mit seiner Erfahrung, der sogenannte "gemeine Verstand" oder "common Sense", der sich im Besitz seiner natürlichen Wahrheiten sicher fühlt und keine derselben zugunsten einer Konsequenz, einer philosophischen Schulliebhaberei, eines künstlichen Denksystems opfert. Nichts war daher natürlicher, als daß der eklektische Sinn, mit dem der gesunde Menschenverstand das Ruder der Philosophie ergriff, auch die Fesseln des wolffischen Systems, die der Meister mit so vieler Grandezza getragen hat, abstreifte und nun als populäre Weltweisheit, als "Philosophie für die Welt", im Gegensatz zur Schule hervortrat. Das ist der Charakter der deutschen Aufklärung in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die mit ROUSSEAU und den Schotten sympathisierte und der kritischen Epoche unmittelbar vorausging. Mit dieser populären Weisheit hat KANT stets gerechnet.

Das Ende der Erfahrungsphilosophie war HUMEs Skeptizismus, der die sogenannte "schottische Schule" gegen sich hervorrief: die Philosophie des "common sense", welche THOMAS REID einführte (1764); das Ende des Rationalismus und der Metaphysik war der Eklektizismus, der WOLFFs System machte und auflöste und die deutsche Aufklärung aus sich hervorgehen ließ, die ihrer Richtung nach mit den Schotten übereinstimmte. Diese Geistesverwandtschaft hat einer der bedeutendsten Denker und Schriftsteller unserer Aufklärung, der edle CHRISTIAN GARVE, durch seine Übersetzung und Erklärung der Moralphilosophie FERGUSONs (1772) und des berühmten Hauptwerks von ADAM SMITH beurkundet. Sein "Ferguson" hat auf SCHILLER, noch als Zögling der herzoglichen Militärakademie, einen höchst anregenden und auf die erste Ausbildung seiner philosophischen Ideen einen bemerkenswerten Einfluß geübt. Jeder Widerspruch mit dem gesunden Menschenverstand gilt den Vertretern unserer Aufklärung für ungereimt, jeder Zwiespalt zwischen Kopf und Herz für ein Zeichen der Verirrung, die Klarstellung der natürlichen Wahrheiten ist ihr Thema, die Verbreitung dieses Lichts in der Menschheit ist ihr Beruf, die Gemeinverständlichkeit und Schönheit der belehrenden Rede ihre stilistische Aufgabe. Es ist anzuerkennen, daß Männer, wie MOSES MENDELSSOHN, seiner Zeit der berühmteste unter diesen "Weltweisen" unserer Aufklärung, daß der begabte, früh verstorbene THOMAS ABBT, der nach dem Vorbild der Franzosen und Engländer dem Geschmack des Zeitalters gemäß die Form der Essays mit großem Erfolg auszubilden begann, daß endlich JOHANN JACOB ENGEL, GARVEs Zeitgenosse und Freund, der schönwissenschaftliche Wortführer des Gemeinsinns, diesen Beruf erkannt und erfüllt haben. Gegenüber den Extremen der Philosophie, jenen Gegensätzen zwischen Dogmatismus und Skeptizismus, zwischen Rationalismus und Empirismus, zwischen Idealismus und Materialismus usw. verhält sich die deutsche Aufklärung, wie in ENGELs "Philosoph für die Welt" Herr Tobias Witt zu den drei Paaren in seiner Nachbarschaft, die ihre Sache allemal dadurch verderben, daß sie in ihrer Art zu reden und zu handeln immer nach entgegengesetzten Richtungen extravagieren. "Ich, der ich zwischen beiden Redensarten mitten inne wohnte", sagt Tobias Witt, "ich habe mir beide Redensarten gemerkt, und da spreche ich nun nach Zeit und Gelegenheit bald wie der Herr Grell und bald wie der Herr Tomm."

VII. Kein Zweifel, daß der sogenannte gemeine Verstand mit seinen natürlichen Wahrheiten tatsächlich gilt und allen Systemen und Zweifeln der Philosophen zum Trotz die Welt beherrscht. Das volle Gewicht und die Anerkennung dieser Tatsache kann nicht mehr fraglich sein; wohl aber ist die Frage, von deren Entscheidung der Fortgang der Philosophie abhängt: ob mit der Anerkennung des gemeinen Verstandes die Begründung desselben ausgeschlossen oder nicht vielmehr gefordert ist? Ob unser gewöhnliches Bewußtsein das letzte aller Fundamente oder nicht vielmehr das erste aller Probleme sein soll? Die Männer der schottischen Schule wie der deutschen Aufklärung nahmen den "common sense" zum Fundament und erklärten seine Wahrheiten für die Grundtatsachen und die Richtschnur alles Philosophierens; sie wollten bis zu dem Punkt zurückkehren, der im Ursprung der neuen Philosophie dem Zwiespalt zwischen Empirismus und Rationalismus vorausging. Ein solcher Rückgang der Dinge ist überall unmöglich und erscheint, wo er angestrebt wird, als ein erkünstelter und verfehlter Versuch. Der nächste Fortschritt der Philosophie fordert, daß der gemeine Verstand mit seinen sogenannten natürlichen Einsichten, dieser Voraussetzung aller dogmatischen Erkenntnis, aufhört als die Grundlage der Philosophie zu gelten und zum ersten ihrer Probleme, zum Gegenstand ihrer Erforschung gemacht wird.

Dies geschieht durch KANT. Wie ist die Tatsache unseres gemeinen oder natürlichen Bewußtseins möglich? Aus dieser Grundtatsache der dogmatischen Philosophie wird die Grundfrage der kritischen. Einfacher und dem geistigen Entwicklungsgesetz gemäßer läßt sich dieser Fortschritt nicht fassen. Die dogmatische Philosophie mit allen von ihr ausgeprägten Gegensätzen und die eklektisch gerichtete Aufklärung mit allen von ihr angestrebten Ausgleichungen bezeichnen auf das deutlichste die Aufgabe der Vernunftkritik und die Richtschnur ihrer Untersuchung. Die Erkenntnissysteme, unabhängig von und im Widerstreit mit der Erfahrung, sind gescheitert; die Erkenntnis der Dinge in vollem Einklang mit der Erfahrung ist das geforderte Ziel, das zu lösende Problem, die zu erklärende Sache. Wenn in der Organisation unserer Vernunft die Bedingungen entdeckt und nachgewiesen werden, welche die Erfahrung in ihrer allgemeinen, wissenschaftlichen Geltung erzeugen und eine andere Art der Erkenntnis hervorzubringen nicht imstande sind, so ist das Ziel erreicht, welches KANT vor sich sah.

Dies ist nun das durchgängige Thema der Vernunftkritik, es liegt in der Frage: wie und unter welchen Bedingungen ist eine erfahrungsmäßige Erkenntnis, Erfahrung als Wissenschaft, eine methodisch geordnete Erfahrung möglich? Und da alle Erfahrung in der Verknüpfung unserer Wahrnehmungsobjekte oder Erscheinungen besteht, so zerlegt sich das Thema der Vernunftkritik in drei Hauptprobleme:
    1) wie entstehen aus den Empfindungen Erscheinungen?

    2) wie entsteht aus den Erscheinungen Erfahrung?

    3) wie entsteht aus der Erfahrung Wissenschaft oder eine methodisch geordnete Erkenntnis der Erscheinungswelt, die unaufhörlich fortschreitet, ihren Umfang erweitert und nach der Einheit eines Ganzen strebt, so wenig wie sie jemals die Vollendung des fertigen Ganzen erreicht?
Diese Entstehung ist jedesmal eine Erzeugung oder Vernunftleistung, die im ersten Fall durch das anschauende, im zweiten durch das denkende, im dritten durch das zielsetzende Vermögen bewirkt wird. Offenbar verhalten sich diese Kräfte und Leistungen so zueinander, daß sie gemeinsam und stufenmäßig die erfahrungsmäßige Erkenntnis hervorbringen: die anschauende Vernunft (Zeit und Raum) verwandelt unsere Eindrücke in Erscheinungen und liefert so das Material, welches der Verstand kraft seiner verknüpfenden Begriffe in Erfahrungswahrheiten verwandelt, welche letztere wiederum das Material bieten, welches die ordnende und eine vollkommene Einheit anstrebende Vernunft in Wissenschaft verwandelt oder systematisch verarbeitet. Es ist hier nicht der Ort, die Auflösung jener drei Fragen, unter denen die zweite die schwierigste war, eingehend zu erörtern, aber wir sehen deutlich genug im Gesamtergebnis der Vernunftkritik die Idee der Vernunftentwicklung vor uns: die von einem Erkenntnisbedürfnis getriebene Entfaltung und Steigerung unserer Erkenntnisvermögen.
LITERATUR: Kuno Fischer, Die hundertjährige Gedächtnisfeier der kantischen Kritik der reinen Vernunft, Heidelberg 1892