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MAX FRISCHEISEN-KÖHLER / WILLY MOOG
Kants Kritizismus
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"Nur die allgemeine Form der Erscheinung und der Erfahrung hat Kant aus der Gesetzlichkeit des Bewußtseins abgeleitet, niemals ihren bestimmten Gehalt, den er vielmehr auf eine transzendente Affektion zurückführt. Wendungen, in denen Kant die traditionell vorausgesetzte Ungleichartigkeit des Gegenstandes des inneren Sinnes mit den Gegenständen äußerer Sinne anficht, besagen nicht, daß das Substrat unserer äußeren und inneren Anschauung das identisch selbe Wesen ist, sondern nur, daß beide als gleichartig gedacht werden können.

§ 47. Den vierten Abschnitt der Philosophie der Neuzeit bildet der Kritizismus KANTs und die philosophische Bewegung, die sich unmittelbar an ihn anschließt.

Zwar gehört das Lebenswerk KANTs nach seinem historischen Gehalt noch dem 18. Jahrhundert an; es ist aus dem Geist der Deutschen Aufklärung geboren, und wie hoch es sich auch über deren Standort erhebt: unter den Voraussetzungen der Aufklärung überhaupt ist es dauernd verblieben. Ja, KANT kann als einer der bedeutendsten Vertreter der Aufklärungsphilosophie bezeichnet werden, die in seinen Schriften und Arbeiten ihren Höhepunkt und Abschluß findet.

Denn die mathematisch-mechanische Naturauffassung, welche die Grundlage der aufklärerischen Bewegung war, bildete auch den Ausgangspunkt von KANTs Denken, die Fortbildung dieser Naturauffassung das erste große Problem seiner Forschung. Und hier waren es die Bemühungen um eine Kosmologie und Entwicklungsgeschichte des Universums im Sinne einer Ergänzung der Gesetzeswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts, an welche KANT anknüpfte. Das umfassende Weltbild, das der jugendliche Kant als eine Entwicklungsgeschichte des Universums entworfen hat und in der Geschichte der Erde, der physischen Geographie und Anthropologie zur Bestimmung der wahren Stellung des Menschen innerhalb der Schöpfung durchführte, zielte auf einen wissenschaftlichen Abschluß dieser Bemühungen. Das andere Problem, das diese Naturwissenschaft KANT stellte, war der Gegensatz ihrer Ausprägung durch NEWTON einerseits, LEIBNIZ andererseits. Hiermit war aber die weitere und umfassendere Aufgabe seines Ausgleichs zwischen der Erfahrungsphilosophie der Engländert und der rationalen Metaphysik der kontinentalen Schule gegeben; es war die Aufgabe der Zeit, welche gleichmäßig die französischen wie die deutschen Denker beschäftigt hat. Die Auflösung, auf welche KANT sich hinbewegte, lag in derselben Richtung, in welcher der Empirismus in seiner Fortbildung zum Positivismus durch HUME und d'ALEMBERT begriffen war. Und endlich ist die Ausbildung seiner ethischen Ideen durch die englischen Moralisten wie auch durch VOLTAIRE und ROUSSEAU vorbereitet; wie im Einzelnen der Einfluß dieser Schriftsteller einzuschätzen ist: gemeinsam mit KANT ist ihnen, wie sie vom Problem des Verhältnisses von Glückseligkeit und Tugend ausgehend zu einer immer schärferen Scheidung des Eudämonismus vom sittlichen Ideal gelangen, wie sie die Independenz [Unabhängigkeit - wp] des sittlichen Bewußtseins von aller theoretischen, insbesondere auch der metaphysisch-religiösen Erkenntnis fordern, um umgekehrt den Glauben an Gott und die Unsterblichkeit auf dieses sittliche Bewußtsein zu gründen. So verbinden sich bei KANT alle Motive der Aufklärungsphilosophie; er erfaßt sie in ihrer Gesamtheit und Tiefe, er unternimmt in einer Universalität, wie vor ihm nur LEIBNIZ in Deutschland, die großen Ideen nicht nur der Kultur seines Vaterlandes, sondern der modernen Kultur überhaupt zu einem systematischen Ganzen zu verknüpfen.

Aber so bedeutend diese überragende Stellung KANTs innerhalb der zeitgenössischen Philosophie erscheint: sie bildet doch nur die Grundlage und Voraussetzung für die Entwicklung der eigentlichen Schöpfung KANTs, der Schöpfung, um derentwillen er als der Beginn einer neuen, der bedeutendsten philosophischen Epoche angesehen werden darf. Es ist bezeichnend, daß das Verhältnis KANTs zu den aufklärerischen Ideen schon in seinen vorkritischen Schriften klar umschrieben, ja erschöpft ist; die Synthese der mechanischen Naturauffassung mit dem sittlichen Idealismus, der englischen Erfahrungsphilosophie mit dem kontinentalen Rationalismus ist in den Schriften der ersten Hälfte seines Lebens bereits vollzogen. Wäre KANT etwa im Alter LESSINGs gestorben, so würde er uns nur als einer der glänzendsten Vertreter der Aufklärungsphilosophie zu gelten haben. Aber durch die mit einer beispiellosen Energie des Denkens erarbeitete Entdeckung des kritischen oder transzendentalen Standpunktes, den er in der zweiten Hälfte seins Lebens entwickelte, hat KANT den Anstoß zu einer philosophischen Bewegung gegeben, welche die Bedeutung einer Revolution im philosophischen Denken erhalten und bis zum heutigen Tag in ihrer Stärke fortgedauert hat.

Diese Transzendentalphilosophie ging vom Problem der Geltung der rationalen Wissenschaft von der Natur und der Welt aus, die in doppelter Gestalt, als mathematische Naturwissenschaft einerseits, als rationale Metaphysik andererseits vorlag. Indem in KANTs Geist die Aufgabe einer Prüfung aller Erkenntnisse aus reiner Vernunft, welche gleichmäßig diesen beiden Disziplinen zugrunde liegen, entstand, wurde er zu Untersuchungen fortgeführt, die ihm ein völlig neues Gebiet der philosophischen Forschung mit eigener Fragestellung eröffneten. Aller Wissenschaft von der Welt, dem Menschen und Gott, d. h. aller Wissenschaft von einem Seienden, hat die Untersuchung ihrer Erkennbarkeit, die Prüfung der reinen Begriffe und Grundsätze, die ihre Darstellung in allgemeingültigen Urteilen ermöglichen, voranzugehen. Damit war ein neues Feld philosophischer Untersuchung abgegrenzt, deren Gegenstand die Erkenntnis aus reiner Vernunft ist, und die Kritik der reinen Vernunft zum Rang einer Disziplin erhoben, die von nun ab an der Spitze des philosophischen Systems zu stehen hat.

Aber ebenso bedeutend wie die Bestimmung und Abgrenzung dieser neuen Wissenschaft von der reinen Vernunft war, wie KANT sie in beharrlicher, von Entdeckung zu Entdeckung schreitender Arbeit bis ins Einzelne hinein durchführte. Nirgends tritt die Größe des kantischen Denkens heller als in diesem unablässigen Fortschreiten hervor, das sich nicht mit dem Entwurf der neuen Wissenschaft begnügte, sondern sie sogleich auch bis zum Letzten ausbaute. So gab KANT nicht nur dem Erkenntnisproblem seine allgemeinste und tiefste Fassung, sondern in seiner Lehre von den Formen der Anschauung, den Kategorien, der transzendentalen Apperzeption, dem Schematismus, den Grundsätzen, den Ideen der Vernunft, den Antinomien, den regulativen Prinzipien lieferte er eine vollkommen durchgebildete und in allen diesen Stücken originale Theorie des Wissens von einer Vollständigkeit und Strenge, wie nie ein Forscher vor ihm; sie bildete fortan das vornehmste Thema der Philosophie, ihre Bekämpfung oder Fortbildung die wichtigste Aufgabe des theoretischen Denkens bis auf den heutigen Tag.

Und dann die Ergebnise, zu welchen die Kritik KANTs führte! Das Wichtigste in den Augen KANTs sowohl wie in denen seiner Zeitgenossen war die Widerlegung jeder metaphysischen Erkenntnis, die Beschränkung all unseres Erkennens auf mögliche Erfahrung. Hier, wo KANT mit der Skeptis der empirischen Richtungen zusammenzutreffen, ja sie geradezu zu übernehmen scheint, zeigt sich der Fortschritt über alle bisherige Philosophie am deutlichsten. Denn in welcher Form der Agnostizismus bisher auch aufgetreten war: er folgerte doch immer aus dogmatischen Prämissen und blieb daher unter den Voraussetzungen metaphysischer Behauptungen. Indem KANT dagegen in seiner Erkenntniskritik durch bloß begriffliche Zergliederung der reinen Erkenntnis zur Aufdeckung eines Systems gedanklicher Bedingungen gelangt, unter denen jede Erkenntnis eines Gegenstandes stehen muß, setzt er wenigstens innerhalb der Erkenntniskritik und grundsätzlich keine Annahmen über Seiendes voraus; er zeigt vielmehr, daß jede Erkenntnis eines Seienden nur kraft dieser gedanklichen Bedingungen möglich ist, nur in ihrem systematischen Zusammenhang Geltung besitzt. Darin liegt die Überlegenheit der transzendentalen Methode, daß sie keine psychologische Zergliederung des Erkenntnisvorganges, keine biologische Analyse des Erkenntnissubjekts ist, sondern auf die Zergliederung der Gesetzlichkeit des Erkenntnisgehaltes selber ausgeht. Und indem sie aus der Analysis der alle Wissenschaft vom Wirklichen konstituierenden reinen Begriffe folgert, daß diese nur der Ausdruck für Verknüpfungsweise des denkenden Bewußtseins sind, hebt sie jede Erkenntnis des Wirklichen, wie es unabhängig von diesem denkenden Bewußtsein ansich ist, auf, ohne aber dieses Wirkliche selbst, dessen apriorische Erkennbarkeit allein in Frage steht, in Zweifel zu ziehen. Mit der Verneinung dieser Erkennbarkeit ist die apriorische Metaphysik vernichtet.

Aber damit ist zugleich ein anderes, ein positives Ergebnis von höchster Bedeutung gewonnen. Sind die in den reinen Begriffen in Abstraktion erfaßten Funktionen die Bedingungen jeder möglichen Erfahrung, dann gilt die aus ihnen ableitbare, von aller Erfahrung unabhängige Erkenntnis in strenger und allgemeingültiger Weise für jede mögliche Erfahrung. Dieselbe Kritik, die eine Erkenntnis des Nichterfahrbaren aufhebt, sichert durch den Nachweis, daß die Bedingungen der möglichen Erkenntnis die Bedingungen der möglichen Erfahrung sind, zugleich die objektive Erkenntnis des Erfahrbaren. Hieraus entsteht die große Aufgabe eines Systems der reinen Begriffe und der aus ihnen fließenden Grundsätze, die Aufgabe, welche KANT als das Thema der wahren Wissenschaft aus reiner Vernunft ansieht. Auf die Kritik, welche den Ursprung und die Gültigkeit der reinen Vernunfterkenntnis prüft und die Metaphysik im dogmatischen Verstand als absolute Erkenntnis vernichtet, folgt das System der Vernunfterkenntnis, das KANT, da es unabhängig von der Erfahrung in reinen Begriffen gründet, zwar auch als Metaphysik aber im veränderten Wortsinn bezeichnet.

Auch dieses System hat KANT, nachdem die Grundlegung abgeschlossen war, aufzurichten unternommen. Und zwar gliederte sich ihm dasselbe in zwei Teile: in eine Metaphysik der Natur, welche die reinen Erkenntnisprinzipien der Naturwissenschaft, und in eine Metaphysik der Sitten, welche die apriorischen Prinzipien des praktischen Vernunftgebrauchs behandelt. Freilich verschob sich ihm während der Ausführung dieser Plan. Neben die Kritik der reinen Vernunft, die ursprünglich allein als Grundlegung der kritischen Metaphysik gedacht war, trat dann eine selbständige Kritik der praktischen Vernunft. Und endlich erfuhr das System durch die Kritik der Urteilskraft noch eine bedeutende Erweiterung, welche nicht nur die zuvor nicht vorgesehene Begründung von apriorischen Prinzipien des Geschmacks und damit die Ästhetik als eine philosophische Wissenschaft entwickelt hat, sondern zugleich, indem sie die ästhetische und die teleologische Betrachtung unter einem systematischen Gesichtspunkt einheitlich zusammenfaßte, das System erst zum Abschluß brachte. In ihr nimmt KANTs Kritizismus, nachdem die mechanische Naturauffassung und der sittliche Idealismus begründet und gerechtfertigt sind, die künstlerisch-teleologische Interpretation der Welt in sich auf. Die künstlerisch-teleologische Interpretation der Natur war ja in Protest zur Aufklärung, aber auch in Verschmelzung mit ihr lebendig geblieben. Nunmehr wurde, was bei LEIBNIZ vorbereitet, bei SHAFTESBURY und seinen Nachfolgern mit dichterischer Kraft ausgesprochen war, von den metaphysisch-dogmatischen Fesseln befreit. Auf dem Boden des kritischen Systems trat diese Betrachtungsweise, die in dogmatischer Form mit dem mechanischen Weltbild so gut wie mit dem sittlichen Ideal in Widerstreit geraten mußte, in ihre kritisch begrenzten, aber eben durch diese Grenzbestimmungen neu gesicherten Rechte zurück. Es ist begreiflich, welche eine Bedeutung gerade die Kritik der Urteilskraft in einer Zeit der künstlerischen Renaissance, deren höchster Ausdruck das dichterische Lebenswerk von GOETHE war, erhalten mußte; von KANTs Kritik der Urteilskraft aus, die begrifflich bestimmte, was GOETHEs Art, Natur und Kunst zu empfinden und zu verbinden, zugrunde lag, führte unmittelbar der Weg zu GOETHEs Weltanschauung selbst und damit zum großen Thema des nachkantischen Idealismus.

Es ist aber für die geschichtliche Stellung und den Einfluß KANTs von größter Bedeutung, daß sein System, als ganzes gesehen, verschiedene Gesichtspunkte vereinigt, die, so eng sie in ihm verbunden und verschmolzen sind, doch einander wenigstens zu widerstreiten scheinen. Vor allem wirft die Erkenntniskritik, die eine logische Zergliederung der Erkenntnisarten und Erkenntnisbedingungen im Rahmen der Erkenntnis selber gibt, ein eigentümliches Zwielicht auf die von ihr und mit ihren Mitteln nicht zu prüfende Voraussetzung einer Wirklichkeit ansich, über deren Verhältnis zum denkenden Bewußtsein das System KANTs als transzendentaler Idealismus gleichwohl bestimmte Aussagen gemacht hat. Hier ist die Wurzel der vielen Inkongruenzen, die die Philosophie des großen Denkers zu durchziehen scheinen, an denen die Zeitgenossen Anstoß genommen haben, die den stärksten Anreiz zur Fortbildung boten und den Grund zu abweichenden Interpretationen der Gegenwart geben. Und doch ist diese Verbindung keine zufällige, ihr Ursprung liegt nicht nur in der Persönlichkeit des Denkers, der die in seiner langsamen Entwicklung durchlaufenen Stufen auch in der endgültigen Fassung seiner Lehren nicht zu überwinden vermocht hatte. Die vielseitige geschichtliche Wirkung des kantischen Systems ist gerade dadurch bedingt, daß in ihm der transzedentale Idealismus und die Erkenntniskritik sich gegenseitig durchdringen und stützen. Das Ziel der drei großen Kritiken liegt allerdings in der Analyse der synthetischen Urteile, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit erheben. Aber beständig greift doch die Kritik über die Urteilsanalyse hinaus. Indem die nach ihrem systematischen Wert ausgezeichneten Begriffe und Grundsätze auf Abstraktionen von Funktionen des Geistes zurückgeführt werden, tritt die die deutsche Psychologie seit LEIBNIZ beherrschende Lehre von der Spontaneität des Geistes als bedeutsame und weitreichende Voraussetzung in das kritische System ein. Indem weiter die Subjektivität der formalen Erkenntnisbedingungen als grundlegende Prämisse für die Entwicklung des Erkenntnisproblems, auf das die Frage ihrer objektiven Gültigkeit trotz ihres subjektiven Ursprungs zielt, entwickelt wird, enthüllt sich der Gegensatz des erkennenden Subjekts und der Dinge-ansich als eine dem gesamten Erkenntnissystem zugrunde liegende Voraussetzung. Und wenn auch nach der Konsequenz der Kritik jede theoretische Erkenntnis der Dinge ansich unmöglich ist, so fand KANT gleichwohl vom moralischen Gesetz aus einen neuen Zugang, den einzigen, zu dieser intelligiblen Welt. Wie die Kritik der reinen Vernunft mit der Urteilsanalyse eine Theorie von der Erzeugung der sinnlichen Welt gegeben hat, so hat es die Kritik der praktischen Vernunft nicht nur mit einem Prinzip der sittlichen Beurteilung, sondern auch mit einer sittlichen Gesetzgebung, die zu einer Maxime des praktischen Handelns dienen soll, zu tun. Durch dieses moralische Bewußtsein, das praktische Vernunft ist, erheben wir uns über die sinnliche Natur, wissen wir uns zu einer anderen Ordnung als zu der der Natur gehörig, zu einer Ordnung der Freiheit und autonomen Gesetzgebung. So ist der Mensch als Sinnenwesen und als Noumenon ein Bürger zweier Welten, nicht nur der Gegenstand einer zweifachen Beurteilung; und ist ihm auch versagt, von jener zweiten, der unsichtbaren Welt eine theoretische Erkenntnis zu gewinnen, so vermag er vom moralischen Bewußtsein aus die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, deren Realität mit theoretischen Mitteln weder zu beweisen noch zu widerlegen ist, zumindest als Postulate zu begründen. In diesem Sinne bekannte KANT, daß er das Wissen aufheben mußte, um dem (durch die praktische Vernunft geforderten) Glauben Platz zu machen. Hierbei ist von untergeordneter Bedeutung, daß es gerade die Ideen der religiösen Aufklärung sind, welche KANT auf diese Weg wiedergewonnen hat. Viel wichtiger war, daß diesem ganzen Vernunftglauben die Überzeugung von einer transzendenten Realität zugrunde lag, zu der wir uns als freie Vernunftwesen zugehörig wissen. Diese Überzeugung bildet auch die Voraussetzung der Kritik der Urteilskraft, deren Problem geradezu darin gipfelt, das Reich der Freiheit, aus welchem alle Bestimmtheit der Individualität herfließend gedacht werden muß, mit dem Reich der Natur, deren konstitutive Gesetze die Ableitung des Individuellen nicht gestatten, zusammen zu denken. Indem KANT für die reflektierende (nicht bestimmende) Urteilskraft, die das Besondere mit dem Allgemeinen verbinden will, als apriorisches Prinzip die Zweckmäßigkeit entdeckt, die keine konstitutive, sondern nur regulative Bedeutung für uns besitzt, verbleibt er hier in der Kritik der Urteilskraft in der Tat bei der Urteilsanalyse; aber dies doch nur, weil das Besondere, das uns vor allem beim Lebewesen in einer spezifischen Form entgegentritt, auf einen transzendenten Grund hinweist, der nach seinem Verhältnis zum individuellen Ding von uns, die wir nun einmal keinen anschauenden Verstand besitzen, nicht anders als nach dem Schema der reflektierenden Urteilskraft als Zweckmäßigkeit vorstellig gemacht werden kann. Und endlich verbindet KANT diese Überzeugung von den zwei Welten, der sinnlichen und der intelligiblen, mit dem Entwicklungsplan seiner Jugendjahre. Immer deutlicher tritt in seinen geschichtsphilosophischen Arbeiten als der letzte Sinn des in unendlicher Entwicklung fortschreitenden Weltgeschehens die Verwirklichung des Reichs der Freiheit hervor, welche die überzeitliche Bedeutung des rationalen Gehalts im geschichtlichen Kulturleben, in Wissenschaft, Sittlichkeit, Recht, Kunst und Religion ausmacht.

So durchdringen sich gegenseitig der transzendentale Idealismus mit seinem metaphysischen Hintergrund und der Standpunkt der Erkenntniskritik, der alle metaphysische Erkenntnis aufhebt. Es ist begreiflich, wie hier die Freunde wie die Gegner KANTs sofort eingreifen konnten, um den einen oder anderen Gesichtspunkt allein zur Herrschaft zu bringen; und es ist ebenso begreiflich, daß bei der Verkettung beider im kantischen Systemn dieses nicht ohne eine tiefgreifende Umwandlung in demselben geschehen konnte. Aber das Entscheidende, was KANT an die Spitze der Philosophie des 19. Jahrhunderts stellt, ist, daß die Aufgabe der Transzendentalphilosophie in der Fassung KANTs Fortbildung erfordert und von der Form des Idealismus, mit dem sie sich bei KANT verbunden hat, losgelöst werden konnte. So vermochte sie in der Generation der großen spekulativen deutschen Denker die phantastische Bewegung sowie das historische Bewußtsein in sich aufzunehmen; so hat sie den Verfall der romantischen Philosophie und den materialistischen Rückschlag im 19. Jahrhundert überdauert. In einem unvergleichlichen Siegeszug hat sie sich auch die anderen Nationen erobert; und gegenwärtig bildet sie den Ausgang und die Unterlage der neuen philosophischen Bewegung, die mit dem förmlichen Ruf "Zurück zu Kant!" eingesetzt hat. Das Problem KANTs und der methodische Grundgedanke, der sein kritisches System beherrscht, ist noch nicht geschichtlich geworden.

Das System von KANTs kritischer Philosophie ist von Beginn seiner Veröffentlichung an Schwierigkeiten des Verständnisses ausgesetzt gewesen. KANT selbst suchte diese Schwierigkeiten, die ihm in Klagen über die Dunkelheit seiner Schriften und offenbaren Mißverständnissen entgegengetreten sind, in den Neubearbeitungen seiner Hauptwerke und in ergänzenden Ausführungen zu heben, die Weitläufigkeit des Vortrages zu kürzen und die Grundgedanken seiner Lehre allseitig zu klären. Aber es zeigte sich bald, und KANT erlebte es noch, daß, als erst einmal das System der Transzendentalphilosophie in seiner ganzen Tiefe gewürdigt und durchdacht wurde, gerade in den Kreisen seiner Freunde und Anhänger sich verschiedene, voneinander abweichende Auffassungen vorzubereiten begannen. In den mannigfachen Fortbildungen des Systems in der nachkantischen Spekulation, die unmittelbar oder mittelbar an KANT anknüpfte, tritt die Differenz der Interpretationen in geschichtlich wirksamster Weise hervor. Und als die Philosophie der jüngsten Zeit auf KANT wiederum zurückging, zeigte sich, sowohl bei den Bemühungen, den systematischen Gehalt seiner Lehre für die neueren Problemstellungen fruchtbar zu machen, als auch bei den Versuchen, ein rein historisches Verständnis KANTs zu gewinnen, eine ähnliche Mehrheit von Deutungsmöglichkeiten, die auch gegenwärtig noch um Anerkennung ringen. Dieser Tatbestand, der sich in so überraschender Weise in den beiden Epochen der Vorherrschaft KANTs um die Wende des 18. und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederholt, wäre unerklärlich, wenn nicht die Gründe hierfür im System KANTs selbst liegen würden. In der Tat ist eine streng einheitliche Auffassung des kantischen Systems aufgrund seiner kritischen Schriften und mit Heranziehung der durch die neuere Forschung zugänglich gemachten Briefe, Vorlesungen, Reflexionen usw. nicht möglich. Alle bedeutenderen Versuche, eine solche Einheitlichkeit herzustellen, sehen sich zu der Anerkennung vom zumindest dem Wortlaut nach abweichenden und widersprechenden Ausführungen bei KANT selber genötigt; sei es nun, daß sie diese durch einen pädagogischen oder lässigen Sprachgebrauch oder durch eine Scheidung eines esoterischen und exoterischen Teils seiner Lehre erklären. Aber gegenüber solchen mehr oder weniger gewaltsamen Interpretationen hat gleichmäßig die sachliche wie die unbefangene Kritik darauf hingewiesen, daß in KANTs Transzendentalphilosophie, wie sie geschichtlich vorliegt, innere Inkongruenzen enthalten sind, die, wenn sie auch nicht die Bedeutung eines förmlichen Widerspruchs zu besitzen brauchen, doch einen Widerstreit zumindest der Konsequenzen der verschiedenen Gesichtspunkte, nämlich des transzendentalen Idealismus und der Erkenntniskritik, bedeuten, die in KANTs Lehre vereinigt sind.

Es mögen hier zur Verdeutlichung dieser Auffassung zwei der am meisten verhandelten Probleme der Kant-Interpretation kurz berührt werden.

Das eine ist das Problem des a priori. Daß die Methode der Vernunftkritik nicht psychologisch oder gar anthropologisch zu verstehen, daß sie nach ihrer wesentlichen Tendenz logisch, auf die objektive Zergliederung gerichtet ist, kann nach den ausführlichen Nachweisen von COHEN und RIEHL füglich keinem Zweifel mehr unterliegen. Daher hat ganz gewiß die Auszeichnung gewisser Erkenntnisse als a priori nichts mit der Behauptung ihres Angeborenseins zu tun; das a priori ist nicht zeitlich, sondern logisch zu verstehen; es bezeichnet die gesetzmäßigen Voraussetzungen, durch welche eine gegenständliche Erkenntnis den Charakter der objektiven Notwendigkeit erhält. Eine andere Frage ist es aber, ob nicht mit dieser erkenntniskritischen Auffassung des a priori sich bei KANT psychologische Betrachtungen verbinden, und zwar nicht nur im Sinn einer Übernahme von Vorstellungen der Vermögenspsychologie der Zeit (wie denn KANT beständig von Erkenntnisvermögen spricht; eine solche Übernahme besitzt einem mehr akzidentiellen Charakter, so daß sie aus dem logischen Aufbau des Systems auch ganz entfernt und etwa die Unterscheidung verschiedener Erkenntnisvermögen (Sinnlichkeit und Verstand) durch die Unterscheidung verschiedener Erkenntnisarten ersetzt werden könnte. Es handelt sich vielmehr darum, ob die Auflösung des Erkenntnisproblems an entscheidenden Punkten psychologische Prämissen selber fordert und eine Theorie des menschlichen Bewußtseins einschließt. Daß "die Kritik schlechterdings keine angeschaffenen oder angeborenen Vorstellungen" erlaubt, daß diese "alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören, als erworben annimmt", hat KANT auf der Höhe der Kritik (übrigens in völliger Übereinstimmung mit der Dissertation, die das Gleiche ausdrücklich lehrt) mit aller Entschiedenheit hervorgehoben. Aber es ist unverkennbar, daß KANT auf eine bestimmte Organisation des Menschen, die den Grund dafür enthält, daß die erzeugten Vorstellungen so und nicht anders entstehen, Bezug nimmt, und dieser Grund ist allerdings angeboren, er ist spezifisch menschlich. In diesem Sinn spricht KANT davon, daß wir nichts anderes als unsere Art, die Dinge wahrzunehmen, kennen, die Art, die uns eigentümlich ist, spricht er von den Eigentümlichkeiten unseres Verstandes, der kein Vermögen der Anschauung ist, der mittels einer bestimmten Zahl von Kategorien Erkenntnis erzeugt usw. Nun läßt sich, und KANT selbst hat das schon getan, das a priori im Sinn einer reinen Wert- oder Geltungsbestimmung leicht von den in der Organisation der menschlichen Vernunft enthaltenen Anlagen, die den empirischen Ursprung der ausgezeichneten Vorstellungen bedingen, scheiden. Aber der springende Punkt ist, ob nicht dieser psychologisch-anthropologische Rückgang auf eine spezifische Organisation in der Beweisführung der Kritik eine bedeutsame Rolle spielt. Für die Beantwortung dieser Frage ist vor allem die transzendentale Ästhetik entscheidend, in der ausdrücklich Raum und Zeit nicht nur als logische, sondern als subjektive Bedingungen, die bloß im Subjekt als seine formale Beschaffenheit ihren Sitz haben, gelehrt werden. Der Satz, daß Raum und Zeit durch die ursprüngliche Natur des Subjekts (des Menschen, wie KANT besonders hervorhebt) gegeben sind, daß sie als Formen meiner Sinnlichkeit in meinem Subjekt vor allen wirklichen Eindrücken vorhergehen, bildet geradezu die Grundlage des formalen Idealismus, wie KANT in den Prolegomena auch ausdrücklich seine Anschauungslehre in Parallele mit der durch LOCKE populär gewordenen Lehre von der Subjektivität der Sinnesempfindungen setzt. KANTs Theorie der Sinnlichkeit schließt die Theorie vom subjektiven durch die Organisation unseres Geistes bedingten Ursprung der Formen, in denen wir Gegenstände anschauen, ein. Und da diese Theorie wiederum die Voraussetzung für die kritische Grenzbestimmung der transzendentalen Deduktion und die Auflösung des Antinomienproblems ist, zeigt sie sich als ein integrierender Teil des ganzen Systems. Natürlich kann versucht werden, wie das in der Interpretation von COHEN und seinen Nachfolgern geschieht, von der Analytik aus, die sich nicht im gleichen Maß wie die Ästhetik auf die menschliche Organisation stützt (wenn auch in der ersten Bearbeitung der transzendentalen Deduktion psychologische Betrachtungen eingreifen), die Ästhetik zu revidieren und alles Gewicht auf die Apriorität im Sinne einer rein logischen Wertbestimmung unter Absehung der Subjektivität zu legen. Aber es ist unbestreitbar, daß dies nicht nur dem Wortlaut der Ästhetik und den vielfachen ähnlichen Erklärungen KANTs in allen seinen Hauptschriften widerspricht, sondern auch daß dadurch ein wichtiges Lehrstück des historisch vorliegenden Systems preisgegeben wird. Umgekehrt natürlich ist es ebensowenig statthaft, die Lehre von der Apriorität in die von der Subjektivität untergehen zu lassen und, wie das namentlich HELMHOLTZ und F. A. LANGE getan haben, in KANTs Kritik vorwiegend eine Theorie der menschlichen Intelligenz und ihrer natürlichen Gesetzmäßigkeit zu erblicken. KANTs Lehre von der Subjektivität der Anschauungsformen und die Lehre von der Apriorität bilden so zwei selbständige Gesichtspunkte, die jedenfalls in einer historischen Reproduktion von KANTs Philosophie beide gleichmäßig anzuerkennen sind.

Das andere Problem, auf das hier noch eingegangen werden mag, ist das des Dings-ansich. Dieses Problem bildet von alters her die Crux aller Kant-Interpretationen. Im Sinne einer konsequenten Durchführung des Standpunktes der transzendentalen Logik hat man den Begriff des Dings-ansich in der Bedeutung einer transzendenten Wesenheit aus dem System KANTs eliminieren wollen. Denn es liegt, wenn man KANT wörtlich nimmt, ein scheinbarer Widerspruch vor: einerseits werden von ihm Dinge-ansich vorausgesetzt, welche den gegebenen Erscheinungen zugrunde liegen, andererseits scheint jede Aussage über diese Dinge als existierend, als die Erscheinungen erzeugend die transzendente Anwendung kategorialer Bestimmungen zu erfordern, welche nach dem Ergebnis der Kritik nur für Gegenstände möglicher Erfahrung, d. h. für Erscheinungen, gelten können. Da nun ein solcher fundamentaler Widerspruch einem Denker wie KANT nicht zuzutrauen ist, muß der Begriff des Dings-ansich, der vielleicht bei seiner ersten Einführung mißverstanden werden könnte, vom Höhepunkt der Kritik aus gedeutet und begriffen werden, von wo aus er allein in seinem kritischen Sinn bestimmt und in seinem methodischen Wert gewürdigt werden kann. Innerhalb der neueren Kant-Interpretation haben so COHEN, CASSIRER, BAUCH u. a. unternommen, den Gedanken des Dings-ansich im Zusammenhang mit der systematischen Gesamtheit der durch die Kritik analysierten Erkenntnismittel zu bestimmen, etwa als bloße Idee, die die Aufgabe der Erkenntnis zum Ausdruck bringt (COHEN), oder als Formel für die allgemeine Funktion der Vergegenständlichung selbst, kraft deren es für uns allein Erkenntnis gibt (CASSIRER), oder als "das vom reinen Verstand für das empirische Subjekt geforderte Gesetz des Einheitsgrundes von Form und Inhalt der bestimmten Erscheinung" (BAUCH). Wie verschieden die Interpretationen auch im Einzelnen lauten: die Tendenz ist, den Begriff des Dings-ansich als einen bloßen methodischen Grundbegriff auszuzeichnen, der seine Bedeutung im Zusammenhang der Erkenntnisbedingungen besitzt und daher nicht auf etwas außerhalb aller Erkenntnis Liegendes verweist. Aber so scharfsinnig diese Deutungen sind: es ist nicht zu bestreiten, daß auch sie mit dem Wortlaut nicht nur der transzendentalen Ästhetik, sondern sämtlicher kritischen Schriften in Widerstreit geraten. Es ist nicht die Frage, ob die hier versuchte Auslegung der Urkunden in der Richtung der Fortbildung der kantischen Erkenntnislehre sachlich berechtigt ist, sondern allein, in welcher Bedeutung KANT den von ihm immer wieder verwendeten Begriff des Dings-ansich verstanden hat. Und da ist es jedenfalls nicht selbstverständlich, daß der Begriff des Dings-ansich, weil er in der Kritik als Begriff und im Zusammenhang methodischer Erwägungen auftritt, für KANT nichts anderes als einen Begriff bedeutet hat, dessen Sinn sich in seiner methodischen Funktion erschöpft. Wie das "Gegebene", so tritt auch das "Ding-ansich" zunächst als eine Voraussetzung in KANTs System auf, die aber darum, gleichsam vom Standpunkt einer Kritik höherer Ordnung aus, nicht nur als Setzung des Denkens selber angesehen zu werden braucht. Die den Deutungen dieser Art zugrunde liegende Voraussetzung ist, daß KANTs Idealismus gar nicht die Existenz der Sachen, also auch nicht ihre reale Beziehung zum Subjekt, sondern lediglich die Charakteristik der Erkenntnis betrifft. Dagegen zeugt das ganze System KANTs, sowohl in seiner allmählichen Entstehung, wie in seiner endgültigen Ausgestaltung dafür, daß es sich für KANT neben der Charakteristik der Erkenntnis auf, und zwar zum Zweck ihrer Wertbestimmung, um eine Feststellung des Verhältnisses der absoluten Dinge zu unserem Erkenntnisvermögen gehandelt hat. Denn das Entscheidende ist, daß der Begriff des Dings-ansich, der innerhalb der Erkenntnislehre nur als Grenzbegriff auftreten kann, in der weiteren Ausgestaltung des Systems für KANT eine positive Bedeutung gewinnt, die allen Versuchen, seinen Sinn lediglich im Rahmen des Erkenntnissystems zu fixieren, entgegensteht.
    "Wenn Erscheinungen für nichts mehr gelten", so heißt es in der Kr. d. r. V., "als sie in der Tat sind, nämlich für Dinge-ansich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Sätzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind. Eine solche intelligible Ursache aber wird nicht durch Erscheinungen bestimmt. Sie ist samt ihrer Kausalität außer der Reihe. Die Wirkung kann also in Anbetracht ihrer intelligiblen Ursache als frei und doch zugleich in Anbetracht der Erscheinungen als erzeugt aus derselben nach der Notwendigkeit der Natur angesehen werden."
Mit diesen Worten, welche KANTs Freiheitslehre scharf zusammenfassen, werden "die Gründe, die nicht Erscheinungen sind", positiv als "intelligible Ursachen" charakterisiert, womit doch nicht nur eine bloße Erkenntnisfunktion beschrieben, sondern eine ausdrückliche Objektsbestimmung vollzogen wird. Und in der Ethik enthüllt dann die Freiheit, "eine Reihe sukzessiver Zustände von selber anzufangen", ihr Wesen als wirkdende Potenz; in der Lehre vom intelligiblen Charakter, in der Erklärung des Ursprungs des Bösen in der Menschennatur aus dessen Freiheit, tritt dieses Wesen deutlich hervor. Die Freiheit bleibt nicht nur Idee, nicht nur Gesichtspunkt der Beurteilung, nicht nur empirisches Motiv zur Erzeugung der guten Handlungen; wäre sie nur dies, dann wären die vielfachen Bemühungen von KANT, Freiheit und Natur zusammenzudenken, welche Aufgabe schließlkich zum Grundthema der Kritik der Urteilskraft wurde, schwerlich erforderlich gewesen; es handelte sich aber für KANT nicht um eine bloße Scheidung und Verbindung von Urteilsarten (unter dem Gesichtspunkt der Natur und des Sittengesetzes), sondern um das Zusammendenken zweier Welten, der sinnlichen, vom Kausalprinzip beherrschten, und der intelligiblen Welt der Freiheit, welche in der Handlung nach der Idee der Freiheit zusammentreffen. Die "Absonderung der Zeit (sowie des Raumes) von der Existenz der Dinge-ansich", auf welche KANT (Kritik der praktischen Vernunft) als "vornehmste Voraussetzung" hinweist, erweist von einer anderen Seite denselben Tatbestand. So wenig die Apriorität von Raum und Zeit sich in ihrem logischen Wert erschöpft, so wenig ist der korrespondierende Begriff des Dings-ansich, insbesondere in seiner positiven Bestimmung durch die intelligible Freiheit, nur ein Denkbegriff.

So bleibt allein die Frage, ob der Widerspruch zwischen der Einschränkung aller gegenständlichen Erkenntnis auf Erfahrung und der Anerkennung der Dinge-ansich als den Erscheinungen zugrunde liegender Wesen in Wahrheit besteht. Die Schwierigkeit, die hier vorliegt, mildet sich jedoch beträchtlich, wenn die scharfe Scheidung, welche von KANT zwischen Denken und Erkennen vollzogen und festgehalten wird, recht erwogen wird. Daß wir die Dinge-ansich durch die reinen Verstandesbegriffe denken können, wenn wir sie auch (da wir sie nicht anzuschauen vermögen, Anschauung aber eine Bedingung der Erkenntnis ist) nicht zu erkennen vermögen, hat KANT so oft hervorgehoben, daß darüber füglich kein Zweifel bestehen sollte. Die geschichtliche Entwicklung der theoretischen Philosophie KANTs zeigt auf das Deutlichste, daß die Annahme eines Zusammenhangs der reinen Vernunft mit den Dingen-ansich, der in der praktischen Philosophie evident hervortritt, die Grundvoraussetzung war. Die Entdeckung der Anschauungsformen von Raum und Zeit und die weitere, daß die reinen Begriffe ohne Anschauungen leer sind, sie folglich Erkenntnis nur in ihrer Anwendung auf Anschauungen geben können, hat dann wohl die Erkennbarkeit der Dinge-ansich, nicht aber die Beziehung des Denkens überhaupt auf sie aufgehoben. Die Kritik schränkt nur die Erkenntnis aus reiner Vernunft auf Gegenstände möglicher Erfahrung ein. Aber sie läßt das Verhältnis des reinen Denkens zu dem, was nicht Gegenstand der Erfahrung ist, unberührt.

Nun kann allerdings gefragt werden, ob es KANT gelungen ist, wenn er von den Dingen-ansich spricht, die Kategorien in ihrer logischen Reinheit zu bewahren, oder ob nicht, wenn er den Dingen ansich Wirklichkeit, Vielheit (so besonders der für die Ethik grundlegenden Voraussetzung einer Mehrheit sich frei wissender Wesen) beilegt und sie im Verhältnis zu den Erscheinungen als deren bedingenden Grund bezeichnet, tatsächlich Anschauungselemente einfließen läßt. Die Frage ist strittig. Sicher hat KANT sich bemüht, wie er immer wieder betont, alle Zeitbestimmungen bei der Anwendung des reinen Denkens auf die Dinge-ansich auszuschließen; aber es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß tatsächlich die Zeitanschauung von KANT in dem Maße, als die transzendenten Erörterungen fruchtbar werden, in versteckter Form wieder eingeführt wird. In welcher Form der Begründung auch immer Aussagen über das Verhältnis des Sinnlichen zum Übersinnlichen gewagt werden, sie scheinen allemal mit der Lehre von der Idealität der Zeit zusammenzustoßen. Das wirklich von allen Anschauungen gereinigte Denken ist, wenn es auch auf Ding-ansich anwendbar sein mag, in dieser Anwendung völlig nichtssagend. Da aber KANT dorch recht Bestimmtes, wenn auch nur in der Form des Glaubens (der aber nicht, wie PAULSEN nahelegt, als metaphysische Erkenntnis im alten Verstand aufgefaßt werden darf), von der übersinnlichen Welt auszusagen unternommen hat, mußte er allerdings gewisse Konzessionen machen. Aber diese Konzessionen führen im letzten Grund nicht zu einer Preisgabe des Standpunktes der Analytik, sondern zu einer Preisgabe des Standpunktes der transzendentalen Ästhetik. Gerade in dieser Konsequenz liegt eine Bestätigung dafür, daß KANT die Gültigkeit des reinen Denkens für die Dinge-ansich nicht verneint hat; der Versuch, aus einer transzendenten Anwendung die Weltansicht zu erweitern, führte zu einer unbeabsichtigten, aber notwendigen transzendenten Setzung der Zeitanschauung zurück, deren Idealität die Voraussetzung für die Einschränkung des Verstandesgebrauchs auf mögliche Erfahrung war.

Wenn demnach das Ding-ansich bei KANT im realen Sinn verstanden werden muß, so sind auch unter dieser Voraussetzung noch mannigfach voneinander abweichende Interpretationen denkbar und hervorgetreten. Ist das Ding-ansich, das der Erscheinung zugrunde liegt, ein und dasselbe wie das, das dem erkennenden Subjekt zugrunde liegt? Oder haben wir das Ding-ansich als Objekt vom Ding-ansich als Subjekt als zwei verschiedene Wesen zu unterscheiden? Nach dem nächsten Verständnis des Wortlautes von KANTs Ausführungen möchte das letztere der Fall zu sein scheinen. Aber schon die unmittelbar an KANT sich anschließende spekulative Schule hat KANT im entgegengesetzten Sinn, der ihn unzweifelhaft dem metaphysischen Standpunkt BERKELEYs nähern würde, verstanden und weitergebildet. KANT hätte dann die Metaphysik des Objekts zerstört, aber die Metaphysik des Subjekts begründet. In der neueren Zeit hat KUNO FISCHER diese Auffassung in seiner ausführlichen Darstellung durchzuführen unternommen. Danach wäre der Grundgedanke und das Ergebnis der theoretischen Philosophie KANTs, "daß die Erscheinungen ohne Rest aus der Organisation der Vernunft hervorgehen und darum erkennbar sind". Demgegenüber ist aber vielfach und in zwingender Form (so von RIEHL und VAIHINGER) dargetan worden, daß hier, ähnlich wie bei der erkenntnistheoretischen Interpretation, eine Umdeutung vorliegt, die dem klaren und schlichten Wortlaut von KANTs Ausführungen sowie der ganzen Struktur seines Systems widerspricht. Nur die allgemeine Form der Erscheinung und der Erfahrung hat KANT aus der Gesetzlichkeit des Bewußtseins abgeleitet, niemals ihren bestimmten Gehalt, den er vielmehr auf eine "transzendente Affektion" zurückführt. Wendungen, in denen KANT die traditionell vorausgesetzte Ungleichartigkeit des Gegenstandes des inneren Sinnes mit den Gegenständen äußerer Sinne anficht, besagen nicht, daß das Substrat unserer äußeren und inneren Anschauung das identisch selbe Wesen ist, sondern nur, daß beide als gleichartig gedacht werden können.

Natürlich darf aber mit dieser Realität der transzendenten, von den auffassenden Subjekten unterscheidbaren Dinge nicht die empirische Existenz der Dinge in Raum und Zeit vermengt werden, wie das vielfach geschehen ist. Dieses Problem des empirischen Realismus hat KANT viele Schwierigkeiten gemacht, die in den Beweisen für diesen (im Paralogismus der Idealität der ersten Auflage der Kr. d. r. V., sowie in der Widerlegung des psychologischen, materialen Idealismus, welcher "das Dasein der Gegenstände im Raum außerhalb von uns entweder bloß für zweifelhaft und unabweislich oder für falsch und unmöglich erklärt", und der entsprechenden Anmerkungen zur Vorrede der zweiten Auflage ersichtlich sind. Daß diese Beweise nur auf den empirischen Realismus gehen, hat KANT so deutlich wie möglich hervorgehoben. Unverkennbar ist aber, daß, so scharf der Begriff von in Raum und Zeit existierenden Dingen von den Dingen ansich getrennt wird, eine Undeutlichkeit in Bezug auf das Verhältnis der empirischen Dinge zu unserer Vorstellung besteht. (Besonders tritt diese Unsicherheit etwa in der Zusammenfassung in den Paralogismen der ersten Auflage der Kr. d. r. V.) hervor:
    "Alle äußere Wahrnehmung also beweist unmittelbar etwas Wirkliches im Raum oder ist vielmehr das Wirkliche selbst, und insofern ist also der empirische Realismus außer Zweifel, d. h. es korrespondiert unseren äußeren Anschauungen etwas Wirkliches im Raum. Freilich ist der Raum selbst, mit allen seinen Erscheinungen, als Vorstellungen, nur in mir, aber in diesem Raum ist doch gleichwohl das Reale oder der Stoff aller Gegenstände äußere Anschauung, wirklich und unabhängig von aller Erdichtung gegeben, und es ist auch unmöglich, daß in diesem Raum irgendetwas außerhalb von uns (in einem transzendenten Sinn) gegeben werden sollte, weil der Raum selbst außerhalb unserer Sinnlichkeit nichts ist."
Die Gründe dieser Undeutlichkeit sind klar: sie liegen einmal in der Dehnbarkeit der Bedeutung des Wortes Vorstellung (wonach Vorstellung sowohl das gesamte Phänomen der sinnlichen Welt als auch das individuelle Wahrnehmungsbild von einem Objekt innerhalb der sinnlichen Welt bezeichnen kann; ein Ding, das unabhängig von meiner Vorstellung im zweiten Sinn ist, kann danach immer noch Vorstellung in mir im ersteren Sinn sein); zum andern in der Doppeldeutigkeit des Ich oder des erkennenden Subjekts, außerhalb dessen (sofern es als Erscheinung im Raum und in der Zeit gedacht wird) die Dinge (im Raum) sein sollen, in welchem aber (sofern es als Subjekt der affizierten Sinnlichkeit gedacht wird) Raum und Zeit nebst den in ihnen erscheinenden Gegenständen sind. Der Begriff des empirischen Realismus, den KANT durch die Mißverständnisse seiner Kritik im Sinne des "materialen Idealismus" schärfer zu durchdenken und sowohl diesem gegenüber abzugrenzen, sowie als mit seinem transzendentalen Idealismus verträglich, ja, als durch diesen selbst gefordert nachzuweisen sich veranlaßt sah, ist trotz aller Bemühungen bei ihm nicht zur Klarheit gekommen. Aber diese Unklarheit betrifft nur das Verhältnis des empirischen Realismus zum psychologischen Idealismus; das Dasein der Dinge-ansich steht nirgends in Frage.

Unterscheidet man in dieser Weise, dann schwindet auch der angebliche Widerspruch, in den sich KANT verwickelt haben soll, indem er mittels der Kategorien und Grundsätze, welche die Analytik auf die Erscheinungen beschränkt hat, das Dasein der Dinge ansich bewiesen hat.

Nach all dem bleibt die einzige, freilich das ganze System durchziehende Inkongruenz der Gegensatz des transzendentalen Idealismus, der ein Wissen vom Dasein der Dinge-ansich einschließt, und der Erkenntniskritik, die, nach ihrer letzten Konsequenz entwickelt, eine Rechtfertigung aller Begriffe aus den Bedingungen der Erkenntnis überhaupt fordert, bestehen. Für KANT lagt die letzte Rechtfertigung des ersteren in den Antinomien als einem indirekten Beweis einerseits, in dem auf die moralische Gewißheit begründeten Vernunftglauben andererseits, dessen Idee der Freiheit insbesondere den, theoretisch angesehenen, problematischen Begriff des Dings-ansich realisiert hat. Aber die Inkongruenz bleibt. Wie sie, die die innere Einheit von KANTs Philosophie so wenig bedroht, daß diese vielmehr gerade in ihrem innigen Zusammenhang besteht, aufzuheben sein soll, ist keine Frage ihrer Interpretation mehr, sondern eine Frage der Fortbildung.

LITERATUR: Max Frischeisen-Köhler / Willy Moog, Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, 3. Teil, Berlin 1924