tb-1HarmsPaulsenReiningerCassirerFischerRiehlHölder     
 
MAX FRISCHEISEN-KÖHLER / WILLY MOOG
Kants Kritizismus
[2/3]

"Für die physische Geographie hatte er (Kant) die Genehmigung von Seiten der Regierung, nach seinem eigenen Diktat zu lesen. Sonst pflegte er gemäß der behördlichen Verordnung seinen Vorlesungen einen Autor zugrunde zu legen: für die Metaphysik fast stets Baumgarten, für die Ethik die Ethik desselben, für die Logik Meier, für die theoretische Physik Erxleben, für das Naturrecht Achenwall, für die philosophische Enzyklopädie Feder, für die Pädagogik Bock. Freilich boten diese Autoren vielfach nur den äußeren Rahmen für das Vorgetragene und Gelegenheit zur Diskussion über andere Ansichten."

§ 48. IMMANUEL KANT, geboren zu Königsberg in Ostpreußen am 22. April 1724, gestorben ebendaselbst am 12. Februar 1804, erhielt in seiner Vaterstadt seine Bildung und wirkte daselbst als Universitätslehrer. Über die Grenzen Ostpreußens ist er nicht hinausgekommen. Obwohl er schon zeitig als Gelehrter und Schriftsteller sich weiterer Schätzung erfreute und als akademischer Lehrer einen bedeutenden Einfluß gewann, rückte er doch erst spät in eine ordentliche Professur ein; 15 Jahre war er Privatdozent. Sein Leben verfloß ohne tief eingreifenden äußere und innere Ereignisse; es ist das schlichte Leben eines deutschen Professors in den bescheidenen Verhältnissen der ostpreußischen Universitätsstadt, das nichts von den Reizen eines genialischen Daseins, nichts von den Schicksalswendungen leidenschaftlich bewegter oder problematischer Natur aufweist. In einer Zeit des Sturms und Drangs, des überschwenglichsten Geniekultus, einer Verherrlichung der schönen Seele verläuft das Leben des größten Philosophen der neueren Zeit in einer einzigartigen Einfachheit und Regelmäßigkeit.

Und doch entbehrt auch dieses Leben nicht einer freilich inneren und stillen Größe. Schon wie der jugendliche KANT trotz der Mittellosigkeit, mit der er schwer zu ringen hatte, seinen Entschluß, der reinen Forschung und Erkenntnis sich zu widmen, durchsetzte, wie er im Dienst dieses unbeirrbaren Willens zur Wahrheit seinen schwächlichen Körper und zeitweiligen Hang zu melancholischen und verzweifelnden Stimmungen beherrschen lernte, offenbart eine bedeutende Festigkeit des Charakters. Und als er in seiner mittleren Zeit die äußere und innere Sicherheit gewonnen und mit einer an LESSING gemahnenden Männlichkeit und freier Heiterkeit den Menschen und des Rätselfragen des Daseins gegenübertrat, ja für diese seine neue Stellung zu den Werten des Lebens und den Träumen der Metaphysiker einen literarischen Ausdruck fand, der ihn unmittelbar in die Reihe der ersten deutschen Schriftsteller rückte: war es wiederum der harte Erkenntniswille, der alle einer freieren Ausbildung entgegenstrebenden Kräfte in den Dienst der Bewältigung der einen Aufgabe zwang, mit welcher er dann in langjährigem Schweigen gerungen hat. So erfuhr sein Leben noch einmal eine Einschränkung. Und endlich bekundet die Art, wie KANT in der Entwicklung seiner Gedanken langsam und ohne Hast, aber stetig in innerer Selbstkritik fortschreitet, die Art, wie er in unablässigem Ringen mit den verschiedensten Standpunkten erst als Fünfzigjähriger zur endgültigen Festlegung seiner Weltansicht gelangte, denselben starken und geradlinigen Willen, der sein ganzes Leben beherrscht. In der Summe von wohlbedachten ökonomischen, hygienischen und sonstigen Maßregeln, nach denen KANT sein Dasein mit peinlicher Sorgfalt führte, tritt dieser Wille äußerlich am befremdlichsten hervor. Aber schließlich war diese Lebensführung nach Maximen doch nur das Mittel, durch welches KANT die Distanz zum Leben und die Ruhe gewann, die ihm, der nur Denker und Lehrer sein wollte, unentbehrlich war. Die erstaunliche, ja beispiellose Produktivität, die er entfaltete, als er sich den neuen Standpunkt der Transzendentalphilosophie erarbeitet hatte, war nur bei einer mit eherner [eiserner - wp] Konsequenz durchgeführten Ökonomie seines geistigen Haushalts möglich, die ihm trotz aller Pflichten noch die Pflege einer edlen Geselligkeit gestattete. Gewiß hatte KANT wenig Gelegenheit, in besonderen Konflikten die Stärke seines Charakters zu erproben; er wich ihnen eher aus; ja, in dem einzigen Fall, da eine ernsthafte Schwierigkeit ihn durch das Religionsedikt bedrohte, gab er sogar, so sehr er dadurch erregt wurde, äußerlich nach. Die dann allmählich eintretende Erstarrung der äußeren und der inneren Gewohnheiten verleihen dem Bild des alternden KANT pedantische und herrische Züge. Aber auch in dieser letzten Zeit durchleuchtet sein Dasein der Seelenadel, der der Reinheit der Gesinnung, der Selbstlosigkeit, der unbeirrbaren Pflichterfüllung, der vollständigen Unterordnung seiner Person und Interessen unter die ihm vom Schicksal bestimmte Aufgabe, dem unbestechlichen Wahrheitssinn entspringt. Und wie es das Schicksal seines Systems war, daß der durchgreifende Grundgedanke seine ganze Bedeutung und seinen Reichtum erst erweisen konnte, als er die einschränkende scholastische Ausgestaltung abstreifte, so hat auch das Lebensideal, das dem persönlichen Leben von KANT zugrunde lag und nur in dessen innerer Entwicklung seine Kraft erweisen konnte, seine ganze Größe erst offenbart, wo es von den zufälligen und einengenden Verhältnissen KANTs, von den spezifischen Bedingungen seines Denkerlebens sich befreit und im Kampf seine Macht erweist. Die feierlichen und ergreifenden Worte, mit denen KANT das Pflichtbewußtsein preist, bekunden die Tiefe und den Ernst des Lebensgefühls, das in verhaltener Innerlichkeit doch alle seine Handlungen begleitet. Und die Art, wie er in kleinbürgerlicher Enge seinen sterblichen Menschen dem unsterblichen Genius in ihm unterordnet, trägt, wie sie uns heute auch erscheinen mag, dieselben Züge des entsagungsvollen, ja heroischen, sittlichen Idealismus an sich, der uns im Lebenslauf von SCHILLER [i_deal] und FICHTE entgegentritt.

Die Familie Kant (Kandt; Schuberts Angabe einer älteren Schreibweise "Cant", die der Philosoph erst in "Kant" verändert haben soll stehen die Urkunden entgegen) soll nach der (nicht beglaubigten) Familienüberlieferung aus Schottland stammen, aber bereits der Urgroßvater KANTs, "RICHARD KANDT", ist urkundlich als Wirt in Werden bei Heydekrug nachgewiesen. HANS KANT († 1715), dessen Sohn, war Riemermeister in Memel, von wo sein zweiter Sohn JOHANN GEORG (1683 bis 1746) nach Königsberg ging, umd dort das Sattlerhandwerk zu betreiben. Das vierte Kind aus dessen Ehe mit ANNA REGINA REUTER (1697-1737) war der am 22. April 1724 geborene IMMANUEL. Ein Bruder, JOHANN HEINRICH (1735-1800) war Theologe und starb als Pastor zu Alt-Raden in Kurland (siehe über ihn Victor Diederichs, "Johann Heinrich Kant", Baltische Monatsschrift 1893, Seite 535-562). Von drei Schwestern überlebte die jüngste, KATHARINA BARBARA (1731-1807), ihren Bruder IMMANUEL. Sechs Geschwister starben früh. Die Erziehung war eine streng religiöse im Geist des damals verbreiteten Pietismus, dessen philosophisch gebildeter und geistig hervorragender Hauptvertreter der seit 1731 an der Altstädtischen Kirche als Pfarrer und Konsistorialrat angestellte, seit 1732 auch ein Ordinariat der Theologie an der Universität bekleidende und seit 1733 das Colligium Fridericianum leitende FRANZ ALBERT SCHULTZ war (1692-1762). KANT empfing im Collegium Fridericianum von Herbst 1732 bis Michaeli [29. September, bzw. an dem diesem Tag vorangehenden Sonntag - wp] 1740 die Vorbildung zu den Universitätsstudien. Unter seinen Lehrern schätzte KANT neben F. A. SCHULTZ besonders den Latinisten JOHANN FRIEDRICH HEYDENREICH; unter seinen Mitschülern war der bedeutendste der (zu Ostern 1741 vom Gymnasium abgegangene) DAVID RUHNKEN, der spätere Profssor der Philologie zu Leyden, der in einem Brief an KANT vom 10. März 1771 über jene Gymnasialzeit sagt: "tetrica illa quidem sed utili nec poenitenda fanaticorum disciplina continebamur." [Wir wurden durch Fanatiker in einer Disziplin gehalten, die zwar grausam, aber nützlich und nicht zu bedauern war. - wp] und hinzufügt, schon damals hätten alle von KANT (der besonders die römischen Klassiker eifrig las und sich gut lateinisch auszudrücken wußte) die höchsten Erwartungen gehegt. Auf der Königsberger Universität studierte KANT seit Michaeli 1740 Philosophie, Mathematik und Theologie, war jedoch in der theologischen Fakultät nicht immatrikuliert und hat wohl auch die Absicht, sich für ein geistliches Amt vorzubereiten, wenn er sie überhaupt je gehabt hat, nicht lange beibehalten. Er hörte mit Vorliebe die Vorlesungen des außerordentlichen Professors MARTIN KNUTZEN über Mathematik und Philosophie und lebte sich besonders in den Gedankenkreis NEWTONs ein, hörte auch Physik bei Professor TESKE und philosophische Vorlesungen bei anderen, die aber nur geringen Einfluß auf ihn gewonnen haben, sowie Dogmatik bei F. A. SCHULTZ, der übrigens mit seiner pietistischen Richtung die Philosophie CHRISTIAN WOLFFs zu verbinden wußte.

Nach Vollendung der Universitätsstudien bekleidete KANT mehrere Jahre hindurch Hauslehrerstellen, zuerst bei dem reformierten Pfarrer ANDERS zu Judschen in der Nähe von Gumbinnen (wohl bis 1750), dann bei dem Rittergutsbesitzer von HÜLSEN auf Arnsdorf bei Mohrungen; ob, wie überliefert, eine kurze Zeit beim Grafen JOHANN GEBHARD KEYSERLING in Rautenburg, ist sehr unwahrscheinlich. Im Haus des zweiten Gemahls der Gräfin, des Grafen HEINRICH CHRISTIAN KEYSERLING, verkehrte KANT später viel in Königsberg als Professor, wurde hier namentlich durch die geistig bedeutende Gräfin mit höheren Kreisen der Gesellschaft bekannt und konnte so den feinen Umgangston, der ihm nachgerühmt wird, zur Geltung bringen. In KEYSERLINGs Haus hat ihn ELISE von der RECKE kennen gelernt.

Nach etwa siebenjähriger Hauslehrertätigkeit reichte KANT 1755 seine Abhandlung "De igne" ein zur Erlangung der Magisterwürde, die ihm am 12. Juni 1755 verliehen wurde, und erhielt am 27. September 1755 nach Verteidigung seiner Dissertation "Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio" [Eine neue Erläuterung der ersten Prinzipien metaphysischen Wissens] die venia legendi [Erlaubnis vorzulesen - wp] an der Königsberger Universität. Er eröffnete mit dem Winter 1755-56 seine Vorlesungen, die sich schon in den nächsten Semestern auf Mathematik, Physik, Logik, Metaphysik, Moralphilosophie (praktische Philosophie, Ethik, Allgemeine praktische Philosophie und Ethik) erstreckten, seit Sommer 1756 oder wenigstens Winter 1756 bis 1757 las er auch über physische Geographie, seit 1767 Naturrecht und Enzyklopädie der Philosophie nebst kurzgefaßter Geschichte derselben, seit 1772-73 außerdem über Anthropologie, sowie 1774, 1783/84, 1785/86 und 1787 über natürliche Theologie oder philosophische Religionslehre (niemals im Lektionskatalog angekündigt, sondern statt anderer angekündigter Vorlesungen gehalten) und seit 1776-1777 über Pädagogik. Sogar Vorlesungen über mechanische Wissenschaften hat er zumindest angekündigt und über Mineralogie sicher einmal gelesen. (Das möglichst vollständige Verzeichnis aller von KANT gehaltenen oder auch nur angekündigten Vorlesungen findet sich bei EMIL ARNOLDT, Gesammelte Schriften, Bd. V, 2). Er entwickelte eine staunenswerte Tätigkeit in seinem Beruf als Universitätslehrer, da er oft über 20 Stunden Vorlesungen die Woche gehalten hat.

Die Zeit seiner Privatdozentur, die 15 Jahre währte, wurde trotz der Arbeitslast, über die er klagte (so ein Brief an J. G. Lindner vom 28. Oktober 1759) die freieste Zeit seines Lebens. Noch war dieses nicht nach der peinlichen Regelmäßigkeit der späteren, fast ausschließlich der Forschung gewidmeten Jahre eingerichtet. KANT, der von Natur aus zurückhaltend, fast scheu war, hatte allmählich ein selbständiges Verhältnis zur Welt und den Menschen gewonnen, und besonders in den 60-er Jahren nahm er in reger Weise am geselligen Leben in Königsberg teil. Innige Freundschaft verknüpfte ihn mit dem durch Liebe zur Unabhängigkeit und zu gewissenhafter Pünktlichkeit ihm gleichgesinnten Engländer GREEN († 1786), ferner mit dem Kaufmann MOTHERBY, dem Bankdirektor RUFFMANN, dem Oberförster WOBESER in Moditten (nahe Königsberg), in dessen Forsthaus er sich während der Ferien mitunter aufgehalten hat und insbesondere auch die "Beobachtungen vom Schönen und Erhabenen" niedergeschrieben hat. Auch mit HIPPEL und mit HAMANN wurde KANT befreundet. In vornehmen Häusern war er gern gesehen, kam z. B. im Jahr 1764 oft zu General MEYER und hielt ihm nebst seinen Offizieren Vorlesungen, so daß HAMANN, freilich in arger Übertreibung, schreiben konnte: KANT werde durch einen Strudel gesellschaftlicher Zerstreuungen fortgerissen.

Im April 1756 bewarb er sich um die durch KNUTZENs frühen Tod erledigte außerordentliche Professur der Mathematik und Philosophie, aber vergeblich, weil die Regierung den Beschluß gefaßt hatte, die eingehenden Extraordinariate nicht mehr zu besetzen. Das im Dezember 1758 durch den Tod KYPKEs erledigte Ordinariat für Logik und Metaphysik erhielt von dem damaligen russischen Gouverneur auf Antrag des Universitätssenats der in der Anciennität [Reihenfolge nach Dienstalter - wp] KANT vorangehende außerordentliche Professor der Mathematik und Philosophie BUCK. Eine Professur für Dichtkunst für die er von der Regierung 1764 in Aussicht genommen war, lehnte er ab. 1766 wurde dem "geschickten und durch seine gelehrten Schriften sich berühmt gemachten Magister Kant" eine Stelle als Unterbibliothekar an der Königlichen Schloßbibliothek mit 62 Taler Gehalt auf sein Ansuchen verliehen; KANT war damals über 41 Jahre alt. Er gab sie 1^772 (nach seiner späteren Ernennung zum ordentlichen Professor) mit der Begründung auf, daß
    "es nicht allein ungewöhnlich sei, daß die Stelle eines Subbibliothecarii von einem Professor Ordinario bekleidet wird, sondern sich auch solche mit den Obliegenheiten dieses letzteren Posten und der Einteilung seiner Zeit nicht wohl vereinigen läßt."
1769 erhielt KANT, noch immer Privatdozent, den dringenden Antrag, eine Professur in Erlangen anzunehmen, und Anfang 1770 wollte man ihn nach Jena berufen; er schlug diese Anträge aus, da er inzwischen die sichersten Aussichten für die in nächster Zeit zu erwartende Neubesetzung des philosophischen Ordinariats in seiner Vaterstadt bekommen hatte. Am 31. März 1770 wurde er zum "Professor Ordinarius der Logik und Metaphysik" ernannt.

KANT übte sein Lehramt, das spätere ehrenvolle auswärtige Berufungen (1778 nach Halle) ihn zu verlassen nicht bewegen konnten, mit größter Pflichttreue aus. Zweimal (1786 und 1788) war er Rektor der Universität. Er las bis in den Sommer 1796, wo Altersschwäche ihn zum Aufgeben der Vorlesungen bewogen hat. Für den Winter 1796-97 hatte er noch Metaphysik angekündigt, hat sie aber wahrscheinlich nicht mehr gelesen, für den Sommer 1797 finden sich noch physische Geographie und Logik angekündigt: modo per valetudinem seniumque liceat [sofern es gesundheitliche oder altersbedingte Gründen erlauben - wp] und für den Winter 1797-98 heißt es im Vorlesungsverzeichnis: Ob infirmitatem senilem lectionibus non vacabit Facult. Philos. Senior Venerabilis Log. et Metaphys. Prof. Ord. Kant [Aus Altersgründen steht die philosophische Fakultät für Vorlesungen nicht zur Verfügung. - wp]

KANTs Vorträge waren sehr berühmt. REINHOLD LENZ rühmt an ihnen, daß sie zur "Einfalt im Denken und Natur im Leben" angeleitet haben, den Durst nach Weisheit stillend, doch nicht löschend, und feiert KANT selbst als einen Mann, der Tugend mit Weisheit verbindet, der das, was er lehrt, selbst übt (in einem Gedicht auf KANT am 21. August 1770, siehe Altpreußische Monatsschrift IV, Seite 655f). HERDER, der in den Jahren 1762-64 bei KANT Metaphysik, Moralphilosophie, physische Geographie hörte, und in dessen Nachlaß sich noch von ihm selbst gemachte Aufzeichnungen aus diesen Vorlesungen gefunden haben, zeichnet (Briefe zur Beförderung der Humanität, 49) von KANT das schöne und lebendige Bild:
    "Ich habe das Glück genossen, einen Philosophen zu kennen, der mein Lehrer war. Er in seinen blühenden Jahren hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglings, die, wie ich glaube, ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. Seine offene, zum Denken gebaute Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude; die gedankenreichste Rede floß von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebot, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang. Mit eben dem Geist, mit dem er Leibniz, Wolff, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte und die Naturgesetze Newtons, Keplers, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Rousseaus, seinen Èmile und seine Héloise, sowie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf den moralischen Wert des Menschen. Menschen-, Völker-, Naturgeschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung waren die Quellen, aus denen er seinen Vortrag und Umgang belebte; nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgültig; keine Kabale [Intrige - wp], keine Sekte, kein Vorurteil, kein Namensehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf und zwang angenehm zum Selbstdenken; Despotismus war seinem Gemüt fremd. Dieser Mann, den ich mit größter Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant: sein Bild steht angenehm vor mit."
Noch aus dem Jahr 1795 weiß ein Zuhörer KANTs in der Logik (Altpreußische Monatsschrift, 1879, Seite 607-612) davon zu rühmen, KANTs Vortrag scheine ihm das Ideal eines belehrenden Vortrags zu sein. Als akademischer Lehrer wollte KANT mehr die Zuhörer zum Selbstdenken anregen, als Resultate mitteilen. Zugleich aber kam es ihm darauf an, seine Schüler moralisch und religiös zu festigen. So ist es erklärlich, daß er sich in seinen Vorträgen auch in der Zeit der Kritik vorsichtiger hielt, daß er in ihnen dogmatischer erscheint als in seinen veröffentlichten Schriften, da er mündlich die kritische Einschränkung nicht immer beifügte, auch seiner innersten Neigung zum Dogmatischen und Positiven mehr Raum gab und so mit seiner ganzen Persönlichkeit und dem, was ihn im Innersten bewegte, deutlicher hervortrat.

Für die Physische Geographie hatte er die Genehmigung von Seiten der Regierung, nach seinem eigenen Diktat zu lesen. Sonst pflegte er gemäß der behördlichen Verordnung seinen Vorlesungen einen "Autor" zugrunde zu legen: für die Metaphysik fast stets BAUMGARTEN, für die Ethik die Ethik desselben, für die Logik MEIER, für die theoretische Physik ERXLEBEN, für das Naturrecht ACHENWALL, für die philosophische Enzyklopädie FEDER, für die Pädagogik BOCK. Freilich boten diese Autoren vielfach nur den äußeren Rahmen für das Vorgetragene und Gelegenheit zur Diskussion über andere Ansichten; manche der Hörer mögen die betreffenden Schriften gar nicht gekannt oder wenigstens nicht besessen haben; KANT selbst äußert sich nicht selten geradezu abweisend über den Autor: "Was der Autor sagt, ist falsch" und dgl.

Lebhaft beteiligte sich KANT an den politischen Tagesinteressen. Er sympathisierte mit den Amerikanern im Unabhängigkeitskrieg, mit den Franzosen bei der Staatsumwälzung, welche die Idee der politischen Freiheit zu realisieren behauptete. Sein Standpunkt war des des "Republikanismus", der
    "die erstens nach den Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen), zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen) und drittens die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung"
bedeutet, in welcher die gesetzgebende und ausführende (regierende) Gewalt gesondert sind (vgl. "Zum ewigen Frieden", erster Definitivartikel). Diese republikanische Verfassung unterschied KANT scharf von der demokratischen Staatsform, in welcher die gesetzgebende und regierende Gewalt zusammenfallen, daher KANT die Demokratie geradezu als Despotismus bezeichnete. Von den möglichen Staatsformen hielt KANT die repräsentative Monarchie für die beste.

Zu einem KANT sehr erregenden Zusammenstoß mit der preußischen Regierung kam es unter der Herrschaft der Reaktion. Der Freiherr von ZEDLITZ, der unter FRIEDRICH dem Großen Kultusminister war und dies unter dessen Nachfolger noch bis 1788 geblieben ist, hatte KANT sehr hoch geschätzt und ihn vergeblich nach Halle, der ersten Universität des Landes, zu ziehen versucht. Auch unter dem Ministerium WÖLLNER erfreute KANT sich anfangs noch der Gunst der Regierung. Als er aber die Aufsätze zu veröffentlichen gedachte, welche zusammen seine "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" ausmachen, kam er mit der Zensur in Konflikt, die nach den Grundsätzen des Religionsedikts geübt werden sollte, welche die symbolischen Schriften der lutherischen und reformierten Kirche zur bindenden Norm machte. Zwar wurde der ersten jener Abhandlungen "Vom radikalen Bösen", worin KANT die mit dem Pietismus im Wesentlichen harmonierende Seite seiner Religionsphilosophie entwickelt, die Imprimatur [Druckerlaubnis - wp] erteilt, obgleich selbst dies nur mit der Bemerkung: "daß sie gedruckt werden möge, da doch nur tiefdenkende Gelehrte die kantischen Schriften lesen"; sie erschien im April 1792 in der "Berliner Monatsschrift". Aber bereits der zweiten Abhandlung "Von dem Kampfe des guten Prinzipis mit dem bösen um die Herrschaft des Menschen" wurde von der Berliner Zensurbehörde die Druckerlaubnis versagt. KANT ersuchte nun die Königsberger theologische Fakultät um ihr Urteil, ob sie kompetent zur Zensur seiner betreffenden Abhandlung sei, und nachdem diese ihre Kompetenz verneint hatte, ersuchte er die philosophische Fakultät in Jena, das Imprimatur zu erteilen, deren Dekan, der Philosoph JUSTUS CHRISTIAN HENNINGS, es auch erteilte, worauf das Werk in Jena gedruckt wurde und zu Ostern 1793 bei NICOLOVIUS in Königsberg erschienen ist, in zweiter Auflage 1794. Auch der Aufsatz "Das Ende aller Dinge" (1794) wurde von der Zensur beanstandet. Am 1. Oktober 1794 erging eine Königliche Kabinettsorder an KANT, "auf seiner Königlichen Majestät allergnädigsten Spezialbefehl", vom König, einem entschiedenen Feind der Aufklärung, selbst veranlaßt, aber von WÖLLNER gezeichnet, worin KANT angeklagt wurde, in seiner Schrift "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft und in anderen kleineren Abhandlungen mit seiner Philosophie Mißbrauch getrieben zu haben, und ihm die "Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums" vorgeworfen und gefordert wird, er solle sein Ansehen und sein Talent zur Förderung der "landesväterlichen Intention" anwenden. Auch wurden sämtliche theologischen und philosophischen Lehrer der Königsberger Universität durch Namensunterschrif verpflichtet, nicht über KANTs "Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft" zu lesen.

Unter den "kleineren Abhandlungen" sind wahrscheinlich gemeint "Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee", 1791, worin "blinde und äußere Bekenntnisse" scharf getadelt werden; ferner: "Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", 1793 worin er unter anderem das Beginnen, die alten Grundsätze der Kirche als unabänderlich hinzustellen, für widerrechtlich erklärt hat und namentlich "Das Ende aller Dinge", erst nach dem Erscheinen der "Religion innerhalb usw." 1794 veröffentlicht, worin er ziemlich unverblümt als Erfolg der ungehindert durchgeführten Maßregeln WÖLLNERs ein widernatürliches oder verkehrtes Ende der Dinge bezeichnete. KANT verteidigte sich in seiner Antwort wegen der Anschuldigungen in einem ausführlichen Schreiben, in welchem er alle Punkte der Anklage durchging, um in "gewissenhafter Verantwortung" zu erweisen, daß er sich weder als Lehrer der Jugend noch als Volkslehrer in Schriften die "Abwürdigung" des Christentums habe zuschulden kommen lassen oder der öffentlichen Landesreligion Abbrucht getan habe. Was den zweiten Punkt, sein künftiges Verhalten, betrifft, so schrieb KANT:
    "So halte ich - für das Sicherste, hiermit als ehrwürdiger königlichen Majestät getreuster Untertan feierlichst zu erklären, daß ich mich fernerhin aller öffentlichen Vorträge, die Religion betreffend, es sei die natürliche oder nur geoffenbarte, sowohl in Vorlesungen als in Schriften gänzlich enthalten werde."
Das Königliche Reskript sowie seine Antwort veröffentlichte KANT später, 1798, in der Vorrede zum "Streit der Fakultäten"). In KANTs Nachlaß findet sich ein Zettel, auf dem er dort wohl mit Bezug auf diesen Konflikt geschrieben hatte:
    "Widerruf und Verleugnung seiner inneren Überzeugung ist niederträchtig und kann niemandem zugemutet werden; aber Schweigen in einem Fall, wie der gegenwärtige, ist Untertanenpflicht: und wenn alles, was man sagt, wahr sein muß, so ist darum nicht auch Pflicht, alle Wahrheit öffentlich zu sagen. Auch habe ich jener Schrift (der "Religion innerhalb usw." nie ein Wort zugesetzt oder abgenommen, wobei ich gleichwohl meinen Verleger, weil es dessen Eigentum ist, nicht habe hindern können, eine zweite Auflage davon zu drucken. - Auch ist in meiner Verteidigung der Ausdruck, daß ich als Ihro Majestät treuester Untertan von der biblischen Religion niemals, weder schriftlich, noch in Vorlesungen mündlich öffentlich sprechen will, mit Fleiß so bestimmt worden, damit beim etwaigen Ableben des Monarchen vor meinem, da ich alsdann der Untertan des folgenden sein würde, ich wiederum in meine Freiheit zu denken eintreten könnte."
Da KANT danach nur in der Untertanenpflicht gegen FRIEDRICH WILHELM II. das Motiv des Schweigens fand, wie er es auch in der Vorrede zum "Streit der Fakultäten" hervorhob, so hielt er sich nach dem Tod des Königs widerum zu öffentlichen Äußerungen berechtigt. In dieser letzteren Schrift hat er der philosophischen Betrachtung, sofern sie auf ihrem Gebiet verbleibt und nicht in die biblische Theologie als solche übergreift, die volle Freiheit des Gedankens und der Gedankenäußerung vindiziert [zugesprochen - wp] und seinem Unwillen über den Despotismus Luft gemacht, welcher dem, was nur mit freier Achtung wahrhaft verehrt werden kann, durch Zwangsgesetze Ansehen verschaffen will. Doch nahm KANT seine Vorlesungen über Religionsphilosophie nicht mehr auf.

Verheiratet war KANT nicht; doch soll er mehrere Male an eine Ehe gedacht haben. Bis in den Anfang der sechziger Jahre aß er zumeist in einem Hotel an der gemeinschaftlichen Mittagstafel; 1787 richtete er sich eine eigene Haushaltung ein. Von seinen Kollegen standen ihm besonders der Hofprediger und Professor der Mathematik JOHANN SCHULTZ, der erste Anhänger und Erläuterer seiner Doktrin, und der Professor der Kameralwissenschaften KRAUS nahe. Den weitesten Kreis von Verehrern und Freunden fand KANT in seinem höheren Alter als gefeiertes Haupt der sich weit verbreitenden kritischen Schule; am überschweinglichsten wurde er von solchen gepriesen, denen die neue Philosophie zu einer Art von neuer Religion geworden ist, wie von BAGGESEN, dem er eine Zeitlang als ein zweiter Messias gegolten hat.

Die geistige und verhältnismäßig auch körperliche Rüstigkeit, die KANT seinem schwächlichen Körper zum Trotz sich durch eine streng diätetische und von Beginn der fünfziger Jahre an äußerst regelmäßige, geradezu pedantische Lebensführung zu erhalten wußte, ist erstaunlich. KANT war nur etwas über eineinhalb Meter groß und von sehr zartem Knochenbau und sehr mager; er hatte eine eingedrückte Brust, seine rechte Schulter war etwas höher als die linke. Eigentlich krank war er nie gewesen, wenn er auch viel über Unpäßlichkeiten zu klagen hatte. Von etwa 1798 an machten sich Altersbeschwerden geltend, die zu einem fortschreitenden Kräfteverfall geführt haben. KANT erlag allmählich einer zunehmenden und in den letzten Monaten ihm Gedächtnis und Denkkraft raubenden Alterschwäche. Aus dem akademischen Senat schied er durch eine eigenhändig unterschriebene Erklärung Ende 1801, nachdem schon vorher der vergebliche Versuch gemacht worden war, einen Adjunktus [wissenschaftliche Hilfskraft - wp] an seiner Stelle ernennen zu lassen.

Während er dahinsiechte, feierte gleichzeitig seine Lehre auf den meisten deutschen Universität glänzende Triumphe. Die Überschreitung seines Prinzips durch FICHTEs Wissenschaftslehre hatte KANT mißbilligt, ohne jedoch durch seine Gegenerklärung den Fortgang der philosophischen Spekulation in der idealistischen Richtung zu hemmen. Er hielt seine Philosophie für die allein richtige und äußerte noch 1799 in seiner Erklärung über FICHTEs Wissenschaftslehre, das System der Kritik ruhe auf einer völlig sicheren Grundlage, sei "auf immer befestigt und auch für alle künftigen Zeitalter zum höchsten Zweck der Menschheit unentbehrlich". Die kritische Philosophie müsse bei ihrer unaufhaltsamen Tendenz zur Befriedigung der Vernunft in theoretischer und in moralisch praktischer Absicht davon überzeugt sein, "daß ihr kein Wechsel der Meinungen, keine Nachbesserungen oder ein anders geformtes Lehrgebäude bevorstehen". Andererseits freilich äußerte er sich dahin, daß seine Zeit noch nicht reif für sein System ist: in einem Gespräch mit FRIEDRICH AUGUST STÄGEMANN aus dem Jahr 1979 sagte er:
    "Ich bin mit meinen Schriften um ein Jahrhundert zu früh gekommen; nach hundert Jahren wird man mich erst recht verstehen und dann meine Bücher aufs Neue studieren und gelten lassen." (Varnhagen von Ense, Tagebücher, Bd. 1, Seite 46)
Die Leiche KANTs wurde unter den Arkaden an der Nordseite des Doms zu Königsberg am 28. Februar 1804 beigesetzt und die Stelle mit einem Denkstein bezeichnet. Diese hieß von da an Stoa Kantiana. Da sie im Laufe der jahre verfiel, wandelte man das Ostende der Arkaden zu einer einfachen gotischen Kapelle um, in deren Gewölbe man am 21. November 1880 die wiederausgegrabenen Gebeine des Philosophen beisetzte. Ein würdiges Denkmal von RAUCH ist KANT in Königsberg errichtet.
LITERATUR: Max Frischeisen-Köhler / Willy Moog, Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, 3. Teil, Berlin 1924