tb-1HarmsSimmelVaihingerHemanSteckelmacherTrendelenburg    
 
HANS VAIHINGER
Kant - ein Metaphysiker?

"Wir sprachen vom monadologischen Hintergrund des kantischen Kritizismus, wir fanden in diesem überall Reste und Spuren der monadologischen Anschauungen, in denen Kant aufgewachsen war, Reste, welche Kant nicht abstreifen, Spuren, die er nicht verwischen konnte oder wollte. Aber das, was meiner Auffassung nach den versteckten Hintergrund des Kritizismus ausmacht, das System der Monade nebst ihrem Zusammenhalt in Gott - das ist nun nach Paulsens Auffassung in den Vordergrund zu stellen."

"Ich weiß ich wohl, wie mißlich es mit dem Zitieren bei Kant steht und daß sich gerade über die entscheidenden Punkte entgegengesetzte Äußerungen finden und sich tatsächlich viele einander widersprechende Stellen nachweisen lassen. Paulsen sagt einmal: «Kant muß doch aus dem Ganzen verstanden werden; mit einzelnen Stellen kann man ungefähr jede mögliche und unmögliche Ansicht aus ihm herausbringen.»"

"Ein Philosoph, der eben nur eine Seite der Wirklichkeit ins Auge faßt, kann bei der theoretischen Bearbeitung eben dieser einen Seite leicht ohne Widersprüche auskommen. Je vielseitiger aber ein Philosoph ist - wie z. B. Platon im Gegensatz zu Demokrit - d. h. je mehr Seiten der Wirklichkeit er in Betracht zieht, desto weniger wird er Widersprüche vermeiden können."


1. Es sind in der letzten Zeit mehrere Versuche gemacht worden, gegen den Kritiker KANT den Metaphysiker KANT auszuspielen, und damit der negativen Kritik der reinen Vernunft durch KANT - eine wirkliche und positive Metaphysik der Vernunft von ebendemselben als Ergänzung, ja als Gegensatz gegenüberzustellen. Solche Versuche sind schon früher, schon im vorigen Jahrhundert unternommen worden; ja schon REINHOLDs "Briefe über die kantische Philosophie" nehmen im Grund diesen Standpunkt ein. Die FRIES'sche Schule, bis auf JÜRGEN BONA-MEYER, hatte diese Tendenz. In einem anderen Sinn haben die Freunde von SWEDENBORGs Theosophie KANTs "Metaphysik" für sich in Anspruch genommen. Seitdem man vollends auf KANTs "Vorlesungen über Metaphysik" aufmerksam geworden ist, hat sich diese Neigung allmählich gesteigert, um nun mit einem Mal als kräftiger Strom - und zugleich als Gegenstrom gegen die bisher herrschende Auffassung KANTs in PAULSENs neuem Kantbuch an den Tag zu treten. Mit jenem schriftstellerischen Geschick, das alle Werke PAULSENs auszeichnet, hat er diese Position eingenommen und energisch vertreten. Und so ist die Sache zu einer philosophischen Tagesfrage geworden. Schon oft ist in jüngster Zeit die Frage an mich gerichtet worden, ob denn diese Darstellung PAULSENs richtig ist? Ich möchte sie hier beantworten. Freilich - der knappe Raum, der einem Beitrag zu dieser Festschrift notwendigerweise gesetzt ist, reicht nicht aus, um diese wichtige und weittragende Frage auch nur halbwegs erschöpfend zu beantworten, wohl aber reicht derselbe dazu aus, um einige Gesichtspunkte, welche für die Beantwortung der Frage von Wichtigkeit sind, hervorzuheben.

2. Hören wir zunächst PAULSEN selbst. Dabei wird es zweckmäßig sein, aus seiner allgemeinen Darstellung KANTs das Nötigste voranzuschicken. PAULSEN stellt Seite 381f als "die großen Grundgedanken" KANTs, denen er "dauernden Wert" vindiziert [zuspricht - wp], folgende zusammen:
    1) "Die Philosophie Kants hat das Wesen des Wissens und des Glaubens richtig erfaßt".

    2) "Kant gibt dem Willen die ihm zukommende Stellung in der Welt."

    3) "Kant gibt dem Geist die richtige Bestimmung seines Wesens und die ihm zukommende Stellung in der Welt".
Der letzte Punkt kommt für uns hier in Betracht. PAULSEN erläutert ihn des Weiteren:
    "Kant hat die schöpferische Kraft des Geistes zu Ehren gebracht: das Wesen des Geistes ist Freiheit, lebendige Tätigkeit . . . auf allen Gebieten hat Kant die Aktivität und Spontaneität des Geistes aufgezeigt . . . "
Man kann dem durchaus zustimmen, aber nicht ohne einen wichtigen Zusatz: Gewiß, was KANT überall und immer behauptet, das ist die Macht des Geistes, aber doch nur innerhalb der ihm gesteckten Schranken. Dieser Zusatz erst gibt den ganzen KANT. Was unterschiede ihn sonst von LEIBNIZ oder von HEGEL? Worin läge sonst die Verwandtschaft mit LOCKE und HUME? Im dem so korrigierten Prinzip erblicke ich die einfachste, einheitliche Formel für KANTs Leben und Lehre, für seine Erkenntnistheorie und seine Ethik. Dies ist das Leitmotiv seiner ganzen Philosophie: die gewaltige Macht des Geistes zu lehren, des intellektuellen und des moralischen Geistes, aber innerhalb der ihm einmal gesetzten Grenzen. In Allem, was KANT sagt, finde ich immer wieder denselben Grundton: eine mächtige Überzeugung von der ursprünglichen Kraft des theoretischen und des praktischen Geistes im Menschen, aber begleitet von einer ebenso kräftige Überzeugung von den engen Grenzen, innerhalb deren der Geist diese seine Macht ausüben kann.

Derselbe Satz enthält, wie eine mathematische Formel, zugleich auch die ganze kantische Entwicklungsgeschichte in sich. Denn die drei Perioden derselben, welche auch PAULSEN (Seite 75) in Übereinstimmung mit den meisten Darstellungen unterscheidet, ergeben sich aus derselben gewissermaßen more geometrico; es sind dies
    1) die dogmatisch-rationalistisch,
    2) die skeptisch-empiristische,
    3) die kritisch-rationalistische.
In der ersten Periode glaubt KANT mit dem Dogmatismus an eine fast unbeschränkte Macht des Geistes, in der zweiten Periode werden von ihm die Grenzen dieser Macht, in Übereinstimmung mit dem Empirismus, mit derselben, nur entgegengesetzt gerichteten Einseitigkeit übertrieben und erst in der dritten Periode findet KANT das Eigentümliche seines Kritizismus: die Überzeugung von der Macht des Geistes innerhalb der ihm gesteckten Schranken.

Wenn PAULSEN dazu Seite 76 die Bemerkung macht, die Wandlungen in KANTs Denken, die "Umkippungen", von denen dieser selbst redet, gehen mehr auf die Form, als auf den Inhalt und betreffen mehr die Methode der Metaphysik, bzw. die Erkenntnistheorie, als die Weltanschauung selbst, die Kontinuität in KANTs Entwicklung ist also mehr als bisher zu beachten - was übrigens auch schon HÖFFDING verlangt hat -, so kann auch diese Forderung anhand der ersten Periode mehr die Macht des Geistes betont, als seine Schranken; in der zweiten mehr die Schranken als die Macht; in keiner der beiden Perioden hat er nur das Eine ohne das Andere hervorgehoben; aber er fand das richtige Gleichgewicht der beiden Seiten erst in der dritten: der kritizistischen Periode.

Eben darum darf man aber auch nicht nur die eine Seite herausgreifen, wie das PAULSEN an der oben mitgeteilten Stelle tut: gewiß hat KANT dem Sensualismus gegenüber, der den Geist nur als "passives Gefäß" betrachtet, für den Geist spontane Aktivität vindiziert; oder vielmehr revindiziert [erneut zugesprochen - wp]: denn KANT setzt hier nur fort, was LEIBNIZ, am besten in seinen "Nouveaux Essais", schon behauptet hat. Aber die Erweckung aus dem "dogmatischen Schlummer" durch HUME zeigt sich doch schließlich darin, daß KANT die Grenzen dieser Kraft haarscharf zu bestimmen suchte. PAULSEN rückt den Kritiker KANT viel zu nahe an den Dogmatker LEIBNIZ heran; weder LEIBNIZ noch KANT würden damit einverstanden sein: der Eine würde mehr nach rechts, der andere mehr nach links wegrücken.

3. Dasselbe gilt nun auch von der Darstellung, welche PAULSEN von KANTs Verhältnis zur Metaphysik gibt, sie ist das spezifisch Neue, das Charakteristische an PAULSENs Kant-Buch; sie eben ist der Gegenstand der Kontroverse. Nach PAULSEN ist KANTs Tendenz - auch in der kritizistischen Periode - auf eine positive Neubegründung der Metaphysik gerichtet gewesen:
    "Kant will aufbauen, nicht einreißen; oder einreißen doch nur, um für den notwendigen Neubau Platz zu gewinnen. Was er aufbauen will, ist zweierlei: 1) eine positive Erkenntnistheorie, nämlich eine rationalistische Theorie der Wissenschaften; 2) eine positive Metaphysik, nämlich eine idealistische Weltanschauung." (Seite 118)
Aber anderen Stellen PAULSENs nach ist KANTs allerletzte Tendenz einzig und allein auf die idealistische Metaphysik gerichtet:
    "Kant sagt einmal scherzend (in den "Träumen eines Geistersehers", 1766), er habe das Schicksal in die Metaphysik verliebt zu sein, obwohl er sich von ihr nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen könne. Es ist doch mehr als ein bloßer Scherz, auch ist er der alten Liebe trotz der Vernunftkritik, immer treu geblieben . . . Wenn Kant in der Kritik hin und wieder das Ansehen des Agnostikers annimmt, so tritt uns überall, wo er sich unmittelbarer mit seinem persönlichen Denken gibt, wie in den Vorlesungen und den Aufzeichnungen dafür, der echte Platoniker entgegen; und wer auf diesen nicht achtet, der wird auch den Kritiker nicht verstehen. Der transzendentale Idealismus schließt den objektiven metaphysischen Idealismus nicht aus . . . Kants Anschauung von der Natur des wirklich Wirklichen ist im Grunde zu allen Zeiten unverändert geblieben: Die Wirklichkeit ansich ein System seiender, durch teleologische Beziehungen zur Einheit verknüpfter Gedankenwesen, die von einem göttlichen Intellekt anschaulich gedacht und eben dadurch als wirklich gesetzt werden . . . In der Kr. d. r. V. steht die negative Seite, die Bekämpfung einer falschen Begründung im Vordergrund, hier erreicht das kantische Denken die größte Entfernung von seinem Zentrum; in den folgenden Schriften . . . tritt die intelligible Welt . . . als der beherrschende Mittelpunkt wieder auf das Bestimmteste hervor." (Vorrede, Seite VII, VIII).
Mit gesperrtem Druck verkündet PAULSEN Seite 279:
    "Das Ziel aller Bemühungen KANTs ist die Begründung einer wissenschaftlich haltbaren Metaphysik nach neuer Methode".
Daher hat PAULSEN, entgegen allen bisherigen Darstellungen der kantischen Philosophie, seiner neuen Darstellung einen eigenen ausführlichen Abschnitt eingefügt (Seite 237-282): Die Metaphysik Kants. Er wiederholt hier, besonders Seite 241-244 und Seite 271-274, sowie Seite 279-281) die obigen Aufstellungen; am prägnantesten in folgender Stelle:
    "Nach allem: Kant hat eine wirkliche transzendentale Metaphysik. Er hält an ihr als der vernunftgemäßen Weltanschauung durchaus fest; sie ist nur nicht, wie die Schulmetaphysik wollte, als a priori demonstrierbare Verstandeserkenntnis möglich . . . die Vernunft . . . führt notwendig über die Erscheinungswelt zu einer Intellektualwelt hinaus, einer Welt seiender Ideen, die durch logisch-teleologische Beziehungen verknüpft und dem göttlichen Intellekt anschaulich gegenwärtig sind . . . Man sieht, das ist die platonisch-leibniz'sche Philosophie."
In diesem Sinne heißt der Kolumnentitel von Seite 239: "Kant ein Metaphysiker".

4. Kant - ein Metaphysiker? KANT, der "Alleszermalmer", der Vernichter der LEIBNIZ'schen und aller dogmatischen Metaphysik, selbst ein Verfechter derselben? KANT also, der Kritiker der reinen Vernunft und aller von der reinen Vernunft ausgedachten metaphysischen (1) Spekulationen - selbst doch auch ein solcher Metaphysiker? Wohl hat man das auch schon früher gelegentlich gesagt, aber doch noch niemand mit solcher Schärfe und Bestimmtheit, wie es nun PAULSEN tut: er stellt den Satz offen und nackt hin: für KANT ist
    "die Wirklichkeit, wie der Verstand im Unterschied von der Sinnlichkeit sie denkt, ein System von Monaden, die durch eine prästabilierte Harmonie, durch influxus idealis [idealistischen Einfluß - wp] . . . zur Einheit verknüpft sind; der letzte Grund der Einheit der Dinge ist ihre wurzelhafte Einheit in Gottes Wesen . . . alle diese Gedanken hat KANT nie weggeworfen." (Seite 273).
Daß KANTs Dinge-ansich sehr nahe Verwandtschaft zeigen mit den Monaden LEIBNIZ, hat meines Wissens zuerst BENNO ERDMANN ausgesprochen - zuerst in unserer Zeit, denn im vorigen Jahrhundert merkte man das auch schon. Dies vermindert nicht ERDMANNs Verdienst, dies aufs Neue herausgefunden zu haben. Ein Schüler ERDMANNs, OTTO RIEDEL, hat eine vortreffliche Dissertation über das Thema geschrieben: "Die monadologischen Bestimmungen in Kants Lehre vom Ding ansich" (Hamburg und Leipzig, 1884. Vgl. meine Besprechung in der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 9, Seite 128f).

Ich meinerseits hatte auf anderen Wegen eben dieselbe Erkenntnis gewonnen und sie in meiner Abhandlung "Zu Kants Widerlegung des Idealismus" (Straßburger Abhandlungen zur Philosophie zum 70. Geburtstag Eduard Zellers, 1884) zum Ausdruck gebracht. Aber zwischen diesen drei Darstellungen und der Auffassung PAULSENs ist ein sehr wesentlicher Unterschied. Wir sprachen vom "monadologischen Hintergrund" des kantischen Kritizismus, wir fanden in diesem überall Reste und Spuren der monadologischen Anschauungen, in denen KANT aufgewachsen war, Reste, welche KANT nicht abstreifen, Spuren, die er nicht verwischen konnte oder wollte. Aber das, was meiner Auffassung nach den versteckten Hintergrund des Kritizismus ausmacht, das System der Monade nebst ihrem Zusammenhalt in Gott - das ist nun nach PAULSENs Auffassung in den Vordergrund zu stellen: es sei KANTs Absicht gewesen, diese idealistische Metaphysik auf seine Weise neu zu begründen, und darum eben müsse auch diese Metaphysik KANTs viel stärker als bisher betont werden.

Es geht aus dem Gesagten hervor, daß die Frage, ob PAULSEN mit Recht oder Unrecht KANT als Metaphysiker darstellt, nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden kann. Mit einem einfachen Ja oder Nein ist ja dem Laien gewöhnlich am besten gedient; aber wer in den Sachen zuhause ist, weiß, daß wir uns nicht immer mit dem einfachen Ja, ja oder Nein, nein begnügen können: die Dinge tun uns nicht immer den Gefallen, so einfach zu liegen. Also die fragliche Darstellung PAULSENs ist insofern richtig, als KANT immer, auch während der ganzen Periode seines Kritizismus, daran festgehalten hat: wir müssen uns die absolute Wirklichkeit wie ein System geistiger Wesen denken, welche eine geistige Einheit in Gott bilden; viele Stellen, von denen PAULSEN so ziemlich die wichtigsten angeführt hat, legen dafür Zeugnis ab. Aber seine Darstellung ist andererseits doch nicht richtig, weil er dasjenige, was KANT unter tausend Verklausulierungen versteckt, nun seinerseits offen und nackt hinstellt. PAULSEN stellt dasjenige, was KANT nur durch einen Schleier hindurchschimmern läßt, ohne diesen kritischen Schleier in das hellste Tageslicht. Der Schleier, den KANT so vor dieser intelligiblen Welt vorzieht, ist ein notwendiger Bestandteil seines kritischen Systems. PAULSEN zieht den Schleier einfach weg: in demselben Augenblick ist aber auch der eigentliche Kritizismus KANTs nicht mehr ganz da. Daß KANT jene intelligible Welt so diskret durch den Schleier zugleich verhüllt und durch denselben verhüllenden Schleier eben wieder hindurchschimmern läßt, darin eben ist das Charakteristische seines Kritizismus zu suchen. Gewiß, wenn wir diesen Schleier von der kantischen Erkenntniskritik wegziehen, so kommt LEIBNIZens Monadologie zum Vorschein. Aber wenn wir jenen Schleier wegziehen, so haben wir eben auch KANTs eigentliche Philosophie nicht mehr. Dieser die wahre Wirklichkeit verhüllende und doch in unbestimmten Umrissen hindurch schimmern lassende Schleier ist ein notwendiger Bestandteil der kantischen Philosophie. PAULSEN hat ihn weggezogen, in der guten Meinung, und dadurch erst den "eigentlichen" KANT zu zeigen. Aber er nimmt KANT damit eben sein Eigentümlichstes, die kritische Vorsicht und Diskretion, mit der er sich über die Art, wie das wirklich Wirkliche zu "denken" ist, äußert.

5. Allerdings - PAULSEN hat es nicht versäumt, auf den Unterschied hinzuweisen, der zwischen der alten dogmatischen Metaphysik und KANTs kritischer Metaphysik obwaltet. Schon die oben Seite 138 mitgeteilte Stelle aus der Vorrede enthält die Bemerkung, daß KANT "die falsche Begründung" der alten Dogmatiker bekämpft hat; auf Seite 238 heißt es:
    "Die Gedanken der alten Metaphysik hatten für ihn bleibende Wichtigkeit und Wahrheit, wenn auch Wahrheit in einem anderen Sinn als die Wahrheiten der Physik. Man kann vielleicht sagen, daß KANT von allen Grundanschauungen zur Theologie, Psychologie und Physik, wie sie in den vorkritischen Schriften vorliegen, nicht eine einzige ganz hat fallen lassen. Die meisten finden sich, nur mit verändertem Vorzeichen, in den kritischen Schriften wieder."
PAULSEN wiederholt diesen Vergleich auf Seite 273:
    "Alle diese Gedanken (der alten Metaphysik) hat Kant nie weggeworfen; er gibt ihnen eigentlich nur ein anderes Vorzeichen: nicht dem Verstand demonstrierbare Wahrheiten, wie Mathematik und Physik, sondern notwendige Ideen, welche die Vernunft niemals aufhören kann und wird, aus sich hervorzubringen."
Die alte idealistische Metaphysik machte den Fehler, diese Vernunftideen "den in der sinnlichen Anschauung darstellbaren Begriffen an- und einzureihen"; KANT hat aber diese ansich berechtigten Gedanken "nur als vorgebliche reine Verstandeserkenntnisse beseitigt, um sie sogleich als notwendige Vernunftideen zurückzuführen", d. h. als notwendige Ideen "der spekulativen und praktischen Vernunft".
    "Die theoretische Vernunft führt durch das ihr innewohnende Streben nach dem Unbedingten über die Welt des Bedingten und Relativen hinaus . . . die praktische Vernunft führt durch ihr unbedingtes Gebot, Ideen in der sinnlichen Welt zu verwirklichen, notwendig zu der Annahme, daß der Natur eine ideelle Welt zugrunde liegt ... " (Seite 281)
Wer wird sagen wollen, daß diese Darstellung falsch ist? Sie gibt alles Wesentliche wieder. Aber sie läßt doch, wenn auch vielleicht nur aus pädagogischen Gründen, Lichter und Schatten weg, welche sich im Original finden und welche dasselbe in ganz anderer Beleuchtung erscheinen lassen. Zunächst die "Ideen" der theoretischen Vernunft. Gewiß sind die Vorstellungen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit - so stellt sie ja KANT gerne zusammen - "notwendige Ideen der spekulativen Vernunft". In PAULSENs Darstellung wird nun ja allerdings ausdrücklich erwähnt, daß diese Ideen "dem subjektiven Bedürfnis der Vernunft" ihren Ursprung verdanken (Seite 227). Aber dieser subjektive Charakter der Ideen, den KANT nicht selten scharf hervorhebt, tritt in der weiteren Ausführung bei PAULSEN ganz zurück hinter ihrem objektiven Realitätswert. Wenn ich zum Nachweis dessen einige Stellen von KANT zitiere, so weiß ich wohl, wie mißlich es mit dem Zitieren bei KANT steht. PAULSEN sagt einmal:
    "Kant muß doch aus dem Ganzen verstanden werden; mit einzelnen Stellen kann man ungefähr jede mögliche und unmögliche Ansicht aus ihm herausbringen." (Vorrede).
Nun - "jede" gerade nicht. So steht es doch nicht mit KANTs Werken, daß man von ihnen sagen könnte:
    "Hic liber est, in quo sua quaerit dogmata quisque,
    Invenit et pariter dogmata quisque sua."
    [Dies ist ein Buch, in dem jeder nach seinen eigenen Meinungen
    sucht - und auch seine eigenen Meinungen findet.]
Aber das ist ja wahr, daß sich gerade über die entscheidenden Punkte (sei es scheinbar oder wirklich) entgegengesetzte Äußerungen bei KANT finden; und daß bei KANT sich tatsächlich viele einander widersprechende Stellen nachweisen lassen, habe ich selbst ja wohl oft genug gezeigt. Ich habe hierüber noch weiter unten etwas zu sagen: hier will ich nur so viel bemerken, daß, um KANT "aus dem Ganzen zu verstehen", man doch auch den ganzen KANT geben muß, und dazu gehören in diesem Fall doch auch diejenigen Partien, in denen die Ideen einen ganz subjektiven Charakter annehmen.

6. Ich will zum Erweis des Gesagten KANTs Lehre von den "Gedankendingen" erörtern. Es ist dies ein meines Wissens bis jetzt ganz vernächlässigtes Thema. Am Schluß der transzendentalen Analytik stellt KANT bekanntlich eine "Tafel der Einteilung des Begriff von Nichts" in seinen verschiedenen Bedeutungen auf. Er unterscheidet vier Bedeutungen; die erste ist: "Leerer Begriff ohne Gegenstand = ens rationis = Gedankending."
    "Das Gedankending . . . darf nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden, weil es bloß Erdichtung (obzwar nicht widersprechende) ist."
Die Noumena werden ausdrücklich schon hier zu diesen entia rationis gerechnet. Man könnte nun sagen, KANT meinte wohl, nur vom Standpunkt des Verstandes seien die Noumena entia rationis, also bloß "erdichtete" Gedankendinge, aber vom Standpunkt der Vernunft aus bekommen sie ihm ein anderes Wertvorzeichen. Sehen wir daher, wie sich die transzendentale Dialektik zur Lehre von den "Gedankendingen" stellt. Im I. Buch derselben, im 2. Abschnitt, wird die Lehre "von den transzendentalen Ideen" entwickelt. Gegen den Schluß des Abschnitts (A 337, B 394) macht KANT eine fundamentale Distinktion [Unterscheidung - wp]. Er unterscheidet ein Gedankending (ens rationis), "welches nur willkürlich gedacht ist", von einem solchen, welches "durch die Vernunft notwendig vorausgesetzt wird". Die "transzendentalen Ideen" gehören ausdrücklich zur zweiten Gattung und machen sie vollständig aus.

Die transzendentalen Ideen sind demnach zwar notwendige Voraussetzungen der menschlichen Vernunft, aber sie bleiben doch erdichtete Gedankendinge. An einer etwas früheren Stelle desselben Abschnittes (A 328f, B 384f) drückt KANT dasselbe ebenso scharf mit anderen Worten aus: Die transzendentalen Ideen sind "Maximen", denen niemals "in concreto" etwas Kongruentes entspricht;
    "die Annäherung zu einem Begriff, der aber in der Ausübung doch niemals erreicht wird, ist ebenso viel, als ob der Begriff ganz und gar verfehlt würde"; und "so heißt es von einem dergleichen Begriffe: er ist nur eine Idee".

    "Ob wir nun gleich von den transzendentalen Vernunftbegriffen sagen müssen: sie sind nur Ideen, so werden wir sie doch keineswegs für überflüssig und nichtig anzusehen haben":
sie dienen dem Verstand zum Kanon usw. Also die transzendentalen Ideen sind erdichtete, aber notwendig erdichtete Begriffe und besitzen einen bedeutsamen Wert für die theoretische (und noch mehr für die praktische) Vernunft - aber sie sind "nur" Ideen, d. h. entia rationis, aber eben nicht willkürlich gemachte, sondern notwendig gedachte. (Ebenso A 327, B 384). Man könnte nun sagen, KANT sei im Verlauf der transzendentalen Dialektik doch über diese negativen Anfangsbestimmungen zu positiveren Endresultaten gelangt. Sehen wir uns zu diesem Zweck den "Anhang zur transzendentalen Dialektik" an, auf welchen als einen "nicht unwichtigen" Schlußabschnitt auch PAULSEN (Seite 223) ausdrücklich hinweist mit der Bemerkung:
    "er könnte, unter einem anderen Gesichtspunkt, auch als das Hauptstück bezeichnet werden: er bringt die positive Behandlung, wenn man will, die transzendentale Deduktion der Vernunftideen, eine beschränkte und bedingte, aber doch eine wirkliche Deduktion".
Ganz richtig; KANT will daselbst eine "Deduktion" der Ideen geben (A 669, B 697), eine wirkliche Deduktion, aber doch nicht ohne Weiteres eine Dedution ihrer Wirklichkeit im Sinne von Existenz. Wir finden nämlich, daß KANT hier jene Einteilung der Gedankendinge in eine schlechte und eine gute Art mit anderen Worten wiederholt. Es heißt an der angegebenen Stelle:
    "Die Ideen der reinen Vernunft verstatten zwar keine Deduktion von der Art, als die Kategorien; sollen sie aber mindestens einige, wenn auch nur unbestimmte, objektive Gültigkeit haben und nicht bloß leere Gedankendinge (entia rationis ratiocinantis) vorstellen, so muß durchaus eine Deduktion derselben möglich sein" usw.
Wie heißt es nun aber weiter mitten im Verlauf dieser Deduktion? Alle Vernunftideen werden da auf den Generalnenner der "systematischen Einheit" gebracht (A 680f, B 708f) Diese "systematische Einheit" dient der Vernunft
    "nicht objektiv zu einem Grundsatz, um sie über die Gegenstände, sondern subjektiv als Maxime, um sie über alle mögliche empirische Erkenntnis der Gegenstände zu verbreiten."

    "Die Vernunft kann aber diese systematische Einheit nicht anders denken, als daß sie ihrer Idee zugleich einen Gegenstand gibt, er eben durch keine Erfahrung gegeben werden kann . . . Dieses Vernunftwesen (ens rationis ratiocinatae) ist nur zwar eine bloße Idee und wird also nicht schlechthin und ansich als etwas Wirkliches angenommen, sondern nur problematisch zugrunde gelegt . . . um alle Verknüpfung der Dinge der Sinnenwelt so anzusehen, als ob sie in diesem Vernunftwesen ihren Grund hätte . . ."
"Vernunftwesen ist hier dem Zusammenhang natürlich nicht vernünftiges Wesen, sondern = von der Vernunft erdachtes Wesen, also eben = Gedankending oder ens rationis. Die Ideen werden also ganz unzweideutig als entia rationis bezeichnet, aber KANT macht eben einen wesentlichen Unterschied zwischen einem "ens rationis ratiocinantis" und einem "ens rationis ratiocinatae". Die Distinktion wird durch ein sehr zweifelhaftes Latein fixiert (2), aber sie ist unzweifelhaft sehr fein und findet ihre Erläuterung durch eine ähnliche Unterscheidung: am Schluß der Einleitung zur transzendentalen Dialektik (A 311, B 368) scheidet KANT die Vernunftbegriffe in zwei Gattungen: conceptus ratiocinantes, vernünftelnde Begriffe, welche "durch einen Schein des Schließens erschlossen" sind, und conceptus ratiocinate, richtig geschlossene Begriffe, welche zwer niemals "ein Glied der empirischen Synthesis ausmachen, aber dessen ungeachtet objektive Gültigkeit haben": In der "Kritik der der Urteilskraft", § 74, wird derselbe Unterschied mit ähnlichen Worten gemacht: auf der einen Seite steht "ein vernünftelnder und objektiv leerer Begriff (conceptus ratiocinans)", auf der anderen Seite ein "Vernunftbegriff, ein Erkenntnis gründender, von der Vernunft bestätigter (conceptus ratiocinatus)". Nach dieser Terminologie sind also die transzendentalen Ideen notwendige Vernunftbegriffe (conceptus ratincinati), nicht bloß vernünftelnde Begriffe (conceptus ratiocinantes). Der Empirismus, bzw. der Skeptizismus hatte jene Ideen für bloße "vernünftelnde Begriffe", d. h. für willkürlich erdachte Gedankendinge erklärt: dem Systéme de la nature sind sie phantastische, sinnlose Einbildungen (vgl. PAULSEN, Seite 227). Diese Auffassung bekämpft KANT aufs Heftigste: sie sind ihm, um mit SCHILLER zu sprechen, "kein leerer Wahn". Aber vertritt er darum die entgegengesetzte Auffassung des Rationalismus, bzw. Dogmatismus? Mit dieser Richtung teilt KANT allerdings die Überzeugung, daß jene Ideen notwendig gedachte Begriffe sind, d. h. Begriffe, welche jede normale Menschenvernunft mit innerer Notwendigkeit denken muß, aber diese notwendig in uns und von uns gedachten Begriffe haben ihm darum doch keinen im strengen Sinn des Wortes absolut-objektiven Realitätswert, sondern nur einen subjektiven Wert als Mittel zur ideellen Abrundung des Weltbildes. Von ihnen kann man sagen, was GOETHE seinen Tasso von seinen Phantasiegestalten, welche nicht existieren und doch existieren, sagen läßt:
    Es sind nicht Schatten, die der Wahn erzeugte,
    Ich weiß es, sie sind ewig, denn sie sind.
Man kann den tiefsten Unterschied des Kritizismus KANTs vom Dogmatismus so formulieren: KANT hat, im Gegensatz zum rationalistischen Dogmatismus, gelehrt: was notwendig gedacht werden muß, darf darum doch noch nicht für existierend ausgegeben werden; oder: Notwendigkeit des Gedachtwerdens schließt nicht Notwendigkeit des Existierens ein. Wenn man sich etwas so oder so "denken" muß, so ist dies kein Beweis, daß es sich auch realiter so verhält. So weit ich sehe, ist dieser überaus wichtige Punkt noch nicht genügend beachtet worden, obgleich er doch den Schlüssel zur Ideenlehre bildet (3). Denn die Ideen sind ihm eben notwendig von der Vernunft hervorgebrachte Begriffe, deren sich dieselbe nicht entschlagen kann und soll, aber sie bleiben ihm doch entia rationis, wenn auch rationis ratiocinatae, d. h. Produkte der durch kritische Selbstprüfung erst recht zur Vernunft, d. h. zu sich selbst gebrachten Vernunft, aber Produkte, welche ihren Charakter als entia rationis behalten, d. h. als leere Begriffe ohne Gegenstand.

Sobald man aber diesen Sachverhalt verkennt und den transzendentalen Ideen objektiven Erkenntniswert zuschreibt, so verfällt man dem "dialektischen Schein".
    "Die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauch, so daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben werden, und im Falle daß man sie so versteht, so sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe." (B672)
Also durch Mißbrauch sinken jene notwendigen Vernunftbegriffe sogleich zur Stufe der willkürlich erdachten und bloß vernünftelnden Begriffe herab, von denen sie doch oben so scharf unterschieden wurden; in diesem Sinne spricht KANT auch A 339, B 397 von den durch einen solchen Mißbrauch entstehenden, bzw. zu demselben führenden "vernünftelnden Schlüssen). Eben deshalb spricht ja KANT überall so energisch gegen den Mißbrauch der transzendentalen Ideen, weil dieselben dadurch ihren spezifischen Charakter als Ideen verlieren und in die schlechte Gesellschaft willkürlich erdachter Begriffe geraten. Von den Ideen gilt ganz, was KANT von den sich an sie anschließenden "transzendentalen Hypothesen" sagt: man muß sie in ihrer eigentümlichen "Qualität erhalten"; sowie man ihnen auch nur
    "einige absolute Gültigkeit zuschreibt, ist die Gefahr vorhanden, die Vernunft unter Erdichtungen und Blendwerken zu ersäufen." (A 782, B 810)
In diesem negativen Resultat könnte man sich durch einige auffallende Wendungen in den von mir zitierten Textworten irre machen lassen: KANT habe doch oben ausdrücklich gesagt, die Deduktion der Idee soll erweisen, daß sie "nicht bloß leere Gedankendinge" sind: wie könne man also nun sagen, es sei in seinem Sinne, sie "leere Begriffe ohne Gegenstand" zu nennen? Man beachte aber eben wohl den Gegensatz der entia rationis ratiocinantis und der entia rationis ratiocinatae: jene sind "leere" Gedankendinge in dem Sinne, daß sie "überflüssig und nichtig" sind, diese dagegen sind Vernunftbegriffe, welche notwendig und nützlich sind, aber sie bleiben doch Vernunftwesen = entia rationis und in diesem Sine sind sie eben nach der oben mitgeteilten Definition KANTs "leere Begriffe" d. h. "ohne Gegenstand". Ebensowenig darf man sich durch die Wendung irre machen lassen, die Deduktion der Ideen habe zu zeigen, daß sie "wenn auch nur unbestimmte, objektive Gültigkeit" haben, oder wenn KANT in der "Kritik der Urteilskraft", § 74, im Gegensatz dazu die vernünftelnden Begriffe "objektiv leer" nennt. "Objektiv" ist hier nicht = absolut oder real in einem metaphysischen Sinn, sondern = allgemeingültig in einem erkenntniskritischen Sinn; im letzteren Sinn sind Begriffe "objektiv", wenn sie zum Aufbau des Weltbildes notwendig sind, aber sie bleiben darum doch im gewöhnlichen Sinn subjektiv, wie dann ja auch KANT ausdrücklich in der oben mitgeteilten Stelle den Ideen nur den Wert "subjektiver Maximen" zuschreibt. Man wird sich also auch nicht täuschen lassen, wenn KANT ferner in der Stelle der "Kritik der Urteilskraft" die Vernunftbegriffe "Erkenntnis gründend" nennt; auch "Erkenntnis" ist hier nicht im alten, metaphysischen Sinn, sondern im kantischen "erkenntniskritischen" Sinn zu nehmen: Allgemeinheit und Notwendigkeit der Vorstellungsweise. Einen letzten Rettungsanker könnte man in dem oben mitgeteilten Ausdruck "problematisch" finden: wenn jene Ideen "problematisch" zugrunde gelegt werden müssen, so sei darin ja eben doch mindestens die Möglichkeit der Existenz ausgesprochen. Wie aber KANT den logischen Wert des "Problematischen" faßt, darüber vergleiche man z. B. einmal die "Logik", Einleitung, Seite IX: "So wäre z. B. unser Fürwahrhalten der Unsterblichkeit bloß problematisch, sofern wir nur so handeln, als ob wir unsterblich wären." Das "als ob" charakterisiert aber doch eine Erdichtung oder wenigstens etwas der Erdichtung sehr Verwandtes.

An einer bis jetzt zu wenig beachteten Stelle der Methodenlehre gibt KANT dieser Auffassung einen unzweideutigen Ausdruck (A 771, B 799):
    "Die Vernunftbegriffe sind, wie gesagt, bloße Ideen und haben freilich keinen Gegenstand in irgendeiner Erfahrung (4) . . . Sie sind bloß problematisch gedacht, um in Beziehung auf sie (als heuristische Fiktionen) regulative Prinzipien des systematischen Verstandesgebrauchs im Feld der Erfahrung zu gründen. Sieht man davon ab, so sind es bloße Gedankendinge, deren Möglichkeit nicht erweislich ist, und die daher auch nicht der Erklärung wirklicher Erscheinungen durch eine Hypothese zugrunde gelegt werden können."
So knüpft das Ende an den Anfang an: die Vernunftbegriffe sind "bloße Gedankendinge", und wie diese am Anfang sogleich als "bloße Erdichtungen" bestimmt wurden, so sind sie hier zum Schluß nur "Fiktionen". Dies also ist KANTs bis jetzt nicht genug beachtete Lehre von den "Gedankendingen". - Der Vollständigkeit halber vergleiche man noch dazu die Stellen B 497, 571, 594, 701: man wird überall das Gesagte bestätigt finden.

7. Es ist mir natürlich sehr wohl bekannt, daß man die Wirkung dieser Stellen durch anders lautende Zitate paralysieren kann: es gibt Stellen genug bei KANT, in denen er der Vernunft das Recht vindiziert, die Möglichkeit der durch die Ideen bezeichneten intelligiblen Gegenstände anzunehmen; und es gibt außerdem noch andere Stellen, in denen er noch weiter geht, und der Vernunft nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht vindiziert, die Wirklichkeit des mundus intelligibilis anzunehmen. Solche Stellen mehren sich in den späteren Schriften, sie fehlen aber auch durchaus nicht in der Kr. d. r. V., wie auch andererseits bis in die spätesten Schriften hinein sich jene negativen Wendungen gelegentlich wiederholen. Man kann nun mit PAULSEN in diesen negativen Wendungen "die größte Entfernung des kantischen Denkens von seinem Zentrum" finden (Vorrede, Seite VIII); man kann mit der Marburger Schule in der Hypostasierung [Vergegenständlichung - wp] der Ideen einen Abfall von der kopernikanischen Tat KANTs, von der Erkenntniskritik, erblicken. Aber weder dürfen die Anhänger dieser schärferen Richtung diese positive Tendenz bei KANT einfach leugnen, noch darf der Vertreter der konziliatorischen [zu Zugeständnissen bereit - wp] Richtung jene bei KANT tatsächlich vorhandene negative Tendenz unberücksichtigt lassen. Diese verschiedenen Tendenzen sind da, sie gehören zum ganzen und vollen KANT. KANT ist so reich, daß man ihm nichts zu geben hat: aber man darf ihm auch nichts nehmen, sonst macht man ihn mit Unrecht ärmer; man verkennt die Fülle seines Geistes und den Reichtum seines Denkens, wenn man einseitig nur die negative oder die positive Seite herauskehrt.

In treffender Weise hat CARL FRIEDRICH HEMAN dies gezeigt in seinem Artikel "Paulsens Kant" (Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 114). Er sagt da auch unter Anderem:
    "Es gibt im Leben aller großen und tiefen Geister, die eine welthistorische Wirkung auf ihr Geschlecht auszuüben berufen sind, und zu diesen gehört auch Kant, Momente und Perioden, wo sie über ihre eigene Natur hinausgehoben erscheinen . . . In so einer gehobenen Periode, erfüllt von der Größe und Wucht seiner Sache, hat auch Kant seine Kr. d. r. V. geschrieben; da war er der kampffreudige Ritter, der waghalsig vor keinem Streich zurückschreckte und kühn und frei nach allen Seiten Gedanken blitzen ließ, die ihm nachher bei ruhiger Überlegung selbst allzuverwegen und gefährlich erschienen sind. Dieses Heroische in Kants auftreten und in der Kr. d. r. V., das vermissen wir in Paulsens Darstellung; das hätte wohl in eine stärkere Beleuchtung gesetzt werden dürfen. So dürfte es auch ... nicht zutreffend sein, zu sagen, Kant nehme hie und da in der Kritik das Ansehen eines Agnostikers an. Das hat er nicht bloß angenommen, er hat ich nicht etwa zum Schein oder um einen Effekt zu erreichen, mit diesem Mantel drapiert, sondern die Hochflut seiner Gedanken riß ihn bis zu diesen skeptischen Riffen fort . . ."
Ich würde diese Ausführungen nur dahin ergänzen, daß ich die Zeit der kritischen Hochflut nicht bloß auf das Jahr 1781 beschränken würde: ich finde, daß sie auch später öfter wiederkehrt und daß "die skeptischen Riffe" auch später nicht fehlen; umso mehr stimme ich mit HEMAN dahin überein, daß "die scharfen Spitzen und schroffen Kanten, welche die Kr. d. r. V. herauskehrt", in der Wiedergabe derselben nicht übersehen werden dürfen über der unbestreitbar vorhandenen positiven Tendenz KANTs.

8. Aber wenn das der Fall ist, ist denn dann KANT nicht ein schwankendes Rohr, das im Wind der Gedanken hin und her bewegt wird? Ein solche Bemerkung macht auch PAULSEN, wenn er Seite 244 sagt:
    "Freilich hat die Metaphysik bei Kant etwas eigentümlich Schillerndes, zwischen Wissen und Nichtwissen Schwebendes; jedem: es ist so, folgt ein: das heißt, es ist eigentlich nicht so, das das dann ein letztes: es ist aber doch so, kommt."
Diese Schilderung als solche ist ganz zutreffend: ich würde sie nur dahin ergänzen, daß, wie PAULSEN an einer anderen Stelle (Seite 270) sich glücklich ausdrückt, der Verstand zu keinem "Letzten" kommt, sondern in der Schwebe bleibt. Aber verdient denn nun diese - nennen wir sie einfach diese - kritische Schwebe nicht den schärfsten Vorwurf? Ist das denn - so rufen Alle, welche aufgrund ihrer "festen Position" jede, auch die schwierigste Frage mit beneidenswerter Sicherheit sofort durch ein - möglichst laut vorgetragenes - einfaches Ja oder Nein beantworten - ist denn das überhaupt noch ein Philosoph, der so in der Schwebe bleibt und uns zumutet, dieses Schweben mitzumachen?

Man erlaube mir, diese Frage mit einer Gegenfrage zu erledigen: Ist es denn bei PLATON anders? PAULSEN weist mit Vorliebe darauf hin, daß im Gewebe der kantischen Philosophie der Platonismus den Einschlag bildet: überall tritt uns bei KANT (ich führte die Stelle oben bereits ausführlich an)
    "der echte Platoniker entgegen; und wer auf diesen nicht achtet, der wird auch den Kritiker nicht verstehen".
Sehr lieb ist mir diese Erinnerung an den "göttlichen Plato", wie ihn SCHOPENHAUER im Anschluß an die Alten mit Recht nennt: sie bietet Gelegenheit, KANT durch PLATON und vielleicht auch PLATON durch KANT zu erläutern. PLATON liebt es bekanntlich, die Darstellung seiner Lehren durch poetische Schilderungen zu beleben, die er selbst als mythoi bezeichnet: von besonderer Wichtigkeit sind die Mythen im Timäus, betreffend die Bildung der Welt durch den göttlichen Demiurgen, die Mythen des Phädrus, betreffend die Präexistenz der Seele und ihre freie Entscheidung in diesem Zustand, und die Mythen der Republik, die sich auf die Unsterblichkeit der Seele beziehen. - Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind auch bei PLATON wie bei KANT die Hauptthemen. - Man hat die platonischen Mythen in verschiedene Klassen einzuteilen gesicht: für uns kommen diese feineren Unterschiede hier nicht in Betracht. Was uns hier interessiert, das ist der Umstand, daß durch die Ineinanderwebung der wissenschaftlichen und der mythischen Darstellung (5) die wahre Meinung PLATONs von Anfang an streitig geworden ist, daß infolge der Unmöglichkeit, daß wissenschaftliche und das mythische Element (logos und mythos) reinlich zu scheiden, die platonische Lehre ganz heterogene Auffassungen gefunden hat, und daß infolgedessen sich vielfach das Urteil gebildet hat, daß Platons Ansichten in jenen entscheidenden Fragen selbst eben schillernd und schwankend, ja vielfach widersprechend sind.

Schon der Kantianer TENNEMANN hat dieses Schwanken PLATONs treffend geschildert in seinem "System der platonischen Philosophie", Bd. 1, Seite 141f:
    "Ihm galt der Mythos für keine Wahrheit, sondern nur die zugrunde liegende Idee, die Regel für die bildende Einbildungskraft, obgleich er zuweilen sich die Miene gibt, als wenn er alles für eine ausgemachte Sache halte. Aber auch alsdann fließen unbemerkt Zweifel, Bedenklichkeiten ein, welche seinen ersten Glauben wankend machen."
Bekannt ist, daß HEGEL dieses Urteil über PLATON geteilt hat, ohne daß dasselbe seiner Bewunderung PLATONs Abbruch tut. In seinen "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" (1833), Bd. 2, Seite 188 heißt es:
    "Die mythische Form der platonischen Dialoge macht das Anziehende dieser Schriften aus, aber es ist eine Quelle von Mißverständnissen, es ist schon eines, wenn man diese Mythen für das Vortrefflichste hält . . . Das ist nicht die wahrhafte Weise der Darstellung . . . es ist eine Ohnmacht des Gedankens . . . der Gedanke ist noch nicht frei . . . Die Gefahr ist unabwendbar, daß man solches, was nur der Vorstellung angehört, nicht den Gedanken - für etwas Wesentliches nimmt . . . diese Mythen sind Veranlassung gewesen, daß viele Sätze aufgeführt werden als Philosopheme, die für sich gar nicht solche sind."
HEGEL findet dann (Seite 244f) sogar im Hauptpunkt selbst, in der Ideenlehre, eine "Zweideutigkeit", ob dieselben Wesenheiten sind oder Begriffe; "einesteils" sei die erste Lehre bei PLATON vertreten, "andernteils" aber die zweite.

Bei FERDINAND CHRISTIAN BAUR findet sich dieselbe Auffassung. In der bekannten Schrift "Das Christliche des Platonismus" (1837) wirft er deshalb (Seite 44f) die Frage auf: ist der Mythos vom Abfall der Seelen "eigentlich zu nehmen oder uneigentlich?" Er kommt zu keiner definitiven Entscheidung, was PLATONs eigentliche Meinung ist, weil, was wir zur bloßen mythischen Form rechnen, PLATON selbst "vom Inhalt der Idee noch nicht völlig abzusondern vermochte", während doch an anderen Stellen jene mythische Vorstellung bei ihm selbst "wieder zurücktritt". So ist es auch mit dem Mythos der Weltschöpfung, "der mit sich selbst in Widerstreit kommt" (Seite 72).
    "Der platonische Weltschöpfer . . . läßt sich, vom Standpunkt der platonischen Ideen aus betrachtet, auf die bloße Bedeutung des mythischen Bildes zurückführen; wer mag aber entscheiden, wie weit diese Scheidung von Bild und Idee dem Plato selbst zu klarem Bewußtsein gekommen ist?"
Über die hierbei "sich widersprechenden" beiden Standpunkte PLATONs, den mythischen und wissenschaftlichen, spricht BAUR dann weiter in den Tübinger "Theologische Studien und Kritiken" 1837, Seite 552-558.

ZELLER hat die Scheidung des mythos und logos bei PLATON mehr ins einzelne hinein zu vollziehen gesucht, er findet in der mythischen Darstellung kein "unübersteigbares Hindernis des Verständnisses" (Die Philosophie der Griechen, Bd. 2, 1, dritte Auflage, Seite 422); aber bei der Scheidung der beiden Elemente ergeben sich dann doch Schwierigkeiten der "Deutung": denn die mythische Darstellung weist doch "fast immer auf eine Lücke der wissenschaftlichen Erkenntnis" hin (Seite 484); so wenn PLATON im Timäus "die Entstehung der Dinge erklären will, die doch nach den Voraussetzungen seines Systems unmöglich ist"; daß da Zweideutigkeiten und "Widersprüche" entstehen müssen, ist unabweisbar, wie sich dies dann besonders bei den Seelenmythen zeigt (Seite 691f); die Scheidung der "ernsthaft gemeinten Bestimmungen" von den mythischen, bzw. ihr Einklang ist nirgends rein durchzuführen: "poetisches Spiel" und "ernsthafte Meinung" gehen hier leise ineinander über, stehen sich dort schroff gegenüber. In welcher maßlosen Weise TEICHMÜLLER diesen Sachverhalt zugleich verkannt und mißbrauch hat, ist bekannt. - Ich führe noch ein Urteil aus neuester Zeit an: PFLEIDERER in seinem Werk "Sokrates und Plato" (Tübingen 1896); man müsse sich, heißt es da treffend (Seite 623), bei der Darstellung der platonischen Lehren
    "vor scharf formulierten Entscheidungen hüten, wo unser Philosoph selber eben keine solchen hat, sondern zwischen verschiedenen ihm gleichwichtigen Interessen und Neigungen schwankt, indem er sich und dem Leser dieses Schweben durch die Verschleierung in einem fließenden Bild gesteht."
Man vergleiche ferner ebd. Seite 461, 633, 668 (sowie 420, 439, 441, 454) über dieses "Schwanken und Wechseln", "Schwanken und Schweben", "Schillern" (6) und Schweben" bei PLATO.

Nun, was PFLEIDERER so von PLATON sagt, genau dasselbe, sogar mit denselben Ausdrücken, sagt PAULSEN von KANT: beide finden bei ihrem Philosophen ein "Schillern und Schweben", und das gerade in den entscheidenden Punkten. In den Augen all derer, welche mit der Enge ihres Schulmeisterhorizontes die Philosophie messen, und die Philosophen meistern, ist dies natürlich ein Fehler, den sie mit Behagen dreimal unterstreichen. Wer einen weiteren Blick hat, urteilt hierin milder, ja er findet vielleicht, daß die Widersprüche, die sich bei beiden großen Philosophen - wie auch bei andern - finden, nur das notwendige Gegenstück, zum antinomischen Charakter der Wirklichket selbst sind. Ein Philosoph, der eben nur eine Seite an der Wirklichkeit ins Auge faßt, kann bei der theoretischen Bearbeitung eben dieser einen Seite leicht ohne Widersprüche auskommen. Je vielseitiger aber ein Philosoph ist - wie z. B. PLATON im Gegensatz zu DEMOKRIT - d. h. je mehr Seiten der Wirklichkeit er in Betracht zieht, desto weniger wird er Widersprüche vermeiden können. "Das subjektive Oszillieren wäre schließlich nur das Gegenbild des objektiven Schillerns der Sache", sagt PFLEIDERER, a. a. O. Seite 633 treffend (vgl. auch Seite 439, 441, 434); und ähnliche Gedanken hat auch KROHN ausgesprochen in seiner "Platonischen Frage" (Seite 142f):
    "Wo ist die Philosophie, die als ein System gedachter und gewollter Überzeugungen noch bestehen kann, wenn man das Messer der formalen Logik an sie setzt? Je höher sie steht, je tiefer sie gräbt, desto zuversichtlich mehr Widerspruch ist in ihr."

    "Von Platon bis auf Schopenhauer herab ist kein großer Denker nach solchen Maßstäben . . . zu würdigen."
Trotz TEICHMÜLLERs Spott (Literarische Fehden, Bd. 2, Seite 168 und 177) steckt in dieser Auffassung (7) beachtenswerte Wahrheit. Ich selbst habe in meiner schon oben zitierten Abhandlung "Zu Kants Widerlegung des Idealismus" (a. a. O, Seite 138) bemerkt, daß die Widersprüche bei KANT nicht schlechterdings als ein Zeichen der Unvollkommenheit zu fassen sind, sondern als ein Zeugnis der vielseitigen Gründlichkeit, mit welcher KANT die Wirklichkeit betrachtet:
    "Die Widersprüche bei Kant sind der Ausdruck des Ernstes, mit dem Kant die vorhandenen Gegensätze erfaßte und mit dem er den Fehler vermeiden wollte, der in der einseitigen Vertretung einer Richtung gelegen wäre; sie sind, da jene von ihm vereinigten historischen Richtung Ausprägungen der in der Natur des Gegebenen selbst liegenden Veranlassungen sind, in letzter Linie der Ausdruck der Widersprüche, in welche das menschliche Denken überhaupt, wie es scheint, notwendig gerät."
Ich glaube, es war CARLYLE, der einmal einem Unterredner, der ihm einen Widerspruch nachgewiesen hat, zornig entgegenrief: "Halten Sie mich denn für einen so flachen Kopf, daß ich mir niemals widersprechen dürfte?" Dieses Privileg darf auch KANT für sich in Anspruch nehmen: das "Schillern und Schweben" bleibt freilich ein Mangel, aber es ist ein Mangel, der tieferen Reichtum offenbart.

9. Die Erinnerung an PLATON kann uns noch nach einer anderen Seite hin für das Verständnis KANTs nützlich sein. In KANTs "Metaphysik" spielen natürlich die "Postulate der praktischen Vernunft" eine Hauptrolle. PAULSEN weist immer wieder darauf hin, daß KANT die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, deren theoretische Begründung durch den Dogmatismus er verworfen hat, als notwendige Voraussetzungen für die Ethik wieder eingeführt hat. Natürlich ist auch diese Darstellung richtig; sie kann durch hunderte von Stellen belegt werden. Aber an vielen dieser Stellen macht KANT einen eigentümlichen Vorbehalt, der in PAULSENs Darstellung zurücktritt: wir müssen, sagt KANT, die Sache so betrachten, "als ob" sie so wäre; wir müssen uns dabei der bloßen "Analogie" bewußt bleiben (vgl. z. B. Kr. d. r. V. B 594, 697-703). Gewiß gibt es auch einige Stellen, an denen er uns seine Postulate "so derb vor die Nase stellt", wie es nur jemals ein Metyphysiker getan hat; aber die meisten Stellen lauten doch sehr vorsichtig und enthalten "peinliche Verklausulierungen", wie PAULSEN selbst sagt (Seite 224), ohne dieselben aber recht zur Geltung kommen zu lassen.

Was KANT so mit seiner beliebten Formel "als ob" einführt, wie lebhaft erinnert es an manche der platonischen mythoi! Man hat diese oft ungerecht verurteilt oder ungeschickt verteidigt: ich erinnere nur einerseits an den Epikuräer KOLOTES, andererseits an den Neuplatoniker PROKLUS, in dessen, durch WILHELM KROLL so eben neu zugänglich gemachten Kommentar zu PLATONs Republik das Thema sehr eingehend erörter wird. Daß aber die wichtigsten jener Mythen im Interesse des praktisch-moralischen Zwecks aufgestellt sind, hat man erst seit KANT so recht erkannt. Schon der Hallesche Professor JOHANN AUGUST EBERHARD hat in seinen "Neuen vermischten Schriften" (Halle 1788, Seite 292f, 377f) den Gegenstand für die damalige Zeit sehr verständig behandelt. Er zeigt, wie PLATON "die Lücken seiner Untersuchung mit Mythen ausfüllt", wie aber Spätere diese Mythen als "wesentliche Teile" seiner Philosophie, als "genaue Wahrheit" nehmen, während er selbst sie nur dazu aufgestellt hat, um dem Interesse "des *praktischen Zweckes" zu dienen. Im Besitz dieser Einsicht hätte übrigens nebenbei bemerkt EBERHARD bei seiner späteren Polemik gegen KANT dessen "Postulaten der praktischen Vernunft" mehr Verständnis entgegenbringen können. Auch HEGEL (a. a. O. Seite 188f, 212f) deutet an, daß PLATONs Mythen praktisch-pädagogischen Zwecken dienen. BAUR (a. a. O., Seite 92) meint ebenfalls: die platonische Philosophie
    "wollte durch die Mythen nicht bloß abstrakte Ideen bildlich versinnlichen, sondern hauptsächlich für sittlich-religiöse Wahrheiten eine höhere . . . Autorität in Anspruch nehmen".
Am schärfsten drückt dies in neuerer Zeit AUFFARTH aus in seiner Schrift über "Die platonische Ideenlehre" (1883), in der er in einer Weiterbildung von COHENs Anregungen zu dem Resultat kommt:
    "Die Unsterblichkeitslehre ist bei Plato ein ethisches, praktisches Postulat, ein regulatives Prinzip, dazu gesetzt, unser Handeln zu bestimmen, und wenn sie als solches nicht erkannt wird, so rührt dies daher, daß sie öfters von ihrem Zweck (eben dem praktischen Zweck) losgetrennt erscheint." (Seite 112)
Also hier findet sich direkt der Vergleich des platonischen mythos mit dem kantischen Postulat (8). Das Postulat bei KANT verlangt, wir sollen so handeln, "als ob" jene Ideen wirklich wären, wobei aber nicht ausgeschlossen bleibt, daß sie wirklich sein mögen, und dieses "Mögen" verwandelt sich bei KANT an anderen Stellen in ein "Müssen" - auch die Postulate der praktischen Vernunft zeigen bei KANT dasselbe "Schillern" und "Schweben", wie die Ideen der theoretischen Vernunft, und so ist der Vergleich der kantischen Postulate mit dem platonischen mythoi nicht ohne weiteres abzuweisen. Die platonischen mythoi (9) sprechen, wie sich HEGEL so treffend in seiner Kunstsprache äußert, in der "Weise des Vorstellens", im Gegensatz zum reinen Gedanken; sie sprechen "in Gleichnissen und Ähnlichkeiten". Diese "gleichnisweise Vorstellung" ist auch die Art der kantischen Postulate; auch PAULSEN spricht einmal (Seite 264, vgl. 270) von einem "symbolischen Anthropomorphismus", den sie enthalten. Aber dieser symbolische Charakter derselben tritt bei PAULSEN dann doch weiterhin gar sehr zurück. Der symbolische Charakter all dieser Ideen wird aber gerade in der neueren Theologie nicht selten stark betont, speziell bei den von KANT beeinflußten Theologen, z. B. bei SABATIER.

PAULSEN hatte - so sahen wir - KANT mit PLATON zusammengestellt in der Absicht, KANTs Verwandtschaft mit der früheren Metaphysik aufzuweisen: wir sollten in KANT "den echten Platoniker" nicht übersehen, sonst würden wir auch "den Kritiker nicht verstehen". Wir erkennen die Verwandtschaft KANTs mit PLATON an, aber wir meinen, man könne auch den echten PLATO nicht verstehen, wenn man den Kritiker in ihm übersieht. Gerade dieses kritische Element aber verbindet PLATON und KANT nicht weniger, als das metaphysische, ja vielleicht mehr als das Letztere (10).

Das kritische Element bei PLATON zeigt sich nun aber insbesondere darin, daß er einsieht, daß uns für die letzten und höchsten Probleme nur Metaphern übrig bleiben, oder, wie KANT sagt, Analogien. Dieses Bewußtsein war eben bei KANT nicht weniger stark, als bei PLATON. Dem Schlagwort: "Kant ein Metaphysiker" kann man das gleichwertige gegenüberstellen: "Kant ein Metaphoriker".

Damit stehen wir dann freilich bei der Kant-Interpretation vor denselben Schwierigkeiten wie bei PLATON. Tatsächlich fragt auch HEMAN in dem oben zitierten Artikel: was ist aus KANTs Darstellung des mundus intelligibilis als "ernst zu nehmen", was ist "wesentlicher Bestandteil des Systems", was ist nur "Anbequemung" und Bild? Genau dieselbe Fragestellung fanden wir bei den oben zitierten Platon-Interpreten. Gerade die neuerdings so gewachsene Beachtung der Vorlesungen und Reflexionen KANTs führt notwendig zu dieser Fragestellung, die so auffallend erinnert an die "platonische Frage". So hätten wir zu den bisherigen Problemen der Kant-Interpretation eine neue Kant-Frage, welche in dieser Form und Dringlichkeit früher nicht vorhanden war. Latent war sie wohl da, und der und jener hat sie mehr oder weniger gestreift, aber sie ist erst jetzt, insbesondere auch durch die Bearbeitung von KANTs Vorlesungen über Metaphysik durch HEINZE dringend geworden. In diesen Vorlesungen, auf die sich auch PAULSEN gerne beruft, geht ja KANT sehr viel dogmatischer zu Wege, als in seiner Kr. d. r. V. Die oft so kühnen Ausblicke KANTs, welche KANT in jenen Vorlesungen in den mundus intelligibilis tut, erinnern uns aber an dasjenige, was KANT in der Kr. d. r. V. über "transzendentale Hypothesen" sagt, im Abschnitt der Methodenlehre: Die Disziplin der reinen Vernunft ist Anbetracht der Hypothesen. Da heißt es, daß dieselben nicht "im Ernst behauptet" werden, daß es vielmehr "Privatmeinungen" sind, welche man "zur inneren Beruhigung" nicht entbehren kann (und dann folgt die oben zitierte scharfe Stelle gegen deren "absolute Gültigkeit"). Nun wohl. Ganz so spricht PLATON über seine "eikotes mythoi", wie KANT über seine "transzendentalen Hypothesen". Wie diese beiden Ausdrücke sich treffliche korrespondieren, so auch das über sie Gesagte: auch PLATON behauptet seine mythoi nicht "im Ernst": sie sind gesprochene paideia [Erziehung - wp], wie es im Phädrus 265c heißt und der Timäus 59d wiederholt, es handelt sich dabei nur um paideia. Und auch das andere kantische Motiv der "Beunruhigung gegen sich regende Skrupel" findet sich wörtlich bei PLATON in der bekannte Stelle des Phädon 77e, ebenso ebd. 114d. Dieses epadein to paidi - die "Beschwörungen für das Kind in uns", wie SCHLEIERMACHERs berühmte Stelle lautet - PFLEIDERER a. a. O., Seite 422 übersetzt es richtig und genau mit dem kantischen Wort "Beruhigung". So hellen sich auch hier PLATON und KANT gegenseitig auf.

10. Hiermit schließe ich meine Bemerkungen zu PAULSENs Kant-Buch, welche freilich zuletzt aus Mangel an Raum und Zeit ins Aphoristische übergehen mußten. Es bietet sich wohl in den letzten Teilen meines Kant-Kommentars Gelegenheit, um insbesondere das, was über KANTs Postulate nur andeutungsweise gesagt werden konnte, weiter auszuführen; vielleicht nimmt auch irgendein anderer Forscher Veranlassung, den Gegenstand in der eingeschlagenen Richtung weiter zu verfolgen. Man wird immer wieder zu dem Resultat gelangen, daß in KANT wohl, um mit PAULSEN zu sprechen, ein Metaphysiker steckt, aber ein Metaphysiker ganz eigener Art: es ist eine kritische Metaphysik, bei der nicht nur, wie PAULSEN meint, die Art der Begründung eine andere ist, als bei den alten Dogmatikern, sondern auch die Art des Begründeten selbst. PAULSEN meint, nur die Form sei geändert, der Inhalt sei derselbe. Aber die formelle Änderung, welche KANT an den alten Lehren der Dogmatiker vorgenommen hat, ist eine so tiefgreifende, daß auch der Inhalt nicht derselbe geblieben ist: der ontologische Charakter derselben ist geändert, nicht bloß, wie PAULSEN meint, ihr logischer Wert. Ob man danach KANT noch einen Metaphysiker nennen mag, hängt davon ab, wie man Metaphysik definiert. So könnte die Kontroverse als ein bloßer Wortstreit erscheinen. Lassen wir PAULSEN das Wort - zumal es KANT selbst von seiner Philosophie gelegentlich gebraucht. Aber bleiben wir umso fester in der Sache.

Ich kann diese Bemerkungen aber nicht schließen, ohne zu wiederholen, was ich schon in meiner Rezension von PAULSENs Kant-Buch in der Mainummer 1899 der "Philosophical Review" gesagt habe - unbeschadet der Bedenken, welche ich gegen den Hauptpunkt der Darstellung KANTs durch PAULSEN äußern zu müssen geglaubt habe, darf ich wohl gestehen, daß ich der Lektüre des auch stilistisch ausgezeichneten Werkes ebenso viel Genuß als Anregung verdanke. Das Buch, neben aller - nicht selten zu weit gehenden - Kritik KANTs mit wohltuender Wärme für KANT geschrieben, wird dem Königsberger Weisen viele neue Verehrer zuführen. Aber nicht bloß ihm. Auch sein Verfasser selbst wird, wie sein Buch die Geister erregt, sich auch neue Herzen erobern: denn das Buch hat, was so vielen historischen Darstellungen fehlt: es hat Charakter und es bekennt Farbe.
LITERATUR - Verschiedene Autoren, Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstag gewidmet, Tübingen 1900
    Anmerkungen
    1) Natürlich handelt es sich nur um die Metaphysik im transzendenten Sinn. Von den dabei mitspielenden terminologischen Unklarheiten bei Kant (vgl. meinen "Kommentar I", Seite 83, 88f, 149, 232, 373f, 464 und öfter) können wir hier der Einfachheit halber absehen.
    2) Ob Kant Vorgänger in dieser wunderlichen Terminologie hat, ist mir nicht bekannt. Mellin (Enzyklopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie, Bd. I, Seite 508) läßt hier, wie so oft, im Stich. Wolff und seine Schule verwendet den Ausdruck ratiocinari durchaus im klassischen Sinn "vernunftgemäß schließen" (vgl. Baumeister, Philosophia definitiva, § 806, 809 und öfter). Kant nun gebraucht das Deponens "ratiocinari", speziell im partizip praesens (ratiocinans) in einem tadelnden Sinne = vernünfteln, d. h. auf logisch unrechtmäßigem, aber scheinbar richtigem Weg erschleichen. Das partizip perfect gebraucht Kant passivisch - was ja ansich nicht selten bei Deponentia ist, und speziell ratiocinari wird auch schon bei Vitruv passivisch gebraucht. Dieses partizip perfect in passiver Bedeutung (ratiocinatus) gebraucht nun Kant in einem lobenden Sinn, aber auffallenderweise in zwei verschiedenen Anwendungsweisen. Erstens: Wenn ihm die ratio ratiocinans die vernünftelnde Vernunft ist, d. h. diejenige, welche Erschleichungen begeht, so kann dem gegenüber die ratio ratiocinata nur die (durch Selbstbesinnung) zur Vernunft gebrachte Vernunft sein, also eine Vernunft, welche nicht mehr zum bloßen Vernünfteln mißbraucht wird, sondern welche durch Selbstprüfung erst wahrhaft vernünftig und mündig gemacht worden ist. - Zweitens: Eine andere Anwendungsweise des Passivum zeigt die Verbindung "conceptus ratiocinati": es sind dies die richtig erschlossenen und einen ernsten Sinn einschließenden Begriffe im Gegensatz zu den conceptus ratiocinantes, welche bloß "vernünftelnde", spielerische Produkte sind.
    3) Darin liegt zugleich auch die Erwiderung auf die Ausführungen von Paulsen in seinem Aufsatz: "Kants Verhältnis zur Metaphysik" (Kant-Studien IV, Seite 413-447), welcher mir erst nach der Abfassung meiner Abhandlung zugegangen ist. Paulsen zeigt (besonders Seite 415, 419, 423, 428f) ganz richtig, daß es Kants Meinung sein soll: es ist für uns unvermeidlich zu denken, daß aller Erscheinung ein Reich der Zwecke usw. zugrunde liegt. Aber darin eben besteht Kants große kritische Tat, gezeigt zu haben, daß die Notwendigkeit eines Gedankens noch nicht die Notwendigkeit des in ihm Gedachten im Sinne der Existenz einschließt. Als Kant dies einsah, stand er auf der höchsten Spitze, auf die ihm später nur Fichte - und auch dieser nur in seinen kühnsten Momenten - folgte. Daß Kant selbst und mit ihm die größte Zahl seiner Anhänger und nun auch Paulsen die Notwendigkeit eines Gedankens sofort wieder in Notwendigkeit des Gedachten im Sinne der realen Existenz verwandelt, ist ein "notwendiges optisches Phänomen" (Paulsen, a. a. O., Seite 434).
    4) Der hier im Text bei Kant folgende Zusatz kann leicht mißverstanden werden, findet aber durch das Folgende seine unzweideutige Erkärung. Man könnte meinen: die Vernunftbegriffe bezeichnen "gedichtete und (doch) zugleich dabei für möglich angenommene Gegenstände" (jenseits der Erfahrung). Aber sie sind vielmehr "bloße Gedankendinge, deren Möglichkeit nicht erweislich ist": so hieß es ja auch sogleich am Anfang, bei der Tafel der Begriffe von Nichts, das Gedankending dürfe nicht "unter die Möglichkeiten gezählt werden". In diesem Sinne wird ja der Ausdruck "nur eine Idee" einmal (A 644, B 672) einfach mit focus imaginarius verdeutlicht.
    5) "Ce mélange d'ombres et de lumieres" [eine Mischung aus Schatten und Licht - wp], sagt Cousin treffend in seiner "Histoire générale de la philosophie", 1870, Seite 147. Chaignet, der diese Stelle auch zitiert, sagt in seiner Schrift "La vie etl es écrits de Platon", Paris 1871, Seite 495 nicht minder treffend von Platons Mythen: "Wir können uns daher nicht über Platons Verwendung dieses Wortes wundern, aber wir können ihm Vorwürfe machen. . . es in einer so vagen Form präsentiert zu haben und es so eng mit dem Gefüge seines Denkens zu vermischen, daß wir nicht mehr wissen, ob es sich um ein Bild oder eine Realität handelt, die wir vor Augen haben." Und Chaignet findet dann auch, daß Platon wohl selbst sich über diese Scheidung nicht zur definitiven Klarheit gekommen ist.
    6) vgl. Diogenes Laertius III, Seite 38.
    7) Ähnliches auch bei von Stein, "Geschichte des Platonismus", Bd. 1, Seite 234.
    8) Auch das Moment kehrt bei beiden wieder, daß beide gegenüber der rücksichtslosen Zertrümmerung der alten Dogmen durch den Materialismus den Inhalt derselben, aber in veränderter Form, festhalten. In der Vorrede zum platonischen Staat macht Schleiermacher darauf aufmerksam, daß damit Platon "gegen die flache räsonnierende Göttervernichtung" aufgetreten ist, und so heiß es bei Ast, "Platons Leben und Schriften", Seite 165, der Mythos bei Platon stehe "im Gegensatz zur Vernünftelei und seichten Aufklärung der Sophisten". Wie dasselbe von Kant gilt, wurden oben schon bemerkt und ist insbesondere auch in Windelbands "Geschichte der neueren Philosophie" treffend durchgeführt.
    9) Man verwechsle diese Auffassung der platonischen Mythen nicht mit der Teichmüllers. Nach Teichmüller sind die platonischen Mythen nur für die Menge berechnete absichtliche Täuschungen. Nach der obigen Auffassung sind sie aber Vorstellungsweisen, zu welchen auch der Dialektiker notwendig greifen muß, wenn er an die betreffenden Probleme rührt. (vgl. von Sybel, Platons Symposion, Seite 52f) Eben darin liegt ihre Verwandtschaft mit den Ideen, bzw. Postulaten Kants, welche ja notwendige Produkte der normalen menschlichen Vernunft überhaupt sind. In jener Auffassung der platonischen Mythen stimme ich ganz mit Auffarth überein; treffend bemerkt derselbe Seite 113: Diese "bildlichen Vorstellungen . . . sind sozusagen Blumen, mit denen die Einbildungskraft die Kluft überbrückt, die das Denken nicht ausfüllen kann. Auch Plato steht unter diesem Gesetz; und wenn man ihm das als Schwäche anrechnen wollte, nun wohl, so wäre es eine, die sich nicht an den Namen Plato, sondern an den Begriff Mensch knüpft. Weiter kann Keiner."
    10) Über die Verwandtschaft Platons mit Kant vgl. ferner noch Pfleiderer, Sokrates und Plato, Seite 151, 551, 442, 444, 457f, 622, 669; Lutoslawski, Origin and growth of Platons Logic, Seite 340.