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ALFRED HÖLDER
Darstellung der
kantischen Erkenntnistheorie
(1)
[mit besonderer Berücksichtigung der verschiedenen Fassungen
der transzendentalen Deduktion der Kategorien]

[1/3]

"Aus der sicheren Zuversicht seines Dogmatismus ist Kant, wie er selbst sagt, zum erstenmal durch Hume aufgerüttelt worden; die Bemühungen der auf diesem Dogmatismus fußenden Metaphysik von vornherein als aussichtslos zu erweisen, ist eine der Haupttendenzen seiner Erkenntnistheorie. Und doch wollte Kant von des Dogmatismus Gegner, dem Skeptizismus, wie ihn Hume vertreten hat, sich gleicherweise entfernt halten. Keineswegs wollte er, wie Hume, an der Möglichkeit jeder wahren Erkenntnis zweifeln, oder, wie Berkeley, das Dasein einer über die Subjekte und deren Vorstellungen hinausgehenden realen Welt leugnen; nur Art und Maß der wahren Erkenntnis sollte näher umgrenzt werden."

Zwischen zwei Paaren von Gegensätzen sucht KANTs Erkenntnistheorie zu vermitteln: in der Frage nach der Wahrheit unserer Erkenntnis zwischen Dogmatismus und Skeptizismus, in der nach dem Ursprung derselben zwischen Rationalismus und Sensualismus. Der Dogmatismus in der historischen Bedeutung des Wortes war KANTs Standpunkt während der ersten, vorbereitenden Periode seines Philosophierns gewesen. Es war dies derselbe Dogmatismus, welcher seit CARTESIUS die Philosophie des Kontinents beherrschte und welchen wir charakterisieren können als ein aller Untersuchung vorhergehendes Vertrauen auf die Zulänglichkeit der menschlichen Geisteskräfte zur vollen Erkenntnis der realen Welt. Einer Philosophie, welche jetzt noch diesen vor aller Untersuchung feststehenden Dogmatismus vertreten würde, könnten wir den tadelnden Beinamen "dogmatisch" geben, während "dogmatisch" jeder Standpunkt heißen kann, welcher als Resultat seiner erkenntnistheoretischen Untersuchungen die Möglichkeit realer Erkenntnis (d. h. Erkenntnis einer von unserer subjektiven Vorstellungswelt unterschiedenen Realität) statuiert. Aus der sicheren Zuversicht jenes Dogmatismus ist KANT, wie er selbst sagt, zum erstenmal durch HUME aufgerüttelt worden; die Bemühungen der auf diesem Dogmatismus fußenden Metaphysik von vornherein als aussichtslos zu erweisen, ist eine der Haupttendenzen seiner Erkenntnistheorie. Und doch wollte KANT von des Dogmatismus Gegner, dem Skeptizismus, wie ihn HUME vertreten hat, sich gleicherweise entfernt halten. Keineswegs wollte er, wie HUME, an der Möglichkeit jeder wahren Erkenntnis zweifeln, oder, wie BERKELEY, das Dasein einer über die Subjekte und deren Vorstellungen hinausgehenden realen Welt leugnen; nur Art und Maß der wahren Erkenntnis sollte näher umgrenzt werden durch die Untersuchung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, welche als Ausgangspunkt der zweiten, epochemachenden Phase kantischer Philosophie, derselben den Namen des Kritizismus eingetragen hat. Daß allerdings das Resultat der kantischen Erkenntnistheorie (zumindest von einer Seite aus betrachtet) nicht zwischen Dogmatismus und Skeptizismus vermittelt, vielmehr dem letzteren uns in die Arme wirft, wird sich später zeigen.

Soviel zur vorläufigen Bezeichnung der Stellung, welche in der Frage nach der Wahrheit unserer Erkenntnis die kantische Erkenntnistheorie einnimmt. Auch in der Frage nach dem Ursprung derselben ist es, wie wir hörten, ein Gegensatzpaar, zwischen dessen Gliedern sie zu vermitteln sucht. Das erste dieser Glieder, welches wir erkenntnistheoretischen Rationalismus nennen können, sucht den Ursprung all unserer Vorstellungen in der reinen Spontaneität des Subjekts; das zweite derselben, der Sensualismus, setzt das Subjekt als rein passiv und sieht in all seinen Vorstellungen nur Resultate der Einwirkung eines Objekts.

Blicken wird auf die Philosophie vor KANT, so hat den ersten Standpunkt in seiner Reinheit nur LEIBNIZ verfochten. Wohl stellt er die Vernunftwahrheiten, welche wir aus uns selbst schöpfen, den Erfahrungswahrheiten entgegen, die wir erst durch sinnliche Wahrnehmung und Beobachtung lernen; aber nur für den Standpunkt der gewöhnlichen Meinung liegen hier Erkenntnisse verschiedenen Ursprungs vor: von der Höhe philosophischer Betrachtung aus erscheinen beide Wahrheiten als Produkte reiner Selbsttätigkeit des Subjekts, und was die letzteren von den ersteren Unterscheidet, ist nur ein geringerer Grad von Klarheit und Deutlichkeit. Was trotz dieses subjektiven Ursprungs aller Vorstellungen deren Übereinstimmung mit einer realen Welt möglich macht, ist die zwischen den letzten Teilen des Universums, somit auch zwischen dem erkennenden Subjekt und den äußeren Objekten schon in der Schöpfung begründeten Harmonie. Aber nimmermehr findet ein wirkliches Leiden des erkennenden Subjekts durch Einwirkung einer äußeren Realität statt; zeigt sich (wie namentlich in der weniger klaren Sinneswahrnehmung) die Tätigkeit des Subjekts als eine beschränkte, so haben wir hierin eine im Wesen der endlichen Monade selbst - abgesehen von aller äußeren Einwirkung - begründete Hemmung zu erkennen. Diesem einen Extrem in der Beantwortung der Frage nach dem Ursprung unserer Erkenntnis hat KANT bekanntlich den Vorwurf gemacht (Seite 275), daß hier die Erscheinungen intellektuiert, zu einer niedrigeren Stufe von Verstandesprodukten gemacht werden. Aber ebensowenig will KANT der Anschauung LOCKEs sich anschließen, dem er den entgegengesetzten Vorwurf macht, daß bei ihm die Verstandesbegriffe sensifiziert, als bloß empirisch entstanden, als bloße Produkte der Sinneswahrnehmung aufgefaßt werden. LOCKE hat die oben als Sensualismus bezeichnete Ansicht zwar noch nicht selbst durchgeführt, aber in der Auffassung der Seele als einer abgesehen von der Erfahrung absolut inhaltslosen tabula rasa [leeres Blatt] die psychologische Prämisse aufgestellt, welche zu jener Ansicht notwendig führen mußte und in CONDILLAC in der Tat auch dazu geführt hat. Mit KANTs Absicht, zwischen jenen Gegensätzen des Sensualismus und Rationalismus zu vermitteln, hängt es dann zusammen, daß er in Sinnlichkeit und Verstand zwei selbständige, einander koordinierte, Erkenntnisquellen sieht, die allerdings, wie er glaubt, sich vielleicht noch auf eine einzige Wurzel zurückführen lassen, ja die er selbst, wie wir sehen werden, ohne es allerdings ausdrücklich auszusprechen, auf die Einbildungskraft als gemeinsame Wurzel zurückgeführt hat. Jene Vermittlung selbst kommt bei ihm in der Weise zustande, daß er sämtliche Erkenntnisformen aus dem Subjekt, den Erkenntnisstoff dagegen aus einem auf dasselbe einwirkenden Objekt ableitet. Wenn KANT in unserer Vorstellungswelt ein Element stehen gelassen hat, das er auf die Einwirkung eines vom Subjekt unterschiedenen Objekts zurückführte, so hatte er natürlich diese Seite seiner Ansicht dem gewöhnlichen Bewußtsein gegenüber nicht zu rechtfertigen; umso dringender war dagegen der Beweis für die Behauptung, daß allen Erkenntnisformen eine bloß subjektive Bedeutung zukommt. Mit letzterem Punkt beginnen wir daher die Darstellung der kantischen Erkenntnistheorie selbst, zunächst seiner Ansicht vom Ursprung unserer Erkenntnis; seine Anschauung von der Art und dem Grad ihrer Wahrheit wird hieran naturgemäß sich anschließen. Da es unsere Absicht nicht sein kann, Bekanntes nur zu wiederholen, beschränken wir uns auf eine möglichst scharfe und präzise Darstellung des kantischen Gedankengangs, wobei wir uns eine eingehendere Erörterung derjenigen Punkte vorbehalten, welche dem Verständnis besondere Schwierigkeiten darbieten.



I. Die subjektiven Faktoren der Erkenntnis
1. Die Formen der Anschauung

Wenn wir von unseren Anschauungen reden, so meinen wir damit denjenigen Inhalt unseres Bewußtseins, welcher abgesehen von aller denkenden Reflexion in uns gegeben ist. Diejenige Seite unseres Ich, welche die Anschauungen liefert, ist die rezeptive Sinnlichkeit. Rezeptiv heißt sie, weil sie die Welt der Anschauungen nicht rein aus sich heraus produziert, sie vielmehr nur zustande bringt aufgrund der Empfindungen, welche durch die affizierende Tätigkeit wirklicher Gegenstände im Subjekt gewirkt werden (Seite 71, § 1). Daher KANTs Definition der Sinnlichkeit, sie sei die "Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen." Die Vorstellungen der Sinnlichkeit (SCHOPENHAUERs "anschauliche Vorstellungen") sind im Unterschied von den Begriffen (SCHOPENHAUERs "abstrakten Vorstellungen") durch eine unmittelbare Verarbeitung der Empfindungen gebildet.

Ehe wir weiter gehen, schalten wir eine Bemerkung ein, die sich auf unsere ganze folgende Darstellung bezieht. Bei KANT finden sich manche Termini in verschiedener Bedeutung, welche unsere Darstellung, soll sie klar sein, nur in einer derselben beibehalten darf. Vor allem gilt dies vom Begriff des Gegenstandes. Die Gegenstände, welche mich affizieren und dadurch meine Empfindungen bewirken, sind wirkliche Dinge im gewöhnlichen Sinne (von KANT sonst "Dinge ansich" genannt), es kommt ihnen reale, von meinen Vorstellungen unterschiedene, nicht erst durch meine Vorstellungstätigkeit gesetzte Existenz zu; dagegen die Gegenstände, die mir gegeben sind (von KANT auch Objekte genannt, wobei dieser Ausdruck allerdings vereinzelt auch von den Dingen-ansich vorkommt) (2), sind mit meinen Anschauungen, meinen anschaulichen Vorstellungen identisch (3). Die letzteren, als Produkte der anschauenden Tätigkeit, heißt KANT auch Erscheinungen, während da, wo mit dem Ausdruck "Anschauung" die anschauende Tätigkeit selbst bezeichnet wird, die Erscheinungen Gegenstände der Anschauung genannt werden (§ 1, Seite 71 unten: "Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen", durch Empfindungen veranlaßten "Anschauung heißt Erscheinung." Der letztere Ausdruck könnte allerdings auch daraus sich erklären, daß KANT hier - was wir sonst mannigfach anzunehmen genötigt sind - zeitweilig in der Sprache des populären Bewußtseins redet; diesem sind ja entschieden die Erscheinungen in ihrer räumlich-zeitlichen Bestimmtheit die realen Gegenstände, auf welche unsere davon verschiedenen Anschauungen sich beziehen. Wenn nun jene zwei Bedeutungen des Wortes "Gegenstand" in der kantischen Darstellung da und dort ineinanderfließen, so hängt dies einerseits zusammen mit der eben angeführten zeitweiligen Akkomodation [Anpassung - wp] an den Standpunkt des gewöhnlichen Bewußtseins, andererseits, wie wir später sehen werden, mit dem durch die ganze kantische Erkenntnistheorie sich hindurchziehenden, ihre innere Harmonie störenden Dualismus. Meine Darstellung wird die Ausdrücke "Gegenstand" und "Objekt" für die Welt der Erscheinungen, für die Welt unserer Anschauungen reservieren, für die von unserer Vorstellungswelt unterschiedenen, dieselbe bedingenden Realitäten dagegen stets der Bezeichnung "Dinge", "Dinge-ansich" mich bedienen.

Kehren wir zu den Anschauungen zurück, wie sie aufgrund unserer Empfindungen entstehen. Zerlegen wir sie in ihre Bestandteile, so treffen wir auf zwei Grundelemente derselben, ihre Materie und ihre Form. In der Materie haben wir den Beitrag, welchen die Empfindungen geliefert haben; die Form dagegen, in welcher die Empfindungen sich ordnen, muß doch von denselben verschieden sein; die Empfindungen, welche von außen uns aufgenötigt sind, müssen die Form bereits in uns antreffen: als vor aller Empfindung, vor aller Empirie in uns befindlich ist die Form subjektiv apriorisch.

Haben wir aus dem Gesamtinhalt unseres Bewußtseins unsere Anschauungen dadurch ausgeschieden, daß wir von all dem absehen, was erst durch die denkende Reflexion entstanden ist (von allen Begriffen), so dürfen wir nur weiter von dem abstrahieren, was sich uns unmittelbar zu empfinden gibt, um die Form unserer Anschauungen rein für sich vor uns zu haben. Entsprechend den zwei Klassen, in welche all unsere Anschauungen zerfallen, wird nun dieser Abstraktionsprozeß auf zwei Grundformen unserer Anschauungen uns führen. Als eine Welt farbiger Gestalten, widerstandleistender Körper stehen unsere äußeren Anschauungen vor uns, welche aufgrund unserer Gesichts- und Tastempfindungen entstanden sind: die letzte Grundform, in welcher sie sich darstellen, ist der Raum. Umgekehrt findet sich in unserem Bewußtsein eine Kette von Anschauungen, welchen die sinnliche Frische, die plastische Gestaltung der ersteren fehlt, welche als Selbstanschauungen, als Wahrnehmungen des eigenen Seelenzustandes sich uns darstellen: ihre Grundform ist die Zeit. Schon aus dem Begriff der Form folgt, wie wir oben gesehen haben, die Apriorität der beiden Grundformen Raum und Zeit; nichtsdestoweniger hält es KANT für nötig, die Apriorität gerade dieser bestimmten Formen, sowohl direkt als indirekt, besonders zu beweisen, womit ein Beweis für den nicht begrifflichen, sondern anschaulichen Charakter dieser Formen beidemal sich verbindet.

Den direkten Beweis sowohl für den apriorischen Ursprung als den anschaulichen Charakter der beiden liefert die sogenannte "metaphysische Erörterung von Raum und Zeit". Wer den empirischen Ursprung unserer Raum- und Zeitvorstellung behauptet, der sieht in ihnen etwas dem Ich von Haus aus ganz Fremdes, welches erst durch die Erfahrung, erst durch die Einwirkung realer Dinge in dasselbe hereingekommen ist. Wer dagegen von einem apriorischen Ursprung dieser Vorstellungen spricht, dem sind sie etwas in der innersten Natur des vorstellenden Subjekts mit Notwendigkeit Begründetes, etwas abgesehen von aller Erfahrung irgendwie schon in ihm Vorhandenes. Daß Raum und Zeit in der Tat keine empirischen, vielmehr apriorische Vorstellungen sind, folgt für KANT aus der doppelten Erwägung, einmal daß die Anschauung räumlicher und zeitlicher Verhältnisse nur einem Subjekt möglich ist, welches die Formen von Raum und Zeit bereits in sich hat (4), sodann daß Raum und Zeit die einzigen Vorstellungen sind, von welchen wir niemals zu abstrahieren vermögen, welchen somit eine in unserer subjektiven Organisation begründete Notwendigkeit für uns zukommen muß (5). Ist es diese doppelte Erwägung, durch welche die Apriorität von Raum und Zeit erwiesen wird, so ist es ebenfalls eine zweifache Betrachtung, auf welche die Behauptung ihres anschaulichen Charakters sich stützt. Jeder Begriff setzt eine Mannigfaltigkeit von Einzelvorstellungen (oder untergeordneten Begriffen) voraus, von welchen er abstrahiert ist und in welchen er als Teil sich vorfindet. Raum und Zeit dagegen bilden jeweils eine ursprüngliche Einheit, in welcher erst die einzelnen Räume und Zeiten als Teile derselben vorgestellt werden. So die eine Betrachtung. Die zweite geht davon aus, daß ein Begriff nur eine bestimmte Anzahl von Vorstellungen als Merkmale in sich enthalten kann, während Raum und Zeit vorgestellt werden als eine unendliche Anzahl von Raum- und Zeitteilen in sich begreifend; allerdings nicht so, als ob der unendliche Raum und die unendliche Zeit als etwas Fertiges in uns gegeben wären (weil sich allerdings der erste Satz von (§ 2, 4) ungenau ausdrückt), vielmehr besteht ihre Unendlichkeit genauer darin, daß wir bei der Konstruktion unserer Raum- und Zeitvorstellung keinen der Punkte, an welchen wir Halt machen, als absolute Grenze anzusehen vermögen (6). In den a priori in uns vorhandenen Vorstellungen des Raumes und der Zeit haben wir - dies ist das Resultat dieser zwei Betrachtungen - keine Begriffe, sondern Anschauungen. Auch von Raum und Zeit werden allerdings Begriffe gebildet, sobald man ihr Wesen in bestimmten Worten auszudrücken versucht (daher die Überschriften der §§ 2-6); ihr Wesen selbst aber, die ursprüngliche Gestalt, in der sie im Bewußtsein auftreten, ist Anschauung. Sie sind somit nicht bloß Anschauungsformen, in welchen alle Einzelanschauungen sich darstellen; sie können für sich ins Auge gefaßt, für sich konstruiert (7) werden: dadurch werden sie selbst zu inneren Anschauungen.

Diesem direkten Beweis für den apriorischen Ursprung wie für den anschaulichen Charakter von Raum und Zeit setzt einen indirekten zur Seite die sogenannte "transzendentale Erörterung" der beiden Vorstellungen (8). Ist "transzendent" das Prädikat eines jeden über die gegebene Erfahrung hinausgehenden Gedankenprozeß und Gedankenproduktes, so wäre "transzendental" seinem Wortlaut nach alles, was auf ein solches Transzendentes sich bezieht. Doch dieser Wortsinn (9) ist es nicht, in welchem KANT den Ausdruck "transzendental" versteht. Transzendental ist ihm jede Untersuchung, welche mit der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis sich beschäftigt (Einleitung zur transzendentalen Logik II, fin. Seite 104), sowie jede Realität, welche die Möglichkeit einer solchen apriorischen Erkenntnis bedingt (transzendentale Einheit der Apperzeption, transzendentale Synthesis der Einbildungskraft), wenngleich an manchen Stellen der Ausdruck "transzendental" entschieden für "transzendent" steht (10). Der transzendentalen Erörterung von Raum und Zeit obliegt der Nachweis, daß die apriorischen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit Bedingungen der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis sind (§ 3 am Anfang); gegen COHEN, nach dessen Darstellung Seite 48 es sich hier um den Nachweis handelt, wie denn die Apriorität von Raum und Zeit selbst möglich ist). Die apriorische Erkenntnis, um die es sich hier handelt, ist eine faktisch gegebene. Sie liegt vor in den Grundsätzen der reinen Mathematik (Geometrie, Arithmetik und Mechanik). Als für alle Fälle gültige notwendige Sätze sind sie allgemein anerkannt, die empirische Beobachtung, als in keinem Moment vollendet, würde zur Aufstellung solcher Sätze niemals berechtigen; etwas Apriorisches, im Wesen des erkennenden Geistes Begründetes, muß ihnen somit zugrunde liegen. Es sind keine analytischen Sätze, welche, statt die Erkenntnis zu fördern, mit der Zergliederung eines gegebenen Begriffs sich begnügen würden; synthetische Sätze sind es, welche wirkliche Erkenntnis gewähren, indem sie ansich Verschiedenes miteinander verknüpfen. Und zwar genügt ein Blick auf die eigentümliche Beschaffenheit dieser synthetischen Sätze (z. B. "die gerade Linie ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten"), um uns davon zu überzeugen, daß das apriorische Bindeglied, welches die notwendige Synthese der beiden verschiedenen Vorstellungen miteinander vermittelt, kein Begriff, nur eine Anschauung sein kann. Eine apriorische Anschauung muß somit jenen allgemein anerkannten apriorischen Sätzen als Bedingung ihrer Möglichkeit zugrunde liegen; und da die allgemeinsten Raum- und Zeitverhältnisse es sind, welche in jenen Sätzen zum Ausdruck kommen, so haben wir in Raum und Zeit diejenigen apriorischen Anschauungsformen, ohne welche diese allgemein anerkannten apriorischen Sätze gar nicht möglich wären.

Soweit der direkte und der indirekte Beweis für den apriorischen Ursprung wie für den anschaulichen Charakter unserer Raum- und Zeitvorstellung; keine Einwirkung realer Dinge hat diese Vorstellungen erst in uns erzeugt; vor aller solchen Einwirkung sind sie schon in uns vorhanden als der Beitrag, welchen zur Bildung seiner Anschauungswelt das anschauende Subjekt selbst liefert; in welcher Weise sie, abgesehen von all jenen Einwirkungen, schon in uns vorhanden sind, erfahren wir in diesem Teil der Kritik, in der transzendentalen Ästhetik, noch nicht, wenngleich die Fassung von § 2, 4 in der ersten Auflage KANTs eigentliche Meinung schon angedeutet und den § 1, Seite 72 gebrauchten Ausdruck "die Form muß a priori im Gemüt bereit liegen" als einen nur vorläufigen erscheinen läßt. Besteht in ihrem Charakter als apriorische Formen der Anschauung die gemeinsame Eigentümlichkeit der Raum- und Zeitvorstellung, so besteht das Unterscheidende beider darin, daß der Raum Form des äußeren, die Zeit Form des inneren Sinnes ist. Wo reale, von mir unterschiedene, und insofern äußere Dinge auf mich einwirken und dadurch Sinnesempfindungen in mir hervorrufen, da gestalten sich mir diese Sinnesempfindungen sofort zu räumlichen Anschauungen; wo dagegen das auf meine anschauende Tätigkeit, auf meine Sinnlichkeit einwirkende Reale mein eigenes Selbst ist, da gestalten sich mir die Resultate dieser Einwirkung sofort zu einer zeitlichen Reihenfolge von Anschauungen. Im Raum sind alle diejenigen meiner Anschauungen, welche schließlich auf der Einwirkung einer fremden Realität beruhen: dagegen stellt mein eigenes Ich in einer Reihe zeitlicher Veränderungen sich mir dar. Doch gehen Raum und Zeit nicht so äußerlich, wie es scheinen könnte, nebeneinander her. Alle räumlichen Anschauungen, wie sie einerseits durch die Einwirkung äußerer Dinge hervorgerufen sind, gehören andererseits als meine Anschauungen doch auch zu meinem eigenen Selbst, müssen somit in zeitlicher Reihenfolge in meinem Bewußtsein auftreten; ja (§ 8, III, Seite 95) das eigentliche (doch wohl nicht einzige Seite 155, § 24. fin.) Material, an welchem diese allgemeinste Form des anschauenden Subjekts, die Zeit, ihre formende Tätigkeit ausübt, sind eben die äußeren Anschauungen. Klarer und durchsichtiger ist dieser ganze Prozeß der Anschauungsbildung bei den räumlichen Anschauungen, weshalb auch KANT seine ganze Theorie von den Anschauungsformen meist mit räumlichen Beispielen verdeutlicht.

Unsere Raum- und Zeitvorstellung ist noch vor aller Einwirkung realer Dinge irgendwie a priori in uns vorhanden gewesen; steht in unserer Anschauungswelt das faktisch gegebene Produkt vor uns, so haben wir in Raum und Zeit diejenigen Faktorn desselben, welche aus dem Subjekt stammen.
LITERATUR - Alfred Hölder, Darstellung der kantischen Erkenntnistheorie, Tübingen 1873
    Anmerkungen
    1) Verzeichnis der Abkürzungen: R = Rosenkranz, Ausgabe der kantischen Werke; P = Prolegomena; Seitenzahlen ohne jeden weiteren Zusatz bedeuten die "Kritik der reinen Vernunft" in der Ausgabe von Kirchmann, Berlin 1868.
    2) z. B. Seite 703 unten (am Schluß des Abschnitts "der vierte Paralogismus der Idealität" in der ersten Ausgabe) "transzendentales Objekt".
    3) Doch vgl. die Restriktion unten (bei der Besprechung der "Synthesis der Rekognition im Begriff"), welche ich hier, dem Gedankengang der Kr. d. r. V. folgend noch übergehen muß.
    4) Allerdings nur eine Wiederholung des Beweises für die Apriorität jeder Form, welcher sich auf das allgemeine Verhältnis von Materie und Form stützt.
    5) § 1, 1. 2.; § 4, 1. 2. Ganz anders freilich wird das Verhältnis von 1 und 2 in beiden §§ gefaßt von Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1871. Nach ihm (Seite 8-13) soll Nr. 1 nur die relative Priorität von Raum und Zeit vor den einzelnen Erfahrungen, erst Nr. 2 ihre Apriorität beweisen. Daß aber Nr. 1 und 2 denselben (nur das einemal negativ das anderemal positiv ausgedrückten) Satz zu beweisen versuchen, folgt schon daraus, daß (Einleitung I, siehe auch II.) "empirisch" und "notwendig a priori" kontradiktorische Gegensätze sind.
    6) Die transzendentale Ästhetik spricht (allerdings mit anderen Worten) diesen Gedanken nur vom Raum aus, und auch von diesem nur in der ersten Auflage (§ 2, 4); daß in ihm aber ein wesentlicher Bestandteil der kantischen Auffassung von Raum und Zeit liegt, darüber vgl. das unten über die Einbildungskraft Gesagte.
    7) Darüber vgl. wieder das unten über die Einbildungskraft Gesagte.
    8) Erst in der zweiten Auflage der Kritik ist dieselbe klar und scharf der metaphysischen gegenübergestellt worden, während die Prolegomenen, ihrem eigentümlichen Gedankengang gemäß, sich ganz auf die transzendentale Erörterung beschränken.
    9) Gegen Eduard von Hartmann, "Das Ding ansich und seine Beschaffenheit", Berlin 1871, Seite 16.
    10) Seite 104: "transzendentaler Gebrauch des Raumes", Seite 251: (Analytik der Grundsätze, 3. Hauptstück, Absatz 3) "transzendentaler Gebrauch eines Begriffs", an welchen zwei Stellen allerdings auch obiger Wortsinn "auf ein Transzendentes sich beziehend" passen würde, wofür Kant aber sonst "transzendent" setzt. Auch für den Ausdruck "transzendentales Objekt" könnte jedenfalls ebenso gut "transzendentes Objekt" stehen, wenngleich dieses Objekt (Ding-ansich) als Bedingung apriorischer Erkenntnis bezeichnet werden kann, sofern ohne Einwirkung der Dinge ansich das Subjekt gar nicht dazu käme, seine apriorischen Erkenntnisformen anzuwenden.