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FRIEDRICH PAULSEN
Kants philosophisches System
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"Ursprung der kritischen Philosophie ist Moral in Anbetracht der Zurechnungsfähigkeit der Handlungen. Für die rein theoretische Philosophie wäre die Kritik mit ihrer Unterscheidung von Erscheinung und Ding-ansich eigentlich gleichgültig; dagegen ist es die vom moralischen Gesetz geforderte Freiheit, welche die Vernunft zur Metaphysik aufruft und den ganzen Mechanismus der Natur aufhebt."

"Also, die Möglichkeit, für die Freiheit neben der vom Kausalgesetz beherrschten Natur Raum zu gewinnen, wäre hiernach der Springpunkt der neuen Gedankenbildung. Es ist eben der Punkt, wodurch die kantische Philosophie sich ihre ersten Anhänger gewonnen hat; Fichte, Schiller sind durch die Befreiung von dem erdrückenden Gedanken der alles beherrschenden mechanischen Kausalität für den transzendentalen Idealismus gewonnen worden."

"Wie durch die Annahme apriorischer Formen der Sinnlichkeit die reine Erkenntnis der phänomenalen Welt in den mathematischen Wissenschaften gegen skeptische Bedenken gesichert wird, so wird durch die apriorischen Begriffe des Verstandes eine reine Erkenntnis der intelligiblen Welt möglich gemacht; Mathematik und Metaphysik, die beiden von Hume angefochtenen Wissenschaften, werden miteinander sicher gestellt durch dieselbe Annahme, die auch die antinomischen Schwierigkeiten auflöst, - das war die Entdeckung von 1770, die eine Neubearbeitung aller philosophischen Wissenschaften notwendig machte. Freilich erwies sich dann bald hinterher, daß es mit der Metaphysik doch nicht so einfach steht, wie mit der Mathematik: die Erkenntnis der intelligiblen Welt durch reine Verstandesbegriffe, es war mehr ein Postulat, als eine erkenntnistheoretisch fundierte Auflösung des Problems."


Kants philosophischer Entwicklungsgang
und seine Schriften

"Die spekulative Philosophie, wenn sie mich je gehabt hat, hat mich durch ihre hohlen Formeln verscheucht, ich habe auf diesem kahlen Gefilde keine lebendige Quelle und keine Nahrung für mich gefunden; aber die tiefen Grundideen der Idealphilosophie bleiben ein ewiger Schatz, und schon allein um ihretwillen muß man sich glücklich preise, in dieser Zeit gelebt zu haben. ... Am Ende sind wir doch beide Idealisten und würden uns schämen uns nachsagen zu lassen, daß die Dinge uns formten und nicht wir die Dinge."
                  - Schiller an Wilhelm von Humboldt, Brief vom 2. April 1805


Literatur: Die Untersuchungen über den Entwicklungsgang des kantischen Denkens haben sich in den letzten Jahrzehnten gehäuft; die Ursache ist, daß die Auffassung der kritischen Philosophie durch die Ansicht über ihre Entstehung mitbedingt wird oder sich darauf zu stützen sucht. KUNO FISCHER ist der erste, der in seiner Geschichte der neueren über die Schriften der vorkritischen Periode eingehend gehandelt hat. Unter den folgenden Untersuchungen nenne ich: FRIEDRICH PAULSEN, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnistheorie, 1875. WILHELM WINDELBAND, Über die verschiedenen Phasen der kantischen Lehre vom Ding ansich in der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, 1877 KONRAD DIETERICH, Kant und Newton, 1876; ders. Kant und Rousseau, 1878. GÜNTHER THIELE, Die Philosophie Kants nach ihrem systematischen Zusammenhang und ihrer logisch-historischen Entwicklung, 1882. BENNO ERDMANN, Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie II, Einleitung, 1884. EDUARD von HARTMANN, Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik in den vier Perioden seiner Entwicklung, 1894. HARALD HÖFFDING, Die Kontinuität im philosophischen Entwicklungsgang Kants (Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. VII. ERICH ADICKES, Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung und die beiden Pole seines Systems, Kant-Studien, Bd. 1, Seite 173f, 376f, 449f

Es kann nicht meine Absicht sein, das schwierige und, wie der Literaturnachweis zeigt, viel verhandelte Problem der Entwicklung des kantischen Denkens hier eingehend abzuhandeln. Die Untersuchung, die ich in der oben genannten Schrift ausgeführt habe, deren Ergebnisse in den Hauptgedanken mir auch jetzt noch haltbar erscheinen, zu erneuern, ist weder hier der Ort, noch jetzt die Zeit; diese wird erst gekommen sein, wenn die in Aussicht stehende neue Ausgabe der Werke KANT das gesamte Material an Aufzeichnungen, Briefen, Nachschriften und Vorlesungen zugänglich gemacht haben wird. Andererseits ist es freilich nicht möglich, an der Frage vorüberzugehen, es hängt für die richtige Auffassung der kritischen Philosophie zuviel daran, daß man den Ausgangspunkt richtig trifft.

Wo KANT selber von seiner philosopphischen Entwicklung redet, da weiß er nur von zwei Epochen: der kritischen und der vorkritischen, der Epoche, wo er sich im Besitz des Prinzips der wahren Philosophie weiß, und der voraufgehenden Epoche des Suchens und Tastens. Und die Grenzscheide zwischen diesen beiden Epochen, den Beginn der kritischen Ära datiert er regelmäßig von der Konzeption der Gedanken, die er in der Dissertation vom Jahr 1770 zuerst im Umriß vorgetragen hat.

Eine genauere Prüfung der Schriften aus der vorkritischen Zeit ergibt, daß auch in ihr schon bemerkenswerte Wandlungen sich zugetragen haben. Zwei Epochen treten deutlich erkennbar auseinander; die erste hat in den Schriften aus der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, die zweite in den Schriften aus der ersten Hälfte der sechziger Jahre ihren literarischen Niederschlag hervorgebracht. Die erste Epoche ist dadurch charakterisiert, daß KANT zwar in der Naturphilosophie und Kosmologie, der sein Hauptinteresse zugewendet ist, selbständige Wege, abweichend von der LEIBNIZ-WOLFFischen Philosophie, einschlägt, mit Anlehnung an NEWTON, dagegen in der Erkenntnistheorie und Metaphysik im Wesentlichen noch auf den Wegen der rationalistischen deutschen Schulphilosophie bleibt. In der zweiten Epoche, in der das naturwissenschaftliche Interesse etwas mehr zurücktritt, löst er sich mehr und mehr von der Schulphilosophie und nähert sich einigermaßen der Denkweise, die eben damals von England her eingedrungen ist, der empiristisch-skeptischen. Die dritte Epoche ist durch eine schroffe Entegegensetzung gegen den sensualistischen Empirismus der Engländer, durch eine Rückkehr zu einem modifizierten Rationalismus in der theoretischen wie in der praktischen Philosophie charakterisiert.

Wollen wir die Epochen mit Stichwörtern bezeichnen, so können wir sie so nennen:
    1) die dogmatisch-rationalistische,
    2) die skeptisch-empiristische,
    3) die kritisch-rationalistische,
wobei letztere in gewisser Weise eine Rückkehr zur ersten darstellt, während sie freilich andererseits, was die Gesamtrichtung des Denkens anlangt (Abwendung von der transzendenten Spekulation und Richtung auf das Praktische) mit der zweiten Epoche zusammengehört.

Ich möchte hier aber gleich eine allgemeine Bemerkung hinzufügen. Die Wandlungen in KANTs Denken, die "Umkippungen", von denen er redet, gehen mehr auf die Form, als auf den Inhalt, mehr auf die Erkenntnistheorie, als auf die Metaphysik. Seine metaphysischen Anschauungen sind (ebenso wie seine physischen Grundbegriffe) durch alle sonstigen Wandlungen hindurch in wesentlichen Stücken dieselben geblieben: es ist ein an LEIBNIZ (und PLATO) orientierter Idealismus. Wir können ihn von den Schriften der fünfziger Jahre bis in die Vorlesungen der neunziger Jahre verfolgen, wie er zeitlebens an der Metaphysik BAUMGARTENs, die im Wesentlichen eine scholastisierte Monadenlehre ist, als Textbuch für die Vorlesungen festgehalten hat. Was sich in jenen Standpunktveränderungen wandelt, das ist hauptsächlich die Form der erkenntnistheoretischen Substruktion der Weltanschauung, die "Methode der Metaphysik", wie er selbst sagt. - Ich versuche dieses Nebeneinander der beiden Faktoren, des konstanten und des variablen, anhand der Schriften im Einzelnen zu zeigen.

Die schon oben erwähnten Schriften der ersten Epoche sind hauptsächlich den Naturwissenschaften, der Kosmologie und physischen Geographie, sowie der Ausbildung der mathematisch-physikalischen Grundbegriffe gewidmet. In den ersten beiden größeren Schriften, der "Schätzung der lebendigen Kräfte", 1747 und der "Naturgeschichte des Himmels", 1755, tritt als charakteristischer Zug eine entschiedene und hin und wieder kecke Betonung der Selbständigkeit und des Rechts des Selbstdenkens gegenüber den Autoritäten der Schule hervor, so besonders in der Erstlingsschrift. Die zweite erhebt sich zu kühner kosmologischer Spekulation, die bis in die fernsten Regionen phantastischer Hypothesen über die kosmische Stellung und Bestimmung des Menschen schweift.

Was die Weltanschauung anlangt, die darin zur Erscheinung kommt, so ist, wie schon früher bemerkt, vor allem ein Zug bemerkenswert, die strenge Durchführung physischer, die entschiedene Verwerfung hyperphysischer Erklärungen in der Physik und Kosmologie, und damit verbunden die Behauptung, daß hierdurch zugleich die Begründung des göttlichen Ursprungs der Welt am meisten gesichert ist: konnte oder mußte aus den gegebenen Elementen bei ihrer bloß naturgesetzmäßigen Bewegung eine geordnete Welt entstehen, so ist damit bewiesen, daß schon die "Naturen der Dinge" auf eine sinnvoll-vernünftige Ordnung angelegt und abgestimmt sind. Selbst die Natur der "denkenden Wesen" wird aus der kosmischen Konstitution der Weltkörper, die sie bewohnen, abgeleitet: je größer der Abstand der Planeten von der Sonne ist, desto leichter und feiner der Stoff, woraus sie gebaut sind, desto größer auch die "Trefflichkeit der denkenden Naturen, die Hurtigkeit in ihren Vorstellungen, die Deutlichkeit und Lebhaftigkeit der Begriffe, die sie durch einen äußerlichen Eindruck bekommen, samt dem Vermögen, sie zusammenzusetzen, endlich auch die Behendigkeit in der wirklichen Ausübung, kurz: der ganze Umfang ihrer Vollkommenheit" (Werke I, 337) (1) Mit dieser "nicht weit von einer ausgemachten Gewißheit entfernten" Spekulation bringt er dann die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele in Verbindung; er denkt an eine Wanderung der Seele durch die verschiedenen Weltkörper, mit aufsteigender Entwicklung des Individuums. Vielleicht, so schließt er, ist es der von einem groben irdischen Stoff befreiten Seele vorbehalten,
    "jene entfernten Kugeln des Weltgebäudes und die Trefflichkeit ihrer Anstalten, die schon von weitem ihre Neugierde so reizen, in der Nähe kennenzulernen."
Naturwissenschaftlicher Betrachtung bleiben die Aufsätze näher, die durch das Erdbeben von Lissabon von 1755 veranlaßt wurden, sowie ein paar kleine Abhandlungen zur Geophysik, besonders der Aufsatz Neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde (1756), worin KANT als der erste das Drehungsgesetz der Winde, das 80 Jahre nachher der Physiker DOVE, ohne um den Vorgänger zu wissen, aufgestellt hat, aus der Achsendrehung der Erde ableitet. Hätten KANTs Bemühungen um die kosmische Physik mehr Beachtung gefunden (sie sind so gut wie völlig unbeachtet geblieben, bis sein Ruhm als Philosoph die Aufmerksamkeit auch auf jene Erstlingsarbeiten gelenkt hat), so wäre er möglicherweise ein berühmter und glücklicher Naturforscher geworden, freilich ein philosophischer Naturforscher, denn der Trieb zur metaphysischen Spekulation tritt auch in diesen Schriften stark genug hervor.

Nicht ebenso große Selbständigkeit, als uns in KANTs kosmologischen und geophysischen Studien entgegentritt, zeigt die einzige Schrift erkenntnistheoretisch-metaphysischen Inhalts aus diesen Jahren, die Habilitationsschrift Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio, 1755. Zwar an mancherlei Widerspruch gegen die Häupter der Schulphilosophie, hin und wieder mit Anlehnung an den hervorragendsten unter den Gegnern WOLFFs auf den deutschen Universitäten, den Leipziger Theologen CRUSIUS, fehlt es auch hier nicht; im Ganzen aber bleibt er in ihren Wegen und vor allem in ihren Denkgewohnheiten. Das tritt besonders in der Neigung zur rationalistischen Verdinglichung der Begriffe hervor: die "Naturen der Dinge" sind absolut gesetzte Wesenheiten (essentiae). Damit steht ein Gedanke in Zusammenhang, der für KANTs Denken von großer und bleibender Wichtigkeit ist: die Einheit der Welt* [Planck] in Raum und Zeit durch die Wechselwirkung der Substanzen hat zur letzten Voraussetzung, daß die "Naturen der Dinge" in Gottes Wesen mit ursprünglicher Beziehung aufeinander gesetzt sind; die Wechselwirkung in der Natur ist die Erscheinung dieses nexus idealis [Idealverbindung - wp] der Essenzen in Gottes Verstand. Anders gewendet ergibt diese Betrachtung einen Gottesbeweis: das commercium substantiarum [gemeinschaftliche Substanz - wp] ist ein Beweis, daß sie ursprüngliche Einheit in einem ihr Wesen schöpferisch setzenden Prinzip haben. Es ist eine Betrachtung von LEIBNIZ, die in unseren Tagen LOTZE erneuert und zum Schlußstein seiner Philosophie gemacht hat. KANT konnte darauf geführt werden durch die Behandlung des Kausalitätsproblems bei seinem Lehrer MARTIN KNUTZEN, der den Monadenbegriff im Sinne von LEIBNIZ (alle einfachen Wesen sind vorstellende Wesen) wieder aufgenommen hat, dabei aber an der Wechselwirkung, wenn auch nicht an einem Einfluß oder Übergang der Akzidenzen [Eigenschaften - wp] festgehalten hat. (2) Übrigens ist die Betrachtung implizit auch im Gottesbegriff der Schulmetaphysik (Deus ens perfectissimum s. realissimum [Gott ist das vollkommenste und allerrealste Sein - wp] enthalten, KANT hatte ihn so bei BAUMGARTEN und den Begriff des influxus idealis [idealer Einfluß - wp] dazu. Es ist dieselbe Anschauung, die der optimistisch-teleologischen Weltbetrachtung SHAFTESBURYs zugrunde liegt: die Natur stellt in einer unendlichen Stufenreihe von innerlich zusammenstimmenden Wesen den unendlichen Schatz von Realität oder Vollkommenheit in der Vereinzelung dar, der in Gottes Wesen in absoluter Einheit beschlossen ist. Es ist auch der Gedanke SPINOZAs, nur daß er hier mit starker polemischer Zuspitzung gegen den anthropomorphen [menschbezogenen - wp] Theismus und die anthropozentische Teleologie auftritt.

Die Schriften der zweiten Epoche, aus den Jahren 1762-1766, wenden sich entschiedener den Problemen der Metaphysik und Erkenntnistheorie zu. Eine erste Gruppe, deren Abfassung in die Jahre 1762/63 fälltr, sammelt sich um die Hauptschrift "Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes", 1763. An sie schließen sich zwei kleinere Schriften, eine Antwort auf eine Preisfrage der Berliner Akademie: "Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral" (gedruckt 1764) und "Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen", 1763. Ihnen geht voraus der kleine Aufsatz "Von der falschen Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren". Am Abschluß der Epoche steht die Schrift: "Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik", 1766. Einem anderen Gebiet, dem moralisch-anthropologischen, gehören die "Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" [ik_rhb1], 1764 an; es sind im Wesentlichen Bemerkungen zur moralischen Charakteristik der Temperamente, Geschlechter, Nationen (3).

Im "Einzig möglichen Beweisgrund", der sich selbst als die Folge "langen Nachdenkens" einführt, haben wir ein Hauptstück der kantischen Metaphysik, die schon in der Habilitationsschrift angedeutete Lehre vom Wesen Gottes in seinem Verhältnis zur Welt. Die Absicht ist, die herrschende Form der natürlichen Theologie, besonders die übliche Physikotheologie durch eine vertiefte Auffassung zu ersetzen. Man kann die Hauptgedanken so formulieren. Die gewöhnliche Physikotheologie, die alle Dinge der Natur durchgeht, um Absichten der Vorsehung darin zu finden, taugt nichts; sie hemmt und stört die Naturforschung, indem sie die "faule Vernunft" durch den Schein der Devotion [religiöse Unterwürfigkeit - wp] ermutigt, sich bei den gefundenen Absichten zu beruhigen und die Frage nach den Ursachen zu unterlassen; sie ruft den Zweifel des Skeptikers, den Hohn des Spötters hervor und bewirkt also das Gegenteil ihrer eigenen frommen Absicht; endlich ist sie unvermögend, das Dasein eines höchsten allgenugsamen Wesens wirklich zu beweisen, sie kann es nur zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit bringen, daß an der Formung der Wirklichkeit eine baumeisterliche Intelligenz beteiligt ist.

Ebensowenig sind auch die herkömmliche ontologische und kosmologische Beweisführung ausreichend, das Dasein Gottes zu demonstrieren, wie KANT mit seiner Kritik, welche alle Hauptmomente der späteren Kritik der Gottesbeweis in der Kr. d. r. V. vorwegnimmt, zeigt. Vor allem ist der ontologische Beweis in seiner alten Form, wie er aus dem Begriff Gottes seine Wirklichkeit ableitet, untauglich; KANT hat hier schon die Formel gefunden: das Dasein ist niemals ein Prädikat oder Merkmal von einem Ding, eine Formel, die auch HUME geläufig ist:
    "Die Idee der Existenz, wenn man sie mit der Idee irgendeines Objektes verbindet, vermehrt ihren Inhalt nicht."
An die Stelle dieser Betrachtung setzt er einen neuen Gottesbeweis, einen ontologischen Beweis in einer Art invertierter Form: er will nicht aus der Möglichkeit des ens realissimum [allerrealsten Seins - wp] dessen Dasein als Folge, wohl aber aus der Möglichkeit des Denkbaren ein Dasein als seinen Grund erschließen. Das Mögliche, so führt er mit scholastisierender Beweisführung aus, setzt ein Seiendes voraus, das ist das "notwendige Wesen" und dieses ist das ens realissimum, mit den Attributen des Geistes, Verstand und Willen. Der eigentliche Sinn aber dieses Beweises ist der Gedanke, der uns schon wiederholt begegnet ist: die reale Welt, mit ihrer Zusammenstimmung vieler Dinge zur einheitlichen Wirklichkeit, ist die Verwirklichung einer möglichen Welt; dieser Welt "möglicher Dinge" ist das Produkt des göttlichen Intellekts; hier hat nun schzon die logisch-teleologische Anpassung der Wesenheiten zueiander gefunden, die es möglich macht, daß in der wirlichen Welt die Elemente, nach immanenten Gesetzen wirkend, einen sinnvollen Zusammenhang ergeben, so daß es nun keiner beständigen Spezialanpassung durch übernatürliche Einwirkung bedarf. So hat das Planetensystem, so hat die Erde, mit ihren Gebirgen und Flüssen und ihrer ganzen physischen Konstitution, ihre Gestalt durch die mechanische Wirkung der Teile nach allgemeinen Naturgesetzen erhalten, ohne besondere übernatürliche Veranstaltung; wobei er seine Betrachtung auf die Bildung der organischen Gestalten auszudehnen freilich eine gewisse Scheu hat. Nur auf diese Weise gewinnen wir einen "allgenugsamen" Gott, der nicht nur der Grund alles Wirklichen, sondern auch alles Möglichen ist, und gewinnen zugleich eine wirkliche Demonstration seines Daseins - wenn es überhaupt eine solche geben kann.

Denn das ist nun bemerkenswert: KANT äußert sich über den Wert, die Notwendigkeit und den Erfolg solcher metaphysischer Bemühungen jetzt ziemlich skeptisch.
    "Es ist durchaus möglich", so schließt er die Betrachtung, "daß man sich vom Dasein Gottes überzeugt, es ist aber nicht ebenso nötig, daß man es demonstriert."
Und zu Anfang begegnen uns zuerst jene ihm später so geläufigen Reden vom "bodenlosen Abgrund der Metaphysik", sie ist ein "finsterer Ozean ohne Ufer und Leuchttürme", wo man leicht durch unbemerkte Meeresströmungen vom Kurs abgetrieben wird.

Noch stärker klingen diese skeptischen Töne in den anderen Schriften dieser Gruppe durch. Die akademische Preisschrift, die das Accessit [Belobigung - wp] erhielt, während der Preis MENDELSSOHN zufiel, vergleiccht die Methode der "Weltweisheit", mit der der Mathematik. Der Vergleich fällt sehr zu Ungunsten der Philosophie aus. Die Mathematik hat wirklich adäquate Definitionen, denn sie bringt den Gegenstand durch die Definition "synthetisch" hervor, und sie kann zugleich die Begriffe in der Anschauung darstellen .Die Philosophie dagegen, Physik wie Metaphysik und Psychologie, muß durch Zergliederung (analytisch) ihre Begriffe bestimmen, ein Geschäft, das schwer oder niemals völlig zu vollenden ist, und sie kann sie nicht in einem konkreten Fall darstellen, sondern muß sie abstracto denken. Daher ist es ein schwerer Irrtum gewesen, daß die Metaphysiker die Methode der Mathematiker nachgeahmt haben: sie durften es erst, wenn ihre Begriffe die gleiche Klarheit und Abgschlossenheit der Definition erreicht hätten. Inzwischen haben sie mit leichthin aufgestellten Nominaldefinitionen von Möglichkeit, Wirklichkeit, Körper, Geist operiert und damit in Wahrheit gar nichts erreicht.
    "Die Metaphysik ist ohne Zweifel die schwerste unter allen menschlichen Einsichten; allein es ist noch niemals eine geschrieben worden." (II, 291)
Kann sie überhaupt geschrieben werden? KANT hält es für möglich. Kann sie eine demonstrative Wissenschaft werden? Auch das ist seine Meinung; nur muß sie eben erst sichere Definitionen haben. Und wie soll sie dazu kommen? Hierauf erhalten wir immer wieder die Antwort: durch Analysis gegebener, aber verworren gegebener Begriffe. - Wäre KANT Empirist gewesen, so hätte er geantwortet: das Material der Begriffsbildung sind nicht verworren gegebene Begriffe, sondern Wahrnehmungen; und eine demonstrative Metaphysik ist so wenig möglich, wie eine demonstrative Wissenschaft von Tatsachen überhaupt.

Der "Versuch über die negativen Größen", der als ein selbständig ausgeführtes Korollar [Beigabe - wp] zu der Preisschrift erscheint, zeigt, wie ein bestimmter mathematischer Begriff, der der negativen Größen, in der Weltweisheit, und zwar in allen Teilen, gebraucht werden kann. Auch hier tritt die Loslösung von der rationalistischen Gleichsetzung von begrifflicher und tatsächlichzer "Realität" hervor: zwischen Realitäten, lehrt BAUMGARTEN (Metaphysik, § 807), kann kein Widerspruch stattfinden, ergo omnes realitates sunt in ente compossibiles [daher sind alle Realitäten im Sein zusammensetzbar - wp]. Wohl, sagt KANT, das gilt in der Sphäre des Begrifflichen. Anders aber steht es in der Sphäre des Tatsächlichen: hier können sich sehr wohl zwei positive Bestimmungen ausschließen, dann nämlich, wenn sie sich wie negative und positive Größen in der Mathematik verhalten. - Am Schluß der Abhandlung wird zum erstenmal das Kausalproblem gestellt; es wird die Unterscheidung zwischen dem Logischen und dem Realgrund eingeführt und nun die Frage erhoben: ich verstehe sehr wohl, wie eine Folge durch einen Grund nach der Regel der Identität logisch gesetzt wird. Dagegen: "wie soll ich es verstehen, daß, weil etwas ist, etwas anderes sein soll?" oder umgekehrt, "wie darum, weil etwas ist, etwas anderes aufgehoben wird?" Wie kann das Dasein und Sosein eines Wirklichkeitselementes der Grund sein, daß ein anderes ist oder nicht ist? Mit dieser Frage an die "gründlichen Philosophen, deren täglich mehr werden", an die "metaphysischen Intelligenzen von vollendeter Einsich" schließt die Abhandlung, die "großen Geister" auffordernd, daß sie mit ihrer hohen Weisheit der "Schwäche seiner Einsicht" zu Hilfe kommen möchten.

Es ist das Problem HUMEs, das Problem der kritischen Philosophie, das hiermit gestellt ist: das Verhältnis von Ursache und Wirkung ist nicht ein logisches, die Wirkung kann nicht aus dem Begriff der Ursache durch logische Folgerung entwickelt werden. Worauf beruth es denn und worin besteht es? HUME gibt eine Anwort: es beruth auf Erfahrung und es besteht in der beobachteten und als regelmäßig vorausgesetzten Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung in der Zeit. KANT gibt keine Antwort. Hatte er eine? -

Der ironisch-skeptische Ton gegen die Metaphysiker und ihre hohe Weisheit, der hier angeschlagen wird, erreicht seinen Höhepunkt in den "Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik": die Metaphysik eine Träumerin und Traumdeuterin, tauglich, die phantastischen Visionen eines Geistersehers zu erklären. Die Veranlassung zu der Schrift gaben die Aufsehen erregenden spiritistischen Leistungen eines Schweden, SWEDENBORG, der nicht nur die Gabe des räumlichen und zeitlichen Fernsehens, sondern auch des Verkehrs mit abgeschiedenen Geistern besessen hat. KANT hatte sich durch vielfache Nachfrage "vorwitziger und müßiger Freunde" bestimmen lassen, Nachforschungen übder diese Dinge anzustellen (ein Brief an Fräulein von Knobloch vom Jahr 1763) gibt davon Kunde (Briefwechsel I, 40; siehe Fischer, Geschichte der neueren Philosophie I, 272); sein Interesse an der Sache ging soweit, daß er sich auch die Werke des Visionärs (Arcana coelestia, acht Quartbände) hatte von London kommen und außer den 7 Pfund Sterling auch die Mühe des Durchlesens kosten lassen.

Die sehr merkwürdige, zwischen Scherz und Ernst mit glücklichem Humor sich haltende Schrift entwickelt in ihrem ersten Teil den Entwurf einer metaphysischen Pneumatologie [Reflexion über den hl. Geist in der christlichen Theologie - wp]: die Geister immaterielle Wesen, die einerseits zu Körpern in Beziehung stehen, andererseits einem mundus intelligibilis [intelligenten Welt - wp] angehören, in dem sie nach pneumatischen Gesetzen untereinander in hyperphysischer Verbindung stehen, wobei diese Verbindung nicht an die Bedingung von Raum und Zeit gebunden ist. Der ernsthaft vorgetragenen Geisterlehre, die in der Tat auch nicht ganz ohne Ernst gemeint ist - augenscheinlich ist die spätere Lehre von der doppelten Welt, welcher der Mensch angehört, dem mundus sensibilis als empirisches Wesen, dem mundus intelligibilis als reines Vernunftwesen, darin vorgebildet - folgt ann eine lachende Darstellung der spiritistischen Erscheinungen, deren metaphysische Möglichkeit ebenso einleuchtend dargelegt ist, vom naturalistisch-skeptischen Standpunkt: es sind Einbildungen eines kranken Gehirns die unter abnormen Verhältnissen nach außen als physische Erscheinungen projiziert werden. Der zweite Teil bringt sodann den Bericht über die Visionen SWEDENBORGs und seine phantastischen Theorien vom Diesseits und Jenseits zur Bestätigung oder zur Verhöhnung jener phantastischen Metaphysik, die ihre Möglichkeit so trefflich zu demonstrieren weiß (4). Und hierauf folgt endlich das ernsthafte Schlußwort: die Folge aus alledem ist, daß die Philosophie Ursache hat, sich vor solchen, die Erfahrungen überfliegenden Spekulationen zu hüten. Ob es Kräfte von der Art gibt, als SWEDENBORG zu besitzen glaubt, ob Geister ohne Verbindung mit einem Körper denken und sich betätigen können, darüber kann aus reiner Vernunft schlechterdings gar nichts ausgemacht werden. Erfahrung ist die alleinige Quelle unserer Erkenntnis der Wirklichkeit.
    "Die Grundbegriffe der Dinge als Ursachen, die der Kräfte und Handlungen, sind, wenn sie nicht aus der Erfahrung hergenommen sind, gänzlich willkürlich und können weder bewiesen noch widerlegt werden."
Und hier findet sich nun auch die Antwort auf die Frage, die am Schluß des Versuchs aufgeworfen wurde:
    "wie etwas könne eine Ursache sein oder eine Kraft haben, ist unmöglich jemals durch Vernunft einzusehen, sondern diese Verhältnisse müssen lediglich aus der Erfahrung genommen werden."
Für jene angeblichen Kräfte der Seele, wie sie der Spiritismus SWEDENBORGs annimmt, haben wir nun keine einstimmige Erfahrung, sondern nur angebliche Erlebnisse Einzelner, die eben darum nicht tauglich sind "als Fundament zu irgendeinem Gesetz der Erfahrung zu dienen, worüber der Verstand urteilen könnte." Darum ist es ratsam sie zwar nicht für unmöglich zu erklären, aber sie auf sich beruhen zu lassen. An die Stelle aber der metaphysischen Demonstrationen und der angeblichen empirischen Bestätigungen für die Unsterblichkeit der Seele tritt der
    "moralische Glaube, dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vernünftelns überhoben sein kann, und welcher einzig und allein dem Menschen in jeglichem Zustand angemessen ist, indem er ihn ohne Umschweif zu seinen wahren (nämlich den moralischen) Zwecken führt."
So ist es am Schluß dieser zweiten Epoche um KANTs philosophische Anschauungen bestellt. Er hat den Glauben an die Demonstrationen der vorhandenen Metaphysik, nenne sie sich nach WOLFF oder CRUSIUS, vollständig verloren; auch der Glaube an die Möglichkeit der Metaphysik im alten Sinne, einer a priori aus Vernunftbegriffen die Wirklichkeit konstruierenden Wissenschaft, ist schwer erschüttert. Andererseits ist Metaphysik überhaupt nicht aufgegeben; sie bleibt, zumindest als "Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft" (II, 375), eine notwendige Aufgabe: insofern wäre sie eigentlich das, was man Weisheit nennen kann, die Fähigkeit "unter unzähligen Aufgaben, die sich darbieten, diejenigen auszuwählen, deren Auflösung dem Menschen angelegen ist." (5)

Wie ist KANT zu dieser Abwendung von der alten dogmatischen Schulmetaphysik gekommen? Man hat darin den Einfluß der Engländer, im besonderen HUMEs, sehen wollen. In der Tat ist durch das Vordringen der englischen Denkart auf dem Kontinent, besonders unter dem wachsenden Einfluß VOLTAIREs, das intellektuelle Klima seit der Mitte des Jahrhunderts auch in Deutschland ein anderes geworden, und das wird nicht ohne Einfluß auf KANT geblieben sein. Daß er die Engländer, besonders die Moralisten gelesen und geschätzt hat, wissen wir, wie aus der Charakteristik HERDERs so besonders aus der "Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen 1765/66"(II, 313f). Dazu kam der Einfluß ROUSSEAUs, der sich besonders dahin geltend machte, der Überschätzung des Intellektuellen entgegenzuwirken: weise Einfalt und ein gutes Herz sind mehr als alle physische und metaphysische Wissenschaft. Andererseits wird man annehmen dürfen, daß die eigentliche Loslösung von der Schulmetaphysik wesentlich von innen heraus sich vollzogen hat. Wenn er in dem "Einzig möglichen Beweisgrund ..." zeigt, wie weit die herkömmlichen Gottesbeweise von einer wirklichen Demonstration entfernt sind, oder in den Träumen eines Geistersehers, wie übel es mit der Pneumatologie, der Lehre von den Geistern, bestellt ist, so wird er, um dies zu sehen, doch kaum eines Anstoßes von außen bedurft haben. Dem Schüler NEWTONs, dem Mathematiker und Physiker mußte die in genau tausend Paragraphen demonstrierte Metaphysik BAUMGARTENs doch einen etwas wunderlichen Eindruck machen, sobald er das Augenmerk schärfer auf die Form ihrer Beweisführung gerichtet hat: aus lauter selbst gemachten Definitionen werden hier Lehrsätze über Gott und die Welt, über die Seele und überhaupt alle Dinge gezogen; woher haben diese Begriffe ihre Legitimation? Es sind nicht mathematische Begriffe, die ihren Gegenstand durch die Definition hervorbringen; auch nicht physische Begriffe, die sich auf Erfahrung stützen? also woher ihre Gültigkeit? Die Frage lag wirklich so nahe, daß sie ihm nicht von außen aufgenötigt zu werden brauchte. Daß er nicht von den Engländern, besonders von HUMEs erkenntnistheoretischen Untersuchungen, den Anstoß empfangen hat, dafür ist gerade das ein Anzeichen, daß er bestimmten Gedanken HUMEs so nahe kommt und dabei doch seiner Denkweise im Ganzen so fern bleibt. Vor allem hält er an der rationalistischen Voraussetzung trotz allem fest, daß Begriffe, wenngleich verworren, "gegeben" sind, daß sie durch "Analysis" zu voller Klarheit gebracht werden können, und daß dann mit ihnen etwas wie ein demonstratives Verfahren in der Metaphysik ansich nicht unmöglich ist (6).

Die dritte und letzte, die kritische Epoche' wird eingeleitet durch die Dissertation, die KANT beim Antritt der ordentlichen Professur im Jahr 1770 zum Zweck der öffentlichen Disputation, wie sie das akademische Herkommen erforderte, abgefaßt hat: De mundi sensibilis et intelligibilis forma ac principiis. In dem Begleitbrief, womit er die Schrift an LAMBERT geschickt hat, spricht er die Gewißheit aus, hiermit seinen definitiven Standpunkt erreicht zu haben:
    "Seit etwa einem Jahr bin ich, wie ich mir schmeichle, zu demjenigen Begriff gekommen, welchen ich nicht besorge jemals zu ändern, wohl aber erweitern zu dürfen, und dadurch alle Art metaphysischer Quästionen nach ganz sicheren und leichten Kriterien geprüft und, sofern sie auflösbar sind, kann entschieden werden." (Briefe I, 92)
Elf Jahre später knüpft er, in einem Brief an MARCUS HERZ, seinem Resondenten bei der Disputation, die eben erscheinende Kr. d. r. V. an die Dissertation:
    "Dieses Buch enthält den Ausschlag aller mannigfaltigen Untersuchungen, die von den Begriffen anfingen, welche wir zusammen unter der Benennung des mundi sensibilis und intelligibilis abdisputierten." (Briefe I, 249)
Die Dissertation ist für das Verständnis der kritischen Philosophie von nicht leucht zu überschätzender Bedeutung. Sie zeigt, worauf es ursprünglich bei der neuen Konzeption abgesehen war, etwas vom impetus [Motivationsimpuls - wp] des Entdeckers ist noch darin; in der Kr. d. r. V. erscheint der Gedanke in gewissem Sinn umgebogen und abgeschwächt. Hier haben wir die neue Philosophie in ihrer jugendlichen Gestalt: es ist die lang gesuchte neue Methode der Metaphysik, die transzendentale Methode.

Als der Ausgangspunkt der großen und entscheidenden Wendung in der Denkart tritt uns durch die ganze Abhandlung hindurch entgegen: die Unterscheidung der sinnlichen und der intellektuellen Erkenntnis, und dementsprechend einer sinnlichen und einer intellektuellen, einer phänomenalen und einer realen Welt. Daran schließt sich als Folge die Möglichkeit einer apriorischen Erkenntnis beider Welten durch uns innewohnende formale Erkenntnisprinzipien.' Es ist, wenn man so will, der erneute Durchbruch des Platonismus in KANTs Denken, die Wiederaufrichtung des realistischen Rationalismus: die den Sinnen in Raum und Zeit gegebene Wirklichkeit ist bloße Erscheinung, ihr gegenüber steht die der Vernunft erreichbare wirklich wirkliche Welt der Ideen, der mundus intelligibilis, oder mit den alten Ausdrücken: die Welt der phaenomena und die Welt der noumena, jene durch die reinen Anschauungsformen, diese durch reine Begriffe a priori erkennbar.

Die Sinnenwelt ist in Raum und Zeit; diese sind die allgemeinen Formen der Erscheinungswelt, weil und sofern sie die allgemeinen Formen unserer sinnlichen Anschauungen sind. Eben darauf beruth es, daß die Erkenntnis der räumlichen und zeitlichen Verhältnisse, wie wir sie in den mathematischen Wissenschaften durch reine Vernunft hervorbringen, zugleich von allen Gegenständen in Raum und Zeit Gültigkeit hat. Die Idealität von Raum und Zeit ist demnach Bedingung der objektiven Gültigkeit der Mathematik, sie wird damit vor allerlei skeptischen Bedenken der Metaphysikre sicher gestellt.

Neben der Mathematik als der Form der Erkenntnis der sinnlichen Welt steht die Metaphysik als die Form der Erkenntnis der intelligiblen Welt. Auch ihr wird durch die reinliche Scheidung der beiden Welten in ihrem Gebiet objektive Gültigkeit verschafft; wie die Mathematik die Erscheinungswelt durch die reinen Formen der Anschauung beherrscht, so erfaßt die Metaphysik die intelligible Welt durch die reinen Verstandesbegriffe. Und sie ist nun gesichert gegen die "Subreptionen" [Erschleichungen - wp] des sinnlichen Denkens, gegen die Forderung der sinnlichen Anschaubarkeit ihrer Objekte, der Darstellbarkeit in Raum und Zeit, wodurch bisher die Metaphysik und besonders die natürliche Theologie beunruhigt und verunreinigt worden ist: Gott und Geist fallen jetzt ganz aus der Sphäre der Sinnenwelt in Raum und Zeit heraus.

Die erkenntnistheoretische Substruktion der Metaphysik hat aber, näher bestimmt, folgende Gestalt: Der Verstand hat außer dem formalen logischen Gebrauch auch einen usus realis (den transzendentalen Gebrauch, wie KANT später sagt); durch ihn bringt er Begriffe und Axiome ursprünglich hervor, und diese haben absolute Gültigkeit, weil hierbei keinerlei Verunreinigung durch das subjektive Moment der Sinnlichkeit stattfindet. Das objektive Formprinzip aber der intelligiblen Welt ist der ursprüngliche Zusammenhang aller Dinge in Gott, dem ens realissimum: in der Einheit der Perfectio Noumenon, des Alls der Realität, sind die intelligiblen Dinge gesetzt. Es ist der alte Gedanke, der uns schon in den vorkritischen Schriften überall begegnet ist: Gott der einheitliche Grund alles "Möglichen" und darum des Wirklichen. Diese innere Beziehung aller Dinge auf ihren einheitlichen Grund (nexus idealis, prästabilierte Harmonie der Essenzen) stellt sich nun äußerlich in der Erscheinungswelt als universelle Wechselwirkung dar. Und so ist der Raum die phänomenale Allgegenwart, die Zeit die phänomenale Ewigkeit. - Allerdings hat der menschliche Verstand von der intelligiblen Welt keine anschauliche Erkenntnis, Gottes Intellekt allein ist ein anschauender Verstand, er hat eine Anschauung der intelligiblen Dinge, wir können sie nur durch allgemeine Begriffe in abstracto, nicht durch eine Einzelanschauung in concreto erkennen.

Das sind die Grundzüge der neuen Philosophie in ihrer ursprünglichen Gestalt. Faßt man sie in einer Formel, so kann man sagen: das neue System ist durch drei Stücke bestimmt, eine Voraussetzung und zwei Folgen. Die Voraussetzung ist die Idealität von Raum und Zeit. Die Folgen sind
    1) die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis der Erscheinungswelt durch die mathematischen Wissenschaften,

    2) die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis der intelligiblen Welt durch reine Verstandesbegriffe in ihrem transzendentalen Gebrauch, d. h. die Möglichkeit der Metaphysik.
Bis auf eine Veränderung, allerdings eine wichtige, sind dies definitive Züge der kritischen Philosophie. An den beiden ersten Stücken hat die Kr. d. r. V. nichts geändert; dagegen weicht sie im dritten Stück ab, allerdings auch hier nur an einem Punkt; festgehalten wird am Dasein der intelligiblen, von den Schranken des Raumes und der Zeit freien Wirklichkeit; festgehalten wird auch daran, daß der Mensch durch die Vernunft zu dieser Welt in engster Beziehung steht. Nur eines wird aufgegeben: die spekulative Erkenntnis der intelligblen Welt; in der Kr. d. r. V. haben die reinen Verstandesbegriffe objektive Gültigkeit nur in der Anwendung auf die phänomenale Welt, in ähnlicher Weise wie die mathematischen Begriffe. An die Stelle der transzendenten Metaphysik tritt nunmehr einerseits die phänomenologische Ontologie der Analytik, andererseits der praktische Vernunftglaube.

Im Übrigen hat KANT recht, wenn er die Kr. d. r. V. auf das Engste mit der Dissertation verknüpft. In einem Brief an MARCUS HERZ vom Jahr 1771 bezeichnet er sie als den "Text, worüber in der folgenden Schrift das Weitere soll gesagt werden", und bedauert,
    "daß diese Arbeit so geschwind das Schicksal aller menschlichen Bemühungen, nämlich Vergessenheit, erdulden muß".
In der Tat wäre manches Mißverständnis der kritischen Philosophie unmöglich gewesen, wenn diese Schrift sich in der Erinnerung erhalten hätte, wenn sie etwa von den Herausgebern der Kr. d. r. V. als Einleitung vorausgeschickt worden wäre. Ich würde das heute noch empfehlen. Und dazu müßte man dann die Hauptstellen aus den weiteren Briefen KANTs an HERZ fügen, vor allen den wichtigen Brief vom 21. Februar 1772. Er zeigt KANT eben mit der Frage beschäftigt, von der die wesentliche Veränderung der Kritik gegen die Dissertation ausgeht, der Frage nämlich: wie es geschehen kann, daß reine Verstandesbegriffe eine Erkenntnis der gegenständlichen Welt ergeben? Verständlich, so findet er, ist die Beziehung zum Gegenstand bei der Erfahrungserkenntnis: hier beruth die Vorstellung auf Affektion durch den Gegenstand und ist also diesem als eine Wirkung der Ursache gemäß. Verständlich ist die gegenständliche Gültigkeit auch da, wo der Verstand den Gegenstand erst hervorbringt, wie in der Mathematik oder in der Moral, oder beim Denken Gottes, das die Gegenstände schöpferisch setzt. Aber wo das nicht der Fall ist, wie beim Verhältnis des menschlichen Verstandes zur realen Welt, wie ist es da zu vrstehen, daß
    "der Verstand gänzlich a priori sich selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen notwendig die Sachen einstimmen sollen, wie er reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen soll, mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß und die doch von ihr unabhängig sind?"
KANT gibt hier nicht die Antwort, er lehnt nur die Antworten, die ältere Ratinalisten, er nennt PLATO, MALEBRANCHE, CRUSIUS, gegeben haben, ab: sie wollen alle durch die Vermittlung des höchsten metaphysischen Prinzips, d. h. Gottes, die Übereinstimmung unserer Vernunfterkenntnis mit der absoluten Wirlichkeit zustande bringen. Es ist das die Aushilfe, woran auch die Dissertation zu denken scheint (§ 9, § 22 Schol.); die dann freilich andererseits doch auch schon auf die "transzendentale" Lösung des Problems, wie sie nachher die Kr. d. r. V. gibt, mehr als eine Hindeutung enthält. Das Problem selbst ist jedenfalls in ihr vorbereitet, oder vielmehr ist es implizit, wenn auch nicht explizit vorhanden. EDWARD CAIRD macht mit Recht darauf aufmerksam: erklärt die Dissertation auch die sinnliche Erkenntnis für phänomenal, die begriffliche für real, so betont sie doch andererseits, daß allein in Gottes intuitivem Verstand diese Erkenntnis der intelligiblen Welt wirklich realisiert ist, während sie in uns abstrakt und damit unrealisiert bleibt. (7)

Es erhebt sich die Frage: von wo ist der Anstoß zur Neubildung der Gedanken von 1770 ausgegangen?

Ich habe ihn in meiner Schrift über die Entwicklung der kantischen Erkenntnistheorie auf den Einfluß HUMEs zurückgeführt. Nicht aus Neigung für die Aufspürung äußerer "Einflüsse"; ich bin durchaus nicht der Meinung, daß einem selbständigen Kopf die Gedanken so von außen anfliegen, und KANT war gewiß ein sehr selbständiger Kopf, dazu im Alter von 45 Jahren, wo auch der gewöhnliche Kopf nicht mehr so leicht fremde Gedanken aufnimmt. Übrigens habe ich den Anstoß HUMEs nicht als Mitteilung einer positiven Theorie, sondern vielmehr als Antrieb zur Umkehr konstruiert: an HUMEs "Skeptizismus" wurde KANT klar, wohin der Empirismus, dem er sich einigermaßen angenähert hatte, in letzter Konsequenz führt; der Rationalismus der Dissertation ist die Reaktion gegen den "Skeptizismus" der Träume. Also nicht aus einem allgemeinen Enthusiasmus für Einflüsse, sondern einfach, weil KANT selbst die Entstehung seiner kritischen Philosophie mit dem Skeptizismus HUMEs in einen ursächlichen Zusammenhang bringt, habe ich diese Konstruktion versucht. Wären jene Stellen in den Prolegomenen und der Kr. d. r. V. nicht vorhanden, so würde ich den Einfluß HUMEs hier so wenig wie zu Anfang der sechziger Jahre für nötig halten, um KANTs Entwicklung verständlich zu finden. Man darf doch wohl sagen: der Übergang zu der Ansicht von der Idealität von Raum und Zeit und damit der Körperwelt, einer Ansicht, die dann doch seit den Tagen PLATON nichts Unerhörtes in der Philosophie war, lag dem KANT von 1766 so wenig fern, daß nur ein Schritt nötig war; die beiden Welten, die körperliche und die geistige, die räumlich-zeitliche und die unräumlich-ewige, jede mit ihren eigenen Gesetzen, die hat er auch dort, nur daß er für die letztere, an die er doch glaubt, kein Konstruktionsprinzip finden kann. Es bedurfte nur der erkenntnistheoretischen Wendung: die räumlich-zeitliche Welt war eine Darstellung der Wirklichkeit in unserer Sinnlichkeit, die wirklich wirkliche Welt gedacht durch reine Verstandesbegriffe, und wir haben die Dissertation. Diese Wendung erklärlich zu finden, sind äußere Anstöße ansich gewiß nicht erforderlich, LEIBNIZens "Nouveaux Essais" (1765 erschienen) an die WINDELBAND erinnert, so wenig wie HUMEs Kritik des Kausalbegriffs. Wie KANTs eigene Gedanken sich um das Problem bewegten, zeigt auch die Überlegung über das Wesen des Raumes in einer kleinen Abhandlung vom Jahr 1768 (II, 385f). Übrigens war auch in der alten Metaphysik die Wendung vorgebildet: mundus sensibilis und mundus intelligibilis, jener in unserer sinnlichen (verworrenen), dieser in Gottes absoluter Erkenntnis; die ausgedehnte Welt als phaenomenon substantiatum, die Monadenwelt als Verstandeserkenntnis der Wirklichkeit, all das war auch in BAUMGARTENs "Metaphysik" (§§ 869, 870) zu lesen, nur daß freilich mit der Phänomenalität der Körperwelt doch nicht rechter Ernst gemacht wird, ganz wie in KANTs vorkritischen Schriften.

Inzwischen hat BENNO ERDMANN auf einen anderen Punkt hingewiesen, von dem der Anstoß zur Unterscheidung der sensiblen und intelligiblen Welt ausgegangen ist: die Antinomien (8). Er hat es unzweifelhaft gemacht, daß hier sehr wirksame Antriebe des kantischen Denkens liegen. Das antithetisch-skeptische Verfahren, das in der Dialektik zur Technik ausgebildet ist, hatte KANT lange geübt, es tritt besonders deutlich schon in den "Träumen eines Geistersehers" hervor. Daß ihn das Phänomen des Widerstreits der Vernunft mit sich selbst in der Metaphysik befremdet und aufgeregt hat, spricht er öfter aus (so besonders "Prolegoma", Seite 50f). Die Idealität von Raum und Zeit ist nun nach der Kritik zugleich die Bedingung des Verständnisses jenes seltsamen Phänomens und der Schlüssel zur seiner Auflösung. Der Widerspruch beruth überall darauf, daß man Erscheinungen für Dinge-ansich nimmt, Phänomene intellektuiert; so führt die Kritik aus, so deutet es auch schon die Dissertation an: mit der Scheidung der Erscheinungswelt von der Intellektualwelt und der Zuweisung aller Sätze an das Gebiet, in das sie gehören, verschwinden die Widersprüche. So vor allem auch bei der Antinomie Freiheit-Notwendigkeit; als Erscheinungen sind die Handlungen bedingt, als Äußerungen eines intelligiblen Wesens sind sie frei.

KANT selbst hat auf diesen Punkt als den Ursprung seiner Gedankenbildung wiederholt hingewiesen. So zuletzt sehr bestimmt in einem Brief an GARVE vom Jahr 1798:
    "Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin (wie Garve angenommen hatte), sondern die Antinomie der reinen Vernunft: die Welt hat einen Anfang - sie hat keinen Anfang, bis zur vierten (dritten): es ist Freiheit im Menschen - es ist keine Freiheit, sondern alles in ihm ist Notwendigkeit; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um den Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selber zu heben."
Hierzu stimmt eine Stelle aus dem Entwurf "Über die Fortschritte der Metaphysik" (VIII, 573), wo die Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit und die Lehre von der Realität des Freiheitsbegriffs als die beiden Angeln des Systems bezeichnet werden. Ebenso heißt es in einer Skizze zu dieser Schrift (9): Für die rein theoretische Philosophie wäre die Kritik mit ihrer Unterscheidung von Erscheinung und Ding-ansich eigentlich gleichgültig; dagegen ist es die vom moralischen Gesetz geforderte Freiheit, "welche die Vernunft zur Metaphysik aufruft und den ganzen Mechanismus der Natur aufhebt." Also, die Möglichkeit, für die Freiheit neben der vom Kausalgesetz beherrschten Natur Raum zu gewinnen, wäre hiernach der Springpunkt der neuen Gedankenbildung. Es ist eben der Punkt, wodurch die kantische Philosophie sich ihre ersten Anhänger gewonnen hat; FICHTE, SCHILLER sind durch die Befreiung von dem erdrückenden Gedanken der alles beherrschenden mechanischen Kausalität für den transzendentalen Idealismus gewonnen worden.

Die Sache wäre hiermit erledigt, wenn nicht jene Stellen wären, in denen KANT selbst auf das Bestimmteste die Anregung zur kritischen Untersuchung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori auf HUME zurückführt. Die Erinnerung an DAVID HUME, so führt er in der Vorrede zu den "Prolegomenen" aus, wo er doch den Vorgängen zeitlich noch nahe genug stand, um eine bestimmte Erinnerung zu haben, also HUMEs Bedenken wegen des Kausalgesetzes: es läßt sich aus reiner Vernunft nicht einsehen, warum, wenn A ist , notwendig auch B sein muß,
    "war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Feld der spekulativen Vernunft eine ganz andere Richtung gab. Ich war weit entfernt ihm in Anbetracht seiner Folgerungen Gehör zu geben" usw.
Ebenso heißt es in der Kr. d. r. V. (V, 54f), daß diese kritische Erkenntnistheorie durch HUMEs Empirismus, der zum härtesten Skeptizismus nicht allein im Hinblick der Metaphysik, sondern auch der Physik, ja sogar der Mathematik führt, hervorgerufen worden ist, und zwar mit der Tendenz, "dem schrecklichen Umsturz" aller Wissenschaften zu wehren.

Diese Stellen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen, sind nicht weg zu bringen. Man muß also für HUMEs Einfluß irgendwo Platz machen. ERDMANN verweist ihn, da er ihn für den Anfang der sechziger Jahre (mit Recht) ablehnt, und ihn auch im Jahr 1769/70 nicht zu lassen will, in die Zeit nach 1772, etwa 1774: KANT habe hier von HUME gelernt, daß die reinen Verstandesbegriffe nur von immanentem Gebrauch sind, nicht aber für die Dinge-ansich Gültigkeit haben. Ich halte diese Zeitbestimmung für nicht wohl vereinbar mit den Äußerungen KANTs;
    1) weil diese alle auf die Zeit des Ursprung des Kritizismus hinweisen, dieser Zeitpunkt aber im Jahr der Konzeption der Dissertation (1769/70) liegt; ein tieferer Einschnitt in den siebziger Jahren, von dem die Periode des Kritizismus eigentlich erst zu datieren wäre, ist für Kants Erinnerung nirgends vorhanden, die kritische Philosophie beginnt ihm überall etwa 12 Jahre vor dem Erscheinen der Kr. d. r. V. (10)

    2) weil seine Äußerungen über die Art von Humes Einfluß nicht dazu passen: nach 1772 hätte er ja den Folgerungen Humes Gehör gegeben, alle Erkenntnis auf das Gebiet der Erfahrung zu beschränken. Er sagt aber überall das Gegenteil: Hume habe ihm einen Anstoß im eigentlichen Sinn des Wortes gegeben, er habe ihm ein Problem vorgestellt, nicht aber die Lösung gegeben; vielmehr habe er, Kant, Humes Lösung, die empiristisch-skeptische verworfen: die kritische Philosophie sei die Widerlegung Humes, sei die einzig mögliche Rettung vor dessen in vollendeten Skeptizismus ausschlagenden Empirismus.
Es bleibt also die Aufgabe, die beiden Aussagen KANTs über den Ausgangspunkt seiner Gedankenbildung zu vereinigen. Mir scheint, diese Vereinigung ist durchaus nicht unmöglich: von einem linearen Fortschritt in der Entwicklung seines Denkens kann ja überall nicht die Rede sein; eine große Fülle metaphysisch-erkenntnistheoretischer und ethischer Probleme beschäftige ihn seit langem; und die Vorlesungen gaben jährlich Veranlassung, sie alle wieder durchzudenken. Lassen wir ihm also bei Gelegenheit der "Antinomien" zuerst den Gedanken aufgehen, daß die Idealität von Raum und Zeit der Schlüssel zu ihrer Auflösung ist, dann schließt sich, scheint mir, die Auflösung des HUMEschen Zweifel ohne Schwierigkeit an. Wir dürfen voraussetzen, daß KANT von HUMEs Kausalitätstheorie schon vor 1769 gewußt hat, er wird die Essays von ihm so hoch geschätzten Schotten, die schon 1756 in deutscher Übersetzung erschienen waren, - ich zweifle übrigens nicht daran, daß er sie auch in englischer Sprache lesen konnte, - doch kaum ungelesen gelassen haben; wer will, mag auch annehmen, daß er um diese Zeit sie einmal wieder zur Hand genommen hat. Auf jeden Fall, jetzt ging ihm zugleich die ganze Bedeutung des HUMEschen Problems und die Möglichkeit seiner Lösung auf; eben das war es, was er selbst so lange gesucht, was HUME für unmöglich erklärt hatte: die Möglichkeit einer begründeten Metaphysik. Und eben das hatte er jetzt in der hand, die "Methode der Metaphysik": wie durch die Annahme apriorischer Formen der Sinnlichkeit die reine Erkenntnis der phänomenalen Welt in den mathematischen Wissenschaften gegen skeptische Bedenken gesichert wird, so wird durch die apriorischen Begriffe des Verstandes eine reine Erkenntnis der intelligiblen Welt möglich gemacht; Mathematik und Metaphysik, die beiden von HUME angefochtenen Wissenschaften, werden miteinander sicher gestellt durch dieselbe Annahme, die auch die "antinomischen" Schwierigkeiten auflöst, - das war die Entdeckung von 1770, die eine Neubearbeitung aller philosophischen Wissenschaften notwendig machte. Freilich erwies sich dann bald hinterher, daß es mit der Metaphysik doch nicht so einfach steht, wie mit der Mathematik: die Erkenntnis der intelligiblen Welt durch reine Verstandesbegriffe, es war mehr ein Postulat, als eine erkenntnistheoretisch fundierte Auflösung des Problems. Diese zu suchen mochte dann das Problem HUMEs auch in der Folge drängen, bis KANT schließlich in der transzendentalen Deduktion der Kategorien, wofür die Deduktion der Mathematik in der Dissertation schon das Vorbild geboten hat, die definitive Auflösung in der Hand zu haben überzeugt war. In seiner Erinnerung aber verflochten sich die beiden Momente so, daß je nach der Art der Veranlassung bald das eine, bald das andere mehr in das Bewußtsein getreten ist. Die Elemente der neuen Gedankenbildung waren alle vorhanden gewesen, der neue Lehrbegriff der Idealität von Raum und Zeit hatte sich als der Schlüssel zur Auflösung all der Schwierigkeiten, mit denen er bisher gerungen hatte, bewährt.

Ich führe nun die Übersicht über die literarische Tätigkeit KANTs rasch zu Ende.

Auf das stille Jahrzehnt der Inkubation [Brutzeit - wp], wie man die siebziger Jahre nennen könnte, folgte das Jahrzehnt der eifrigsten und fruchtbarsten Schriftstellertätigkeit, die achtziger Jahre. In rascher Folge erschienen die Hauptwerke zur neuen Philosophie. Zuerst die schon Jahre lang in Aussicht gestellte und mit Verlangen erwartete Kritik der reinen Vernunft; sie kam im Frühjahr 1781 bei HARTKNOCH in Riga heraus. Auf das grundlegende Werk folgten, unter dem Eindruck der ersten Aufnahme geschrieben, die Prolegomena (1783). Schon 1785 und 1786 schlossen sich die ersten Anwendungen auf die beiden Hauptgebiete der Philosophie, die Moralphilosophie und die Naturphilosophie an, jene als Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, (1785) diese als metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften (1786). Dann folgten noch zwei nach dem Modell der Kr. d. r. V. gebaute Werke: die Kritik der praktischen Vernunft (1788), enthaltend die Prinzipien der Moralphilosophie und der Moraltheologie, und die Kritik der Urteilskraft (1790), enthaltend die Prinzipien der Ästhetik und, durch eine ziemlich willkürliche Begriffsbildung damit verknüpft, ein Stück der Naturphilosophie, die Naturteleologie. Die Prinzien der neuen Philosophie sind damit vollständig dargelegt.

Zwischen diesen Hauptwerken, von denen später eingehend zu handeln ist, sind noch ein Anzahl kleiner Abhandlungen verfaßt, die zum Teil nicht ohne Bedeutung sind. In der Berliner Monatsschrift, dem von BIESTER, des Ministers von ZEDLITZ Sekretär, herausgegebenen Organ freier Denker, erschienen ein paar kleine Aufsätze zur Geschichtsphilosophie. Zuerst die "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784), eine sehr interessante Studie, die als Ziel der geschichtlichen Entwicklung eine gemeinsame Rechtsverfassung der Staaten, die Krieg und Gewalt ausschließt, hinstellt und die geschichtliche Entwicklung als Annäherung an diese Idee konstruiert. Sodann der "mutmaßliche Anfang der Menschengeschichte" (1786), ein feinsinnig durchgeführter Versuch einer philosophischen Deutung des biblischen Berichts über die Urgeschichte der Menschheit. FICHTEs a priori Konstruktion der Geschichte in in diesen beiden Aufsätzen vorbedeutet. Dazwischen liegt eine Rezension von HERDERs "Ideen zur Geschichte der Menschheit" (1785 in der Jenaischen Literaturzeitung), die HERDERs Zorn erregte. Zwei andere kleine Aufsätze: "Was ist Aufklärung?" und "Was heißt sich im Denken orientieren?" (Berliner Monatsschrift 1784 und 1786) enthalten eine lebhafte Anpreisung und Verteidigung des Rechts des freien Denkens und der freien Forschung, erstere mit dem Preis FRIEDRICHs des Großen, letztere mit der Warnung vor der einbrechenden Neigung zur Schwärmerei. Auch das kleine Blatt: "Über Schwärmerei und Mittel dagegen (1790) sei erwähnt und der Aufmerksamkeit derer anempfohlen, die KANT zum Spiritisten machen wollen.

Es folgt das Jahrzehnt allmählich sinkender Kraft, die neunziger Jahre. Zunächst sind ein paar Gelegenheitsarbeiten aus dem Anfang der neunziger zu erwähnen, die nicht ohne Bedeutung für das Verständnis der kritischen Philosophie sind. Gegen Professor EBERHARD in Halle, der ein Philosophisches Journal zur Bekämpfung der kantischen Philosophie vom Standpunkt der LEIBNIZ-WOLFFischen Philosophie herausgegeben hat, schrieb KANT die Schrift "Über die Entdeckung, nach der alle Kr. d. r. V. durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll" (1790). Eine zweite, aus dem Nachlaß herausgegebene Schrift behandelt die von der Berliner Akademie für 1791 ausgesetzte, bis 1795 verlängerte Preisaufgabe: "Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibniz und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat?" Es sind Entwürfe, die hauptsächlich aus dem Jahr 1793 zu stammen scheinen, in den "Losen Blättern" REICKEs findet sich manches dazu Gehörige, das auch die Datierung ermöglicht.

Der Hauptsache nach gehören die Arbeiten der neunziger Jahre der Religions- und der Rechtsphilosophie an. Der "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793) geht die Anhandlung "Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizée" (Berliner Monatsschrift, 1791) vorher; sie zeigt, wie unzulänglich und anmaßend das Unternehmen der philosophischen Theodizée [Rechtfertigung Gottes - wp] ist, welche die Schicksale des Einzelnen und der Menschheit aus Vernunftgründen als gute und heilsame erweisen zu können mein; der Glaube der frommen und weisen Einfalt bescheidet sich: Gottes Wege sind unerforschlich. Das Buch Hiob wird in feinsinniger Deutung herangezogen. Ein kleiner Aufsatz "Über das Ende aller Dinge" (Berliner Monatsschrift, 1792) bildet dazu den Epilog. Die Abhandlung "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" (Berliner Monatsschrift, 1792) leitet die rechtsphilosophischen Schriften ein. Auf die Abhandlungen "Zum ewigen Frieden" (1795), folgen dann die "Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre" und der "Tugendlehre" (1797), die in der zweiten Auflage zur "Metaphysik der Sitten" zusammengefaßt wurden. Hieran schließen sich ein paar kleine Aufsätze: "Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen" (1797) und "Über die Buchmacherei. Zwei Briefe an Herrn Friedrich Nicolei" (1798).

Den Beschluß macht eine Sammlung von Aufsätzen aus der Zeit von 1794-1797, die unter dem Titel: "Der Streit der Fakultäten" (1798) erschienen ist.

An die Werke schließen sich noch die Ausgaben einiger seiner Vorlesungen: Anthropologie in pragmatischer Absicht (1798), Logik (1800, von Jäsche, Physische Geographie (1802, von Rink), Pädagogik (1803, von Rink). (11)

Unter den nachträglichen aus Nachschriften herausgegebenen Vorlesungen hat die von PÖLITZ besorgte Metaphysik (1821) eine lange Zeit unterschätzte Bedeutung.

Von Wichtigkeit sind auch die in jüngster Zeit erfolgten Veröffentlichungen aus dem Nachlaß KANTs; sie geben bemerkenswerte Einblicke einerseits in die Entstehungsgeschichte seiner Gedanken, andererseits in seine Arbeitsweise. Es sind die schon öfters angeführten "Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie" von BENNO ERDMANN, aus KANTs Handexemplar der "Metaphysik" BAUMGARTENs gezogen (zur Anthropologie, 1882, zur Kr. d. r. V. 1884). Sodann die "Losen Blätter aus Kants Nachlaß", von RUDOLF REICKE in der "Altpreußischen Monatsschrift", dann auch besonders herausgegeben (2 Bände, 1889/1895).
LITERATUR - Friedrich Paulsen, Immanuel Kant - sein Leben und seine Lehre, Stuttgart 1904
    Anmerkungen
    1) Die Werke Kants werden zitiert aus der zweiten Auflage "Sämtlicher Werke" von Gustav Hartenstein, 1867.
    2) Benno Erdmann, "Martin Knutzen", Seite 84f.
    3) Über die Abfassungszeit siehe Benno Erdmann in der Einleitung zu seiner Ausgabe der "Reflexionen Kants", Bd. II, Seite XVIf. Der Beweisgrund ist vielleicht schon zur Michaelimesse 1762 erschienen. Das Manuskript der akademischen Preisschrift ist, nach einem vom 18. Juni 1763 datierten Brief Kants an Formey (Kant, Briefwechsel, Bd. 1, Seite 38) schon am 31. Dezember 1762 diesem eingehängt worden. Sie ist also nicht erst, wie Erdmann annimmt, in den ersten Monaten 1763 geschrieben worden. Ein Vorabdruck ist am 3. Juni 1763 der Königsberger philosophischen Fakultät zur Zensur übergeben worden. Die Vermutung Erdmanns, daß die dritte Schrift bereits in Angriff genommen war, als Kant den Entschluß faßte, sich noch in letzter Stunde um den Berliner Preis zu bewerben, dürfte hiernach grundlos sein.
    4) In einem gleichzeitigen Brief an Moses Mendelssohn (Briefe I, 66), der den Ton der Schrift befremdend gefunden hatte, äußert sich Kant über den "widersinnigen Zustand des Gemüts", worin er sie abgefaßt hat: sowohl was die Erzählung anlangt, könne er sich nicht entbrechen, "eine kleine Anhänglichkeit an Geschichten von dieser Art als auch, was die Vernunftgründe betrifft, einige Vermutung von ihrer Richtigkeit zu nähren, ungeachtet der Ungereimtheiten, welche die erstere, und der Hirngespinste und unverständlichen Begriffe, welche die letzteren um ihren Wert bringen". So habe er, um dem Spott Anderer zuvorzukommen, selbst zuerst über sich gespottet.
    5) Man vergleich die Briefe Kants an Lambert (31. Dezember 1865) und Mendelssohn (8. April 1866, Briefe I, 51, 66). Er spricht hier von der Reform der Metaphysik als seiner allereigensten Aufgabe: er glaube im Besitz einer neuen Methode zu sein, die diese Wissenschaft vom Blendwerk des Wissens befreien und in eine feste Bahn bringen wird, was für das wahre und dauerhafte Wohl des menschlichen Geschlechts von größter Wichtigkeit ist.
    6) Benno Erdmann hat in seinem Aufsatz "Kant und Hume um 1762 (im "Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 1, Seite 62f) gezeigt, daß in Herders Aufzeichnungen aus seinen Königsberger Jahren nichts auf einen Einfluß von Humes Empirismus hindeutet, und ebenso, daß Kants Formulierung seiner Probleme, so nahe sie oft Hume kommt, doch die Einwirkung Humes ausschließt. Skeptische Reflexionen über Metaphysik waren übrigens durch die französische Philosophie jener Tage, d'Alembert, Turgot u. a. überall ausgestreut.
    7) Die Würdigung der Dissertation steht mit der Auffassung der kritischen Philosophie in einem engen Zusammenhang. Erdmann und Windelband wollen sie nicht als den Anfang der kritischen Philosophie im eigentlichen Sinn gelten lassen, der vielmehr erst vom Aufgehen des Problems der Analytik und seiner rationalistisch-phänomenalistischen Lösung (nach 1772) zu datieren ist. Gewiß, man kann sagen: die Analytik führt in ihrer Konsequenz auf eine Betrachtung, die von der Dissertation sich soweit entfernt, daß sie nicht mehr als Ausführung desselben Gedankens betrachtet werden kann. Aber dann muß man gleich hinzufügen: die Analytik ist in Kants Denken überhaupt nie ganz durchgedrungen, nicht einmal in der Kr. d. r. V.: die Ästhetik mit ihrem mundus sensibilis und intelligibilis und die Dialektik mit dem ens realissimum und dem intelligiblen Charakter stehen daneben und repräsentieren neben der Erkenntnistheorie die kantische Metaphysik, die dann in den beiden folgenden Kritiken wieder noch freier und stärker als die wirkliche Form seiner Weltanschauung hervortritt.
    8) siehe die Einleitung zu Erdmanns Ausgabe der Prolegomenen, Seite LXXXIIIf und vor allem die Einleitung zu den Reflexionen Kants zur Kr. d. r. V., Seite XXIVf.
    9) Mitgeteilt in den "Losen Blättern", die Rudolf Reicke veröffentlich hat (I, 223f). Das Blatt verdient ganz nachgesehen zu werden. Man sehe auch das Vorwort zur "Kritik der praktischen Vernunft" und die "kritische Beleuchtung der Analytik": "der Begriff der Freiheit ist der Stein des Anstoßes für alle Empiristen, aber auch der Schlüssel zu den erhabensten praktischen Grundsätzen für kritische Moralisten, die dadurch einsehen, daß sie notwendig rational verfahren müssen."
    10) Ich möchte bei dieser Gelegenheit doch überhaupt davon warnen, allzuviel "Entwicklungsstufen" zu konstruieren; bei Vaihinger sind ihrer schon sechs. Es kann sich doch nur darum handeln, die großen Richtungsveränderungen des kantischen Denkens zu bezeichnen, nicht die Jahres- und Tagesschwankungen nachzuweise, die ja ohne Zweifel auch stattgefunden haben. Kant selbst kennt seit 1770 keine wesentlichen Wandlungen mehr, obwohl Veränderungen in der Kombination der Elemente, und nicht unerhebliche, noch bis in die neunziger Jahre hinein stattgefunden haben. Aber sie ändern nichts mehr am neuen Grundprinzip: Scheidung der sensiblen und intelligiblen Welt: Damit ist der Hauptschlüssel zur kritischen Philosophie gefunden. - Vielleicht könnte man übrigens unsere drei Entwicklungsstufen als a priori notwendige konstruieren, nach einem kantisch-hegelschem Schema: These, Antithese, Synthese. Ausgangspunkt ist für jeden die Überlieferung der Schule; von ihr entfernt sich der zur Selbständigkeit strebende Denker in der Richtung auf den Gegensatz; nachdem ein äußerster Punkt erreicht ist, tritt eine Neigung hervor, die die Wahrheit des Überlieferten wieder stärker zu empfinden und zu einer Ausgleichung des Neuen und des Alten zu streben.
    11) Über die Veranlassung zur Herausgabe der Vorlesungen und das ungünstige Geschick, das darüber gewaltet hat, siehe Benno Erdmann in der Vorrede zu den Reflexionen zur Anthropologie.